Kairo

Das hat man nun davon, denkt Joschi. Da lässt man den BMW vorbeiziehen, um ihn nicht zu behindern. Und wird dann vom nachfolgenden Verkehr selbst behindert. Bekommt keine Chance, sich wieder in die Überholspur zu fädeln, denkt Joschi und schlägt mit der flachen Hand aufs Lenkrad.

Sie ziehen vorbei. Sie ziehen vorbei, eine andere Liga, eine andere Welt plötzlich. Er hat den Fuß mehr auf der Bremse als auf dem Gas, verfluchter Mist. Er hat einen tschechischen Laster vor sich, den die Steigung merklich anstrengt. Der Verkehr: dicht, aber flüssig. Jedenfalls auf der Überholspur. Wie schön, denkt Joschi und schaltet in einen niedrigeren Gang. Sie fahren dicht auf dicht, als ließen sie sich abschleppen. Der Abstand immer gerade so klein, dass niemand aus der Kriechspur, der Deppenspur ausbrechen kann. Joschi weiß selbst, dass sie gut daran tun, den Sicherheitsabstand auf ein Maß zu kappen, das kein auf die Fahrbahn brechendes Wild vorsieht. Dass das Unwahrscheinliche als das Unmögliche genommen wird. Genommen werden muss. Denn schlimmer, denkt Joschi, schlimmer als ein Unfall wiegt, jener Dumme sein zu können, der dem anderen Gelegenheit gibt, die Deppenspur, die Sonntagsfahrerspur zu verlassen und sich einzufädeln. Weil dieser andere – weil Joschi! – zwangsläufig nicht sofort Tempo aufnehmen kann und den Gutmütigen, den Gutmenschen, den Sicherheitsabstandshalter ausbremst. Nach ihm die Sintflut. Oder der Stau.

Joschi ist sich der Aufspaltung bewusst: fluchend, sich ärgernd über jene, die den blechernen Schulterschluss üben, und gleichzeitig wissend, dass er, einmal auf die andere Seite zurückgekehrt, diesen Schulterschluss, das Aufschließen, das Dichtmachen diesmal ebenso — na ja, egal.

Wäre er aggressiv – wie Stanke, sagen wir mal – würde er einfach den Blinker setzen und die Spur wechseln, wie die Lastfahrer es tun. Wie der Tscheche es tun könnte. Und nicht tut. Blinken und wechseln, alles in einem, der Blinker nicht als Ankündigung, sondern als Legitimation, als Ausführungsbestätigung. Stanke wäre längst auf und davon. Jürgen Stanke, der alte Sack, hätte sich im KingKong längst an dieses Mädel rangemacht. Auch wenn er mindestens zwanzig Jahre älter ist als sie und Joschi. Auch wenn er längst abgemeldet sein sollte, der Gruftie. Joschi hingegen wartet auf eine Gelegenheit. Wenn er sich mit seinem Bier an die Bar lehnt und das Mädel beobachtet, wie es allwöchentlich mit den Freundinnen ins KingKong kommt, wie es sich manchmal von Kerlen ansprechen lässt, einladen lässt, was auch immer, dann ruft er sich zur eigenen Rechtfertigung ein Foto aus einem Bildband vor Augen, ein Krokodil, das man für einen Baumstamm halten könnte, der im Fluss treibt, und im Hintergrund die Abenddämmerung und etwas unscharf eine Gnuherde, die Tiere in der ersten Reihe mit abgespreizten Vorderläufen im Schlamm. Das Krokodil, sagt Joschi sich dann, kann warten. Irgendwann ist der Druck der nachrückenden Herde so groß, dass die vorderen Gnus aus ihrer Unschärfe und in den Fluss gedrängt werden und in panischer Angst ans andere Ufer streben. Dann wird, was man für einen Baumstamm halten könnte, aktiv und hält auf die Tiere zu, packt eines und zieht es unter Wasser, reißt es mit schnellen kreisenden Bewegungen auseinander, obwohl, wie die Bildunterschrift verrät, mehr Gnus durch die eigene Panik zu Tode kommen als durch die Krokodile.

Und jedes Mal aufs Neue ist Joschi erschrocken. Ist erschrocken über die Assoziationen, die ihm zur Rechtfertigung herhalten müssen. Er will niemanden unter Wasser zerren und zerreißen. Doch wenn es nicht bei einem Bier, bei einem Cocktail, bei einem Tanz bleiben soll, will die Sache überlegt, geplant sein.

Joschi fährt auf, als könne er den Laster die Steigung hinaufschieben. Er schaut in den Außenspiegel. Keine Chance. Nur Überholprofis auf der linken Spur.

Stanke! Joschi erinnert sich – er hat ja Zeit auf der Sonntagsfahrerspur, der Schneckenspur! – er erinnert sich, wie Stanke einmal in großer Runde seine Urlaubserlebnisse in Kairo schilderte. Wie die Straßen unpassierbar schienen, eine Stoßstange an der anderen, ein Ineinandergeschiebe von Blech, aus allen Richtungen und zu allen Farben der Ampeln, und wie er, Stanke, sich das Spiel eine Weile fasziniert anschaute und dann auf Anraten eines einheimischen Touristenführers einfach loslief, wie er gar nicht erst nach einer Lücke spähte, sondern sich seine Lücke schuf, wie er einfach auf die Straße trat, wie die Autos nichts anderes von einem Fußgänger erwarteten und hupend auswichen, wie er auf der anderen Seite ankam. Unversehrt.

Und so, genau so, macht Stanke es auch mit den Mädels im KingKong, dieser Arsch, denkt Joschi.

Ob Joschi auch? Ob seine Zeit nicht irgendwann überschritten ist? Ob die Herde nicht irgendwann den Fluss passiert hat, ohne dass, was man für einen Baumstamm halten könnte, zugepackt hat?

Die Schlange der Überholenden nimmt kein Ende. Joschi brodelt. Ist wütend. Auf die da und auf das Krokodil und auf das Mädel im KingKong und auf die Gnus und auf Stanke sowieso und auf den verfickten tschechischen Lastfahrer und auf sich. Setzt den Blinker. Wechselt einfach die Spur, der Blinker nicht als Ankündigung, sondern als Legitimation, als Ausführungsbestätigung. So wie Stanke in Kairo über die Straßen geht. So wie Stanke im KingKong fünfundzwanzig Jahre jüngere Mädels anbaggert. So wie das Krokodil eines der Gnus packt und unter Wasser auseinanderreißt.

Von hinten eine Hupe. Scheinwerfer im Rückspiegel. Vor ihm eine Staubwolke. Eine Herde Gnus. Brechen aus der Savanne neben der Autobahn, ihm direkt vor die Motorhaube. Bremsen. Vollbremsung. Hinter ihm ein Krokodil, stattliches Exemplar, die Gnus im Blick. Es bäumt sich, es hechtet, hechtet einfach durch die Heckscheibe.

Steffen Roye

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