freiTEXT | Marcel Pollex

Die perfekte Montage

So trafen sich Vater und Sohn – deren Beziehung schon immer distanziert gewesen war, sie interessierten sich nicht für das Leben des Anderen, hatten einander nichts zu erzählen, und machten sich gegenseitig dafür verantwortlich, dass ihr Leben nicht so war, wie es hätte sein können – zufällig in einem Baumarkt, den der Sohn aus einer Notwendigkeit heraus hatte aufsuchen müssen, in der vergangenen Nacht war ihm im Schlafzimmer ein Regalbrett von der Wand gefallen, das er da so hingepfuscht hatte, er wäre beinahe im Schlaf von einem Buch erschlagen wurden, wegen seiner handwerklichen Unfähigkeit, während sein Vater aus reinem Vergnügen dem Baumarkt einen Besuch abgestattet hatte – er hatte nichts zu reparieren, alle Regalbretter waren sicher montiert und alle Möbel fest verschraubt – er genoss das Flanieren durch die hohen Gänge, kannte alle Dinge und ihre Verwendung und die unendlichen Gestaltungsmöglichkeiten. Die beiden erkundigten sich nicht nach dem Wohlbefinden des Anderen, der Sohn fragte seinen Vater nicht nach der Gartenarbeit und der Langeweile der Pension, und der Vater fragte seinen Sohn nicht nach seiner aktuellen Freundin oder seinem unverständlichen Job. Weil er nichts Besseres anzustellen wusste, fragte der Sohn seinen Vater, ob der ihn bezüglich der Montage des Regalbrettes beraten könne, das ihm in der Nacht von der Wand gefallen war und ihn beinahe erschlagen hatte, und der Vater erklärte seinem Sohn darauf das Handwerk und damit die Welt, was die Dinge zusammenhält, führte ihn durch die Gänge, zeigte ihm Holz und Metall, erzählte, wie man die Dinge zusammführt, sprach von der perfekten Montage. Zum Abschied gaben sie einander die Hand, und der Vater klopfte seinem Sohn auf die Schulter. Nicht gänzlich ohne Stolz brachte der Sohn noch am gleichen Tag das Regalbrett an die Wand, und als er in der Nacht davon erschlagen wurde, erwachte zur gleichen Zeit sein Vater aus dem Schlaf, der raus auf die Terrasse ging und in die Dunkelheit starrte, darüber nachdachte, am nächsten Tag die Eiche zu fällen.

 

.

Marcel Pollex

.

freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
Du hast auch einen freiTEXT für uns? schreib@mosaikzeitschrift.at

<< mehr Prosa | mehr Lyrik >>

mosaik27 – Grakughch.

mosaik27 – Grakughch.

INTRO

Über das Gefallen zu schreiben ist ein schwieriges Unterfangen. Über das Gefallen in der Kunst zu schreiben ist ein unmögliches Unterfangen. 270 Wörter haben auf dieser Seite noch Platz – das geht sich aus!

„Sie betrachtet sich selbst, ihr Gesicht, das ihr irgendwie fremd vorkommt. Die Arme wirken künstlich platziert. Das muss sie das nächste Mal anders machen.“ – Bastian Kresser

Wir sehen uns schon mit Fragen nach der Schönheit des Covers dieser Ausgabe konfrontiert. Warum habt ihr so ein ekelerregendes Cover gewählt? Manchen wird es (trotzdem?) gefallen, andere werden sich damit zufriedengeben müssen: Weil.

Jetzt diskutieren wir aber vor jeder Ausgabe über hunderte literarische Kunstwerke und entscheiden uns für eine Handvoll davon. Persönliche Geschmäcker sollten bei dieser Auswahl außen vor gelassen werden, brechen selbstverständlich ständig durch. Es ist allerdings eine schwierige Gratwanderung zwischen gefallen und gefällig. Letzteres geht anscheinend in der Kunst gar nicht. Und so wählt man Texte aus, die nicht gefallen – und andere nicht, die es tun. Und zack! sind wir in der Diskussion, was Kunst leisten soll/ kann/darf/muss.

„Ab und zu mag ich es auch mal, Dinge nicht zu verstehen!“ – Peter.W.

Und gleichzeitig fühlt man sich ständig in einer Rechtfertigungsschuld: Warum dieser Text, aber nicht jener? Auf diese und ähnliche Fragen antworten wir mit für richtig empfundenen Argumenten. Doch manchmal wissen wir selbst nicht, warum wir Entscheidungen auf bestimmte Weisen treffen – in der Retrospektive wird das erschreckend deutlich. Vielleicht muss man sich eingestehen, dass die Kunst den Argumenten manchmal voraus ist: Was man mit Logik (noch) nicht in Worte fassen kann, das geht durch Kunst oft besser.

„Wonach Schatten schmecken? Er lacht. Nach Staub natürlich. Man müsse ihn verwandeln, darin liege die Kunst.“ – Marlene Gölz

Warum hier dieser Text steht und kein anderer? Weil.

Euer mosaik

Inhalt

Lichtwellenleiter
  • Katharina Körber – Menschen
  • Markus Grundtner – Da sucht einer sein Glück
  • Natalia Breininger – Entropie
  • Babet Mader – Suppengrün
  • Jörg Kleemann – Aus dem Stand
Bodentreppen
  • Mariusz Lata – nicht mehr sein
  • Sigune Schnabel – Mein Leben trägt Bürokleidung
  • Ann-Christin Kumm – Wird grün, wird gelb
  • Marcel Pollex – Die Baustelle
  • Johanna Müller – Das Leuchten der Hemdkrägen bei Nacht
  • Andreas Hippert – Graureiher
Fernsehbilder
  • Peter Paul Wiplinger – Du böses Kind
  • Bastian Kresser – Fältchen aber keine Falten
  • Wolfgang Wurm – Beschämt; drei, zwei, eins
  • Markus Leitgeb – Keine Zugfahrt
  • Marlene Gölz – Schattenschlucker
Kunststrecke von Molly May Lewis
BABEL – Übersetzungen
  • Gatuduvan – Det blixtrar till ibland / Es blitzt manchmal auf – En stilla eftermiddag i september / Ein stiller Nachmittag im September
  • Jelena Anðelevski – Panter zna da ste ga otrovali / Panther weiß, dass ihr ihn vergiftet habt
Kolumne
  • Peter.W.: Hüte aus Fischhaut, Hanuschplatz #14
Essay
  • Samer Schaat – Fragilität der Welt
Buchbesprechung
  • Thomas Ballhausen: Obdach für Gespenster
Interview
  • „Das muss man mal so knallhart sagen.“– Marko Dinic beim Halleschen Dichterkreis
Kreativraum mit Niklas L. Niskate