freiTEXT | Anne Büttner

Das größte Glück

"Das Essen ist gleich schon wieder kalt." Anscheinend hatte seine liebe, gute Frau ihn zuvor schon einmal, mag sein auch öfter, über die Möglichkeit der Aufnahme warmer Speisen in Kenntnis gesetzt. Dass er diese, sicherlich von Zärtlichkeit und Verständnis getragene Information nicht mitbekommen hatte, lag einzig an der neuerlichen Abgabefrist, die ihn drängte. Dabei hatte er, wie stets, frühzeitig mit der Arbeit begonnen. Frühzeitig genug also für täglich fünf Mahlzeiten mit seiner lieben, guten Frau und ihren entzückenden Sprösslingen, von denen sie, wie sich durch einfaches Zählen feststellen ließ, drei ihr Eigen nennen durften.

Eine reizende Bande. Wie alt diese bezaubernden Geschöpfe wohl inzwischen sein mochten? Man hat sich ja so schnell verschätzt. Gerade bei Menschen diesen Alters, das zwischen fünf und beschränkt geschäftsfähig einzugrenzen er sich gestattet. Da es sich nicht schickt, die drei selbst nach dem Alter zu fragen, will er sich dem Erkenntnisgewinn bestmöglich diskret nähern und seine, liebe, gute Frau - wenn er sich nicht vertat, dritte – alsbald um deren Geburtsurkunden bitten. Wenn er dann schon einmal dabei wäre, anhand der Akten das vermutete Alter der bezaubernden Nachkommenschaft zu konkretisieren, würde er gleich noch sein Gedächtnis deren Namen betreffend auffrischen. Soweit er sich erinnerte, hatten er und seine liebe, gute Frau da weder an Originalität noch an Anzahl gegeizt. Die nötige Ruhe vorausgesetzt, bekam er sie zwar fast mühelos zusammen, aber trotzdem. Zudem ließe sich so nochmal vergegenwärtigen, welchen Geschlechts die drei waren. Gerade beim, wie er ohne Aktenkenntnis annimmt, Erstgeborenen, machen ihn Kleidungsstil, Habitus und der noch zu verifizierende zweite Rufname zweifeln. Selbstverständlich blieben Gesundheit und Glück auch jenes Wunschkindes von primärem Belang - ganz gleich, welchen Geschlechts es auch sei. Obschon er sich dahingehend zu etwa fünfzig Prozent, also durchaus respektabel, sicher ist, wüsste er als liebendes Elternteil seine Vermutung doch gern bestätigt.

Zudem erwartet seine liebe, gute Frau wohl ohnehin, und das ganz zu Recht, dass er nicht nur das Alter der Kinder sondern auch ihres aus dem Stegreif weiß. Was sich ohne Akteneinsicht zugegeben etwas schwierig gestaltet, ist sie doch eine jener lieben, guten Frauen, die dahingehend nur schwer zu schätzen ist. Ganz sicher sieht sie deutlich jünger aus, als sie ist - als sie sein muss. Das ist mathematisch gar nicht anders möglich. Unwiderlegbarer, gleichwohl schönster Beweis ist zweifelsohne der gemeinsame Kindersegen. Und die für den Eingang eines solchen, wunschkindergekrönten Bündnisses unabdingbaren Gefühle sind natürlich nicht einfach  hoppladihopp da; die müssen sich selbstverständlich erst entwickeln, sich erarbeitet und verdient werden. Das wird ja auch seine Zeit gebraucht haben. Jünger als er ist sie aber. Das zumindest weiß er auf Anhieb ganz sicher. Als Mann der Prinzipien, der sich nie für Frauen seines Alters, immer nur für die jüngeren interessiert hatte, wird er da schon drauf geachtet haben, als sie einander kennenlernten; etwa zu jener Zeit, da ihn gerade seine letzte liebe, gute Frau verlassen und er sich wohl in einem emotionalen Zustand befunden haben dürfte. Schließlich sind Trennungen nie frei von Trauer. Und als gefühliger Mensch wird er also etwas entsprechendes, dem Anlass Angemessenes, gespürt haben, als er dennoch die Stärke aufbrachte, sich auf seine neue liebe, gute Frau einzulassen - sie sogar zu ehelichen.

Vermutlich aus Liebe. Sollen andere doch aus anderen Gründen heiraten, solang diese nur redlich sind. Da gibt es absolut gar nichts dagegen zu sagen. Nur für ihn kommt das eben nicht in Frage. Und da möge es ihm doch bitte auch vergönnt sein, einzig aus einem Gefühl von Liebe zu heiraten. Natürlich wird das Motiv wohl kaum auf der Eheurkunde vermerkt sein. Aber wozu auch? So etwas fühlt man ja. Das ist ja da. Das bleibt ja, ob es dort geschrieben steht oder nicht. Sollte er aber doch mal einen Blick auf jenes Dokument werfen, dann nur, um den Tag des Freudenfestes mit seinem kalendarischen Gedächtnis abzugleichen. Also, um da wirklich sicher zu sein. Am besten wäre es, zeigte seine liebe, gute Frau ihm den Verwahrort aller im Familienbesitz befindlicher Urkunden. So böte sich gleich noch die Möglichkeit eines Hausrundgangs. Das wollte er ohnehin mal wieder gemacht haben: sich ihre gemeinsame Stätte ansehen. Ihr Nest. Ihren Hafen. Nannten sie nicht sogar eine Sonnenterrasse ihr Eigen? Einen Teich auch? Er konnte es kaum erwarten, das traute Heim zu erkunden. Am meisten jedoch freute er sich auf die Zeit mit den Seinigen. Das ist ja doch das größte Glück für ihn.

Er wird sich darum bemühen. Um all das. Aber erst einmal gilt es, sich wieder an die Arbeit zu machen. Die Kunst ist eine Gnadenlose und erfordert, dem Wohlstand und Wohlergehen der Liebsten wegen, Verzicht. So sehr ihn dieser auch schmerzt, so abwegig die Vorstellung, verzichtarmen und damit gleichwohl belanglosen Dienst zu leisten: Kaum zu erahnen seine Seelenqualen, wäre er zu kunstbefreiter, allem Schöngeist entsagender Lohnarbeit gezwungen. Was nutzte er seinen Lieben dann? Was hätten sie dann von ihm? Zurück zöge er sich. Nähme keinen, allenfalls spärlich Anteil an deren Leben. Säße, wenn überhaupt einmal, dann von Mimik und Haltung weitgehend befreit, mit ihnen bei Tisch, löffelte wortlos seine Suppe, tunkte gedankenverloren Brot, zerfurchte appetitlos Püree, spießte der Ordnung halber Rosenkohlröschen auf oder was auch immer seine liebe, gute Frau zum Löffeln, Tunken, Zerfurchen oder Aufspießen zubereitet hatte.

Um ihnen solch' teilnahmsloses, entzweiendes, ihm gänzlich widerstrebendes Leben zu ersparen, genau deswegen gilt es, und zwar unter allen Umständen, die Abgabefrist zu wahren. Hohe Kunst erwuchs eben nicht aus dem Nichts. Natürlich erleichtern ihm sein unbestrittenes Sprachgefühl, seine kaum zu verheimlichende Originalität und die ihm eigene, im Allgemeinen eher rar gesäte Fähigkeit, zu fabulieren, den Schaffensprozess. All das, darum wusste er nur zu genau, nutzte jedoch nichts ohne die Disziplin, die wahre Kunst unabdingbar einfordert, die aufzubringen er aber ebenso willens wie fähig ist, um auch dieses Mal ein seinen - und damit den höchsten - Ansprüchen genügendes Werk zu vollenden. Wo war er? Ach ja: “Nun alles verrühren und vorsichtig das Eiweiß unterheben."

 

Anne Büttner

 

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freiTEXT | Stefan Sommer

Erinnerungen an Zitronen und Flughäfen

Als das Licht erlischt, wünscht er sich von Herzen, ein Blitz hätte das Haus getroffen. In sehnlicher Erwartung einer höllischen Katastrophe harrt er im Dunklen, harrt vergebens. Nicht mal ein beschissenes Erdbeben. Der Boden unter seinen Füßen teilt sich nicht, nicht ein klitzekleiner Riss. Nichts. Selbst einen Stromausfall, Feueralarm oder bewaffneten Überfall würde er nehmen, aber das Universum verweigert ihm auch das. Nichts will den Lauf der Dinge unterbrechen. Nichts. Nichts. Nichts. Zwischen den Stockwerken gestrandet wie ein Fisch an Land, hört er Holzdielen knarzen, Toilettenspülungen plätschern, Fernseher brüllen, Paare streiten, eine geschundene Seele mit einer Geige kämpfen. Alles wie immer. Leider. Kein Donner. Keine Sirene. Kein brechender Beton. Nichts. Die Einkaufstüte in der Hand zieht ihn in die Tiefe, als wäre sie mit Ziegelsteinen gefüllt.

„Mrs. Kelly!“, stößt er ertappt hervor, als über ihm plötzlich das Licht angeht und die alte Dame vor ihm steht. „How’s the kidney?“. Zu so später Stunde hat ihre Lordschaft aber keine Lust auf Plauderei: „Mr. Lutz, why are you standing in the stairwell? In the dark? At this time?“. Ohne seine Antwort abzuwarten, nestelt die Duchesse of Highsmith, wie sie von den anderen Parteien des Mietshauses in der Highsmith-Street gerne genannt wird, ihre Lesebrille aus dem Etui. „Don’t you feel well?“, bohrt sie nach und mustert ihn streng. Die Situation ist ihr nicht geheuer. So ein Verhalten duldet sie an ihrem Hof nicht. „Something’s wrong? You’re on drugs, son?“. „No, no, don’t be bothered. Everything is fine. No drugs! Not today!“, versichert er mit einem Zwinkern, um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, er hätte sich bis eben noch gewünscht, eine Naturkatastrophe würde auf das Haus niedergehen und seine Probleme ins Jenseits verschieben. „Way ahead“ und „rough day“ murmelt er zusammenhangslos hinterher und flüchtet eilig die Treppe hinauf, bevor sie nach Sophia fragen kann.

Als er außer Sichtweite zu Atem kommt, die Echos seiner Schritte im Haus verschwinden, bemerkt er, wie idiotisch sein Vorhaben doch ist, wie vollkommen verblödet und verblendet, wie gaga, bescheuert, wie meschugge, lächerlich, albern, wie grunddämlich. Einer neugierigen Rentnerin mag er entlaufen, seinem Hirn nicht. Das kommt erst in Fahrt. Durch das Fenster sieht er die Sterne über dem dunklen Garten aufziehen und das Erlebte zerrt ihn durch die Glasscheibe, hoch in den Nachthimmel, über den Ozean, auf den alten Kontinent. Italien, ihr Baum, alles fällt ihm ein. Das Kopfsteinpflaster, Bologna, die Brunnen, ihr Kleid, der Rotwein, wie sie auf der Dachterrasse liegen, wie Sophia die italienischen Namen der Sterne ausspricht. Croce del Sud. Corona Australe. Idra femmina. Der Weg von der Universität zu ihr. Die Treppe. Die Dusche in der Küche. Das Porträt ihrer Eltern über dem Bett. Der Geruch von Sonnenmilch. Die Madonnen-Statue. Ihr Hals. Das Blitzlicht der Polaroid-Kamera im abgedunkelten Zimmer.

Wie ein Derwisch kramt er das Foto aus der Brieftasche, reißt darauf seinen Kopf aus ihrer Umarmung. Als zelebriere er im Treppenhaus einen Exorzismus, schließt er seine Augen und drückt sich die Fetzen auf die Stirn. Er drückt und drückt und drückt, aber es funktioniert nicht. Er vergisst sie nicht. Er vergisst Italien nicht. Er vergisst nichts. Er denkt er an ihr Gesicht, ihre Sommersprossen, ihre Lippen, an ihre aufgerissenen Augen, als sie in die Zitrone beißt, wie sie hinterrücks von ihrem Ast kracht, wie sie in der Notaufnahme mit Händen und Füßen erklären, was passiert ist und warum eine Zitrusfrucht die Schuld trage. Ihm fallen die Plastikstühle in den grellen Fluren des Krankenhauses ein, der Schokoriegelautomat, die Ventilatoren, die Latexhandschuhe an braungebrannten Händen, das Fußballspiel im Fernseher in der Ecke des Ganges, die blinkenden Monitore, wie sie endlich einschläft, wie er neben ihr Wache hält. Verzweifelt versucht er sich vorzustellen, wie der Baum zwischen den Palazzos der Altstadt in den Himmel wächst, heute andere auf ihn klettern, andere in seinen Wipfeln sitzen und auf die Lichter des Städtchen schauen. Es klappt nicht. Sein Smartphone vibriert.

Im freien Fall stürzt er aus dem Luftschloss durch den Kamin zurück in seinen Körper, zurück ins Treppenhaus. Es ist ihr Festnetzanschluss. Sie ist also noch wach. Sie steht in ihrer Wohnung im siebten Stock und wartet auf ihn. Er stellt sich vor, wie sie oben mit dem Phone in der Hand durch die Küche tigert und von allem, was hier unten in ihm vorgeht, von allem, was mit ihrem gemeinsamen Leben passieren wird, keine Ahnung hat. Panisch streckt er den Kopf über das Geländer, vergewissert sich, dass sie ihn nicht beobachtet. Tut sie nicht. Sie läuft, vermutet er, wie immer das Telefon am Ohr und eine Zahnbürste im Mund vom Bad ins Wohnzimmer, um den Sessel, in die Küche, ins Bad, ins Wohnzimmer, um den Sessel, in die Küche, wieder ins Wohnzimmer, um den Sessel und immer so weiter. Der Empfang reicht nicht bis auf den Balkon und nicht ins Treppenhaus.

Als sie oben auflegt, glotzen ihn unten vier achsoverliebte Augen von seinem Smartphone an. Ist er das? Ist sie das? Als wäre das Gerät plötzlich aus tonnenschwerem Stahl bricht er mit der Last in seiner Hand wie ein Amboss durch die Decke und landet drei Jahre jünger in hohem, buschigen Küstengras. Es dauert damals bis sie dieses Selfie hinbekommen. Der Wind auf der Klippe ist so stark, dass es Sophias Locken vor ihre Gesichter weht. Er erinnert sich, wie die Spitzen in seinen Augen kitzeln, wie sie ihm aus ihren Haaren einen Schnurrbart flechtet, wie Böen ihre T-Shirts zu Luftballons aufblähen. Sie sind zum ersten Mal in Irland, um Weihnachten mit ihrer Familie zu feiern. Die Eltern Judie und David. Lehrerin und Optiker. Drei Brüder. Marvin, Dave, Joshua. Katholiken. Zwei Hunde. Toby und Jake. Golden Retriever Mischlinge. „It’s a wonderful life“ an Heiligabend. „Home alone“ am ersten Weihnachtstag. Bier am Flughafen. Bier im Wintergarten. Bier vor der Messe. Bier zum Lunch. Bier zum Dinner. Bier zum Tee. Er erinnert sich an den permanenten Kater, an ekligen Fisch zum Frühstück, den geschmückten Tannenbaum, das NYSNC-Poster über dem Bett in ihrem alten Kinderzimmer. Sein Smartphone vibriert.

Ein Sturm weht ihn durch die Ritzen in den Mauern zurück in seinen Körper, zurück ins Treppenhaus. Es ist die Mobilnummer. Auf dem Display das Bild aus Amalfi. Sie mit Taucherbrille. Badeanzug. Türkises Meer. Einen Seestern und eine Fanta-Dose in Händen. Wellen, die gegen das Land schlagen. Sonnenbrand. Zimmer mit Klimaanlagenfernbedinungen. Das Herz rutscht ihm in die Magengegend ab wie im Flugzeug, als er die Uhrzeit in der oberen Ecke des Bildschirms liest. In spätestens fünfzehn Minuten wird sie seinen Weg zum Laden abgehen und ihn entdecken. Und dann? Wird er es ihr sagen? Was ist, wenn er sich irrt? Menschen irren sich. Er irrt sich. Ständig. Dauernd. Quasi immer. Warum nicht auch jetzt? In seinem Kopf ist alles wirr und furchtbar und kalt. Seit er unten die Tür aufgeschlossen hat, ist dieser eine fatale Gedanke wie ein Weisheitszahn in sein Bewusstsein durchgebrochen und jetzt bekommt er ihn nicht mehr los. Was soll er tun? Auf den beschissenen Blitz warten? Ein beschissenes Erdbeben? Den beschissenen Feueralarm? Einen beschissenen Überfall? Nichts, nichts, nichts, nichts, nichts, nichts, nichts wünscht er sich mehr, als dieses Hirngespinst von ihr fern zu halten, zu fühlen, was er fühlen will.

Als er widerwillig in ihr Stockwerk schleicht, wartet sie schon im Türrahmen. Küstenwind, der aus dem Inneren der Wohnung in das Treppenhaus bläst, wirbelt die Locken dramatisch vor ihrem Gesicht auf und ab und hin und her. Sie trägt das Kleid aus Bologna und eine Taucherbrille. Durch die kleinen Bullaugen schaut sie ihn ängstlich an, sagt aber kein Wort. Wie frisch aus der Notaufnahme hat sie einen Arm verbunden. Von der Schulter bis zu den Fingerspitzen reicht der schwere, weiße Gips. Die andere, unverletzte Hand hält eine angebissene Zitrone. Als sein schelmisches Herz unverhofft munter wird, bemerkt er, wie sich Tränen hinter den Brillengläsern sammeln, die Kammern vor ihren Augen langsam volllaufen. Er stellt die Einkaufstasche auf den Boden, heilfroh, dass es nicht gewittert.

 

Stefan Sommer

 

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freiTEXT | Avy Gdańsk

Augenwischerei

Wieder wird eine Ladung Süßstoff vom Kuchenschiff abgehoben, verschwindet im Sahnehafen. Der Gabelstapler kehrt leer zurück. Das Schiff schon buglos, eine marzipanerne Galionsfigur sitzt noch obenauf. Ihr geht es als nächstes an den Kragen.

Zwischen der Frachtvernichtung, die Ronja vom ganzen Nachmittag am besten gefällt, plaudert ihr Gegenüber. Sie wünschte, er würde nichts anderes tun als essen und dann gehen, gerne würde sie ihm den Mund stopfen mit Kirschteilchenknebeln oder Ball-Gag-Berlinern. Eine Verstummelung, süßes Verschweigen.

Mit Zucker hat sie nichts zu tun, er sieht das anders. Weil er offenbar blind ist. Sie hat augenblicklich eine Zeile aus einem Mötley Crüe-Song im Kopf:

Well it’s no surprise, ‘cause you’ve got one-way eyes!

Einweg-Augen. In vielfacher Hinsicht.

Sie trinkt ihr Schwarzes und sagt, sie möge Bewegung, vor allem Wandern. Er mampft, meint Hättest du das nicht dazu gesagt, wäre es sexy gewesen.

Er wiederum könnte einfach gar nichts sagen, was ihn für sie sexy machen würde. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold und Taubstumm ist Platin. Aber selbst das würde bei ihm nicht helfen.

Das Gespräch ist keines, vielmehr ein Monolog. Alles daran ist mono, besonders der Ton. Sein Ton. Tonfiguren, er und all diese Männer, sie unterscheiden sich kaum voneinander. Ronja kennt sie schon, die Muster und Maschen, mit denen die Konversation vorgestrickt wurde. Er bedient sie alle. Schade, denn er ist die letzte Chance, die sie dem Sprechen gibt.

Durch kakaokrümelgeschwärzte Zähne bahnen sich Aussagen, und wo sie zu abgekaut sind, bläst die Stimme sie auf. Sätze, die immer beim Ich beginnen, der Versuch einer Selbstverwirklichung durch Worte. Ich denke nicht in Mustern. Und wenige Sätze später Ich bin keiner von diesen Eyeliner-Sensibelchen. Da ist ja schon der erste Widerspruch. Auch dieser Kerl: trampelfad. Erschafft die Welt nach seinen Maßstäben. Ronja aber hat Mehrweg-Augen, die das Seemannsgarn mit Nadelblicken heraustrennen. Wird gerne zum Überzeugungstöter.

Die Allgemeinwissensdusche lässt sie ins Leere rieseln. Oberflächlichkeiten. Außerdem weiß ich das schon alles. Nur das Darunter zählt. Und ehe er einen schlüpfrigen Witz machen kann, wie sie es von seinesgleichen gewohnt ist: Was du weißt, will ich nicht wissen. Was in deinem Kopf hängt, wenn du nach innen sinkst, das schon. Wie du empfindest, wie du wahrnimmst. Nur das Verletzliche zählt. Schäl, wenn du sprichst, das Gefühl.

Der Kuchenverlader, unfähig zum Entkernen, bläst kurz die Gebäcktaschen auf, holt zur Gegenoffensive aus. Eine billige, die Ronja längst kennt – diese Typen gleichen sich wirklich wie ein Schokonikolaus dem anderen: Sie sind alle hohl und brechen nach der ersten bissigen Bemerkung zusammen.

Während ihm aus dem klaffenden Vollmilchschlund schlechte Vergleiche und Reste seiner Zulänglichkeit bröckeln, mit denen er ein unschmeichelhaftes Dessertportrait von ihr hinschmiert, wird Ronja unfassbar müde.

Müde von den Deutungshoheiten, die sich mit eigenen Worten krönen. Ihr Mundwerkzeug nur dazu da, sich die Umwelt untertan zu machen, konsumierbar – während sie Ronja auf Diät setzen wollen. Immer gleiche Schnittbewegungen und Schnittmuster, aber auf Einzigartigkeit pochend: Du wirst mich nie etwas machen sehen, weil es gerade angesagt ist. Es ist die Artigkeit, die bei all diesen Sätzen übrigbleibt. Sprache bleibt nur Trimmaufsatz, reine Oberflächenbearbeitung.

Vom Verborgenen mag Ronja gar nicht erst anfangen, von dem, was sie hinter den Dingen entdeckt. Mit Geheimlehren kannst du mich jagen. Er sieht sofort Esoterik darin. Dabei geht es gar nicht darum. Aber das kann nur erkennen, wer ein feines Gespür dafür besitzt, was unter dem Sichtbaren liegt. Hier ist alles Tunnelblick. Einwegaugen.

Wo sind die Gesprächspartner hin verschwunden, die packenden Zuhörer, denen es nicht darum ging, sich selbst zu inszenieren? Die mit Ronja suchten und irrten, Zugänge zueinander legten mit vorsichtigen Worten, mit zweifelnder, brechender, bewegter Stimme? Mit denen man Gemeinsames erschuf im Reden, unter die Zungen tauchte, wo die Gedankenströme zusammenflossen? Ronja vermisst sie, verzehrt sich danach, wie sie einander die Augen wuschen, jeder Rausch ließ den Blick aufklaren. Ganz anders als jetzt.

Sie wischt gelangweilt mit den Fingern über die Cremigkeit des Tellers, fährt anschließend damit über die Pupillen ihres überraschten Begegners, dreht sie nach hinten. Zwei liegengebliebene Schattenmorellen drückt sie auf das vollkommene Weiß, fruchtig-erfrischendes Weltbild.

Die Gäste im Café erwachen aus ihrem Nachmittagsdösen, als sie mit dem Löffel die Zunge des Kuchenmanns abschabt, um ihr eine neue Glasur zu geben, einen Belag aus Aprikosenaufstrich für schmackhaftere Gespräche.

Blut und Konfitüre, eine noch unverbrauchte Mischung. Der Nachtischler spuckt kleine Töne nun, kauernde Zwischentöne, während Ronja sich den Kehlkuchen schmecken lässt.

 

Avy Gdańsk

 

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freiTEXT | Martin Dost

Das letzte Tier

Alte Männer erzählen, dass alte Männer erzählen - von der Vergangenheit. Sie sind weiß und verhornt. Sie denken, sie sind die letzten ihrer Art und mit ihrem Tode sterben sie aus. Jedoch werden sie nur vergessen.

Ich erinnere mich an den kalten Novembermorgen. Es gab Frost, der Boden war hart und schwere weiße Wolken bedeckten den Himmel, eine bewegungslose Masse, doch blieb es trocken und kein Regen fiel herab. Mitten im Hof stand der Traktor zum Hissen des toten Tieres. Ich stellte mich neben das massige Gerät und wartete auf den Fleischhauer. „Schlachten ist schwere Arbeit“, sagte mein Großvater. In seinen Händen hielt er zwei Flaschen. Korn und Kümmel. „Hol die Schubkarre!“, sagte er. Als ich zurückkam, sah ich, wie er aus einer der Flaschen trank. „Das beruhigt!“

Die Schlachtstraße befand sich zwischen Stall, Scheune und Garage. Mein Großvater führte den Ochsen, er hatte keinen Namen, heraus, vom Stall zum Scheunentor, vorbei an dem weißen Kastenwagen des Metzgers und hielt ihn fest. Er fuhr noch einmal mit der flachen Hand über den Hals des Tieres. Ein dunkelbraunes Fell, das zum Kopf hin heller wurde und an der Stirn ganz weiß war.

Der Schlachter kam mit einem Bolzenschussgerät, setzte es auf den Ochsenkopf und drückte ab. Es gab einen Knall, einen Rückstoß und der Ochse sackte, so schnell wie der Schuss, in sich zusammen. Die Beine in der Luft fiel der schwere massige Körper dumpf zu Boden. Mein Großvater, der unentwegt auf den Traktor sah, ganz so, als ob er an dessen Leistung zweifelte, ließ die Leine los und wand sich an mich. „Er ist nicht tot. Das Herz schlägt noch“, sagte er. Seine Stimme war rau und brüchig: „Jetzt muss es schnell gehen!“

Der Schlachter zog eine Kette um die Beine des Ochsen und befestigte das andere Ende an der Gabel des Traktors, während mein Großvater den Motor startete. Er zog das Tier in die Höhe, bis es schwebte und schwankte. Ich sah seine Hände zittern. Schnell griffen sie in die Innentasche seiner Jacke und holten eine Zigarettenpackung hervor. Mit glimmendem Stängel stellte er sich neben den Fleischhauer, sah noch wie jener das Messer zog und kurz bevor er zustach, wendete er den Blick ab. Ich sah dem Ochsen beim Ausbluten zu. Das tote Tier taumelte an der Kette leicht hin und her und das dickflüssige und tiefrote, fast schwarze Blut wurde in einem Bottich aufgefangen.

Auf den ersten Akt wurde angestoßen. Der Schlachter und mein Großvater kippten den Korn und atmeten schmackhaft aus. Ich kauerte auf der Treppe zum Scheunendachboden und sah ihnen dabei zu. In der Luft stand der Geruch von Heu, Ochse und Zigaretten. Von irgendwo, weit hinten, erklang eine Säge, ein Rattern, Schnurren und Brummen.

Meinen Vater, der mit einer Kamera auf der Schulter in die Scheune trat, zeichnete das Geschehen auf. Ein kleiner roter Punkt leuchtete und signalisierte den Aufnahmemodus. Er hielt auf die Männer, er hielt auf die Stelle am Hals des blutenden Tieres.

„Schenk uns mal nach“, sagte mein Großvater. Ich nahm die Flasche aus seiner Armbeuge, schüttete den Korn in kleine polierte Gläser. Mein Vater filmte den Traktor, die Gabel und Kette. Er umrundete die Männer und neben seinem zugekniffenen Auge blinkte die kleine rote Signalleuchte. Alles wurde festgehalten.

Der Ochse war ausgeblutet und tot. Der Schlachter ging um das Tier herum und drückte auf den Augapfel. „Keine Reaktion“, sagte mein Großvater. Er ließ den leblosen Körper herunter, langsam senkte sich die Gabel und der Metzger trennte die Hinterhufe ab, legte die Hinterbeine von der Haut frei und justierte die Kette an der Stelle oberhalb des Knies neu. „Komm her!“, sagte mein Großvater und stieg vom Traktor. Ich kletterte auf den Sitz und er zeigte mir, wie man den Diesel vorglühte, anließ und die Gabel nach oben manövrierte. „Hoch!“, rief er. Das Tier begann von Neuem zu schweben und der Schlachter hielt es fest, bis es nicht mehr schwankte. Dann zog er weiter die Haut ab und es folgten routinierte Bewegungen. Er schnitt, zog, schnitt und zog und die Haut hing wie in Lappen am nackten Tier zu Grunde.

Mein Großvater schaltete den Motor ab, zog den Zündschlüssel und ging in Richtung Stall davon. Unterdessen filmte mein Vater jeden Schnitt des Fleischhauers, jeden Moment des zweiten Aktes. „Früher hatten wir mehr Rinder“, sagte mein Großvater. Er saß vor dem Stall auf einem Holzstuhl und rauchte. „Da haben wir an einem Tag bis zu drei Viecher geschlachtet. Die Arbeit möchte ich heute nicht mehr machen.“ Es folgte eine Pause. „Mein Vater hatte auch noch selbst geschlachtet. Klar gab es Metzger und jede Menge Lehrlinge, aber er wollte es selbst machen. Mein Alter war verbissen“, sagte er und zog den Korn mit dem kleinen Glas hervor. Er reichte mir die Flasche und ich schenkte ihm ein. „Halt mal noch!“, sagte er, trank das Glas mit einem Schluck leer und verlangte ein zweites. „Die Karnickel, die wir gezüchtet haben, musste ich schon als Kind beim Schlachten festhalten. Ich habe mir die Viecher zwischen die Beine geklemmt und mein Alter hat mit einem Knüppel draufgeschlagen. Einmal hat er mir fast die Kniescheibe zertrümmert. Aber schlimmer waren die schrillen Schreie. Wenn das Tier erkennt, dass es stirbt.“ Er stand auf, spuckte auf die Zigarette in der Hand und steckte die Flasche in die Innentasche seiner Jacke. „Schau mal nach, ob der Kopf schon runter ist“, sagte er. Der Metzger rang noch immer mit der Haut. Weißer Dampf umschwebte den warmen nackten Körper des toten Ochsen und ich sah, wie auch der Dampf den Metzger umgab. Ich wartete, bis er den Kopf abschnitt, ihn auf die Schubkarre bugsierte. Dann winkte ich meinem Großvater. „Ab damit“, sagte er. Er nahm die Schubkarre und fuhr den Kopf zur Garage. Ich sah, wie er schwitzte, unter seiner Schiebermütze glänzte und sich mit dem Handrücken über die Stirn fuhr.

Der dritte Akt begann mit einem weiteren Korn. Die Flasche war bereits weit über die Hälfte geleert und die Männer leckten sich die Lippen. „Ein guter Korn“, sagte mein Großvater. Mein Vater trank nicht. Er filmte still.

Als der Metzger das Messer am Bauch des Tieres ansetzte, begann der hängende Körper plötzlich zu zucken. Eine Hautpartie nahe dem Vorderlauf vibrierte und ich erschrak. „Das sind nur die Nerven“, sagte mein Großvater. Ich sah auf das Messer des Schlachters. Er machte einen länglichen Schnitt und riss die Bauchdecke auf. Mein Großvater wies mich an, die Schubkarre direkt unter das Gehänge zu schieben und mittig zu positionieren. Jetzt griff der Fleischhauer beidhändig in das aufgeschlachtete Tier, grub mit Bedacht seine Finger hinein zwischen Muskelfleisch und Innereien bis die Arme schon nicht mehr zu sehen waren. Ein Torso von einem Schlachter und ganz nah waren sich nun Mensch und Tier.

Der Fleischhauer trug lange gelbe Handschuhe, eine Schlächterschürze, am Gürtel die Messer in einem Köcher mit Wetzstahl. Vorsichtig zog er die Eingeweide heraus, trennte sie ab.  „Die Milz oder der Darm dürfen jetzt nicht verletzt werden“, sagte mein Großvater. Er blickte auf das Rad der Schubkarre: „Da kommt jetzt einiges an Gewicht zusammen. Das Ventil muss halten.“ Die Innereien dampften stärker noch, als das nackte Muskelfleisch. Überall war nun der Geruch von Tod und Gedärm, kein Heu mehr, keine Zigaretten. Die Schlachtabfälle luden wir vorerst auf dem Mist nahe dem Hof und bedeckten sie mit Stroh. „Das vergraben wir später“, sagte mein Großvater. „Fahr die Schubkarre zurück!“ Er lief neben mir und deutete auf die Felder, die sich in geraden parallelen Formen hinter dem Hof erstreckten: „Bis dahin hat mich der Alte getrieben. Die Felder rauf und runter“, sagte er und deutete auf den Horizont. „Misten, Gülle fahren, im Sommer Heu machen, im Herbst die Erntezeit und kurz vor Weihnachten über vierzig Gänse schlachten. Mit der Mutter. Das ganze Federzeug haben wir verkauft. Gab nicht viel, aber weggeschmissen wurde eben auch nichts. Mein Alter konnte mich jagen, aber unter den Tisch gesoffen, habe ich ihn. Der hat nichts vertragen. Der konnte malochen den ganzen Tag, doch am Kümmel war er ein halber Mann.“

Er lachte und rauchte. „Jetzt trinken wir noch einen und dann geht es ans Zerteilen.“ Mein Großvater und der Metzger leerten die Flasche zum vierten Akt. Sie lachten. Der Ochse war nichts mehr als weißrotes Muskelfleisch, schwere Knochen und eine Abstraktion von einem Tier.

„Wir bugsieren die Teile. - Pack mit an!“, sagte mein Großvater. Der Schlachter schnitt große Stücke ab, die wir mit der Schubkarre zur Garage fuhren. „Dein Vater hatte Glück. Erst Polytechnische Oberschule, danach eine abgeschlossene Lehre und weg war er“, sagte er. „Ein Händchen für Technik, dafür aber zwei linke Pfoten, wenn es um richtige Arbeit geht. - Ich wäre auch gegangen, wenn ich gekonnt hätte. Aber wie?“ Ich sah, wie mein Vater den Akku seiner Kamera wechselte und sie auf einem Stativ positionierte. Aus einem Karton zog er zwei Baustrahler hervor und hängte sie an die eigens dafür installierten Haken an der Decke auf. Alles wurde hell und die gekalkten Wände reflektierten das weißblaue Licht. „Lass den mal filmen, da stört er nicht. Und wenn hier mal alles platt ist, gibt es immer noch die Aufnahmen“, sagte mein Großvater. „Los – alles auf die Schlachtplatten!“

Der Tierarzt war pünktlich. Er kontrollierte die Schlachtung, beschaute das Fleisch und nahm Proben. „Trichinenschau“, sagte mein Großvater. „Jetzt geht der Ochse unter das Mikroskop.“ Die Untersuchung war abgeschlossen und der Arzt nickte. Die großen Stücke konnten nun portioniert werden. Der Metzger kam in die Garage und zusammen mit der Großmutter, die der Großvater gerufen hatte, wurde das Fleisch zerteilt, klein gehackt und verpackt. „Hier beginnt die Küchenarbeit“, sagte er. Er zündete sich eine Zigarette an, fuhr mit der Schubkarre ein letztes Mal zur Scheune und beseitigte alle übriggebliebenen Tierreste. „Hol heißes Wasser und wisch den Boden!“ sagte er.

Das rote Wasser rann über den grauen Betongrund der Scheune, über den Hof zum Feld hinaus. Es war bereits Mittag und die weißen Wolken begannen sich allmählich zu bewegen, leicht zu werden und auszudünnen. Da stand der alte Mann, der mein Großvater war, der das Töten nie gelernt hatte. „Feierabend“, sagte er. „Geschafft!“ Ich sah sein Profil und wie er eine neue Flasche, den Kümmelschnaps, aus der Jacke zog und in der Hand hielt. „Das war das letzte Tier.“ Er schaute auf das rote Rinnsal, wie es ganz dünn im Felde verlief, setzte an und trank. „Was ein Mann ist, trinkt. Immer schön die Rübe hinunter. Dein Großvater ist ein Trinker, kein Bauer. Bauern gibt es nicht mehr.“ Er begoss den fünften und letzten Akt. Es war vorbei.

Die alten Männer, sie fürchten sich. Sie sind grau und schwach. In ihrer Angst steckt das Erkennen der Gegenwart und während sie an ihren Tod denken, vergessen sie, dass sie längst vergessen wurden.

 

Martin Dost

 

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freiTEXT | Kerstin Nethövel

Die Kreiselegge

Ein Spaziergänger kam an einem Feld entlang und sah einen Mann am Rand des Ackers quer zur Pflugrichtung rücklings am Boden liegen. Seine Kleider waren zerrissen, und die Haut war aufgeschürft und zerkratzt. „Was ist passiert?“, fragte der Spaziergänger. „Nichts“, sagte der Mann, der am Boden lag. „Nicht viel jedenfalls. Ich habe das Feld bestellt und bin dabei nicht weit gekommen.“ „Und warum liegst du da?“ „Ich sagte dir doch, ich wollte den Boden für die Aussaat vorbereiten. Und bei der Arbeit bin ich unter die Egge geraten.“ „Aber du kannst doch da nicht liegen bleiben“, sagte der Spaziergänger. „Warum denn nicht?“ „Wenn es regnet, wirst du nass, in der Nacht ist es zu kalt, und wenn die Sonne brennt, wirst du geblendet. Außerdem staubt es dann zu sehr. Ich werde dich unter deinem Arbeitsgerät hervorholen.“ „Tu das nicht“, sagte der Mann, der am Boden lag, „Ich habe mich schon vor langer Zeit zwischen den Zinken eingerichtet und eine Position gefunden, in der sie mir nicht weh tun können. So lässt es sich aushalten, wenn ich mich nicht bewege. Ich spüre nicht mehr, dass ich nass werde. Ich spüre nicht mehr die Kälte, und ich werde auch nicht geblendet. Ich liege schon zu lange hier. Der Regen wäscht mich, die Sonne wärmt mich, die Nacht deckt mich zu. Geh einfach weiter. Ich habe mich mit meiner Situation abgefunden, also finde du dich auch damit ab.“

Der Spaziergänger aber blieb weiter stehen und sah auf den Mann hinunter und überlegte, wie er ihn am besten aus den Krallen dieses Gerätes herauslösen könne. „Denk gar nicht erst darüber nach“, sagte der Mann am Boden. „Wir wollen alles dabei belassen, wie es ist.“ Der Spaziergänger ließ nicht locker, machte einige Schritte nach vorn und sank in die weiche Erde des Ackers ein. „Komm nicht näher. Vergiss es.“ „Doch. Ich will dir helfen, und ich werde dir helfen. Ich kann dich doch so nicht zurücklassen“, sagte der Spaziergänger und ruckelte an dem Bodenbearbeitungsgerät herum. Der Mann am Boden unterdrückte einen Schrei. „Jetzt hast du mich geschnitten.“ Er deutete auf den Blutfaden, der seitlich an seiner Hüfte herunterrann und in die Erde tropfte. „Ich sagte dir doch, du sollst weitergehen. Lass mich in Ruhe. Die Zacken sind eingerastet. Sie lassen sich nicht von der Stelle bewegen. Du kannst nichts dagegen tun. Und ich, ich kann es aushalten in dieser Position, wenn ich mich nicht rühre. Du kannst mir nicht helfen.“ Der Spaziergänger aber gab keine Ruhe und beharrte darauf, den, der am Boden lag, aus den krakenähnlichen Griffen des Gerätes zu befreien. Er dachte, wenn ich all meine Kraft aufbiete, kann ich es beiseite bewegen. Und er griff mit den Händen fest zu und biss die Zähne aufeinander und zog und zerrte, und je mehr er zog und zerrte, desto mehr bohrten und gruben sich die Zinken der Kreiselegge in den Körper dessen, der am Boden lag, und rissen das Fleisch von seinen Knochen. Als der Spaziergänger das Gerät endlich ein Stück beiseite geschoben hatte und sah, dass von dem Mann fast nichts übrig geblieben war, setzte sich die Egge langsam in Bewegung und kam auf ihn zu.

Kerstin Nethövel

 

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freiTEXT | Angela Regius

als es anfing mit dem zu hause bleiben hatte ich angst dass es wieder so sein würde wie damals mit dem essen und dem essen und dem   . die mangelnde struktur teil des problems und arbeit eine antwort mit ihren prozessen und räumen die standardisiert sind wegen gesundheitlichen erkenntnissen und den kernarbeitszeiten. never change a running system aber was läuft denn überhaupt und was ist bloße kompensation ein anderes ventil für etwas das tiefer sitzt das nicht zu lösen ist sondern abgearbeitet werden muss mit am besten antrainierter methodik. ich esse und esse nicht sondern liege auf dem sofa aktualisiere kaue an den nägeln fahre mit den fingern durch haare und fühle mich oft als wäre aufstehen eine unstemmbare angelegenheit. ich esse und esse nicht aber ob das so wäre wenn du nicht hier wärst mit mir in einer wohnung ob ich tatsächlich stärker geworden bin oder einfach nur das bild aufrecht erhalte weil da jemand ist der es sieht.

 

Angela Regius

 

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freiTEXT | Viviane Kern

Die Entsorgung

I

Von meiner Wohnung zur Straße sind es 137 Schritte und 52 Stufen, ich zähle jedes Mal genau, um die Länge meiner Schritte einschätzen zu können und brauche meist exakt diese Anzahl. Habe ich mehr Schritte, ist dies ein handfestes Indiz dafür, dass ich gedankenversunken durch die Welt laufe und dies meine Beine hemmt, habe ich weniger, besteht die Gefahr, dass ich mich zu sehr durch den Tag hetze.

Kaum betrete ich die Straße, versuche ich leblose Dinge in hierarchische Kategorien einzuordnen und überlege, was diese in mir auslösen. Ein Mistkübel steht auf der gedanklichen Leiter weiter unten als vergleichsweise ein Auto, bedingt durch die Assoziation mit Schmutz, Ekel und Abfall. Dass in Mülleimer all jene Dinge gestopft werden, die man nicht braucht, deprimiert mich. Zugleich entfacht der Anblick die Neugier in mir, was wohl alles darin stecken könnte. Eine Ode an die Freude singe ich innerlich, wenn ein Mistkübel ungewollt aufgegangen ist und der ganze Müll wüst und entblößt auf der Straße liegt. Der halb ausgetrunkene Kaffee vermischt sich mit dem Papier, das die Flüssigkeit absorbiert, gepaart mit nicht identifizierbaren Essensresten und einem bunten Berg aus Plastik, das den rinnenden Kaffee nicht aufsaugen kann. Plastik ist beständig, nimmt nichts auf, manchmal sehne ich mich danach. Mülleimer müssen geleert werden, irgendwann platzen sie aus allen Nähten und bereits ein kleines Teilchen würde sie zum Überlaufen bringen. Leert man die eigenen Mülleimer nie, geht man von alleine daran kaputt. Kaum verlasse ich meine Wohnung, sehe ich Menschen, deren Mülleimer so groß sind, dass man es ihnen von außen bereits ansieht.

Zu den Mülleimern gehört auch das Wort entsorgen, das ich schön finde. Ich werde entsorgt, von meinen Sorgen befreit, ich kann diese abschütteln und loswerden, sie werden entleert – einfach so - für mich. Es ist befreiend, etwas in den Mistkübel zu werfen und nie wiederzusehen. So setze ich Fuß für Fuß vor mich, spüre wie meine Sohle den festen Grund berührt, wieder emporgehoben wird und gegen die Luft ankämpft, die kein Gewicht hat.

An der Ecke eines Wohnhauses verdorren Blumen vor lauter Hitze und fehlendem Wasser, die Stängel werden bereits leicht braun und beginnen sich zu verbiegen. Die Blumen werfen ihre Blüten ab und versuchen verzweifelt, sich das Leben zu retten.  Blumenstiele sind für mich saftig, die Blüten sollen duften, Farbe tragen, um der Welt einen Hauch von Schönheit zu verleihen. Ein Mann lehnt an einer Hauswand und zieht an einer Zigarette. Das Papier verwandelt sich mit dem Tabak in Asche und kleine Teilchen davon fliegen durch die Luft. Der Mann hält den Rauch kurz in seinen Lungen, bis er diesen genüsslich ausstößt, den Rhythmus der Stechuhr für einige Zeit durchbrechend. Der Rauch treibt aufwärts, als wäre er nie hier gewesen, in den Kondensstreifen-freien Himmel, die Luft ist sehr trocken.

Ich gehe die Straße entlang weiter, zähle meine Schritte, alle Geräusche, die zu mir hervordringen, nehme ich intensiv wahr: Stimmen, Motoren und ich sehne mich nach Wasser und Kälte. Der Schweiß tropft mir von der Stirn auf meine Schulter und rinnt den Oberarm langsam herab, ich kann spüren wie er kurz innehält, bevor er auf den Asphalt tropft und in diesem Moment ein kleiner Fleck auf dem Gehsteig hinterlässt. Er wird aufsteigen und verdunsten. Was wohl alles diesen kleinen Teil des Gehsteigs schon berührt hat? Ein Mann, der hinter mir geht, steigt genau auf meinen akkurat hinterlassenen Fleck und verwischt meine Spuren.

II

Ich setzte mich in das Kaffeehaus, in dem ich immer sitze. Zweiter Tisch von links genau der rechte Stuhl, hier kann man das tägliche Geschehen gut beobachten. Ich betrachte die einzelnen Gesichter, die vorbeieilen und obwohl es die Geschwindigkeit der passierenden Leute nicht wirklich möglich macht, mehr als einen flüchtigen Blick auf deren Ausdruck zu werfen, habe ich das Gefühl, man könne Jahre darin lesen.

Verharrend in meinem Beobachten passiert etwas Suspektes, fast Bedrohliches, mit dem niemand gerechnet hat: Ein Mann schaut in alle Richtungen und versucht sich vor einem Mistkübel zu positionieren, dass sichergestellt ist, dass niemand seinen verdächtigen Vorgang sieht. Unter seiner Jacke holt er, sein Plan wirkt ab diesem Zeitpunkt nicht mehr penibel durchdacht, den wer trägt bei dreißig Grad im Schatten eine Jacke, ohne die Intention, etwas verbergen zu wollen, einen Sack hervor, der zu groß ist um in die kleine Öffnung des Mistkübels zu passen. Während er sich halb auf die Mülltonne legt und sich gegen den Sack stemmt, kommt sein Blut in Wallung und sein Gesicht errötet. Der Sack will nicht hineinpassen, als wäre ihm bewusst, hier geschieht eine tätliche Entgleisung.

Der Mann beginnt sein Gesicht zu verziehen, ich meine sogar zu erkennen, dass er vor sich hinmurmelt. Er blickt wieder nach links und rechts, um ja unentdeckt zu bleiben. Jetzt beginnt das ganze Geschehnis zu eskalieren und trägt sich wie folgt zu: Dem Mann ist bewusst, dass sein Sack nicht in die Öffnung passt, legt diesen bedächtig am Boden, fast zärtlich, um dann viermal fest mit dem Fuß auf eine genaue Stelle zu steigen. Er hebt den Sack wieder auf, greift hinein und versucht den Inhalt zu zerreißen, doch die Kohäsionskraft des Gegenstandes trotz ihm. Er presst den Inhalt kraftvoll zusammen, dieser scheint jedoch gummiartig wieder in seine alte Position zu springen. Noch einmal fordert er den Mistkübel heraus und probiert den Sack durch die Öffnung zu befördern, erfolglos. Jetzt beginnt er richtig wütend zu werden und stößt einen Schrei aus, es hört sich an wie:

„Scheiß Mistkübel“, und tritt dagegen.

Einmal mit dem Fuß und da dies nicht zu reichen scheint, schlägt er mit beiden Fäusten oben auf den Deckel.

Was jetzt passiert, war vorherzusehen: Der Mistkübel öffnet sich und entleert die Schwere, die an ihm haftet. Freude, schöner Götterfunken! Wie angewurzelt steht der Mann da, als er merkt, was sein Wutausbruch für Konsequenzen hat. Er eilt so schnell er kann mit seinem Sack davon.

III

Erst jetzt merke ich, wie die Wespen einen Festschmaus vor meinen Augen genießen: Meine bestellte Limonade, ich habe noch keinen Schluck getrunken. Ich bezahle und mache mich auf den Heimweg, von der Straße zu meiner Wohnung sind es 137 Schritte und 52 Stufen, ich zähle sie pedantisch genau. Lange denke ich an diesen Mann und hoffe, dass er irgendwann diese Last des Sackes loswird, die er sich von der Seele reißen wollte. Manchmal sehe ich Menschen, deren Mülleimer so groß sind, dass man es ihnen von außen bereits ansieht.

 

Viviane Kern

 

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freiTEXT | Olav Amende

Olav Amende - Mittag. Fügnis.

Der 12-Uhr-Glockenschlag weitet sich in der Stadt. Vom Friedhof bis zur Seniorenresidenz, die der stilvoll gekleidete Gruftie-Altpunker mit Sisters of Mercy im Ohr zum Beginn seiner Schicht betritt; von der Kleingartenanlage, in der der ehemalige Vorstand die beiden fremden Spaziergänger auf sicherer Distanz hält, bis zum Wasserturm, auf dessen Gesims sich ein weißes Täubchen niederlässt und dabei von niemandem erblickt wird. Der 12-Uhr-Glockenschlag schwebt über den versteinerten Wellen des Marktplatzes und auf diesem steht heute eine Gulaschkanone in Grün. Betrieben wird die grüne Gulaschkanone von einer Rentnerin – einstige Köchin in einer Oberschule oder einem Kindergarten oder in einem VEB-Großbetrieb, der Papiersackfabrik vielleicht. Unterstützt wird sie von ihrer Enkeltochter. Gerade ist Pause. Das Mädchen übt sich im Radschlagen. Sie schlägt die Räder quer über den gesamten Marktplatz, so lange, bis ihr schwindelt und sie in Folge dessen aufs Hinterteil fällt. Da hupt ein von rechts kommendes Auto einem Kontrahenten von links hinterher und bremst nicht ab. Morgen wird das in den „Groitzsch-Pegauer Nachrichten“ nachzulesen sein, wenn es diese noch gäbe. Im Blumenladen haben sich die alten Frauen zum Schwatzen versammelt, während der Florist das Kleingeld zählt, das sie ihm in die Tasche seiner Schürze stecken und eine ihrer Freundinnen nebenan beim Metzger an der Theke zur Aufbesserung ihrer Rente Metthalbbrötchen zubereitet, sehr zur Freude zweier junger Männer. Am Rathaus klopft ein Lehrling Steine – ein Quadratmeter ergibt eine Stunde, schätzt er und blickt auf das Trassierband in zwanzig Meter Entfernung. In der Zwischenzeit ruft sein Großvater zwei durch die Anlage des Kleingartenvereins „Naturfreunde 1907“ e. V. streifenden jungen Männern entgegen: „Was gibt es hier Interessantes?“ Die Stille, die zwischen dieser Frage und der Gegenfrage: „Was gibt es für Sie Interessantes?“ klafft, ist das Echo des 12-Uhr-Glockenschlags, der Moment, in dem sich das Täubchen auf das Gesims des Wasserturms niederlässt oder sich von diesem erhebt, der Gruftie-Altpunker aus seinem Ledersakko in den weißen Kittel schlüpft, die ehemalige Großköchin den Kanoneninnenraum umrührt, ein Besucher der Groitzscher Buchhandlung hinter einer Reihe Schulpflichtlektüre ein verstecktes Buch entdeckt und das Mädchen ein Rad zu viel schlägt.

Zwei Arbeiter der Stadtreinigung sitzen in ihrem Wagen und schlürfen Erbsensuppe. Das Mädchen stellt sich an den Rand der Dreierstufen und lunzt zu den Schreibenden auf der Parkbank. Einer der beiden schaut mal hin, mal weg, mal hin, bis er endlich begreift, dass das Mädchen darauf wartet, dass er ihr zuguckt, wenn sie über die Stufen jumpt. Gut, schaut er eben wieder hin. Das Mädchen grinst, beugt sich zurück, der Lehrling erhebt den Fäustel, die Arbeiter pusten auf ihre Löffel, das Mädchen springt. Der ehemalige Vorstand des Kleingartenvereins „Naturfreunde 1907“ verschließt seinen Schuppen und murmelt, während sich das Täubchen in die Luft erhebt, der Pfleger über die Hand eines alten Mannes streicht, sich einer der beiden jungen Männer auf der Bank eine Faser Mett aus den Zähnen zieht, und das Mädchen auf dem Bauch landet. Es feixt. Die Großmutter rührt noch einmal die Kanone um.

Im Buchladen holt einer der beiden Schreibenden Prousts „Auf der Suche nach der usw.“ hervor. Die Verkäuferin tritt heran und sagt: „Ach, der. Der ist hier hängengeblieben.“ Der 12-Uhr-Glockenschlag verhallt, das Weiß der Taube löst sich ins Weiß der Wolken und die ehemalige Großköchin reicht ihrer Enkeltochter eine Schüssel mit Erbsensuppe.

 

Olav Amende

 

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freiTEXT | Magdalena Maier

Glück

Ich stehe vor meinem Teich und stell mir vor, er wär das Meer. Also voll Salz und Fische und mit Sand am Rand. Wenn jemand die Blätter vom Apfelbaum mit Booten oder Wellen austauschen würde, wäre die Transformation perfekt. Was will man sonst von einem Meer? Wasser, Salz, Boote, Fische, Wellen, Strand.

Leider ist mein Teich kein Meer. Gestern war der Himmel grau, heute ist er blau und mein Teich spiegelt die Wolken, weil er glaubt, er sei ein Spiegel. Mich spiegelt er nicht. Die Katze vom Nachbarn fällt durch die Hecke und landet trotzdem auf allen Vieren. Dass ich regelmäßig stolpere und hinfalle, rechtfertige ich dadurch, dass ich nur zwei Beine habe. Mit zwei als Back-up würde ich auch nicht stürzen. Die Katze vom Nachbarn kitzelt inzwischen meine Waden mit ihrem Schwanz. Die Katze ist schwarz. Ich stell mir vor, dass das Glück bringt.

Aus Reflex trete ich das Tier, als es mich zu Kratzen beginnt. Das Geräusch, das dem kleinen Körper entflieht, würde bei einem Menschen tief unten aus der Kehle kommen. Ein Fluch fällt mir aus dem Mund und jagt die Katze in die Flucht. In meiner Haut ist eine Linie, die rote Perlen aufzufädeln beginnt. Ich stelle mir vor, es wären Rubine. Leider schmelzen sie unter meinem Blick und rinnen in meine Socken.

Egal, die muss ich sowieso waschen, weil ich jetzt einen Schritt in den Teich hinein mache. Dass das Wasser in der Wunde nicht brennt, verunsichert mich. Ist das nicht normalerweise so bei Salzwasser? Meine Schuhe werden vom erdigen Boden verschluckt und ich sehe sie nicht mehr. Der zweite Schritt fällt mir schwer, weil sie im Morast eingesunken sind und mit dem anderen Fuß bleibe ich stecken, stolpere, würde auf allen Vieren landen, wenn ich nur 4 Beine hätte. Aber so klatsche ich mit meinem ganzen Körper in den Teich hinein.

Mein Gewand ist schwer an meiner Haut, bewegt sich träge vor Nässe, klebt an mir und gleichzeitig schwimmt es von selbst. Meine Schuhe sind aus blei und erschweren meine Brustschwimmbewegungen. Fast kann ich es nicht glauben, also ich schon nach kürzester Zeit am anderen Ende des Teichs angekommen bin. Ist das Meer nicht größer?

Die Sonne scheint an diesem Ufer. Der Sand ist ziemlich grobkörnig und manch einer würde behaupten, es wäre Kieselsteine, die ich letzten Sommer hier aufgeschüttet hätte, aber ich weiß, dass es Meeressand ist. Weil man am Strand nicht mit nassen Kleidern steht, ziehe ich das T-Shirt aus und werfe es ins Wasser. Dann die Schuhe, schließlich die Socken. Die Hose geht unter, als ich sie nachschmeiße, die Unterhose schwimmt. Die Brise, die in dieser Bucht weht, ist kühl, aber sie trocknet die Wassertropfen an meinem Körper. Nur die Haare bleiben länger nass und kleben als Coolpack an meinem Nacken.

Die Hecke zum Nachbarn ist hoch. Die Fenster vom anderen Nachbarn sind mit Rollläden verschlossen. Obwohl sie beide immer zu Hause sind, sehen sie mich nie, wenn ich hier nackt stehe. Kein Wunder, ich bin ja auch am Meer. FKK-Bereich, da schaut man nicht hin. Die Katze sitzt am anderen Ufer und beschnuppert meine Unterhose, die es dort drüben angeschwemmt hat. Bringt meine Unterhose jetzt Glück?

Bis meine Haare trocken sind, dauert es noch eine Weile. Ich setze mich in den Sand und beginne eine Burg zu bauen. Manch einer würde sagen, es sei eine Kieselpyramide, aber manch einer würde auch sagen, die Luft würde hier nicht nach Meer schmecken. Manch einer würde so einen blauen Himmel wegen der Rollläden gar nicht bemerken. Er würde nicht sehen, dass im Sonnenschein heute ein Meer in meinem Garten rauscht. Er würde seine Wäsche waschen und die dunklen Wolken am Nachmittag argwöhnisch beäugen, bevor er die Wäscheständer über Nacht doch lieber wieder ins Wohnzimmer stellt. Er würde im Regen von Morgen die Gartentür nur zum Stoßlüften öffnen und wenn er aus dem Fenster im ersten Stock schauen würde, würde er seufzen. Seufzen über den seltsamen Nachbar, der wieder und wieder einen Handstand vor dem Teich versucht und wieder und wieder scheitert und im Wasser landet.

Was der Nachbar nicht weiß, ist, dass ich Morgen eine Schnitzelgrube in meinem Garten finden werde. Dass es regnet, macht das Ganze ein wenig unangenehm, aber einen Handstand wollte ich immer schon lernen. Die Katze leistet mir an Regentagen selten Gesellschaft und so langsam frage ich mich, ob sie tatsächlich Glück bringt, oder ob sie mir das nur von ihrem Besitzer leiht. Weil dann müsste ich es ja irgendwann zurückgeben. Und darauf habe ich keine Lust.

 

Magdalena Maier

 

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freiTEXT | Jasmin Gerstmayr

Der dritte Wunsch

Ich wische über mein Phone, nach rechts, rechts, rechts. Währenddessen fällt mein Blick auf meinen Bonsai-Baum. Ich habe ihn gestern gedüngt, nur ein klein wenig, denn wenn man es zu gut meint mit den Dingern, dann sind sie beleidigt. Genauso ist es mit den Frauen. Alle wollen sie den Bad Boy mit dem Dreitagebart. Aber wehe, man ist in den richtigen Momenten dann nicht lieb und sanft. Ha, ein Match. Endlich mal wieder. Ich schaue mir ihre Profilbilder an. Sie hat raspelkurze Haare und trägt schwarze weite Sachen. Eigentlich nicht mein Typ, ich mag lange Wallemähnen, die man den Mädels aus dem Gesicht streichen kann, bevor man sie küsst. Wenigstens ist ihre Figur ganz ok. Vielleicht ein bisschen zu wenig Busen. Naja. Hast du morgen Lust auf ein Treffen, schreibe ich ihr. Gern, antwortet sie fast sofort. Ich befühle die Erde meines Bonsais. Sie ist noch feucht. Stolz streiche ich über seine kleinen Blätter. Ich habe wirklich ein Händchen dafür.

Ich bin vor ihr da, wie sich das gehört, denn eine Dame lässt man nicht warten, auch wenn die, die jetzt kommen wird, wohl keine klassische Dame ist. Zumindest von der Frisur her. Ich stelle mich vor das Lokal und zünde mir einen Tschick an. Da biegt auch schon ein Mädel um die Ecke, mit glattrasiertem Kopf. Sie trägt einen schwarzen Mantel und kommt direkt auf mich zu. Lukas, stellt sie fest, ohne eine Miene zu verziehen. Ihre Augen schauen ganz nett aus, groß und bernsteinfarben. Freut mich, sage ich und gebe ihr Küsschen auf die Wangen. Dabei bemerke ich, dass sie ein wenig größer ist als ich, obwohl sie keine High Heels trägt. Den Rest des Abends werde ich auf Zehenspitzen verbringen, soviel steht fest. Ich dämpfe meine Zigarette aus und schnippe sie lässig davon. Sie hebt ein wenig die Augenbrauen. Ich tue so, als würde es mir nicht auffallen, und halte ihr die Tür auf.

Es ist recht voll, und wir setzen uns erst mal an die Bar. Ich will ihr aus dem Mantel helfen. Geht schon, sagt sie. Sie trägt lockere, schwarze Sachen, wie auf den Fotos. Naja. Bier passt, fragt sie mich. Ich nicke, und noch bevor ich die Initiative ergreifen kann, bestellt sie zwei Bier. Ich kenne keine Frauen, die Bier trinken, sage ich. Ich kenne keine, die es nicht tun, meint sie gleichgültig. Sie schiebt mir mein Bier hin. Die nächste Runde geht auf mich, sage ich mit fester Stimme. Schon gut, antwortet sie. Sie nimmt einen großen Schluck von dem Bier und seufzt zufrieden. Es schmeckt auch wirklich herrlich. Sie wischt sich mit dem Handrücken den Schaum von der Oberlippe. Also, was machst du so, fragt sie mich. Ich nenne den Namen der Firma, bei der ich ihm Controlling tätig bin, und erläutere die grundlegenden wichtigen Aufgabenbereiche meiner Position. Aha, grinst sie, stolz drauf, gell. Es ist das erste Mal, dass ich sie heute lachen sehe. Sie hat schöne Zähne, perfekt aneinandergereiht. Mein Gesicht wird ein wenig heiß. Na, und was machst du, frage ich kühl. Sie ist in der Erstbetreuung von Flüchtlingen tätig. Klingt spannend, sage ich, und das meine ich auch so, obwohl ich mir irgendwie nicht wirklich vorstellen kann, wie das ist, als junge Frau mit so vielen fremden Männern. Ob die einem nicht auf die Pelle rücken. Ich halte aber lieber den Mund. Wahrscheinlich schüchtert sie die Typen sowieso alle ein. Schöne Profilbilder hast du übrigens, sage ich stattdessen. Sie hört mich aber nicht, denn sie beugt sich über den Tresen und bestellt noch zwei Bier. Passt das, fragt sie mich, obwohl sie eh schon bestellt hat. Ich nicke ein wenig verwundert. Sie lehnt sich plötzlich zu mir, nahe zu mir. Ihr Atem riecht nach etwas Minzigem und ein wenig nach Bier, aber nicht unangenehm. Wenn du drei Wünsche frei hättest, sagt sie mit leiser Stimme, wofür würdest du dich entscheiden. Ich finde die Frage irgendwie merkwürdig, bei einem ersten Date. Darüber habe ich noch nie nachgedacht, sage ich. Es stimmt zwar nicht, aber egal. Sie scheint meinen Widerwillen zu bemerken, denn schnell sagt sie: Gleiche Rechte für alle, und genügend Zeit für meine Malerei. Sie macht eine Pause. Den dritten Wunsch, meint sie dann, den würde ich mir aufheben, denn man weiß nie, was noch kommt. Klingt vernünftig, sage ich und nehme noch einen Schluck von meinem Bier. Eigentlich kann ich auch einfach drauflosreden, ich sehe sie sowieso nie wieder. Irgendwie ist es ja auch lustig, auf solche Frauenfragen zu antworten. Ich wünsche mir ein kleines Haus, irgendwo im Grünen, und zwei Kinder, sage ich. Ich erkläre ihr, wie wichtig es ist, dass das Haus einen großen Garten hat, denn ich möchte mein eigenes Gemüse anbauen. Ich warte darauf, dass sie lacht. Ich bin nicht ungeschickt mit Pflanzen, verteidige ich mich schon mal. Habe ich das behauptet, sagt sie, und erzählt von den Anbauversuchen auf ihrem Balkon, Chilis, Heidelbeeren, Minigurken. Nur die Tomaten, die gehen mir immer ein, meint sie achselzuckend. Du darfst sie nicht direkt in die Sonne stellen, erkläre ich, das mögen sie nicht. Sie brummt irgendetwas Unverständliches. Gehen wir eine rauchen, sagt sie dann.

Draußen beginnt sie, sich mit irrer Geschwindigkeit eine Zigarette zu drehen, und hält sie mir hin. Danke, sage ich und fische mein Feuerzeug aus meiner Hosentasche. Ich nehme einen tiefen Zug. Es ist keine besonders klare Nacht, man sieht nur ein paar Sterne. Trotzdem irgendwie schön. Wir sagen beide nichts. Nach einer Weile dämpft sie die Zigarette aus, im Aschenbecher auf dem Stehtisch. Irgendwie habe ich plötzlich das Bedürfnis, mich zu rechtfertigen, dass ich eigentlich sonst meinen Tschick nicht einfach auf den Boden werfe, aber dann lasse ich es doch. Magst du mir deine Wohnung zeigen, sagt sie mit sanfter Stimme und nimmt meine Hand. Hm, das ging ja flott. Klaro, sage ich perplex und ein wenig dümmlich. Ich denke schnell nach, ob meine Wohnung in einem vorzeigbaren Zustand ist, und gratuliere mir selbst zu meinem Ordnungssinn. Nur das Poster mit dem Playboyhäschen über dem Sofa könnte mir Probleme bereiten. Egal. Ich streichle ihre Hand, den ganzen Heimweg lang. Sie ist ganz weich.

Nach dir, sage ich. Sie zieht sich rasch ihre Schuhe aus und geht ins Wohnzimmer. Für ihre Größe hat sie unerwartet zarte Füße. Fast niedlich. Sie lässt sich auf das Sofa fallen, als wäre es ihr eigenes. Ich muss grinsen. Cooles Bild, sagt sie dann, und deutet auf das Playboyhäschen mit den Megatitten. Ich kann nicht erkennen, ob sie das jetzt sarkastisch meint, darum sage ich lieber nichts. Sie steht wieder auf, tritt dicht an mich heran und flüstert: Was war der dritte Wunsch. Ohne meine Antwort abzuwarten, geht sie vor mir auf die Knie, zieht mir die Jeans herunter und nimmt meinen Schwanz in den Mund. Herrlich. Ich stöhne.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, bin ich erstaunlich gut drauf. Kein Kopfweh, keine Gliederschmerzen. Naja, waren ja auch nur zwei Bier. Der Platz neben mir ist leer, darum gehe ich in die Küche, nur in Boxershirts. Soll sie mein feines Sixpack ruhig auch mal bei Tageslicht sehen. In der Küche ist sie aber nicht, und auch nicht im Bad. Schnell schaue ich bei den Schuhen nach. Ihre sind nicht mehr da. Ich seufze. Ich greife nach meiner Jeans und ziehe mein Phone aus der Hosentasche. Keine neue Nachricht. Wie, sie bläst mir einen, wir haben Sex, und sie haut einfach ab. Echt jetzt. Genervt wandere ich zurück ins Bett. Irgendwie fühle ich mich doch ein wenig müde. Ich schließe die Augen und döse ein bisschen und denke an mein kleines Haus mit dem Garten. Die Wiese streift meine Waden. Ein Junge und ein Mädchen spielen Fußball. Sie kreischen unbeschwert. Ich beuge mich über eine Tomatenstaude. Es hängen einige glänzende Früchte dran. Abendessen, ruft sie plötzlich. Sie trägt ein schwarzes Kleid und steht barfuß auf der Wiese. Ihre Füße sind wirklich niedlich, die Zehen ganz klein. Ich gehe zu ihr hin, ein wenig auf Zehenspitzen, und lege meinen Arm um sie. Sie lehnt sich gegen mich. Die Tomaten werden, sage ich. Ich spüre ihr Lächeln.

Als ich wieder aufwache, checke ich zuallererst mein Phone. Keine neue Nachricht. Ich überlege, ob ich ihr schreiben soll. Warum nicht, denke ich mir dann. Ich begnüge mich mit einem simplen: Danke für den schönen Abend. Kuss, Lukas. Schnell absenden. Ich stehe langsam auf und trotte zu meinem Bonsai ins Wohnzimmer. Er schaut noch immer prächtig aus, allerdings hat er über Nacht zwei braune Blätter bekommen. Beunruhigt zupfe ich sie ab. Dann fällt mein Blick auf die Wand über dem Sofa. Ich traue meinen Augen nicht und trete näher heran. Das Poster mit dem Playboyhäschen fehlt. Stattdessen klebt da ein Post-It: Danke, würde mir die gern selbst aufhängen. Mit Smiley. Ungläubig schüttle ich den Kopf und lasse mich auf das Sofa fallen. Dann checke ich mein Phone, wieder. Keine neue Nachricht.

 

Jasmin Gerstmayr

 

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