09 | Steffen Roye

Kairo

Das hat man nun davon, denkt Joschi. Da lässt man den BMW vorbeiziehen, um ihn nicht zu behindern. Und wird dann vom nachfolgenden Verkehr selbst behindert. Bekommt keine Chance, sich wieder in die Überholspur zu fädeln, denkt Joschi und schlägt mit der flachen Hand aufs Lenkrad.

Sie ziehen vorbei. Sie ziehen vorbei, eine andere Liga, eine andere Welt plötzlich. Er hat den Fuß mehr auf der Bremse als auf dem Gas, verfluchter Mist. Er hat einen tschechischen Laster vor sich, den die Steigung merklich anstrengt. Der Verkehr: dicht, aber flüssig. Jedenfalls auf der Überholspur. Wie schön, denkt Joschi und schaltet in einen niedrigeren Gang. Sie fahren dicht auf dicht, als ließen sie sich abschleppen. Der Abstand immer gerade so klein, dass niemand aus der Kriechspur, der Deppenspur ausbrechen kann. Joschi weiß selbst, dass sie gut daran tun, den Sicherheitsabstand auf ein Maß zu kappen, das kein auf die Fahrbahn brechendes Wild vorsieht. Dass das Unwahrscheinliche als das Unmögliche genommen wird. Genommen werden muss. Denn schlimmer, denkt Joschi, schlimmer als ein Unfall wiegt, jener Dumme sein zu können, der dem anderen Gelegenheit gibt, die Deppenspur, die Sonntagsfahrerspur zu verlassen und sich einzufädeln. Weil dieser andere – weil Joschi! - zwangsläufig nicht sofort Tempo aufnehmen kann und den Gutmütigen, den Gutmenschen, den Sicherheitsabstandshalter ausbremst. Nach ihm die Sintflut. Oder der Stau.

Joschi ist sich der Aufspaltung bewusst: fluchend, sich ärgernd über jene, die den blechernen Schulterschluss üben, und gleichzeitig wissend, dass er, einmal auf die andere Seite zurückgekehrt, diesen Schulterschluss, das Aufschließen, das Dichtmachen diesmal ebenso -- na ja, egal.

Wäre er aggressiv – wie Stanke, sagen wir mal – würde er einfach den Blinker setzen und die Spur wechseln, wie die Lastfahrer es tun. Wie der Tscheche es tun könnte. Und nicht tut. Blinken und wechseln, alles in einem, der Blinker nicht als Ankündigung, sondern als Legitimation, als Ausführungsbestätigung. Stanke wäre längst auf und davon. Jürgen Stanke, der alte Sack, hätte sich im KingKong längst an dieses Mädel rangemacht. Auch wenn er mindestens zwanzig Jahre älter ist als sie und Joschi. Auch wenn er längst abgemeldet sein sollte, der Gruftie. Joschi hingegen wartet auf eine Gelegenheit. Wenn er sich mit seinem Bier an die Bar lehnt und das Mädel beobachtet, wie es allwöchentlich mit den Freundinnen ins KingKong kommt, wie es sich manchmal von Kerlen ansprechen lässt, einladen lässt, was auch immer, dann ruft er sich zur eigenen Rechtfertigung ein Foto aus einem Bildband vor Augen, ein Krokodil, das man für einen Baumstamm halten könnte, der im Fluss treibt, und im Hintergrund die Abenddämmerung und etwas unscharf eine Gnuherde, die Tiere in der ersten Reihe mit abgespreizten Vorderläufen im Schlamm. Das Krokodil, sagt Joschi sich dann, kann warten. Irgendwann ist der Druck der nachrückenden Herde so groß, dass die vorderen Gnus aus ihrer Unschärfe und in den Fluss gedrängt werden und in panischer Angst ans andere Ufer streben. Dann wird, was man für einen Baumstamm halten könnte, aktiv und hält auf die Tiere zu, packt eines und zieht es unter Wasser, reißt es mit schnellen kreisenden Bewegungen auseinander, obwohl, wie die Bildunterschrift verrät, mehr Gnus durch die eigene Panik zu Tode kommen als durch die Krokodile.

Und jedes Mal aufs Neue ist Joschi erschrocken. Ist erschrocken über die Assoziationen, die ihm zur Rechtfertigung herhalten müssen. Er will niemanden unter Wasser zerren und zerreißen. Doch wenn es nicht bei einem Bier, bei einem Cocktail, bei einem Tanz bleiben soll, will die Sache überlegt, geplant sein.

Joschi fährt auf, als könne er den Laster die Steigung hinaufschieben. Er schaut in den Außenspiegel. Keine Chance. Nur Überholprofis auf der linken Spur.

Stanke! Joschi erinnert sich - er hat ja Zeit auf der Sonntagsfahrerspur, der Schneckenspur! - er erinnert sich, wie Stanke einmal in großer Runde seine Urlaubserlebnisse in Kairo schilderte. Wie die Straßen unpassierbar schienen, eine Stoßstange an der anderen, ein Ineinandergeschiebe von Blech, aus allen Richtungen und zu allen Farben der Ampeln, und wie er, Stanke, sich das Spiel eine Weile fasziniert anschaute und dann auf Anraten eines einheimischen Touristenführers einfach loslief, wie er gar nicht erst nach einer Lücke spähte, sondern sich seine Lücke schuf, wie er einfach auf die Straße trat, wie die Autos nichts anderes von einem Fußgänger erwarteten und hupend auswichen, wie er auf der anderen Seite ankam. Unversehrt.

Und so, genau so, macht Stanke es auch mit den Mädels im KingKong, dieser Arsch, denkt Joschi.

Ob Joschi auch? Ob seine Zeit nicht irgendwann überschritten ist? Ob die Herde nicht irgendwann den Fluss passiert hat, ohne dass, was man für einen Baumstamm halten könnte, zugepackt hat?

Die Schlange der Überholenden nimmt kein Ende. Joschi brodelt. Ist wütend. Auf die da und auf das Krokodil und auf das Mädel im KingKong und auf die Gnus und auf Stanke sowieso und auf den verfickten tschechischen Lastfahrer und auf sich. Setzt den Blinker. Wechselt einfach die Spur, der Blinker nicht als Ankündigung, sondern als Legitimation, als Ausführungsbestätigung. So wie Stanke in Kairo über die Straßen geht. So wie Stanke im KingKong fünfundzwanzig Jahre jüngere Mädels anbaggert. So wie das Krokodil eines der Gnus packt und unter Wasser auseinanderreißt.

Von hinten eine Hupe. Scheinwerfer im Rückspiegel. Vor ihm eine Staubwolke. Eine Herde Gnus. Brechen aus der Savanne neben der Autobahn, ihm direkt vor die Motorhaube. Bremsen. Vollbremsung. Hinter ihm ein Krokodil, stattliches Exemplar, die Gnus im Blick. Es bäumt sich, es hechtet, hechtet einfach durch die Heckscheibe.

Steffen Roye

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mosaik19 - BABEL

Sommer 2016

48 Seiten, Klebebindung

mit:
  • Alina Özyurt
  • Matthias Engels
  • Miku Sophie Kühmel
  • Camena Fitz
  • Andreas Hutt
  • Steffen Roye
  • Safak Saricicek
  • Giuliano Spagnolo
  • Axel Görlach
  • Marina Büttner
  • Claudia Kohlus
  • Pascal Andernacht
  • Philipp Böhm
  • Peter.W.
  • Alke Stachler
  • Andreas Reichelsdorfer
  • Esther Nowy
  • Mercedes Spannagel
  • Gerd Sulzenbacher
  • Matthias Vieider
  • The Android Collective
  • Interlab
Übersetzungen von Texten von:
  • Ghayat Almadhoun
  • Dan Ciupureanu
  • Emanuele Pon
  • Marko Dinic
  • Tobias Roth
  • Federico Ghillino
  • Alessandro Mantovani
Mit Auszügen aus:
  • studentINNENfutter 3
  • KulturKeule XX - Die Reise nach Sils Maria
Buchbesprechungen:
  • Alexandru Bulucz: Aussein auf uns

Leseprobe


mosaik19 ist am 1. Juni erschienen

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freiTEXT | Steffen Roye

Bob Dylan im Beinbereich

Das letzte Mal bin ich Autoscooter gefahren, da war ich zwölf oder vierzehn. Dann war die Kindheit vorbei, und nur in Hollywoodfilmen fahren auch die Erwachsenen gelegentlich damit, begleitet von einem gitarrenlastigen Soundtrack, und es sind die Pausen dieser Filme, ein Ausatmen im Einatmen, und sie lachen dann und rammen sich absichtlich und haben Spaß wie die Kleinen, und was sich neckt, das liebt sich.

Ich muss daran denken, weil ich mich in den Kreisverkehr eingefädelt habe und seither um das Denkmal fahre, wie Geier um ihre Beute kreisen, nur dass ich nicht weiß, was mir Beute sein sollte. Ich drehe Runde um Runde und überlege, wohin ich aus dem Kreisverkehr herausfahre: zu den Eltern, die es schon immer gewusst haben; oder zu Robert, der allerdings gerade mit seiner Freundin zusammengezogen ist; oder zu Heidi, die in der Kantine schon oft ihre mütterliche Hilfe angeboten hat.

Die Autos kreisen auf ihren Bahnen. Obwohl es auf Mitternacht geht, ist einiges los. Von rechts kommen weitere Autos hinzu, bremsen ab und stürzen sich kaltschnäuzig in den Strudel, und dann werden Blinker gesetzt, und sie lassen sich an einer anderen Stelle wieder aus dem Strudel fallen, und wie das alles funktioniert und ineinandergreift, dieses Treffen und Kreiseln, das erinnert mich an meine Kindheit und den Autoscooter auf dem Rummel, nur dass man es hier vermeidet, einander zu rammen, weil das Spiel sonst vorbei ist, wo es früher umso beherzter weiterging.

Ich stelle das Radio an. Irgendein Quotenhit – weg. Nachrichten, immer fünf Minuten früher, auch um diese Zeit – fort. Eine Bigband – das muss dieser Sender sein, der den ganzen Tag das Beste aus den Vierzigern und Fünfzigern spielt und lange vor der Musik aufhört, bei der die anderen anfangen. Duke Ellington fordert gerade: Take The A-Train. Und während die Lichter um mich kreisen und rechts ein Auto an mir vorbeizieht und im Innenring ein Motorrad bedrohlich schräg in der Kurve liegt, finde ich, dass zu einer nächtlichen Fahrt durch meine Stadt nichts besser passt als diese ollen Swingkamellen.

Und ich sehe in die beladenen und von den Straßenlaternen ausgeleuchteten Autos, und die Musik im Radio schiebt etwas zusammen, ein Mosaik, plötzlich erscheint alles klar und doch wie durch eine ungeputzte Brille, und es wundert mich nicht, dass vor mir und neben mir alle Fahrer exakt den Ellington-Rhythmus auf Lenkräder und Fahrertüren trommeln.

Es erscheint alles klar und es wundert mich nicht seit dem kleinen Stau vor fünfzehn oder zwanzig Minuten, beim ehemaligen Luxor-Filmpalast, wo die Stadt, wenn man sich aus den Außenbezirken einsaugen lässt, erstmals etwas Konzentriertes hat mit der breiten und zugleich in die Bausubstanz hineingequetschten Straße, mit den mäandernden Straßenbahnschienen und den Mietskasernen aus der Gründerzeit und den Ampelkreuzungen und dem umgitterten Park und den drei Tankstellen und der verfallenen Brauerei auf der rechten Seite, an deren Stelle seit fünf Jahren ein Baumarkt entstehen soll. Vorn hatte es offensichtlich einen Unfall gegeben: Blaulicht flickerte und schlug an die Fassaden wie auf Kinoleinwände. Auf dem Fußweg standen Leute, ein paar trugen Overalls in Signalfarben, aber sie schienen es nicht eilig zu haben. Der bisher locker fließende Verkehr verengte sich im Reißverschlussverfahren auf eine Spur. Diszipliniert ließ der eine dem anderen die Vorfahrt: wie das alles funktioniert und ineinandergreift. Rechts neben mir zog langsam ein Saab vorbei, und ich schaute unwillkürlich hinein. Ein Mann hielt das Lenkrad mit der Linken fest umklammert, den Blick geradeaus. Auf seinem Beifahrersitz stand, von den Straßenlaternen leidlich angestrahlt, ein ficus benjaminii, der seine Zweige immer wieder nach dem Fahrer ausstreckte, als wollte er ihn necken, doch der Fahrer starrte geradeaus und wischte die widerborstigen Zweige gleichmütig beiseite. Und dann entdeckte ich auf seinem Rücksitz, ungleichmäßig angeleuchtet, Umzugskartons und etwas, das aussah wie ein Vogelkäfig, und ein Stapel Bücher lehnte an der Scheibe.

Der Saab zog an mir vorbei, ich aber musste bremsen und kurz halten. Dass die eigentlich behinderte Spur wieder einmal die schnellere war! Wie in einem Fernsehgerät wurde ein Passat eingeblendet, eine Frau saß darin, auf ihrem Beifahrersitz erkannte ich (als Silhouette) einen Grammophontrichter, und auf dem Rücksitz, der langsam in mein Blickfeld kam, war eine Art Garderobenständer platziert und ein undefinierbarer Berg, vielleicht Wäsche, obenauf etwas, das wie ein Paar Ski aussah und in den einsehbaren Kofferraum hineinragte, in dem außerdem eine Kommode verstaut war.

Jetzt schaute ich gezielt. Mein Vordermann hielt den Arm aus dem Fenster und klopfte einen Rhythmus auf die Fahrertür, und im Kofferraum erkannte ich die Umrisse eines Kontrabasses und einer Staffelei und eines Fahrrades.

Langsam fädelte ich mein Auto durch das Nadelöhr und zog an einem Polizei-BMW vorbei und an zwei Fahrzeugen, die ein bisschen Blechschaden verursacht hatten. Fast fuhr ich meinem Vordermann auf die Stoßstange, weil ich mich zu sehr auf die Unfallwagen konzentrierte und auf den Globus und den Katzenkorb, die auf einem der Autodächer abgestellt waren, und auf den Pudel, der auf einem der Fahrersitze stand und die vorbeifahrenden Autos ankläffte, und auf all den schemenhaft sichtbaren Hausrat, der die Hinterachsen der Unfallwagen nach unten drückte, als wären sie zu dieser Stunde noch unterwegs zu irgendeinem Flohmarkt.

Der Katzenkorb auf dem Autodach brachte mir in Erinnerung, dass auch ich einen ähnlichen Eindruck auf jene machen musste, die Zeit fanden, in meinen Wagen hineinzuspähen. Meine Yuccapalme stand auf dem Rücksitz und wippte wie ein Wackeldackel, und sie teilte sich den Platz mit einem Seesack voller Hosen und Hemden und T-Shirts und Unterwäsche und Socken und Sportsachen, und den Kofferraum füllte neben anderem mein Lieblingssessel, eine Bücherkiste und die geerbte Standuhr, auf dem Beifahrersitz stand meine Stereoanlage, und davor, im Beinbereich, hatte ich meinen Laptop und meine Schallplattensammlung deponiert, Bob Dylan und Bruce Springsteen hat man eben als Vinyl, genau wie einiges von dem gitarrenlastigen Material, das in Hollywoodfilmen Szenen untermalt, in denen Erwachsene beispielsweise mit dem Autoscooter fahren, und es sind die Pausen dieser Filme, ein Ausatmen im Einatmen, und sie lachen dann, die Erwachsenen, und rammen sich absichtlich und haben Spaß wie die Kleinen, und was sich neckt, das liebt sich.

Merkwürdig, dass die drei Jahre mit Maria in einem einzigen Auto Platz haben. Einem Auto, das ich schon fuhr, als wir uns damals im Fitnessstudio kennenlernten. Und eigentlich kam das alles nicht überraschend, immerhin konnte ich einen geordneten Rückzug antreten, obwohl ich im ersten Moment auf alles gefasst war. Dabei hatte ich Maria mehrmals gewarnt, dass mir irgendwann der Kragen platzen würde, wenn ihre verdammte Katze meinen Lieblingssessel weiter als Kratzbaum, dieses Mistvieh!

Nun also fahre ich um das Denkmal, wie Geier um ihre Beute kreisen, nur dass ich nicht weiß, was mir Beute sein sollte. Ich drehe Runde um Runde und überlege, wohin ich aus dem Kreisverkehr fahre. Wie das hier alles funktioniert und ineinandergreift, das erinnert mich an meine Kindheit und den Autoscooter auf dem Rummel, nur dass man es hier vermeidet, einander zu rammen, weil das Spiel sonst vorbei ist, wo es früher umso beherzter weiterging. Und nur in Hollywoodfilmen fahren auch die Erwachsenen gelegentlich damit, und es sind die Pausen, und was sich neckt … Und ich sehe in Autos voller Koffer, Grünpflanzen, Möbel, Kartons, Vogelkäfige, Grammophone, Fahrräder, Instrumente und Schallplattensammlungen, und die Musik im Radio schiebt etwas zusammen, ein Mosaik, ein Puzzle, und es wundert mich nicht, dass vor mir und neben mir alle Fahrer auf Lenkräder oder Fahrertüren exakt den Rhythmus von Take The A-Train trommeln, das inzwischen beim Finale angekommen ist. Und das abgelöst wird durch Judy Garland, die leichthin das Verkehrsmittel wechselt: Fly Me To The Moon. Und die Fahrer ziehen an mir vorbei mit melancholischem Blick, und mit manchen kreise ich drei oder fünf Runden, bevor sie sich zum Ausfall entschließen, und manche wissen offenbar sofort, wo sie diese Nacht unterkommen können.

Steffen Roye

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