freiTEXT | Miriam Bußkamp

Filterzelle

Mittwoch
Ich fahre auf das vielleicht schönste Licht zu, das der Himmel hervorbringen kann. Alles ist wie durch einen Pastellfilter getaucht, nichts Grelles liegt mehr in der Luft. Stattdessen ist der Horizont in der Entfernung schüchtern gerötet, streicht auf eine makabere Weise zärtlich über die Wipfel der riesigen Nadelbäume, die die Interstate zu beiden Seiten säumen. Es ist ein tückischer Nebeneffekt von Luftverschmutzung, dass die erhöhte Partikeldichte uns nicht abschreckt, sondern das Licht in so schönen Tönen streut, dass wir uns daran nicht satt sehen können. Nur ein paar Meilen östlich von hier machen sich ganze Vororte darauf gefasst, jederzeit eine Evakuierungsmeldung zu erhalten. Es ist seltsam, in diese Richtung zu fahren, in die Richtung der Waldbrände. Ich habe jedoch keine Wahl. Hier im Süden der Stadt liegt der einzige Baumarkt, bei dem ich noch eine Filterzelle zur Abholung vorbestellen konnte. Eine Filterzelle, wie sie in Klimaanlagen verbaut werden: ein Viereck aus grauer Pappe mit weißen Paneelen aus Vlies. Schöner wäre einer der kleinen, dekorativen oder unscheinbaren Luftfilter gewesen, wie man sie sich normalerweise in die Wohnung stellen würde. Die sind aber nirgends mehr zu bekommen. Die hässlichen Filterzellen sind ebenfalls knapp geworden, seit die Lokalzeitung gestern eine Bastelanleitung veröffentlicht hat, wie man aus ihnen einen provisorischen Luftfilter bauen kann. Aber ich hatte Glück. Eine der letzten vorrätigen Filterzellen hat es online in meinen Warenkorb geschafft. Ich hole die Filterzelle ab, weil der Versand zu lange dauern würde.
Wieder zuhause lässt sich die Filterzelle mit Gaffer-Tape problemlos an unseren eckigen Ventilator anbringen. Wir klemmen den Ventilator sonst morgens und abends in unsere Schiebefenster, um kühle Luft in unsere Wohnung zu leiten. Jetzt bekommt er die Aufgabe, die Luft im Raum durch die Filterzelle zu ziehen und gereinigt wieder in Umlauf zu bringen. Wir beobachten die Nachrichten zu den Bränden und der Rauchentwicklung und schalten unseren selbstgebauten Luftfilter ein, als die Werte der Luftqualität am Abend im violetten Bereich gemeldet werden, very unhealthy.

Dann schauen wir uns an, wie am Morgen Caleb Ewan die elfte Etappe der Tour de France gewonnen hat. Neun Stunden Zeitverschiebung, der Atlantik und die gesamte Breite des nordamerikanischen Kontinents trennen uns von Châtelaillon-Plage. Wir bekommen den malerischen Küstenort erstmal aus der Vogelperspektive zu sehen und ich frage mich, ob die Strecken von einer französischen Tourismusbehörde ausgewählt werden. Ich jedenfalls hätte nichts dagegen, dort ein paar Tage meine Zehen in den Sand zu graben, ganz ohne das Bedürfnis, hundertsiebzig Kilometer auf dem Rad zurückzulegen. Ganz ohne die Anstrengung, die den Fahrern schon bald im Gesicht steht und sie durch die Etappe begleitet.
Es ist heute keine kleine Ausreißer-Gruppe, die ins Ziel einfährt. Es ist ein Pulk von gut dreißig, der sich geschlossen der Zielgerade von Poitiers nähert und in dem jeder Fahrer auf den perfekten Moment für einen Vorstoß wartet. Ich habe mich noch immer nicht an den Anblick der Menschenmenge gewöhnt, von der sie am Etappenende angefeuert werden. Dicht an dicht stehen die Zuschauer entlang der Banden. Es ist lange her, dass ich zuletzt eng bei anderen Menschen gestanden bin.

Donnerstag
Es wird nicht richtig hell heute. Wo sonst blauer Himmel zu sehen ist, erstreckt sich ein orange getöntes Grau. Die Sonne schafft es nicht, die Rauchdecke zu durchdringen, während der Rauch selbst keine Schwierigkeiten hat, überall hin einen Weg zu finden. Wir riechen ihn im Schlafzimmer, im Wohnzimmer, überall. Es reicht nicht, die Fenster und Türen geschlossen zu halten. Wir leben in einem alten Haus und wenn wir die Fenster schließen, trifft verzogenes Holz auf verzogenes Holz. Wir tragen zusammen, was wir an Tüchern und Lappen haben und dichten die Rahmen ab so gut wir können. Dann lassen wir den Luftfilter eine Weile in allen Räumen laufen.
Der Tag zieht sich. Nach einem halben Jahr im Lockdown bin ich übersättigt an Geschichten. Ich kann keine Romane mehr lesen, keine Serien mehr schauen, keine Podcasts mehr hören. Sie machen mir keinen Spaß mehr, weil sich mein Leben nicht mehr an ihnen reiben kann. Mein Leben steht auf Pause.
Stattdessen verfolge ich die Nachrichten rund um die Ausbreitung der Brände, die Prognosen und die Evakuierungen. In den letzten Monaten ist es zur Routine geworden, täglich die R-Werte für Oregon, die USA und Deutschland zu beobachten. Jetzt ist es der LQI, der Luftqualitätsindex, den ich zuerst checke und der heute noch schlechter ist als gestern.
Die Brände fressen sich immer weiter in die Wälder.
Der Rauch wird bleiben, bis der Wind sich dreht.
Nach mehr als 100 Tagen durchgehender Proteste für Black Lives Matter, geht heute niemand in Portland auf die Straßen.
Präsident Trump verkündet, dass die Waldbrände nicht im Klimawandel, sondern allein in schlechtem Forstmanagement begründet sind. Dieser bullshit hat die gleiche Farbe wie unser neuer LQI: braun, hazardous.

In Etappe zwölf fährt Marc Hirschi dem Peloton schon früh davon. Nach dem letzten Aufstieg der Etappe lässt er alle hinter sich und fährt die letzten dreißig Kilometer im Alleingang. Mir fällt vor allem der Kontrast zwischen den trockenen, abgeernteten Feldern in der Ebene und den üppigen Wäldern in der Höhe auf. Ich frage mich, wie schnell sich dort ein Feuer ausbreiten würde. Die Bäume auf dem Bildschirm sehen saftig aus, aber ich weiß, dass der Schein trügen kann. Schließlich kommen mir auch beim Wandern hier in Oregon die immergrünen Wälder vor wie ein ewiges Paradies. Die Nadeln reihen sich dicht an dicht um die feinen Zweige, die wiederum von starken Ästen gehalten werden. Moose schlängeln sich auf der Schattenseite die Rinde entlang. Hohe Farne aus sattem Grün bedecken den Boden. Ich liebe es, dass die Sommer hier heiß und trocken sind. Ich habe mich daran schneller gewöhnt als die Bäume, denen ich den Wassermangel nicht ansehen kann und die den Bränden trotzdem nichts entgegenzusetzen haben. Der kleinste Funkenflug sorgt für neue Brandherde.

Freitag
Portland ist heute offiziell die Stadt mit der schlechtesten jemals gemessenen Luftqualität. Weltweit. Die bisher verwendete LQI-Skala kann den aktuellen Wert nicht abbilden. Sie endet bei 500, aber wir liegen heute bei 504.
Ich fühle mich eingesperrt. Spaziergänge waren in den letzten Monaten fast der einzige Anlass, das Haus zu verlassen. Nun sitzen wir im Wohnzimmer wie zwei Heuschrecken unter einem umgestülpten Marmeladenglas. Wie lange dauert es eigentlich, bis die Luft in einer Wohnung so verbraucht ist, dass sie zu wenig Sauerstoff enthält? Ich widerstehe dem Drang, Google zu fragen. Stattdessen checke ich das Wetter, schaue, ob die Meteorologen zuversichtlich sind, dass wir bald wieder auflandigen Wind bekommen. Fehlanzeige. Enttäuscht lege ich das Handy zur Seite. Ich muss raus. Wenn Spaziergänge draußen nicht möglich sind, dann muss ich eben in einem Gebäude spazieren gehen.
In der Mall ist nicht viel los. Warum sollte es auch? Ich habe gehofft, dass sie mir Schutz vor dem Rauch bieten würde, aber durch meine Stoffmaske schmecke ich noch immer eine Note in der Luft. Lange sollte ich nicht bleiben.
Ich komme mir komisch vor, an den schlecht besuchten Geschäften vorbei zu schlendern, mir Dinge anzusehen, für die ich selbst dann keine Verwendung hätte, wenn keine Pandemie und keine Waldbrandkrise wäre. Trotzdem spüre ich die Verheißung, dass ich mit neuen Dingen auch neue, gute Gefühle nach Hause nehmen könnte. Ich gehe in ein Kosmetikgeschäft und schaue mir Lippenstifte an, wie ich sie gerne trage, aber es nur noch selten tue. Am Ende verschmiert die Farbe doch nur in der Maske.
Der Smalltalk mit der Verkäuferin wird schnell persönlich. Ihr Onkel lebe unweit von hier in der Kleinstadt Molalla und ignoriere die Aufforderung zur Evakuierung seitens der Sicherheitsbehörden, erzählt sie. „Er bleibt, weil auf Facebook geteilt wurde, dass die Antifa die Feuer gelegt hat, um danach die evakuierten Häuser zu plündern. Ich weiß nicht, wie ich ihn davon überzeugen kann, dass das eine Lüge ist.“
Ich stelle mir vor, wie es wäre, den ganzen Tag in diesem fensterlosen, verrauchten Laden zu stehen und mir Sorgen zu machen, weil sich jemand in meiner Familie bei einer akuten Gefahrenlage lieber an Verschwörungstheorien hält als an die Warnungen der Behörden.
Die Verkäuferin hält meinen Blick, aber ich weiß nicht, was ich sagen soll. „That‘s so fucked up“, ringe ich mir schließlich ab, „ich hoffe, dein Onkel bringt sich bald in Sicherheit.“
Sie seufzt mit hängenden Schultern, die mir die gesamte Rückfahrt vor Augen bleiben.

Bei der Tour de France trennen heute sieben Bergabschnitte die Fahrer von Puy Mary und deshalb zeigt die Zusammenfassung vor allem Bilder, in denen die definierten Wadenmuskeln der Fahrer langsam, aber kraftvoll gegen die Steigung um die Pedalachse kreisen. Zum Angriff erheben die Fahrer sich dann aus dem Sattel und die Fahrräder unter ihnen schwanken. Unser Luftfilter surrt im Takt dazu. Die körperliche Verausgabung hat ihren Reiz. Das Gefühl der Erschöpfung und Zufriedenheit, nachdem man alles gegeben hat, die Ruhe, wenn Atem und Puls sich verlangsamen. Der Stolz, eine Herausforderung gemeistert zu haben. Ich beneide sie. Unsere Herausforderung ist passiv, ein Aussitzen. Wir können unsere Kräfte nicht einteilen, weil wir nicht wissen, wie lange wir sie brauchen werden. Dreißig Kilometer und fünfzehn Prozent Steigung klingen leichter zu bewältigen als bis ein Impfstoff da ist oder bis sich das Wetter ändert.

Samstag
Die Nachrichten in Deutschland berichten abermals über die schlechten Luftqualitätswerte. Wir wachen auf zu verschiedenen Textnachrichten von Freunden und Familie. Wir telefonieren viel und erzählen das Wenige, das es aus dem Marmeladenglas zu berichten gibt.
Als ich den Müll rausbringe, friere ich. In der Rauchdecke ist es nicht nur dunkler, sondern auch kälter. Ohne sie würde die Sonne uns noch immer sommerliche Temperaturen bescheren. Der Geruch von Lagerfeuer dringt mir in die Nase, stärker als zuvor. Ich denke an die zerstörten Wandergebiete, die dieser Rauch bedeutet; Häuser, die bis auf den Grund herunterbrennen, ausgelöschte Leben. Acht Menschen sind den Bränden in Oregon schon zum Opfer gefallen und wer weiß, wieviele Tiere ihnen in der Wildnis und auf den Farmen nicht entkommen konnten. Dieser Geruch ist nicht nur Douglasfichten und Farne, er ist auch Fotoalben, Fernseher, Plastikstühle. Haut, Fell und Knochen. Und er überlagert alles. Den faulenden Müll rieche ich nicht, als ich den Deckel der Bio-Tonne hebe.
Zurück im Wohnzimmer kommt mir die gefilterte Luft dagegen frisch vor, obwohl es dieselbe ist, die schon seit über drei Tagen in diesem Raum zirkuliert. Die Zeltburgen der Obdachlosen, deren Kuppeln seit Beginn der Pandemie zahlreicher geworden sind, kommen mir in den Sinn. Die hastig eingerichtete Notunterkunft auf dem Messegelände wird vor allem von Menschen aus dem südlichen Oregon genutzt, die vor den Feuern hierher geflüchtet sind.
Fast stündlich suchen wir nach Updates, wie schnell sich die Feuer ausweiten und wie sich die höchste Evakuierungsstufe an diesen immer neuen Grenzen des Gefahrenraums entlang hangelt. Satellitenbilder zeigen im Zeitraffer, wie Glutfelder, größer als Ortschaften, mit dem Wind größer werden; wie sie erst kleine Rauchwirbel über die angrenzenden Gebiete schicken, bis diese immer weiter werden und schließlich zu einer Decke. Einer Decke aus Rauch, die sich über die gesamte Westküste legt, bis man gar nicht mehr weiß, wo der Rauch des einen Feuers aufhört und der eines anderen anfängt.

Drei Kilometer vor dem Etappenziel in Lyon startet Søren Kragh Andersen den Angriff, der den Sieg entscheiden wird. Er fährt, fährt sich frei und hat genug Kraftreserven, um das Tempo bis zum Schluß alleine durchzuhalten; hat sogar noch genug Kraft, hinter der Ziellinie die Arme in die Luft zu strecken und seine Leistung zu feiern. Meine Beine kribbeln, wollen rennen, schnell, bis sie nicht mehr können. Ich kann nicht mehr sitzen und gehe stattdessen im Raum auf und ab. Der Jubel. Selbst von der reduzierten Zahl des Pandemiepublikums klingt er enorm. Mein Blick fällt aus dem Fenster, hinter dem der Rauch die Aussicht auf die leere Straße trübt.

Sonntag
Wir sind früh wach. Wir tragen den Luftfilter ins Wohnzimmer und schalten ihn ein, dann starten wir den Live-Stream für die fünfzehnte Etappe der Tour de France. Während wir frühstücken, bestreiten die Fahrer die zweite Bergwertung, eine schattige Strecke. Fokussiert rasen sie danach waghalsig die Landstraße herunter. Fast spüre ich den Wind im schweißnassen Nacken, wie die müden Beine sich erholen, während am Rand Zuschauer, Bäume, Höfe vorbeiziehen. Die Abfahrt ist schneller vorbei, als den Fahrern vermutlich lieb ist, denn ab jetzt geht es nur noch aufwärts. Am Bildschirmrand wird eine Grafik mit dem Anstieg zum Grand Colombier angezeigt. 17,4 Kilometer, mit Steigungen von bis zu zwölf Prozent. Es gibt keinen Schatten mehr, die Serpentinen liegen offen in der erbarmungslosen Sonne. Am Ende kämpft sich Tadej Pogačar knapp vor Primož Roglič ins Ziel.

Wieder prüfen wir, wie sich die Brände entwickelt haben. Sie sind ein kleines Stückchen weiter in Richtung der Vororte Portlands gewandert. Ich stelle mir die Einsatzkräfte vor, die der Hitze und dem Rauch in schwerer Schutzkleidung und mit wenig Pausen ausgesetzt sind, die an ihre Grenzen gehen, um diese Übermacht in allerkleinsten Schritten einzudämmen. Das Feuer müsste die halbe Stadt verschlingen, um uns zu erreichen. Für unseren Stadtteil gibt es keine Warnungen. Ich weiß das. Trotzdem bestehe ich darauf, eine go bag zu packen. Unsere Ausweise, wichtige Dokumente, ein Handyladegerät, Taschenlampe, der Schmuck meiner Großmutter, alles wandert in einen Rucksack, der nun neben der Tür steht. Auch wenn ich weiß, dass es sinnlos ist, tut es gut, irgendwas zu machen, einem Impuls zu folgen, nicht nur zu warten. Es fühlt sich an wie ein Vorsprung vor einer Situation, die nicht wahrscheinlich ist und trotzdem bedrohlich aus den Nachrichten zu uns kommt: dass Menschen im Ernstfall zu spät losfahren, dass sie im Stau stehen und nicht vorankommen, während die Brände sie einholen.
Das Packen ist schnell erledigt. Dann liegt der Tag wieder weit vor uns, konzentriert auf den Luftfilter in unserem Wohnzimmer. Ich setze meine Kopfhörer auf, weil ich eine Pause von seinem Brummen brauche und checke wieder, ob sich der Wind bald drehen soll. Noch sehen die Meteorologen keine Anzeichen dafür. Nun befrage ich doch das Internet, wie lange es bei minimaler Zufuhr dauert, bis der Sauerstoffgehalt in einer Wohnung zu niedrig ist.

 

Miriam Bußkamp

 

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freiTEXT | Anne Büttner

Faule Kunst

Während Erwin H. in seinem Atelier sitzt und malt, sitze ich in meiner Wohnung gegenüber und bereichere mich an ihm. Viel verdienen lässt sich damit vermutlich nicht. Am Honorar beteiligen sollte ich ihn trotzdem. Schließlich ist er es, der die eigentliche Arbeit hat. Er ist der Disziplinierte, der Kreative. Der, der schafft, während ich ihn lediglich abtippe. Mehr als das ist es ja nicht.

Erwin H. zu erdenken wäre wesentlich aufwendiger. Dinge müssten gründlich überlegt werden, ein Setting installiert und Surroundings geschaffen. Das finge mit dem Atelier schon an. Vermutlich wäre das dann eher Galerie als Werkstatt, wahrscheinlich verortet in einem durchgentrifizierten Bezirk einer großen Stadt, warum nicht gleich der größten: Hauptstadt also. Hier wäre natürlich noch zu konkretisieren, die Galerieumgebung wenigstens zu verschlagworten. Vielleicht so: Gute Lage, vorwiegend Wohnen, verkehrsberuhigt, ein paar Spätis, einige Cafés, bisschen Einkaufen, bisschen Kinderbetreuung, Gesundheitszentrum, warum nicht, Yoga-Studio definitiv, wahrscheinlich sogar Plural, in Wegbierentfernung Pizza, Döner, Sushi, Tapas, familiengeführter Imbiß mit „ß“ und Traditionscurrywurst sowie eine beachtliche Auswahl an was-der-Bauer-nicht-kennt im Liefergebiet. Dazu kleine Gewerbebetriebe: Fahrradladen, Handyreparaturen, sowas. Irgendwo da in solch einer Gegend befände sich die Galerie also.

Wie weiter? Der zur Straße hin gelegene Teil würde vermutlich als Ausstellungsraum genutzt und wäre ziemlich sicher sehr klar gehalten, minimalistisch. Das Wenige, das herumläge, sähe nicht nach Herumliegendem aus, sondern nach Konzeptkunst. Arbeiten würde der Erdachte in einem den Ausstellungsraum angrenzenden, von außen nicht einsehbaren Bereich. Der Einfachheit halber würde dieser „Raum II“ genannt und dessen Gestaltung der Vorstellungs­kraft Lesender überlassen. Auch der Schaffensprozess selbst würde vernachlässigt. Da wird man ja nicht fertig, all die Techniken und Stile zu recherchieren und abzubilden, die sich einer wie Erwin H. im Laufe seines, sagen wir, 67-jährigen Lebens angeeignet hätte. Hilfreich wäre ein Forum oder sowas in der Art, aus dem sich zügig fundierte Informationen über das Entstehen von Kunst copy-&-pasten ließen, die eines Erwin H.s würdig wäre. Dann gälte es lediglich, elaborierte Adjektive und aufmerksamkeitsheischende Substantivierungen einzustreuen, um den Eindruck eigener Expertise zu stärken und den des Plagiats zu vermeiden.

Noch effektiver wäre, lediglich zu erwähnen, dass sich die komplette Wirkmacht seiner Kunst auf der Leinwand entfaltet. Eine notwendige Verknappung der Ereignisse. Es wollten neue Texte geschrieben werden, andere. Texte, die mehr Geld und Anerkennung versprachen, als einer über einen wie Erwin H.

Es gäbe also nur vernissagebereite Arbeiten in der Galerie. Diese wären so positioniert, dass sie dem erwünschten Eindruck genügten, hier entstünde Kunst nur der Kunst wegen. Wie genau diese Positionierung auszusehen hätte, wäre noch zu überlegen oder der Satz gegebenenfalls zu streichen.

Was noch? Die Exklusivität seines Schaffens betonend, fänden sich nur wenige Werke vor Ort. Den übrigen Raum füllte er, der Erdachte, mit kunstvollem Sein. Säße bedeutsam herum, schritte energisch umher oder lehnte exponiert an exponatloser Wandfläche, von dort auf seine Werke blickend. Natürlich ginge es ihm dabei um Perspektivwechsel und nicht um die Aufmerksamkeit Passierender, die er aber wohlwollend in Kauf nähme. Ebenfalls in Kauf nähme er, gegen zu erfragenden Festpreis, den Verkauf seiner Arbeiten. „VB“ wäre nicht Sache des Erdachten. Ebenso wenig wie seine Kunst wäre Geschmack für ihn verhandelbar. Der fiktive Erwin H. gäbe viel auf sein Äußeres. Dazu gehörte ein handgefertigter Panamahut im Stile Liebermanns und Rockefellers, den er als gleichwertigen Gruß an die Künste und das Unternehmertum trüge. Zudem trüge er ein Hemd aus gebürsteter Baumwolle, unter dem sich ergrautes Brusthaar um ein mehrlagiges Goldkettchen rankte. Über Kettchen, Brusthaar und Hemd sei dem Erdachten ein Seidentuch gegönnt und Leinenhosen. Diese würde er leger aufgekrempelt haben, sodass man die Schmucklederbändchen würde sehen können, die seine von Sonne und Betacarotin gefärbten Fesseln zierten. An den Füßen trüge er Espadrilles. Wie Sonny Crockett in Miami Vice, den er aber nur heimlich bewunderte.

Vor allem aber trüge Erwin H. in meiner Version von ihm eines: einen weniger handwerklichen Namen. Vielleicht wäre er ein Friedrich W. oder ein Albrecht M. Vielleicht auch ein Korbinian von B. Der noch zu beschließende Name würde in silbernen Lettern am Galeriefenster verkündet. Der intendierten Wirkung wegen (edel, geheimnisvoll), wären sie auf einem Sichtschutzstreifen aus wertiger Glasfolie aufgebracht. Eventuell mit dezentem Grafikelement noch. Aber das sind Feinheiten, die bei einem Getränk überlegt oder nach weiteren vergessen werden könnten.

Abschließend überlegt wurde hingegen folgendes: Zum Rotwein, den er natürlich tränke, gönnte er sich gern Käsespezialitäten, Trüffelsalami, Datteln, Kapern und Grissini, die mit etwas Feigensenf auf einer Schiefertafel angerichtet wären. Das alles würde er regelmäßig beim Feinkostladen seines Vertrauens erstehen, den er selbstverständlich hätte. Und einen hochkarätigen Siegelring hätte er auch. Den trüge er am selben Zeigefinger, mit dem er seine Edelholzbrille zurechtschöbe, wann immer er meinte, dass diese beim kunstvollen Umherblicken ihre Position verlassen habe. Was nicht passieren würde, da er natürlich eine Maßanfertigung besäße und kein positionswillkürliches Kassenmodell wie der echte Erwin H.

Gerade habe ich ihn gesehen, den echten Erwin H. Immer, wenn ich das Haus verlasse oder betrete, komme ich an seinem Atelier vorbei. Und auch hier, von meinem Schreibtisch aus, kann ich ihn sehen.
Erwin H. stört diese Sichtbarkeit nicht. Im Gegenteil: Erst, wenn das Licht der Leuchtstofflampen den Raum stärker hellt, als der Tag das Außen, erst dann tritt er in Erscheinung. Genau genommen ist er dann einfach da.

Noch nie sah ich ihn sein Atelier betreten oder verlassen. Eigentlich kenne ich ihn nur dort seiend. Entweder an einer Leinwand arbeitend oder krummrückig an einem Tapeziertisch in der Raumesmitte. Auf dem Tisch finden sich Farben, diverse Spachtel und Spatel, Paketband, Löschpapier, Teppichmesser, Specksteine, Lackdosen, Scheren, Stifte, Bindfäden, Pinsel zum Zeichnen und Leimen, Wassergläser verschiedener Füllstände und Auswaschspuren, weiteres Aufzählungslängendes sowie eine Isolierkanne mit Tee, tippe auf Sanddorn oder Hagebutte.

Die echte Fensterbank des echten Erwin H. ist in ihrer Absichtslosigkeit perfektes Stillleben: Neben einem kunstvoll angeschlagenen Teller, den sich frischgeschimmelte Pfirsiche mit bald schimmelnden Tomaten teilen, findet sich allerlei Adjektivloses: eine Dose Studentenfutter, ein Radiorekorder, Sitzkissen, Zwirn, Reißverschlüsse, Muschelschalen, Kerzenwachs, Geschenkband … sowas. Einige Staubstellen weiter türmen sich Tonträger. Vorstellbar sind Chansons: Gainsbourg, Piaf, Conte. Oder Houellebecq, egal, ob der jemals auch nur ein Chanson gesungen hat. Einfach, weil Chansons zu Houellebecq passen und Erwin H. mit seinem Tumbleweed-Haar, der fahlen Haut, der egalen Kleidung und dem Pinsel, der zigarettengleich zwischen seinen Lippen klemmt, an ihn erinnert.

Außer Chansons wären auch Weltmusik oder Mitschnitte großer Rockfestivals denkbar. Vielleicht weiß er selbst nicht mehr, was auf den Silberlingen zu hören ist, die manch verkrustetem Insekt Totenbett und manch verkrustetem Gefäß Untersetzer sind.
„Erwin H. macht was er will“, verkündet ein Scherenschnitt im Fenster. Vor allem macht Erwin H. eines: kein Geheimnis aus sich. Weder aus sich noch aus seiner künstlerischen Vorliebe für huttragende Modelle, an denen ordentlich was zu malen dran ist. Wenn das Licht brennt, steht ihnen und allen anderen sein Atelier offen. Manchmal bringen sie Dinge mit, von denen sie annehmen, es sei Atelierskost. Rotwein. Käsespezialitäten. Trüffelsalami. Datteln. Kapern. Grissini. Feigensenf. Sowas. Ob Erwin H. je davon probiert hat, weiß ich nicht. Rotwein trinken sah ich ihn jedenfalls nie. Und auch sonst nichts Kompliziertes naschen. Nichts, das um seine Aufmerksamkeit buhlt. Denn die gilt einzig seiner Kunst, die sich dicht an dicht drängt oder stapelt, wo kein Drängen mehr möglich ist.

Aktuell arbeitet er an etwas Realistischem in Öl: Teilsanierter Altbau. Fünf Stockwerke. Putzfassade mit Sauklauengraffiti im Sockelbereich. Zweiflügelige, teilverglaste Eingangstür. Vor dem Haus Ereignislosigkeit. Neben dem Eingang eine „ZU VERSCHENKEN“-Kiste mit „ZU ENTSORGEN“-Inhalt. Im Erdgeschoss ein beleuchtetes Eckzimmer: Doppelkastenfenster, Oberlicht auf Kipp. Auf der Fensterbank Lautsprecherbox, einige Bücher, keine Sukkulenten. Am Fenster ein Tisch, darauf ein Weinglas und ein aufgeklapptes Notebook. Daneben etwas, das ein Manuskript sein könnte. Immerhin ein Stapel. Immerhin beschrieben. Darauf ein Aschenbecher und eine Karaffe mit Rotwein. Denkbar wäre natürlich auch Traubensaft, aber wozu.
Am Notebook eine rauchende Person: Gesicht displaybeleuchtet, zusammengekniffene Augen hinter eckigen Brillengläsern, der Blick hinter der Scheibe zum Erliegen kommend. Schräg hinter der Person eine an Leuchtkraft sparende Lampe sowie eine an Pracht sparende Pflanze vor einer bilderlosen Wand in Beton-Optik. Mehr ist nicht zu sehen.

Erkennen kann ich mich dennoch. Dabei trinke ich gar keinen Rotwein. Und eine Karaffe habe ich auch nicht. Aber hätte ich eine, wäre sie aus kunstvoll geschliffenem Bleikristall und nicht aus leicht zu zeichnendem, schmucklosem Glas. Dass die mir von Erwin H. verpasste Brillenform von meiner abweicht – geschenkt. Und auch, dass auf dem Fensterbrett sehr wohl Sukkulenten stehen. Sehr schöne sogar. Das Manuskript lasse ich mir hingegen sehr gern gefallen. Das schmückt meinen Tisch mehr als die zu erledigende Bürokratie, die dort eigentlich liegt.

Ich frage mich, ob Erwin H. mit seinem Bild über mein Schreiben mehr verdienen wird als ich mit meinem Schreiben über sein Malen. Schwer vorstellbar. Dafür müsste erstmal jemand das Bild kaufen. Und ehrlich gesagt …

Nur so tippe ich seinen Namen in die Suchmaschine. Schon beim dritten der elf Buchstaben des Nachnamens schlägt die Autovervollständigung an. Eins ist sicher: So, wie Erwin H. vor der Welt kein Geheimnis aus sich macht, macht die Welt auch keines aus ihm. Schon lang nicht mehr! Zumindest am Verkaufserlös beteiligen sollte er mich! Das ist ja wohl das Mindeste! Schließlich bin ich es, die die eigentliche Arbeit hat! Ich bin die Disziplinierte, die Kreative! Die, die schafft, während er mich lediglich abmalt! Mehr als das ist es ja nicht!

 

Anne Büttner

 

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freiTEXT | Fynn Bastein

Frierende Epiphyten

Eine Störung unbekannter Größe
Die letzten Tage war es kalt geworden im Gebäude B8253 und Moos war sich unsicher, ob es nicht vielleicht schon immer so kalt war. Ob sich nicht einfach eine neue Sensibilität bei ihm gebildet hatte. Es war nichts Ungewöhnliches für Moos. In Abständen, die sich keinem Muster zu unterwerfen schienen, wurde sein Leben von neuen Sinnen verkompliziert – neue Verbindungen fanden sich in seinem Gehirn oder ihm wuchsen neue Geruchsorgane, die ihm auf eine absonderliche Art und Weise gut standen. Doch das Thermometer im Flur verriet ihm: nicht er, sondern die Umgebung war dieses Mal der Auslöser. Das Problem war nur, dass Moos keine Ahnung hatte, woher die Kälte kam. Bis jetzt war seine Erdgeschoßwohnung, die sich wie ein verschrecktes Tier halb unter dem Erdboden verbarg, immer kuschelig warm gewesen – und das obwohl er sich weigerte, die Heizung anzuschalten.
Das Gebäude war eines unter vielen gleichen, die sich nur in Gebäudenummer und Farbton unterschieden. Moos war schon vor einer Weile eingezogen, man konnte aber kaum von ‚wohnen‘ sprechen. Normalerweise kam er nur zum Schlafen nach Hause und genau dabei störte ihn die Kälte nun. Es war weniger eine klirrende als eher eine zugige Kälte, als wäre sein Bett strategisch auf einer Klippe platziert worden. Sie schien von allen Seiten zu kommen, was die Suche nach einem Auslöser als schwer bis unmöglich gestaltete. Geplagt, mehr von der Ausweglosigkeit der Situation als von der Kälte selbst, entschied sich Moos, noch ein bisschen zu arbeiten – eine Tätigkeit, die ihn meistens zur Ruhe brachte. Moos arbeitete bei der Verwaltung des Ortes in der Abteilung der kleinen Dinge. Moos war alleinig für die Kategorisierung der kleinen Störungen verantwortlich. Störungen können alles sein – physische, ästhetische, olfaktorische. Gerade erst hatte Moos eine neue Kategorie ins Leben gerufen – die der schlecht gesetzten Pflastersteine. So gab es welche, die schräg waren, welche die ein bisschen erhobener als die Steine um sie herum waren und welche die gar eine andere Farbe hatten. Seine Arbeit gliederte sich in einen suchenden Teil, bei dem er entweder selbst durch die Stadt streunte oder andere Bewohnende zu ihren Störungen befragte, und in einen kategorisierenden Teil, bei dem er in einem großen Hochhaus, seinem Wohnhaus nicht unähnlich, saß und die Störungen in verschiedene Kategorien einteilte. Vom Hochhaus aus konnte Moos fast die gesamte Stadt überblicken. So konnte er, wenn er über eine der Störungen las, in die Richtung blicken, in der sie sich befand und sich vorstellen, wie sie dort, auf eine Art widerlich und schön zugleich, das Stadtbild veränderte. In seiner Erdgeschoßwohnung war das schwer möglich und so hatte die Arbeit mit den Pflastersteinen von seinem Bett aus eine sehr viel weniger lebhafte Qualität. Als er dann so müde wurde, dass er bereit war zu schlafen, duckte er sich unter seine Decke. Nun ähnelte Moss einem verschreckten Tier, das vor dem kalten Wind flüchtete.

Entdeckung der Kälte
In der nächsten Nacht konnte Moos wieder nicht schlafen, seine Decke war kein ausreichender Schutz gegen die Kälte. Seine Ohren froren und er bildete sich ein, in seinen Haaren Eisklumpen spüren zu können. Da er nicht wusste, was er sonst tun sollte, beschloss Moos, sich auf die Suche nach dem Ursprung der Kälte zu machen. Er befeuchtete äußerst fachmännisch seinen Finger, um besser einschätzen zu können, woher die windige Kälte kam. Er stellte direkt fest, dass der Auslöser wohl keine undichten Fenster waren. Es kam durch die Tür aus dem Flur. Also trat er im Schlafanzug und mit erhobenem Zeigefinger hinaus. Moos hatte sich noch nie mit dem Rest des Hauses beschäftigt. Nicht mit seinen direkten Nachbarn und erst recht nicht mit den restlichen Stockwerken. Er wusste nicht mal, wie viele Stockwerke das Haus hatte. Die Kälte rührte aber von den oberen Stockwerken her, also musste er sich wohl oder übel nun damit auseinandersetzen. So folgte er der Kälte wie eine willenlose Marionette, ein Stockwerk hinauf und ein zweites und ein drittes. Nach dem 6. Stockwerk war die Frage nach der Anzahl der Stockwerke auf einmal dringlich. Nach dem 10. Stockwerk wurde sie durch die Frage abgelöst, ob das Gebäude überhaupt ein Ende hatte. Nach dem 13. Stockwerk bereute Moos, sich keine Flasche Wasser mitgenommen zu haben. Ab dem 15. Stockwerk fiel Moos auf, dass es merklich immer kälter und kälter wurde. Im 17. Stockwerk wurde die Kälte fast unerträglich. Nach dem 20. Stockwerk hörte das Gebäude endlich auf und dort befand sich nichts mehr. Die Treppe des 20. Stockwerks führte wortwörtlich ins Nichts und über Moos war nur noch der Sternenhimmel. Das erklärt die Kälte, murmelte Moos. Erschöpft von den Treppenstufen setzte sich Moos auf die vorletzte und betrachtete die Sterne. Erst nach einer Weile bemerkte er, dass direkt gegenüber auch ein Hochhaus war und dass dort ein Mann am Fenster saß. Er winkte ihm zu und Moos winkte zurück.
Er war ihm unheimlich unangenehm gesehen zu werden. Nicht weil er mitten in der Nacht im Schlafanzug die Sterne beobachtete, sondern einfach, weil ihn jemand wahrnahm, in einem Moment, in dem er selbst fast vergessen hatte, dass er existierte. Peinlich berührt machte er sich auf den Weg die Treppe hinunter, bemüht nicht noch einmal die Blicke des Mannes zu streifen. Der Weg nach unten kam ihm noch länger vor als der Weg hinauf. Als er in seinem Bett wieder ankam, kam es ihm im Vergleich zum Ende des Hochhauses unglaublich warm vor. Im Halbschlaf fragte er sich, ob es wohl eine Medizin für Situationen gäbe, in denen man aus dem Nicht-Existieren herausgerissen wurde.

 

Fynn Bastein

 

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freiTEXT | Philipp Nowotny

Muse gesucht (m/w/d)

Ich lege meine ausgedruckten Texte um den Topf der Sukkulente. Dann setz ich mich aufs Sofa und schau zu. Die Sukkulente sagt, ich solle weggehen, das mache sie ganz nervös. Ich sage, ich würde gerne sehen, an welchen Stellen sie lache, aber die Sukkulente weigert sich zu lesen, solange ich da bin, also gehe ich auf den Balkon eine rauchen. Durchs Fenster beobachte ich die Sukkulente, aber von draußen ist es schwer, die Emotionen abzulesen, außerdem besitzt die Sukkulente sowieso kein Gesicht.

Ich frage meine Sukkulente, was sie nun zu meinen Texten sage. Sie sagt, sie freue sich, dass ich mich künstlerisch entfalten wolle. Ich sage meiner Sukkulente, sie könne ruhig sagen, wenn ihr meine Texte nicht gefielen. Sie sagt, es sei nicht so, dass ihr meine Texte nicht gefielen. Und es liege nicht an meiner Technik. Sie könne es nicht konkret benennen. Dann sagt sie, ich brauche vielleicht eine Muse. Wo ich denn jetzt eine Muse finden solle, frag ich. Meine Sukkulente schweigt vielsagend.

Geniale Texte bräuchten Musen, sagt meine Sukkulente. Ich frage mich, ob das notwendig ist. Es klingt nach zusätzlichem Aufwand. Ich möchte nur ein wenig Feedback bekommen, möglichst konkret, dann an den Texten feilen, damit ein Publikum finden, das ab und zu lacht, in den richtigen Momenten traurig wird, immer wieder den Kopf schüttelt, weil es jetzt doch wieder ganz schön seltsam wird, das nicht aufhören kann zu lesen und nach mehr verlangt. Meine Sukkulente sagt, dazu sei Team-Arbeit nötig.

Schreiben ist für mich das Gegenteil von Team-Arbeit. Du setzt dich hin. Du schreibst einen Satz. Du schreibst den nächsten Satz. Andererseits wiederum ist Schreiben nicht einmal Einzel-Arbeit. Du schreibst ja nicht selbst, nicht bewusst, deine Finger schreiben, du fütterst sie mit Impulsen, sie machen daraus Buchstaben und Wörter. Meine Sukkulente sagt, für genau solche Impulse brauche es eine Muse. Sie müsse mein Inneres besser kennen als ich selbst. Ob mir denn niemand solches einfalle?

Suche Muse, schreibe ich also, die mir helfen solle, ein paar seltsame Sachen aufzuschreiben, die passiert sind, von denen ich nicht ganz genau weiß, was Wirklichkeit und was Einbildung ist. Viel bin ich gewandert (ich nutze aber gerne auch fliegende Teppiche), viel habe ich zu erzählen. Sage mir, Muse, wie ich auf unterhaltsame Weise Ordnung schaffe in all den Abenteuern, die mich ereilten. Bisschen pathetisch, meint die Sukkulente. Ich füge hinzu: Budget gering, Mitarbeit ehrenamtlich.

Ich frage meine Sukkulente, wo ich den Musen-Aufruf veröffentlichen solle. Sie sagt, das wisse sie nicht, sie habe noch nie die Stelle einer Muse öffentlich ausgeschrieben, auch noch nie gehört, dass dies jemand getan hätte oder üblich sei. Ich weiß nicht, was sie hat, das mit der Muse war ja ihre Idee. Meine Sukkulente sagt, Musen seien oft dort, wo man sie nicht erwarte, manchmal direkt vor der eigenen Nase. Ich mache einen Social-Media-Post. Sofort ein paar Likes. Dann warten wir.

In den nächsten Tagen schau ich auch immer wieder in den Spam-Ordner, aber es meldet sich keine Muse. Meine Sukkulente sagt, alle Musen seien wohl beschäftigt. Vielleicht gebe es eine ganz naheliegende Lösung für die vakante Stelle, an die ich noch nicht gedacht habe. Ich suche im Internet nach Schulen für Musen, vielleicht könnten die Absolventen empfehlen, aber ich finde nichts, Schulen für Musen sind wohl sehr diskret, wahrscheinlich werden sie sonst mit Anfragen überschwemmt.

Ich lese mir die Ausschreibung für meine neue Muse noch einmal durch. Sie ist höflich formuliert, und die fehlende Bezahlung ist im Kultursektor die Regel. Ein paar Kriterien passe ich aber an. Teamfähigkeit und Manieren setze ich auf optional, ich komme ja auch mit meiner Sukkulente zurecht, und Office-Kenntnisse sind als Muse nicht nötig, die kommen ganz raus. Ich überlege, ob ich doch Demokratiefeindlichkeit ausschließen solle, will aber den Kreis der Bewerber nicht zu stark eingrenzen.

Dann habe ich eine Idee, warum sich bislang keine Muse auf meine Ausschreibung gemeldet hat. Ich habe keine Deadline gesetzt. Das kenne ich von mir selbst: Ohne Deadline geht gar nichts, und gerade eine Muse braucht sicher ordentlich Druck, woher sollte sonst die Inspiration kommen. Ich überlege, eine siebentägige Frist zu setzen, entscheide mich aber für eine harte Linie, es ist einen Versuch wert. Bewerbung nur noch möglich bis heute Nacht, 23:59 Uhr, schreibe ich, es gelte der Posteingang.

Ich aktualisiere die Ausschreibung. Dann warte ich. Alle paar Minuten synchronisiere ich meine Mails. Nichts, auch nicht über meine Social-Media-Kanäle. Ich warte. Und zum Glück fällt mir dann doch ein, was der Fehler ist: Ich habe komplett an der Zielgruppe vorbeigedacht – und um schriftliche Bewerbung gebeten. Eine Muse aber schreibt selbstverständlich gar nichts. Sie lässt schreiben. Also Anschrift und Telefonnummer rein, Email-Adresse raus. Um persönliche Bewerbung werde gebeten, fertig.

Ich bin nun überzeugt, die perfekte Ausschreibung für Musen aufgesetzt zu haben. Jetzt könne ich nur noch warten, sage ich mir. Ich beruhige mich damit, dass die meisten Bewerber sich immer erst kurz vor Fristende melden. Wobei ich zu dieser These keine statistischen Daten vorweisen kann, es ist lediglich anekdotisches Wissen, das auch nur auf meinem eigenen Deadline-Verhalten beruht. Ich spüre, dass die Sukkulente mich beobachtet. Sie findet meinen Perfektionismus albern, glaube ich.

Nichts tut sich. Ich sage meiner Sukkulente, ich habe ein Problem. Niemand wolle meine Muse sein. Wenn ich weiterhin schreibe, müsse ich dies wohl auch künftig uninspiriert tun. Die Sukkulente sagt, es sei zum Haareraufen (sie hat gar keine Haare!), ich denke ganz falsch und unterliege einem Irrtum, was eine Muse sei. Dabei sei es doch offensichtlich. Sie habe gehofft, ich komme selbst drauf. Sie schweigt. Ich sage, sie solle unbedingt fortfahren. Sie räuspert sich. Da klopft es an der Tür.

 

Philipp Nowotny

 

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freiTEXT | Katharina Flor

Erdbeerschokolade und „Löwenzahn“ – mein Medikamentenentzug

Ich trinke koffeinfreien Kaffee und esse seit Tagen Erdbeerschokolade, um mich bei Laune zu halten, außerdem habe ich drei Kilo abgenommen. Ich wäre gerne wieder normal. Ich berichte hier von meinem Medikamentenentzug. Heute ist Tag 19. Ich führe Strichliste. „Jede Stunde und jeder Tag, den Sie schaffen, bringt Sie weiter weg von dem Mittel.“ Dieser Satz hängt an meiner Wand. Und noch ein paar andere wichtige Sätze. „Es wird besser.“ Ich habe gerade einen guten Moment. Der ganze Tag ist schon ganz okay. Allerdings hochemotional. Ist es endlich bald soweit, dass ich wieder einen normalen Alltag führen kann? Eigentlich schmeckt mir die Schokolade gar nicht mehr. Mir schmeckt das nicht mehr. Brauche eine Ablenkung, weil ich sonst mein Projekt „Frei sein von Medikation“ nicht schaffe. Gestern war es hart. Ich knickte ein. Ich dachte, es sei vorbei. Heute ist ein neuer Tag. Jeder Tag ist anders.

Schon ein paar Tage vor Weihnachten 2024 dachte ich, dass ich nun auch den letzten Rest meines Neuroleptikums absetze. Ein Medikament, das einst Segen brachte und für viele Menschen immer noch Segen ist. Für mich ist es jetzt Fluch. Ich merke, meine Spannung steigt. Aber ich mache weiter, was soll ich sonst tun? Mit meinem Therapeuten habe ich besprochen, alles da sein zu lassen, kein Kampf gegen die Absetzsymptome. Annahme. An Weihnachten hatte ich den Versuch abgebrochen. Ich dachte ein wenig, es läge an Weihnachten. Nein, weit gefehlt.

Dann ein weiterer Versuch am Sonntag, den 2. Februar 2025. Ich merkte zunächst nichts. Habe scheinbar weit verdrängt, dass es schlimm werden könnte. Am Donnerstag, den 6. Februar ein totaler Absturz nach der Therapie. Ich habe da immer noch nicht an Absetzsymptome gedacht und das Medikament dann doch wieder genommen. Am nächsten Tag führte ich das Absetzen fort. An diesem Wochenende fiel dann noch die Heizung aus und ich saß da mit 17 Grad in der Wohnung. Ein paar Tage war alles noch machbar. Dann am Mittwoch extreme Durchlässigkeit. Wie erkläre ich, was das ist? Du kannst nichts mehr ertragen. Deine Themen schon mal gar nicht. Überhaupt keine Schutzschicht mehr. Der Körper steht ohne da. Es ist schlimm. Schlaflosigkeit setzte ein. Den folgenden Donnerstag wieder Therapie. Abends musste ich eine Veranstaltung verlassen. Ich ertrug nichts mehr. Noch nicht einmal Klavierklänge. So gut wie es ging, fuhr ich mit dem Bus nach Hause. Da ein totaler Absturz. Es setzten Hochspannungszustände ein. Panik. Ich wusste nicht, was mit mir geschieht. Im Sommer hatte ich auch Absetzsymptome. Da habe ich mit dem Absetzen begonnen. Im Sommer war es auch schwer, aber nicht so heftig. Telefonseelsorge nicht erreichbar. Überlastung. In der Psychiatrie angerufen. Laut der Stimme am anderen Ende der Leitung: „ein Notfall“. So wollte ich das nicht! Brauchte sofort Hilfe. Wusste nicht, wohin mit der Spannung. Am Telefon erhielt ich ein paar Ratschläge. Ich habe sofort ein paar Kraftübungen probiert, um die Spannung zu reduzieren. Im Kopf Tiernamen aufgezählt. Es war katastrophal. Es half auch nur bedingt. Die Spannung zu hoch. Ich ging draußen spazieren. Runde für Runde und überlegte. Ich wusste, ich halte es nicht mehr aus. Aber ich wollte das unbedingt schaffen! Ich drehe durch, insbesondere in der Wohnung. Telefonate. Meine Schwester holte mich ab. Ich war zwei Nächte bei ihr, dann eine Nacht bei meiner Mutter. Das alles ging nicht gut. Ich ertrug nichts. Die Mutter telefonisch nicht zu erreichen oder die Sirene in der Ortschaft brachte heftige Spannungsanstiege und Angst. Ich lief ständig umher, um gegen die Spannung vorzugehen. Einkaufen ging nicht. Ich hüpfte durch den Supermarkt, konnte vor Angst nicht warten. Keine Menschen ertragen. Keine Trigger. Das waren die härtesten Tage. Hochspannung Tag und Nacht. Ich konnte gar nicht mehr schlafen, vielleicht eine Stunde. Stattdessen musste ich meine Spannung in Griff bekommen. Nachts in Stützposition. Mitunter kalte Dusche. Trotz Husten. Später noch die Menstruation. Ich konnte es mit mir selbst nicht ertragen. Permanent in Angst, es könnten schwierige Gedanken in den Kopf kommen. Angst vor Gefühlen. Eine Angsthypnose, die ich in der Zeit hörte, kann ich jetzt
nicht mehr hören. Zu schlimm ist die Erinnerung an diese Tage. Ich nehme noch ein anderes Medikament bei Bedarf, in diesen Tagen so hoch dosiert, wie nur möglich. Es half kaum. Schnell weiter im Text!

Ich fuhr wieder nach Kiel. Und seitdem bin ich wieder in meiner Wohnung. Nur langsam verbessert sich der Zustand. Ich schlafe mittlerweile wieder vier bis fünf Stunden. Aber mein Kopf ist voller Angstgedanken. Mal mehr, mal weniger. Es kommen mehr Phasen der Ruhe. Die Hochspannung schlug sogar in extreme Entspannungszustände um, so sehr, dass mich das beunruhigte. Das Atmen fiel schwer. Gespräche kann ich immer noch nicht gut aushalten. Ich kann nur übers Wetter, Essen oder Ähnliches sprechen. Ich kann keine Filme zur Ablenkung schauen, außer Wissenssendungen für Kinder. Ich habe immer wieder Spannungszustände und auch Angstzustände. Gestern dachte ich, dass ich abbrechen muss. Aber nein, ich will es schaffen! Das kann ich nicht noch einmal durchmachen. Alle sagen, dass das vorbei geht. Es kann aber Wochen dauern. Am schlimmsten ist für mich das abendliche Alleinsein. Die Dunkelheit. Ich habe ein LED-Licht gekauft, damit ich mich im Bett sicherer fühle. Höre den ganzen Tag Radio. Ich weiß, dass ich stark bin. Ich ziehe das jetzt durch. Meine Spannung ist jetzt hoch, aber nicht extrem hoch. Und ich habe Angst. Muss mich diesen Gedanken aussetzen, weil sie sonst immer mehr Angst machen. Das Schlimmste ist vorbei, hoffe ich! Es ist immer noch schwer und ich arbeite an der Angstbewältigung. Mein Therapeut sagt: „Sie surfen die Angstwelle.“ Ja, genau das mache ich, auch jetzt gerade. Ich war gerade ganz weit oben, versuche jetzt sanft abzusteigen. Sanft wird das nicht, werde wohl ein wenig stolpern, fallen und wieder aufstehen. So bin ich.

Fortsetzung. Damit sollte es enden. Nach 1000 Worten. Es ist inzwischen vorbei. So gut wie. Ich hatte Tag X erreicht. Morgens ein Gespräch, dann spontan in einen ehrenamtlich betriebenen Laden gegangen, um mich bezüglich einer Mitarbeit zu erkundigen. Danach bin ich nach Hause. Dort ging es wieder los! Ich lief dann im Stadtteil umher, um Müll zu sammeln. Ablenkung. Graue Wohnblocks. Unvertrautheit. Meine Hände froren in den Einmalhandschuhen. Stiefelte durch den Dreck. Wann hört das endlich auf? Mein Ziel für diesen Tag: Abends zur Tanzimprovisation. Das wollte ich noch schaffen. Schon das Krankenhaus im Kopf. Ich ging zum Tanzen. Mit Bedarfsmedikation im Bauch. Es ist nicht zu übersehen, dass es mir schlecht geht. Ich halte durch, gebe mein Bestes. Der Tanz – der Pfeiler meines Lebens! Ach, könnte ich doch immer tanzen! Wieder zu Hause. Ich legte mich hin. Um Mitternacht wachte ich wieder auf. Ich brauchte noch eine Weile, dann entschied ich ins Krankenhaus zu fahren. Konnte nicht mehr. Der Punkt war erreicht. Ich rief ein Taxi. Auf dem Klinikgelände verirrte ich mich zunächst, fand dann doch die Notaufnahme. Es war verfahren. Ich wollte da bleiben, immer noch mit der Hoffnung, dass es sich bald bessert. Eine Aufnahme war nicht möglich. Das Gespräch mit dem Arzt aber gut. Ich ließ los. Endlich ließ ich los. Noch vor Ort nahm ich das gefürchtete Medikament wieder ein. Niedrig dosiert. Machte mich dann früh morgens auf den Weg zur nächsten Bushaltestelle. Der Weg war angenehm. Ruhig und menschenleer. Das Straßenlicht warm. Ab da lag ich nur noch von morgens bis abends. Völlig erschöpft. Am Samstag noch einmal Panik. Noch einmal die Notfallnummer der Psychiatrie gewählt. Eine freundliche Frau half mir. Sie riet, in den Schlaf zu finden. Ich nahm sie beim Wort und legte mich gegen 17 Uhr hin. Medikamente und Schlaf. Ich schlief, aber nicht viele Stunden am Stück. Zwei Tage ging es so. Immer noch den ganzen Tag Radio. Immer wieder die gleichen Songs. Nicht zu emotional. Damals in den Kliniken lief auch immer Radio von morgens bis abends. Sie untermalt meinen Zustand. Man sitzt, wartet und guckt raus, hört. Und macht Therapie. Ich warte jetzt auch, dass sich mein Zustand bessert. Ich bin dankbar, das Medikament wirkt. Der Schlaf- und Nerventee musste weichen, konnte ihn nicht mehr sehen. Ich brauche jetzt ein wenig mehr von dem Wirkstoff. Was ist jetzt? Ich habe Angst vor Gefühlen. Vor schlimmen Zuständen. Abstürzen. Im Moment möchte ich nichts fühlen. Viel zu viel gefühlt. Dann aber macht mir der Gedanke doch etwas Angst. Nein, ich möchte fühlen. Nur heute nicht. Ich kann diesen Text lesen, ohne in starke Angst zu verfallen. Ein bisschen Unwohlsein. Was war das nun? Ist es meine Grunderkrankung, die durchschlug? Oder waren es Absetzsymptome? Vielleicht beides. Es gab zuvor Warnsignale. Ich habe sie ignoriert. Ich wollte unbedingt von den Medikamenten weg. Wollte mich von der psychiatrischen Versorgung lösen. Unabhängig und frei fühlen. Gesund sein. Es ist jetzt okay. Ich akzeptiere. Ich akzeptiere, dass ich das gerade nehmen muss. Nur so kann ich zur Zeit leben. 1,25 mg. Das Weglassen dieser kleinen Menge, laut des Arztes „ein Hauch“, brachte mich in diese Lage! Unfassbar! Vermutlich gab mir diese Menge Sicherheit. Die Sicherheit ist brüchig. Muss sie in mir finden. Mich wieder ans Leben heranwagen. Die Dinge wieder an mich heranlassen. Die Angst bewältigen.

Ich erkenne: Ich bin ein neuer Mensch. Etwas ist anders. Ich akzeptiere meine Erkrankung. Nun weiß ich, dass ich trotzdem alles probieren kann, was ich mir wünsche, eben mit der Erkrankung und mit dem Medikament. Und mit Offenheit. Ich sehe den gefürchteten Spätwirkungen ins Auge. Wenn ich Spätdyskinesien bekomme, muss ich damit leben. Dann lebe ich damit. Es findet sich ein Weg. Ich lebe jetzt. Ich habe nicht aufgegeben, ich habe „Ja“ zu mir gesagt und das Beste daraus gemacht. Mir selbst geholfen. Mir Hilfe geholt. Ich mache jetzt anders weiter!

 

Katharina Flor

 

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freiTEXT | Anton August Dudda

Krokodile

Plötzlich Krokodile. Im Park Krokodile, in der Bahn Krokodile, Krokodile überall dort, wo man dachte, hier sei man sicher, hier, wenigstens hier kann einen eigentlich nichts mehr überraschen, Krokodile all over the place wo man dachte, man hätte die Regeln begriffen und sie hätten alles zu einer gewissen Ordnung gebracht, auf der Straße, im Café, im Einkaufszentrum, Krokodile. Krokodile auch an komplizierteren Stellen, Krokodile in Krankenhausbetten, an der Garderobe im Theater, auf der Tanzfläche im Club, Krokodile im Darkroom, Krokodile im Lightroom, Krokodile im Escape Room, Krokodile auf den Lehrstühlen der Fakultäten und Krokodile im Schiffsrumpf, Krokodile in den Zimmern dritter Klasse, den Zimmern zweiter Klasse, den Zimmern erster Klasse, auf Deck und in den Rettungsboten, Salzwasserkrokodile in den Rettungsboten von Flussdampfern und Süßwasserkrokodile in den
Rettungsboten von Ozeankreuzern, sonst könnten sie im Ernstfall ja auch einfach wegschwimmen. Krokodile auch an Orten, die es eigentlich nicht gibt, Krokodile, die nachts unter Kinderbetten lauern, Krokodile im Badspiegel, wenn man vom Zahnpastaausspucken wieder hochschaut, Krokodile in dunklen Kellern mit flackernden Glühlampen, Krokodile in Bäuchen von Verliebten, Krokodile im Hirn von Verrückten, Krokodile im Arsch von Nervösen.
Krokodile auf deiner Nasenspitze als du sagst , du hättest nochmal über alles nachgedacht, Krokodile, die einem vom Herz in die Hose rutschen, Krokodile, die alles immer schon früher gewusst haben, Krokodile, die dich geritten haben müssen, als wir uns küssten, Krokodile von denen man träumt, wenn man mit deinem Geruch in der Nase einschläft, Krokodile im Grundwasser, Krokodile im Abwasser, Krokodile im Mundwasser, Krokodile, die bei Überdosierung giftig sein können, Krokodile, die die Männer weltweit unfruchtbar machen, die Spermienkonzentration verringern, Krokodile im Essen, E110, E112, Krokodile bei Polizei und Feuerwehr, Krokodile, die Drogen verticken und Burger Kings in Brand setzen, Krokodile in der Schlange vor uns, du nimmst die Chicken Nuggets und ich den veganen Whopper, ledig, ledrig, Jacke wie Hose. Krokodile im Nil, Krokodile im Amazonas, Krokodile in der Spree, Krokodile am Strand in der Sonne mit Bikinis und Badehosen, Krokodile am Abend mit Pizza und Wein vor dem Sonnenuntergang, Krokodile, die in den Sternenhimmel schauen und sich klein fühlen, klein und unbedeutend, Krokodile, die in den Arm genommen werden müssten, doch niemand kommt, niemand nimmt die Krokodile in den Arm und wer würde das schon freiwillig übernehmen wollen, die Krokodile zu umarmen, man muss sich ja nur mal diese Zähne anschauen, diese kräftige Kiefermuskulatur und dann diesen zu einem zynischen Grinsen verzogenen Mund.

 

Anton August Dudda

 

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freiTEXT | Julius Katins

Die Begegnung im Zug

Ein Aufprall.
Das Jauchzen verstummte, ein Schrei durchschnitt das Abteil. Stille, bis auf das Rattern des Zuges. Zwei junge Männer weiter vorn blickten sich um. Eine Dame beugte sich schwer in den Gang und schaute mehr interessiert als besorgt, woher das Geräusch kam. Der Greis mir gegenüber verdrehte die Augen, ehe er sich weiter am Sudoku versuchte, und hinten fragte jemand, was denn passiert sei. Sogar ich sah von meinem Buch auf.
Eine Kurve hatte das Fangenspiel der beiden Geschwister beendet. Jetzt schluchzte die Kleine am Boden und der kaum ältere Bruder versteckte sich in einer leeren Sitzreihe. Nur die Augen lugten über die Lehne.
„Bis einer weint“, kam doch immer rechtzeitig der Hinweis. Dieses Mal nicht.
Der Vater erhob sich aus der Vierergruppe neben mir und nahm die Tochter auf den Schoß. Sie verstummte und vergrub das Gesicht in seiner Jacke, als die anscheinend kinderlose Dame fragte: „Was hat denn das Prinzesschen?“
Eine Antwort blieb aus. Die dick-roten Mundwinkel der Dame sanken hinab, sie zog sich zurück. Allmählich nahmen die Leute wieder die Gespräche auf.
Der Junge schlich auf den Fensterplatz neben der Mutter, die am Gang dem Vater gegenüber saß. Die Nase wenige Millimeter vor der Scheibe, starrte der Junge nach draußen und flüsterte über die vorbeisausenden Häuser. Als der Zug durch einen Tunnel fuhr, murmelte er die Sekunden: „Drei... vier... fünf...“
Die Mutter blätterte mit den langen Fingern ihre Zeitschrift um. Leicht sah das aus, als streichle ein Windzug die Seite. Dabei tauschte sie über die Brillengläser hinweg einen Blick mit dem Ehemann. An ihn gelehnt schloss die Tochter die Augen.
Mein Blick wanderte zurück auf die Buchzeile. Schwer lag die Lektüre in meinem Schoß und erinnerte mich daran, wie ich meine Zeit zu nutzen hatte. Ich versuchte zu lesen, doch wieder und wieder verschwammen die Wörter.
Ein Ruck. Der Zug blieb stehen. Das war mein Halt.
Ich fing das Stofflesezeichen aus der Luft, platzierte es in der Buchfalte und schloss die Seiten zusammen. Mit den Fingerkuppen fühlte ich den Ledereinband.
Durch die schon offenen Türen drang eine Bahnsteigdurchsage. Ich zog meine schwarz-lederne Reisetasche unter dem Sitz hervor, legte das Buch hinein und stand auf. Der Junge schaute noch immer aus dem Fenster, das Kinn in den Handrücken gestützt, den Ellenbogen auf der Fensterkante.
Wenn er von seinem Glück doch nur wüsste, dachte ich.
Dann verließ ich den Zug.

 

Julius Katins

 

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freiTEXT | Julia Lehmann

das schlimmste ist durchschnitt
oder
das büro – phase 2

ich weiß nicht, wie das geht: zufrieden sein. oder zumindest zufrieden sein mit der eigenen unzufriedenheit. selbst das nicht. für mich gilt: überall nur nicht hier. und: alles nur nicht das. und eigentlich vermutlich auch das: alle nur nicht ich. irgendwas fehlt und ich weiß nicht was. ich liege im bett und denke, ich hab die beste zeit verpasst. wenn das leben so weiter geht, kann es so nicht weitergehen. wie kann ich vermeiden, dass ich so werde, wie ich nie werden wollte?
für mich gibt es nur eins: ganz oder gar nicht. alles oder nichts. und dazwischen ist einfach nichts. es gibt nur phase 1 oder phase 2. schwarz oder weiß. himmel oder hölle. oben oder unten. mein glas ist nie halbvoll und nie halbleer. ich habe entweder gar kein glas oder eins, das überläuft. das sind meine maßstäbe. wo ist das glas, das übersprudelt, frage ich, wenn keins vor mir steht. bitte nehmt mir das glas, bitte ich, wenn es am übersprudeln ist. ich will das, was ich nicht habe und habe ich es dann, will ich es auch nicht. brasch, du bist mein held. denn bleiben wollen wir, wo wir nie gewesen sind.
jetzt ist phase 2, aber ich will phase 1. bin ich phase 1, will ich phase 2. und dabei wäre wohl das beste phase 1 1/2.
jetzt ist büro. das ist für mich: menschen, die erwachsen spielen. menschen, die an ihren plätzen sitzen. menschen, die auf bildschirme starren, e-mails schreiben und telefonate führen. 9 to 5. aber immerhin: gleitzeit. das ist doch schon mal was, lasse ich mir sagen. ich nicke mit dem kopf und möchte lieber sagen: das ist doch alles nichts. die kolleg*innen warten auf den feierabend und füllen die zeit mit telkos und besprechungen. dabei nicht zu vergessen: das protokoll! das protokoll! der projektleiter erklärt: ab heute nur noch ergebnisprotokoll. verlaufsprotokoll führt nicht zum ziel. das sind die wahren entscheidungen. hier werden die wichtigen dinge bewegt, steine ins rollen gebracht und der umsturz des systems vorbereitet. mit den protokollen! was wäre die geschichte ohne ihre protokolle! was wären oktoberrevolution, französische revolution oder die kubanische revolution ohne ihre protokolle?! nichts. vermutlich hätte es sie nie gegeben. und ohne die obligatorische mittagspause um punkt 12, wäre che vermutlich nie auf kuba gelandet. keine revolution auf leeren magen. aus dem büro sieht die welt sowieso viel schöner aus. bitte vergiss nicht, meine blumen zu gießen! keine sorge, ich schreib mir das in meine agenda! die erste kopie in ordner 1. die zweite kopie in ordner 2. die dritte kopie in die rechnungsstelle. und danach alles in die exceltabelle einpflegen. kein problem! wird gemacht. hätte die sinnlosigkeit ein bild, wäre es das büro. hätte durchschnitt ein bild, wäre es das büro. hätte die monotonie ein bild, wäre es das büro. hätte die absurdität ein bild, wäre es das büro. wieviele bilder hat dieses büro! und morgen wieder: büro. und was ist, wenn die inspiration am abend kommt? keine chance. schlafenszeit. denn morgen um 9 ruft das büro. die inspiration muss für heute pause machen und in der warteschleife warten. aber morgen nach feierabend um punkt 5, da hole ich sie raus, die inspiration. wohl geplant in den terminkalender eingepasst. es tut mir leid, heute nach feierabend habe ich leider keine zeit. denn um diese zeit habe ich inspiration. bis spätestens 22 uhr. danach muss ich zeitung lesen und mich bettfertig machen. um 12 uhr dann der zapfenstreich. wo geht die zeit hin? wo habe ich sie verloren?
die familie ist erfreut. endlich eine richtige arbeit! ist doch gut: krankengeld, sozialversicherung und 30 tage urlaub. die tochter ist endlich angekommen. hat eine 1-zimmer-wohnung, keine bananenkisten, sondern ein richtiges bett, regale an den wänden und vor allem: struktur. ordnung muss sein und die findet sich bei ikea. es sieht schön aus, wenn es so wie bei allen anderen aussieht. ein bett, das in fast allen europäischen schlafzimmern steht. gläser, aus denen jede*r zweite bürger*in trinkt. billys, die die bücher tragen und blumen, die aus vasen ragen. so ist gut, so soll es sein. so ist das leben, ein einheitsbrei. frage nicht, wie es anders sein kann, wenn so, wie es ist, es bei fast allen ist. aber die kunst? du hast doch noch zeit! keine voll-, sondern teilzeit. montag und freitag hast du zeit für die kunst. das muss doch reichen. und wo kämen wir da hin, wenn keiner mehr arbeiten würde und alle nur noch kunst machen würden?! ja, wo kämen wir denn hin, wenn ich nicht mehr ins büro gehen würde. wenn mein platz am dienstag leer bleiben würde? wenn die telko ohne mich stattfinden würde? wenn ich keine protokolle schriebe? keiner mittagspause beiwohnen würde? wenn das telefon ins leere klingeln würde? die besprechung ohne meine meinung auskommen würde? wenn die korrektur ohne eine zweite korrektur verschickt werden müsste? wenn der feierabend ohne mich eingeleitet werden würde? und die stechuhr ohne meine zeiten rechnen würde? wo kämen wir dahin?
zur revolution.

 

Julia Lehmann

 

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freiTEXT | Luise Barth

Happy Birthday

Am Tag nach meinem 22. Geburtstag wache ich mit Kopfschmerzen auf. Mühsam hieve ich mich aus dem Bett und besehe mir das Chaos in dem Raum, der von mir als Wohn-, Arbeits- und Abstellraum genutzt wird. Die leeren Flaschen und Chipsreste sind noch zu verkraften, ebenso wie die schlappen Luftballons und Luftschlangen. Aber ist das etwa ein Brandfleck auf meinem Sofapolster? Entnervt fahre ich mir übers Gesicht. Ich hatte doch extra darum gebeten, nicht in der Bude zu rauchen. Warum hatte ich das nicht mitbekommen? War ich echt so dicht gewesen?  Ich werfe eine Aspirin in ein Glas Wasser und schaue ihr beim Sprudeln zu. Dann trinke ich dieses medizinische Gift, schmeiße mich aufs Sofa und warte darauf, dass der kleine Mann in meinem Kopf aufhört, mit dem Hammer gegen meine Schädeldecke zu klopfen. Währenddessen checke ich mein Handy. Die WhatsApp-Gruppe ist voll mit Videos und Bildern von gestern Abend. Ich, mit einer Partykrone, über den Kuchen gebeugt, während alles um mich herum brüllt: „I don’t know about you, but i'm feeling 22.“  Ich sehe nicht sehr fröhlich aus, finde ich, und das liegt nicht daran, dass ich eigentlich gar nicht so ein riesiger Taylor-Swift-Fan bin. Ich denke nicht, dass es den anderen aufgefallen ist, aber meine Augen glänzen verdächtig. Wenn es ihnen doch aufgefallen ist, halten sie es bestimmt für Freudentränen wegen der coolen Party, die sie für mich organisiert haben. Und ich habe mich natürlich auch gefreut, als es an meiner Tür klingelte und statt des erwarteten „Lieferando, eine Lieferung für sie“ plötzlich „Üüüüüüberraschung“ durch die Sprechanlage gebrüllt wurde. Eigentlich hatte ich mir den Abend mit einer Pizza, einem schönen Geburtstagsanruf von meinen Eltern und meiner besten Freundin und einem schnulzigen Liebesfilm à la Pretty Woman oder Dirty Dancing vorgestellt. Ich habe grundsätzlich nichts gegen Geburtstage. Im Gegenteil, ich liebe sie, vor allem als ich noch zu Hause wohnte, mein Papa das Haus mit Luftballons und Girlanden schmückte, meine Mama einen mehr oder weniger schönen Schmetterling aus Biskuitböden und Obst backte und ich vor Aufregung kaum schlafen konnte, weil ich nicht wusste, ob ich den batteriebetriebenen Hund oder das Einhorn mit den pinken Flügeln geschenkt bekomme. Als ich gestern früh aufwachte, hasste ich plötzlich mein 22 Jahre altes Gesicht im Spiegel. Nicht wegen der Zahl und auch nicht wegen meines Aussehens, sondern eher wegen des Gedankens, dass die 25 nicht mehr weit war, und dann die 30 und dann die 40 und dann… Naja, ich glaube, man versteht es. Dabei habe ich gar keine Angst vor dem Altern. Der Gedanke, irgendwann weißhaarig mit meinen Freundinnen am Tisch zu sitzen und dabei Tee mit Törtchen zu verzehren, gefällt mir. Was mich stört, ist, dass ich die 22 Jahre scheinbar nicht gut genug genutzt habe. Das vermittelt mir zumindest mein Handy. Ich habe Europa noch nie verlassen, keine abenteuerliche Backpacking-Tour gemacht oder ein Semester lang Cornetto und Cappuccino in Italien gefrühstückt. Ich hatte auch keinen „Hot-Girl-Summer“ oder -Winter oder generell irgendwas Hottes. Und jetzt, jetzt erscheint es mir aus irgendeinem, komplett sinnfreien Grund zu spät, noch irgendwas daran zu ändern, weil ich ja mit 40 Jahren wahrscheinlich eher keine Backpacking-Tour durch Asien mache und mir nur noch ein Jahr für ein Auslandssemester bleibt. Meine Oma würde jetzt sagen: „Eure Generation hat wirklich große Sorgen.“ Dabei würde sie lachen, weil sie und ihre Freunde damals in Trümmerhaufen spielen mussten und es zu Weihnachten eine Orange gab. Ja, meine Generation hat viele Möglichkeiten, aber vielleicht zu viele. Zu viele Möglichkeiten, zu viele Persönlichkeiten: Clean Girl, Boss Bitch, Moongirl, Sungirl, Slut, und mit achtzehn haben manche schon das erste Startup, den Modelvertrag oder die Million. Alle sind natürlich mega schlau, schlank und super sexy. Ja, kein Wunder, dass ich mich mit meinen 22 Jahren und meinem mittelmäßigen Bachelorstudium komplett unfähig fühle. Und während ich schwitzend meine Zeit in der Bibliothek verbracht habe, zeigt ein schlaues, schlankes und super sexy Girl auf meiner For You, wie sie „den Flug einfach gebucht hat“. Schließlich sollte man nicht immer nur überlegen, sondern einfach mal MACHEN. Aber davor: „Rennt zu DM.“ Und ich mache das auch, ich renne zu DM und kaufe diesen blöden Lippenstift, weil ich ihn mir leisten kann, das Flugticket für die viermonatige Workation aber nicht.  Ich seufze, weil ich merke, dass meine Unterlippe wieder zu zittern beginnt. Prophylaktisch greife ich nach der Packung mit Taschentüchern auf dem Sofatisch, als eine neue Nachricht auf dem Bildschirm aufploppt. Sie ist von meiner Mama. Ein Bild von mir, vier Jahre alt, mit Zahnlücke und Geburtstagskrone. Sie schreibt: Papa und ich haben gerade die alten Fotoalben von dir angeschaut. „Wir sind so stolz auf dich, meine Große.“ Ich stehe auf, gehe zum Kühlschrank und hole mir ein restliches Stück Geburtstagstorte, schließe die Augen und stelle mir vor, sie wäre aus Biskuitteig und hätte die Form eines Schmetterlings.

 

Luise Barth

 

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freiTEXT | Sean Keibel

Die Regeln unseres Hauses

Die Regeln unseres Hauses landeten wie vom Himmel gefallen eines Tages einfach auf dem Tisch. Dort wurden sie dann ohne Umschweife ausgebreitet, wie man einen Fächer öffnet, und als vollendetes Regelwerk ohne Diskussion eingeführt. Zeit für eine Diskussion wäre zweifellos gewesen, auch in der Folgezeit für viele Diskussionen noch, man machte uns sogar das Angebot dazu, offerierte kleine Geschenke, bettelte uns schließlich geradezu auf Knien an – alles umsonst, wir konnten nichts mit den Regeln anfangen außer sie zu befolgen. Etwas anderes ließen sie nicht zu. Allein schon weil beim Lesen – wenige wagten sich an das Unterfangen alles durchzulesen, und wessen Augen durch die tausend Querverweise noch nicht nach links und rechts ausgeschlagen waren, der konnte sie fortan für nichts mehr benutzen und war als unbrauchbar gezeichnet für das Haus – weil beim Lesen schon die nächste, die übernächste Regel sich dreist hineinschob, schließlich eine oder mehr von einem ganz anderen Ort, allein schon deshalb blieb uns nichts anderes übrig als sie alle abzunicken.
Mancher Fremder, der kam, um Gast zu sein in unserem Haus, zeigte sich schockiert über unsere vollständige Einbindung ins Regelwerk, über den Grad unserer Aufopferung, und natürlich witterte er Ausbeutung, was er uns freilich verschwieg, um uns ein würdeloses Eingeständnis zu ersparen. Stattdessen wurde zu einer späten Stunde – wir lauschten in solch einem Fall – der Hausherr konfrontiert, der sich zur Überraschung noch jeden kritischen Gastes überaus verständig zeigte. Mit einem Ton der Dankbarkeit, wie wenn man nach jahrelangem Alleinstehen mit einem Problem endlich ein offenes Herz und Ohr gefunden hat, versicherte er dann seine eigene Unzufriedenheit mit der Lage, worauf der Gast beruhigt gehen konnte, denn er hatte seine Schuldigkeit getan.
Die Regeln griffen ineinander, und selbst wenn sie es nicht getan hätten, wären sie voneinander gerade einmal soweit entfernt gewesen wie Bruder und Schwester; aus dem gleichen Leib kamen sie, den wir natürlich nicht kannten, in den wir also keine Einsicht hatten, weshalb wir auf ihre Sinnhaftigkeit und Unaustauschbarkeit vertrauen mussten – das wiederum hatte der Hausherr nicht gern, doch beschwerte er sich nie bei uns, allzu bewusst war ihm das Zutun seines eigenen mangelnden Umgangs mit uns zu unserer Hilflosigkeit. In der Konsequenz all dessen wurden wir zu den fleißigsten Regelbefolgern überhaupt, denn der einfachste Umgang mit Regeln ist, sie zu befolgen. Schon beim leisesten Versuch, einmal zwei oder gar drei Regeln gedanklich zusammenzubringen, wurde uns schwindelig. Die Regeln des Geschirrspülens überschnitten sich mit den Regeln des Kücheputzens, dies über das Element des Fußbodens, der sowohl gewischt zu werden hatte als auch nass werden konnte beim Geschirrspülen; über denselben Fußboden überschnitten sich die Regeln des Kücheputzens mit denen des Dieleputzens; die überschnitten sich mit denen des Kohlenschaufelns und -lagerns, welches sich in der Kammer unter der Treppe abspielte; die mit denen des Auskratzens und Wiederbeladens der Feueröfen. Nur einer war verantwortlich für nur eine Aufgabe, die Regel saß an der Verbindungsstelle zweier Aufgaben, derer es pro Aufgabe einige gab, sodass ein Einzelner durchaus mehrere Regeln beherrschen, aber niemals mehr als eine auf einmal beherzigen musste. In der Aufgabe lag die völlige Verausgabung.
Daran hat sich bis zum heutigen Tag nichts geändert. Der Vorabend des Aufstands ist noch fern; werden wir auch einmal unseren Hausherrn stürzen, und so kommt es gewiss, wird doch keine Revolution daraus werden; schon sehe ich uns Kopf kratzend um das Regelwerk stehen, den Hausherrn im Ofen, wir allesamt unfähig, Justierungen daran vorzunehmen. Hätte man es uns nur nicht als Ganzes, als Fertiges vorgelegt – so aber kann man es nur ganz annehmen oder ganz verwerfen. Ist auch fast alles darin hervorragend gelungen und nur eine Regel missraten – das Werk ist entweder ganz geglückt oder ganz verdorben. Aber das müssen meine Brüder und Schwestern selber begreifen, wenn er da ist, der Moment, dass man bereit sein müsste, eine ganze Zivilisation zu verwerfen, wenn man nicht flicken kann. Die Regeln unseres Hauses werden bleiben, nicht solange der Hausherr, sondern solange das Haus bleibt.

 

Sean Keibel

 

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