Sich selbst als Content begreifen

Eine gekürzte Version dieses Textes erschien – zusammen mit weiteren Texten zum Thema – in der mosaik37.

Manchmal schaue ich mir die Bilder auf meinem Instagram-Profil an und hoffe, dass das, was ich dort sehe, möglichst auch dem entspricht, wie Menschen mich analog wahrnehmen: Der relatable Typ im bunten Wollsweater mit der cuten Katze auf dem Arm, oder mit Seidenhemd bei 35 Grad in der U-Bahn, beim Versuch, die Kamera gleichzeitig zu ignorieren und mit ihr zu interagieren. Meine Identität kommt mir dann vor wie eine Projektion oder eigentlich sogar eine Hoffnung: Das Selbst ist nicht einfach nur irgendwie da, sondern ich will es gestalten. Die verschiedenen Bilder von mir stehen nicht nur für das, was ich sein will, sondern sie sind das, was ich bin. The filter is the face.

Im Essay “Fear of Content” schreibt Rob Horning, dass wir online ständig Gefahr laufen, uns selbst zu Content zu machen: “The self is a content farm.” Wenn ich auf Instagram poste, dann werde ich literally Content; aber ich glaube, auch analog—oder, um diese Trennung einfach mal aufzugeben: generell kann man die eigene Identität als Content betrachten, als etwas, das produziert und gestaltet wird.

Die Mechanismen, die auf Social Media so obvious sind, funktionieren auch anderswo: Mein Selbst wird produziert, von mir und von anderen; also von den Umständen, in denen ich lebe. Es entwickelt sich mit der Zeit und ändert sich je nach Kontext: Auf Instagram bin ich anders als auf Twitter; in der Schlange, um Snacks zu kaufen, anders als in der Schlange vorm Club. Wie aller Content folgt dabei auch der Content, der meine Identität ist, den Konventionen bestimmter Genres. Das bekannteste Genre ist dabei das des wirklichen Selbst, der authentischen Identität: “When I am trying to be true to myself, I turn ‘myself’ into a genre, with readily recognizable and repeatable tropes. I can never be authentic, only authentically generic”, sagt Horning.

Ich glaube allerdings, dass das Selbst kein original content ist, also zumindest nicht im Sinne von etwas noch nie Dagewesenem. Es ist eher eine Mischung aus bekannten Mustern und Eigenschaften, das Ergebnis von Inspirationen: das sind die Genres, denen ich folge und die mich beeinflussen.

Zu einem Genre zu gehören, das klingt nach Enge, nach Dingen, die erlaubt sind und solchen, die man nicht tun sollte: “‘Man muss’, ‘man darf nicht’ – das sagt ‘Genre’, das Wort ‘Genre’, die Figur, die Stimme oder das Gesetz des Genres” (Jacques Derrida). Aber dieses basic Verständnis von Genre, schreibt Derrida, ist eigentlich nur die Hälfte dessen, was Genres sind: Das Gesetz des Genres, das mir Vorschriften macht und Grenzen setzt, kann immer nur zusammen mit einem Gegen-Gesetz existieren, das die gesetzten Vorschriften und Grenzen wieder überschreitet. Das Muster kann es nur dann geben, wenn man es manchmal reproduziert und manchmal nicht, schon alleine deshalb, damit man es von allem anderen unterscheiden kann.

Genres generieren keinen verlässlichen Output, sie operieren nicht durch copy & paste. Der Modus des Genres, zumindest wenn man es wie Derrida versteht, besteht im Wiedererkennen und Verfremden, in Wiederholung und Veränderung. Genres sind keine Maschinen und Fliessbänder, sondern Meme-Templates, die sich mit jedem Zitat verändern, die niemals wirklich greifbar sind. Genres sind nicht authentisch, sondern inkohärent, fluide und random.

Content ist ein schwieriger Begriff. Content, oder das deutsche Äquivalent Inhalte, steht eigentlich für einen völlig entleerten ästhetischen Ausdruck: “Content on the internet is pure form”, schreibt Horning. Content, in diesem Sinne verstanden, dient nur einem äusseren Zweck, nämlich einer quantitativen Maximierung von views, interactions oder conversions. Aber Content kann sich diesem Zweck auch ganz oder zumindest zum Teil entziehen: Dann, wenn er eine Qualität (und die kann natürlich immer nur subjektiv sein) als ästhetischer Ausdruck annimmt, die über die quantitative Maximierung hinausgeht, sie ignoriert oder sogar unterläuft. Diese Art von Content, für den vielleicht das Label Post-Content besser passen würde, findet sich in Memes, hyperironischen Tweets oder eigentlich jeder Art von Beitrag, die die komplett kommerzialisierte Struktur dieser Plattformen der Gegenwart zwar mangels Alternativen nutzt, aber ihre Motivation der quantitativen Maximierung nicht teilt.

Content bedeutet, die Möglichkeiten für ästhetischen Ausdruck zu multiplizieren. Ich kann Identitäten erschaffen und verwerfen, ich kann sie spalten und verschmelzen. Alles ist irgendwie immer veränderbar und fluide. Content ist allerdings nie absolut. Die Möglichkeiten sind nie unbegrenzt, weil Identitäten immer von aussen bedingt sind. Hannah Arendt schreibt: “Was immer menschliches Leben berührt, was immer in es eingeht, verwandelt sich sofort in eine Bedingung menschlicher Existenz. Darum sind Menschen, was auch immer sie tun oder lassen, stets bedingte Wesen.” Bedingtheiten sind ein fact of nature, sie kommen irgendwie über uns, aber nicht nur: “Die Menschen leben also nicht nur unter den Bedingungen, die gleichsam die Mitgift ihrer irdischen Existenz überhaupt darstellen, sondern darüber hinaus unter selbstgeschaffenen Bedingungen, die ungeachtet ihres menschlichen Ursprungs die gleiche bedingende Kraft besitzen wie die bedingenden Dinge der Natur.” Bedingtheiten entstehen auch durch mein Handeln, durch das Handeln anderer und das, was wir zusammen tun.

In Weltentwerfen schreibt Friedrich von Borries über das Verhältnis von Entwerfen und Unterwerfen in der Gestaltung: “Alles, was gestaltet ist, unterwirft uns unter seine Bedingungen. Gleichzeitig befreit uns das Gestaltete aus dem Zustand der Unterwerfung, der Unterworfenheit.” Von Borries spricht über Design und genau deswegen passt es, glaube ich: Content erlaubt uns das Design unseres Selbst, auch ausserhalb spätkapitalistischer Vorstellungen von Maximierung und Optimierung. Wenn ich Identität als Content betrachte, dann wird sie eben zum Gegenstand von Gestaltung, durch mich und durch andere. Content befreit nicht aus allen Bedingtheiten, aber weil er so random ist und weil er so fluide ist, schafft das Entwerfen des Selbst als Content oder in Content Möglichkeiten, die Bedingtheiten, die für mich und andere gelten, zu verändern, und mich (mehr oder weniger) aus ihnen zu lösen. Natürlich schafft auch Content, wie alles Gestaltete, neue Bedingtheiten. Aber auch sie sind flüchtig und random.

Die Möglichkeiten, sich aus einer Bedingtheit zu lösen, sind immer umso grösser, je privilegierter jemand ist. Marginalisierungen sind Bedingtheiten, denen man sich nie ganz entziehen kann. Doch Identitäten als Content zu betrachten, macht es möglich—glaube ich, denn ich kann nur von aussen darauf schauen—Orte zu schaffen, an denen die Marginalisierungen an Schwerkraft verlieren.

Im Manifest Glitch Feminism schreibt Legacy Russell über das emanzipatorische Potenzial, das das Internet für queere Körper und Identitäten—auch AFK (away from keyboard)—hat. Als queere Schwarze femme Person, sagt Russell, erinnert die Welt sie ständig an diese Identitäten. Die Chatroom-Persona LuvPunk12 dagegen kann in ihrer Performance das Konzept weiblich verwandeln, das Konzept Mann erkunden und das Konzept Frau erweitern. Auf diese Weise Content zu produzieren, heisst für Russell, neue Identitäten zu schaffen, indem man verschiedene Körperlichkeiten anlegt und wieder ablegt.

Die Paradigmen des Content sind die Tools der Emanzipation: Die Story (oder der Snap) betonen die randomness, die Content ausmacht. Ich kann etwas posten und spätestens nach vierundzwanzig Stunden ist es weg. Ich kann etwas sein oder darstellen, so lange ich will und auch einfach wieder damit aufhören. Ich muss mich nicht für das Eine oder das Andere entscheiden.

Durch Filter kann ich das, was ich darstelle, fast beliebig ändern. Alles ist veränderlich, nichts ist endgültig. Es gibt keinen Kern, kein eigentliches Ich, das ich darstellen muss: Jede Identität ist ein Filter.

Lip-Syncing zeigt, dass Content immer über den Bezug zum Anderen funktioniert, in dem man sich nicht verliert, sondern das Material für die eigenen Identitäten findet: “We are not empty signifiers, however, we are not dead-end hyperlinks” (Russell).

Es ist allerdings etwas ironisch, dass die tatsächliche Ideologie des Content relativ oft trotzdem eine des “be yourself” ist. Auf Tinder suchen die meisten entweder nach echten [insert cisgender identity] oder, wenn die Postmoderne etwas stärker gehittet hat (also auf OkCupid), nach authentischen Begegnungen. Jede Instagram-Ad verspricht mir eine authentische Erfahrung. Ein Anspruch von Authentizität ist so ein basic Element von Content, dass man darüber eigentlich nichts mehr schreiben muss.

Der schlechte Ruf von Content kommt auch daher, dass er diesem Anspruch extrem offensichtlich nie gerecht werden kann. Dahinter steht die Vorstellung, es gäbe ein echtes Ich, eine Essenz, die der Content ausdrücken und darstellen soll. Daher kommt die Enttäuschung, wenn er obviously an dieser Aufgabe scheitert: “Everything that is turned into content is extruded from the self and ceases to be a part of it; from this view it is all inauthentic, merely useful, so much signaling” (Horning). Aber Content ist eben kein fehlerhafter Ausdruck einer echten Identität. Die Identität ist halt Content.

Content, der versucht etwas auszudrücken, was nicht da ist (weil es im Content selbst sein müsste), ist tatsächlich leer. Deswegen bringt das Genre des authentischen Selbst eben nur eine entleerte Art von Content hervor, etwas, das “authentically generic” (Horning) ist. Ich glaube, es ist gerade diese Leere, die Menschen dazu bringt, Content zu hassen. Sie versuchen noch authentischeren Content zu produzieren und entleeren ihn dabei noch mehr. Es geht immer so weiter.

Authentizität will absolut sein, nur sie selbst, sie bewegt sich deshalb ins Totalitäre. Content ist relativ, er funktioniert nur über das Zitat, also prinzipiell den Bezug zum anderen. Er ist random, was nicht heisst, dass er irrelevant ist, aber er ist eher low-stakes: Das Leben als Content ist etwas anderes, als das Leben als Kunst zu sehen. Identität als Content zu betrachten, heisst, so eine Art entspannten, wavy Ästhetizismus zu embracen, der die Zeichen- und Formhaftigkeit der Welt erst einmal appreciatet und schaut, was man—abseits irgendwelcher spätkapitalistischen Optimierungs- und Maximierungsvorstellungen—damit machen könnte. Im Prinzip bedeutet es, Mallarmé so zu interpretieren, dass alles auf der Welt existiert, um Content zu werden.

Bei Mallarmé steht allerdings: “Alles auf der Welt existiert, um in einem Buch zu enden” (“Tout, au monde, existe pour aboutir à un livre”). Wenn man Identität als Content betrachtet, dann sieht man die Welt genauso ästhetisch, aber nicht so endgültig. Content ist, weil er random und fluide ist, immer veränderlich; gleichzeitig ist er immer auf anderes bezogen und kann niemals komplett losgelöst existieren: er definiert sich über ein dialektisches Verhältnis von Veränderlichkeiten und Bedingtheiten, also die widersprüchlichen Gesetze des Genres, der Regel und ihrer Überschreitung.

Content ist letztendlich ein Spiel, aber eines, das man aufrichtig und ernsthaft spielen kann. Ich habe jetzt lange versucht, nicht das Wort “subversiv” zu gebrauchen. Ich mag das Wort nicht, weil ich das Konzept von Subversität als relativ schlicht empfinde. Aber der Gedanke, dass es ein subversiver Akt ist, Identität als Content zu produzieren, drängt sich schon irgendwie auf. Es bedeutet aber gerade nicht, Leuten mit Wasserpistolen ins Gesicht zu spritzen für die Revolution oder so. Content ist komplexer, er ist manchmal dagegen und manchmal affirmierend und meistens beides. Identität als Content zu sehen, heisst, das Gute oder das Schöne—oder was immer man sehen und darstellen möchte—eher über das ironische Zitat zu erreichen als über die Illusion, einsam vor einem reinen, leeren Blatt sitzen zu können, das darauf wartet, beschrieben zu werden.

Leben als Content: Das heisst das Veränderliche im Bedingten zu erkennen, bis hin zu dessen Überwindung.

Quellen:
Hannah Arendt. Vita activa oder Vom tätigen Leben. Stuttgart, Kohlhammer, 1960.
Jacques Derrida. Gestade. Herausgegeben von Peter Engelmann, Wien, Passagen Verlag, 1994.
Rob Horning. “Fear of Content.” dis magazine. http://dismagazine.com/disillusioned/78747/fear-ofcontent-rob-horning-2/.
Russell Legacy. Glitch Feminism. A Manifesto. Verso, 2020.
Friedrich von Borries. Weltentwerfen. Eine politische Designtheorie. Berlin, Suhrkamp, 2019.