Tims Rückgrat

Tom und ich waren beste Freunde. Wir hatten einfach so viel gemeinsam. Wir liebten beide Star Wars, The Rolling Stones – vor allem Gimme Shelter – und wir gingen gerne raus ins Freie. Draußen kann man so zwanglos miteinander reden; man kann die Umgebung wahrnehmen und genießen und unsere Schrittgeschwindigkeit war aus irgendeinem Grund immer im Einklang und genau richtig. Es war einfach perfekt. Auf solchen Runden redeten wir allerdings nicht nur über schöne Sachen, sondern auch über traurige.

Tom und ich lernten uns kennen, als wir beide circa 6 Jahre alt waren; er lief aufgebracht aus seinem Haus – das Haus seines Vaters – und da rannte er einfach in mich hinein. Die Wucht, mit der er mich rammte, war so groß, dass ich sie paradoxerweise nicht spürte. Nach einer kleinen Schnupperstunde hatten wir das Gefühl, dass wir uns öfter sehen mussten. Wir verstan-den uns irgendwie auf Anhieb und das lag nicht nur daran, dass wir beide jeweils ein Star Wars T-Shirt anhatten – bei ihm war Han Solo drauf und ich hatte Chewy. Und so schlossen wir einen stillen Vertrag miteinander ab; jedes Mal, wenn es ihm schlecht ging, konnte er zu mir kommen und wir würden entweder spielen, reden, spazieren gehen oder alles auf einmal tun.

Tom wohnte in einem kleinen Städtchen, dessen größte Attraktion eine kleine Brücke über einem Bahngleis war, denn sonst gab es nur Traktoren und Trägheit in dem Ort. Die Brücke war immer unser Spot zum Zurückziehen, wenn er gerade nicht zu Hause bei seinen Eltern sein wollte. Seine Mutter war eine einfache Hausfrau und sein Vater arbeitete hart als Maurer in einer ortsansässigen Baufirma. In den zehn Jahren, die ich Tom jetzt schon kenne, merkte man, wie sich der Rücken seines Vaters verformte und seine Gedanken abstumpften. Umso mehr musste sich seine Mutter bemühen, die Familie auf ihren Schultern zu tragen.

Toms häufigstes Gesprächsthema – neben Star Wars und den Rolling Stones – war sein Vater. Er muss ein sehr strenger Mensch gewesen sein, aber Tom fand immer Entschuldigungen für das Verhalten seines Vaters. »Alles hat irgendwie einen Grund«, sagte er meistens, um eine Rechtfertigung zu geben. Ich versuchte immer ihn davon zu überzeugen, dass das Verhalten seines Vaters nicht in Ordnung sei, aber er antwortete immer darauf: »Du hast ihn noch nie getroffen; du kennst ihn gar nicht!«

Tom hatte recht. Ich kannte ihn wirklich nicht, aber trotzdem machte es die Verhaltensweise des Erwachsenen nicht besser. Es war für mich unverzeihlich. Manchmal wenn wir uns in solche Streitereien hineinsteigerten, standen wir einfach stillschweigend auf der Brücke und beobachteten die Züge, die unter uns hindurch fuhren. Er schaute den Zügen mit einer gewissen Faszination, die ich nicht immer teilen konnte, hinterher, aber ich tat trotzdem so als würde ich die selbe Bewunderung haben wie er, da er ja mein Freund war.

Tom und ich gingen an einem sonnigen Sonntag eine kleine Runde durch die Landschaft. Nach-dem er aus dem Haus seines Vaters gestürmt war, konnte ich nicht nein sagen zu ihm. Irgendwie verhielt er sich aber anders als sonst. Er wollte nicht wirklich reden; er starrte nur zu Boden. Als wir auf der Brücke ankamen, fragte ich, was los sei, aber er schloss nur die Augen und verharrte so eine lange Zeit. Ich war derweil etwas hilflos, da ich ihn noch nie so erlebt hatte und ich nicht wusste, was los war.

Tom entschloss sich irgendwann seine Augen zu öffnen und er zog sein Hemd hoch und drehte sich mit dem Rücken zu mir. Eine große, längliche Wunde zog sich quer über seinen Rücken. Sie war noch ziemlich frisch. Ich war sprachlos und er sagte nur: »Mama hat auch eine.«

Tom und ich hörten den 12Uhr-Zug näher kommen. Tom setzte sich auf die steinerne Brüstung und ich sagte nur: »Pass bloß auf. Du könntest fallen.« Und er antwortete darauf: »Alles hat irgendwie einen Grund.« Als ich diese Worte hörte, packte mich ein seltsames Verlangen. Ich spürte, wie ich jegliche Kontrolle über meinen Körper verlor. Der Zug kam näher. Ich näherte mich Tom. Der Zug kam näher. Ich stand hinter Tom. Der Zug kam näher. Ich fasste Toms Wunde an. Der Zug kam näher. Ich schubste Tom.

Tom wurde vom Zug erfasst. Langsam kehrte mein Wille über meinen Körper wieder zurück, doch ich spürte mein Rückgrat brennen. Und die Sonne schien, als wäre nichts passiert und ich stand da und hörte den Zug nicht mehr. Ich wurde zum Mörder. Ich hatte doch keinerlei Grund ihn zu töten. Ich musste ein Psychopath sein. Ich musste mich stellen; ich darf nicht frei auf der Straße herumlaufen. Einen langen Sprint legte ich hin, um die Polizeistation des Städtchens so schnell wie möglich zu erreichen. Ich musste mich einfach stellen; es gab keinen anderen Aus-weg.

Als ich dort ankam, suchte ich den erstbesten Polizeibeamten um meine Tat zu gestehen. Dieser stand vor einem Getränkeautomaten und ich schrie ihn von der Seite an: »Ich habe meinen Freund ermordet; Sie müssen mich festnehmen; ich hatte keinen Grund das zu tun; vielleicht bin ich krank oder so; helfen Sie mir verdammt nochmal! Ich muss bestraft werden! Hören Sie mir überhaupt zu!?«

Der Beamte schmiss sein Geld in den Automaten, wählte ein Getränk, wartete auf das Getränk, nahm das Getränk, trank etwas von dem Getränk und drehte mir den Rücken zu, ohne mir auch nur eine Sekunde seiner Zeit zu schenken. Mir fiel auf, dass gar keiner mich beachtete, obwohl vier Leute in diesem Gang standen. Ich verstand nicht, was vor sich ging. Dann sah ich einen Polizisten aus einem Zimmer kommen, der an mir vorbeiging und eine Tür direkt neben mir öffnete und sagte: »Walter, wir haben schon wieder einen Springer. Mittlerweile der fünfte in diesem Jahr. Komm, wir müssen rausfahren!«

Die beiden Beamten verließen das Zimmer und gingen an mir vorbei und aus der Polizeistation hinaus. Keiner von beiden hatte mich mit einem Blick gewürdigt, noch hatte mich irgendwer gehört.

Jeder kehrte dieser Stadt den Rücken zu. Und anscheinend taten das alle auch mit mir.

Und erst da realisierte ich, dass ich nicht echt war.

Ich hatte keinen wirklichen Körper.

Ich war nur Toms Freund. Meine Existenz war an seine gebunden, aber trotzdem lebte ich weiter. Und jetzt verstand ich auch, warum wir uns damals getroffen hatten.

Tom ist tot und Tim muss damit leben.

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Martin Brandstätter

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