06 | Martina Berscheid

Bevor alles verschwindet

Papa wartet schon vor der Haustür. Mein Herz schlägt schnell, wie immer, wenn ich ihn besuche. Ich atme tief durch. Steige aus dem Wagen, nehme die Kuchenschachtel vom Beifahrersitz.

Das Gras im Vorgarten ist von Reif überzogen. Eine graue Wolkendecke verhängt den Himmel. In zwei Wochen ist Weihnachten und meine Töchter wünschen sich Schnee.

Ich hingegen hoffe auf einen warmen Winter. Mir graust bei der Vorstellung, Papa könnte die glatte Vortreppe hinunterstürzen.

Papa tapst mir entgegen. Er ist noch dünner geworden. „Hallo Marlene.“

Seine Umarmung riecht nach saurer Milch. Ich wende den Blick ab vom Schmutzrand, der seinen Hemdkragen einsäumt.

Wie immer erkundigt er sich zuerst nach Uwe und den Mädchen, und ich muss ihm versichern, dass es allen bestens geht.

Er nimmt mir den Kuchen ab. „Brauchst dir doch nicht solche Umstände zu machen“, murmelt er, aber ich sehe am Leuchten seiner Augen, wie sehr er sich freut. Auch wenn es meine Backkünste bei Weitem nicht mit denen meiner Mutter aufnehmen können.

Im Flur riecht es nach nasser Wolle. Ich stelle ein umgestürztes Paar verdreckter Gummistiefel auf, gehe in die Küche und unterdrücke ein Seufzen. In der Spüle stapelt sich Geschirr, der Herd ist übersät mit Soßenspritzern, der Boden fleckig. Aus dem Mülleimer hängt eine Bananenschale wie eine ausgestreckte Zunge.

Als ich das letzte Mal anbot sauberzumachen, wurde Papa wütend. Auch von einer Putzhilfe wollte er nichts wissen. Seitdem schwelt das Thema zwischen uns, und beide haben wir Angst, dass es erneut aufflammt und wir uns daran verbrennen.

Ich öffne den Kühlschrank, wo ein Stück Käse und zwei Möhren vereinsamen, und stelle den Topf mit Suppe hinein, die ich ihm vorgekocht habe.

Im Küchenschrank finde ich löslichen Kaffee und glücklicherweise noch sauberes Geschirr. Ich setze Wasser auf, schütte Kaffee in die Tassen und hole den Kuchen aus der Form.

Die Eckbank quietscht, als Papa sich setzt.

„Ach Marlenchen“, seufzt er. „Gedeckter Apfel.“

Er strahlt mich an, und ich streiche ihm über den Handrücken.

Der Kessel pfeift, ich gieße Wasser in die Tassen. Aus meiner Tasche hole ich eine Packung H-Milch. Fehlen nur noch die Gabeln.

Die Besteckschublade ist leer. Ich ziehe ein Schubfach nach dem anderen auf, irgendwo werden doch noch zwei saubere Gabeln sein.

„Lass doch, Marlene. Essen wir den Kuchen halt auf der Hand.“

Ich reiße die letzte Schublade auf. Und erstarre.

Statt Besteck finde ich ein Schreibheft. Mamas Name steht darauf. In ihrer Handschrift. Ich nehme es heraus, halte es hoch.

„Was ist das?“

Papa senkt den Kopf. „Ich hab es vor ein paar Wochen da drin gefunden.“

Ich setze mich zu ihm an den Tisch. Schlage das Heft auf.

Bevor alles verschwindet.

Ich muss schlucken und lese trotzdem weiter.

Heute war Marlene mit den Mädchen da, Lisa und Alina. Das weiß ich nur, weil Marlene sie so angesprochen hat: Lisa und Alina, zeigt mal der Oma, was wir ihr mitgebracht haben.

Ich hatte ihre Namen vergessen. Dabei sind sie so schön.

Ich erinnere mich an jenen Nachmittag, weil es da anfing. Sehe meine Mutter vor mir, wie sie da saß, den Blick auf ihre Enkelinnen gerichtet. Ein Blick wie eine offene Wunde. Weil sie ahnte, dass ihr Geist zerfallen würde.

Ich blättere weiter, lese quer. Alltagsbeschreibungen und Eindrücke. Ein herrlicher Herbsttag. Himbeertorte! In dem Stil. Von Seite zu Seite wird die Schrift krakeliger. Wörter weichen Zickzacklinien und werden durch hilflose Umschreibungen ersetzt: roter Baum statt Ahorn.

Später klaffen ganze Lücken in den Zeilen. Irgendwann hat Mama mitten im Satz abgebrochen. Die Leere, die dahinter gähnt, offenbart ihre ganze Verzweiflung über das zunehmende Nichts in ihrem Kopf.

Die Trauer schlägt mich mit voller Wucht. Ich schließe die Augen, aber die Tränen kommen trotzdem.

Plötzlich fühle ich Papas Hand auf meiner Schulter.

„Ich konnte es nicht wegwerfen“.

Seine Stimme vibriert.

Mit Hingabe hatte sich Papa, obwohl er gerade einen Schlaganfall überwunden hatte, an der Betreuung meiner Mutter beteiligt. Seit ihrem Tod schwindet ihm die Kraft.

Seine Hände zittern.

„Komm, wir essen Kuchen“, schlage ich vor. „Ich habe ihn nach ihrem Rezept gebacken.“

Er nickt, als wäre das ein Trost. Wir essen mit den Händen.

„Sie fehlt mir so, Marlene.“ Die Worte rieseln leise aus seinem Mund.

„Papa. Möchtest du nicht doch zu uns ziehen?“

„Nein.“

Mit dem Zeigefinger schiebt er ein paar Krümel auf dem Teller hin und her. „Ist lieb von euch, aber … Manchmal bilde ich mir ein, sie ist noch da. Dann hör ich ihr Lachen, ihre schnellen Schritte.“

Ich lege meine Hand in seine. Seine Haut ist rau, übersät mit hornigen Zähnchen. Sie verhaken sich in meiner Handfläche, als wollten sie verhindern, dass wir uns voneinander lösen.

„Dann komm wenigstens über Weihnachten. Bitte, Papa.“

Er wiegt den Kopf hin und her.

Plötzlich fallen mir die Sterne aus Goldpapier ein, die meine Töchter für ihn gebastelt haben. Ich ziehe sie aus der Tasche.

„Ach.“ Seine Finger streichen über die krummen Zacken, sein Blick driftet weg, zu einer Erinnerung, vielleicht daran, wie meine Mutter zur Weihnachtszeit das Haus schmückte, mit Tannenzweigen und Strohsternen, Kerzen vor den Fenstern.

„Na gut.“ Er räuspert sich. „Aber jetzt musst du zu deiner Familie.“

Er hat recht. Draußen dämmert es schon. Er steht auf, taumelt, und ich packe ihn gerade noch rechtzeitig. Er sieht mich an, und seine Augen spiegeln meine Furcht: vor dem Tag, an dem er stürzen und ich ihn hier leblos finden werde.

„Bis nächste Woche.“

Papa umarmt mich, wir halten uns ein paar Sekunden.

Wie immer schließt er hinter mir ab. Ich weiß, dass er mir durch das Glas der Haustür nachschaut, bis mein Wagen hinter der nächsten Kurve aus seinem Sichtfeld verschwindet.

 

Martina Berscheid

 

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04 | Nina Radzwill

Im Spiegel des Feuers

Zerrissen.
Hin- und hergerissen.
Aus Gedanken gerissen hast du mich.
Als du auf einmal vor mir standest
mit nassen Klamotten,
dreckigen Schuhen und müden Augen.

Wie nach einer langen Reise, auf der du nicht das finden konntest, was du vergessen hast zu suchen. Dein Blick und dein Körper verrieten mir schon längst, was deine sanftmütige, zerbrechliche Stimme sich nach einer Weile Schweigen zu fragen traute: „Darf ich heute vielleicht bei dir schlafen?“

Du brauchtest eine Pause. Auch ich hatte den Stift schon lange nicht mehr abgesetzt. Nie hätte ich gedacht, dass du derjenige sein könntest, der mich mit einer leichten Berührung davon abhalten würde, wieder und wieder all die neu beschriebenen Seiten zu zerreißen und zu verbrennen, während ich mit krampfhafter Kälte die Flammen beobachtete. Die Glut. Wie alles zu Asche wurde.

Nein, wir saßen gemeinsam am Feuer und zum ersten Mal sah ich nicht die Zerstörung, sondern begriff die beflügelnde Wirkung, die es mit ihren knisternden Funken über uns hat regnen lassen. In deinen Armen. Wir saßen stundenlang dort, lasen uns gegenseitig vor und schauten den Flammen beim lieblichen Lodern zu. Der Glut. Der Asche. Nicht, wie eines zum anderen wurde; nicht, was vorher war und was bald sein würde. Nein. Wir sahen das Licht: das Gelb, das Weiß, das Blau. Wir spürten die Wärme, fühlten den Wind, atmeten die leicht nach Rauch schmeckende Luft. Wir fragten nicht danach, woher wir kamen oder wie wir nach Hause kommen würden, wo „Zuhause“ ist oder wie es auszusehen hatte. Wir sahen nicht, wer wir einmal waren oder wer wir eines Tages sein wollen. Wir sahen uns.

 

Nina Radzwill

 

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03 | Barbara Rieger

In Vent

30m unter dem Schnee!, hat die Wirtin am Morgen beim Frühstück gesagt und dass sie nicht verstehe, was die Leute abseits der Piste suchen. 30cm reichen, um zu sterben, hat meine Mutter später am Telefon behauptet und dass sie kommen werde, dass sie mich nicht alleine lassen will, dass sie nicht alleine sein will zu Weihnachten und ich will nicht glauben, dass man so nahe an der Oberfläche ersticken kann, aber andererseits, denke ich, in der Badewanne geht es auch.

Ich gehe vorbei an der großen Tanne, vorbei an Hotels, vorbei an einem Schlepplift, der mit keinem der anderen Lifte verbunden ist und mit dem niemand fährt. Ich gehe den Hang hinauf, den Weg entlang auf gefrorenem Schnee, gehe immer weiter hinein ins Tal. Bis zum Schluss will ich gehen oder zumindest bis zur Hängebrücke. Es ist der Wind, der mir die Tränen in die Augen treibt, nur der Wind.

Über Entscheidungen denke ich nach, während mir das Gesicht einfriert und darüber, dass ich dich haben wollte so wie du mich, darüber, dass man im verliebten Zustand keine Entscheidungen treffen sollte und dass mir die Gemeinplätze nicht mehr weiterhelfen.

Auf der Kuppe des Hanges ein Hund, er läuft bellend auf mich zu, hinter ihm die Frau, ruft ihn zurück, er folgt. Dass er nur spielen will, sagt sie nicht, aber dass er die Leute noch nicht gewohnt sei, dass er zu Beginn der Saison alle Fremden anbelle, bevor er sich dann an sie gewöhne und dass es nicht mehr weit sei bis zur Hängebrücke. Hunde, die bellen, ein weiterer Gemeinplatz in meinem Kopf, denke ich und dass du dich vielleicht an mich gewöhnt hättest, wenn ich andere Entscheidungen, andere Sätze, wenn ich also anders, denke ich und komme fast nicht voran, sinke fast ein, bleibe fast stecken, fühle mich blind.

46m auf die andere Seite, 31m in die Tiefe, denke ich, greife nach dem Geländer, halte mich fest, gehe Schritt für Schritt über den Abgrund. In der Mitte drehe ich mich mit dem Rücken zum Wind, ziehe das Handy aus meiner Tasche und rufe dich an.

Dass du das Unmögliche willst, sagst du, eine Frau, zu der du dich drei Tage lang ins Bett legen und dich geborgen fühlen kannst, eine Frau, die dich nie fragt, wo du an den anderen Tagen gewesen bist. Dass du eines wirklich gut kannst, sagst du, einer Frau zu vermitteln, dass sie die einzige, die beste, die schönste sei, das habe eine Freundin zu dir gesagt, aber das Problem, habe sie gesagt, und ich spüre, dass es erst wenige Stunden her ist, das Problem aber, was wenn die Frau draufkommt, dass sie nicht die einzige und schlimmer noch, was wenn es aufhört.

23m auf die andere Seite, 31m in die Tiefe, denke ich, meine Finger gefroren, gefroren meine Gefühle, und dass ich wegen dir sicher nicht von einer Brücke, in einer Badewanne, natürlich nicht. Ich gehe weiter, der Wind hat sich gedreht.

Der Mann, den ich wegen dir verlassen habe, hat mir das mit dem Wind erklärt, mit der Luft im Alpenvorland und der Luft im Tal, die sich schneller erwärmt und schneller abkühlt, dass aufgrund dieser Temperaturunterschiede der Wind untertags ins Tal hinein und am Abend aus dem Tal hinaus und ich denke, dass es umkehrt sein sollte who's left and who's leaving, dass es doch umgekehrt war, dass immer ich es war, die gegangen ist.

Ich kann das Dorf erahnen in der Dämmerung, das Dorf mit den Häusern, die alle Hotels sind, mit den wenigen Einheimischen und den Fremden, die erst nach Weihnachten kommen werden. Ich denke an letztes Jahr, als mein Mann den Rollstuhl mit meinem Vater zum Christbaum geschoben hat, wie hilflos, wie harmlos mein Vater am Ende, denke ich und dass ich vergessen hatte, meinem Mann etwas zu schenken, dass ich damals alles vergessen hatte. Dass ich nach Hause will und nicht weiß, wo das ist.

Die Straße mündet in die Dorfstraße, wieder stehe ich vor der Tanne, sie ist mit Lichtern geschmückt, über der Straße hängt ein Doppelsessel vom Sessellift, er baumelt hin und her. Im Gastraum des Hotels sitzt meine Mutter, springt auf und umarmt mich.

Der neue Sechser-Sessellift, hat die Wirtin beim Frühstück erzählt, ist secondhand, Kuppel hat er keine. Bis jetzt war er immer gesperrt, der Wind zu stark, doch meine Mutter und ich, wir haben Glück, wir fahren bis nach oben, fahren Ski, Ski fahren haben wir nicht verlernt, Ski fahren können wir, Ski fahren hat uns der Vater beigebracht. In der Hütte rufe ich den Mann an, den ich verlassen habe. Ich wünsche ihm Frohe Weihnachten und sage ihm, dass ich ihn gern habe, sehr gern. Dass ich nach Hause kommen soll, sagt er nicht, aber dass er mich gern hat, sehr gern und Frohe Weihnachten. Es ist der Schmerz in meinen Zehen, der mir die Tränen in die Augen treibt, dieser Schmerz, wenn Gefrorenes auftaut.

Nach dem Weihnachtsmenü, nach fünf Gängen, einer Flasche Wein und zwei Stamperln Schnaps, gehen meine Mutter und ich die Dorfstraße entlang, vor der Tanne bleiben wir stehen. Ich habe ihn, sagt meine Mutter plötzlich, trotz allem immer geliebt und dass es so unvorstellbar sei, dass er nicht mehr da. Ich sehe die Tränen in ihren Augen und nehme sie in die Arme. Eingehängt gehen wir weiter, unter der Sessellifttrasse durch, bis zur Kirche.

Während der Christmette schiebt mir mein Sitznachbar ein Gesangsbuch zu. Als ob ich singen würde, als ob ich jemals singen könnte, ich warte auf das einzige Lied, das ich singen kann, und führe uns nicht in Versuchung, ein Ohrwurm, auch den Text kann ich auswendig, und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern, und als es dann Zeit zur Kommunion ist, stehe ich auf. Meine Mutter flüstert mir zu, und niemand kann so laut flüstern wie meine Mutter: Hast du deine Sünden gebeichtet? Ich nicke und frage mich, ob sie vergessen hat, dass ich längst aus der Kirche ausgetreten bin.

Nach der Mette zünde ich Kerzen an. Eine für meinen toten Vater, eine für dich, eine für meinen Mann. Ich öffne die Kirchentür, der Wind bläst mir entgegen, bläst, denke ich, alle Kerzen aus.

 

Barbara Rieger

 

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02 | Rebecca Heinrich

So ist es

Sie zu verlassen. Also: zu gehen, den Schlüssel in der Tür umzudrehen und in den Garten hinauszutreten. Nicht nur in den Garten. Darüber hinaus. Auf die Straße, unter die Straßenlaternen, neben dem Bordstein stehen. Und: zu gehen. Wohin eigentlich? Das wird unbeantwortet bleiben. Es wird auch nicht darüber nachgedacht. Das ist ja, was es ausmacht. Am Anfangspunkt losgehen und nicht zurückkehren, um wieder zurückzukommen, nur eben woanders, also: an einem anderen Anfangspunkt. Die erste Station wieder aufzusuchen eine Niederlage.
Oder doch bei ihr zu bleiben. Also: zu gehen, den Schlüssel in der Tür umzudrehen und über den Garten einzukehren (heimzukehren wollen wir nicht sagen, das steht an diesem Punkt noch zur Debatte). Nicht nur über den Garten zu gehen, sondern ihn zu überwinden. Das Gras sich aufrichten lassen. Der Impuls, eine Narzisse zu pflücken und mitzubringen. Wem eigentlich. Dem Schreibpult? Oder doch dem Küchentisch? Dann doch nicht. Also: das Ertasten des Loches; und wieder passt der Schlüssel nicht auf Anhieb. Der erste Schritt am Laminat (bezeichnend für das Alter; es war ja nicht genug Geld vorhanden, das wird auch so bleiben).
Den Boden rausreißen wollen. Oder doch lieber drin lassen. Die verleimten Bretter herausreißen und sie dann wieder verlegen, bloß anders. Am liebsten das Gras im Garten wachsen lassen. Wild wuchernd. Das will sie doch. Das hat sie gesagt. Das hat sie gesagt und gewollt und dabei aus dem Fenster gesehen, am Brett die Handfläche abgestützt, ihr Blick auf den fallenden Fliederblüten, bedächtig. Die Atmung verdächtig.
Ich habe ihren Nacken geküsst und sie hat das Fenster geöffnet.

Das Geschirr abspülen, die Hemden zusammenlegen (weiß mit etwas Spitze: der Sommer wird versprochen sein). Dort der Küchentisch: Ihre Packung Zigaretten, eine halb gerauchte wieder hineingesteckt, wir müssen sparen, weißt du, davon kannst du nicht leben, das wird nicht gehen, ich verdiene auch nicht so viel und du weißt ja. Du weißt ja. Hilfe, die kostet. Ja, es kostet. Und wenn schon.
Das Fallobst einsammeln, die Brennnesseln ausreißen, der Löwenzahn. Gelbe Pollen an den schwarzen Handschuhen, der Flieder wirft Halbschatten auf den Boden. Daneben Sonne auf den zerfallenen Blüten. Den Sommer bemerkst du erst, wenn er dich aus dem Haus treibt. Dort der Gartenstuhl. Ein paar Bücher: Schlag, Gavalda, Hermann. Angelesen. Zwei, drei Sätze unterstrichen. Also zwölf Seiten gelesen und jeweils zwei, drei Sätze hervorgehoben. Gelbe Pollen auf dem schwarzen Bezug. Dort ein Loch. Nicht vom Lesen.

Das Haus zu verlassen. Das Schlafzimmer, das Einzelbett mit zwei Decken, mit zwei Kopfkissen und zwei Gläsern. Ungemacht, umgeschlagen und unberührt seit dem Morgengrauen. Bedeutet: dem Boden mit den Fotos, Notizblöcken, Wanderführern, Artikelseiten, Zeitungsausschnitten und Werbeprospekten nicht zu antworten. Die Papierstapel zu verlassen. Dann: ihr Zimmer. Ihr Brillenetui, das Buch auf dem Schemel, den roten Filzstoff vor das Fenster geklebt, der Streifen Licht, der trotzdem auf dem Sitzkissen liegt. Der Staub an den Leinwänden und die offene Tür des Schranks. Der Ärmel eines Pullovers über dem Holz. Gelbe Pollen darauf.
Der Flur, die Bilder ohne Rahmen, die Pflanzen ohne Vase (nur der Topf, es wird nicht mehr Erde geben), das Badezimmer, sogar die Badewanne, das Oliv, überall, der Spiegel mit den Spritzern, die graublauen Fliesen, die Stiege. Die Stiege, die knarrt bei jedem Schritt, der die dritte Stufe reizt; die protestiert, jedes Mal, wenn du nach oben willst, in ihr Zimmer. Als ob die Stufe ein Recht hätte darauf. Als ob sie recht hätte. Als ob.
Dieses Haus also. Mit dem Küchentisch in der Mitte, darum die zwei Stühle, der Geschirrspüler. Ich benutze den nie. Sie schaltet ihn an, ich verstehe nicht warum. Ich verstehe nicht, warum sie das tut. Ich habe noch nie verstanden, warum die zwei Stühle genau so stehen und sie den Geschirrspüler daneben benutzt, wenn ich das Geschirr mit der Hand abspüle. Als ob.
Aber der Garten. Die Terrasse mit dem Steinboden, der Wildwuchs, ja sogar das Fallobst. Ja sogar der Löwenzahn. Aber der Flieder. Sie steht draußen in diesem Halbschatten, als ob sie es sich ausgesucht hätte, dass die Sonne genauso fallen wird. Dass der Flieder genauso stehen wird, wenn sie sich diesen Platz im Garten erwählt. Ihr Garten. Nicht meiner. Mir gehört der Gartenstuhl. Und die Bücher. Zwölf Seiten gelesen, zwei, drei Sätze hervorgehoben. Der Name darin. Es kostet.
Ich habe gesagt, ich habe Angst vor morgen. Was, wenn es nicht hilft. Wird es, sagte sie, es ist nicht nötig, Angst zu haben. Sie legt meine Hand in ihre. Gelb, von den Pollen. Und wenn schon.

Zurückzukommen und die Narzissen sehen. Sich zu ihnen hinunterbeugen. Die Knie im Gras, es ist schon länger geworden, jetzt kann man es plattdrücken. Siehst du, es richtet sich auf. Das tut es immer wieder. Zumindest: Es tut so als ob. Vielleicht bleibt es auch, dort. Und begrüßt den Halbschatten. Wenn ich weg bin. Wenn ich die Narzissen geschnitten und zu einem Bund geflochten habe. In eine Vase gestellt. Ohne Erde, aber mit Wasser. Auf den Küchentisch. Oder besser in ihr Zimmer? Sie müsste mal Staub wischen. Aber dafür wird erst später Zeit sein, danach, also nachher, wenn es vorbei ist. Wenn es nichts mehr kostet.

 

Rebecca Heinrich

 

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01 | Sebastian Franz

Im Karzer

Prinz Harrie war mal eine große Nummer. Eintausendundachtzig. So viele Pils hat das Aas beim Paule angeschrieben. Das sind fünfzehn am Tag. Das sind sechs Tage die Woche. Nur Montag, da braucht der Paule Abstand von dem ganzen Geschmeiß. Außerdem kommt da immer die Lieferung und er muss zur Metro. Das sind zwölf Wochen. Das ist Death Row. Der Hamad hat das so genannt. Der hört gerne Tupac im Benz. So sind sie, die Jungen. Der Harrie ist ein Alter. Den schreibt man mit ie, weil wir hier in Deutschland sind. Der hört zuhause Nina Simone, aber wünscht sich Reinhard Mey im Karzer. Den Karzer hat der Paule dem Jörgen abgekauft, als Tupac noch gelebt hat und der Harrie noch eine kleine Nummer war. 25 Jahre ist das her und im Karzer hat sich nicht viel verändert seitdem. Nur das Pils kostet mittlerweile 2,50 Euro. Weil hier keiner nur eins trinkt und der Paule dann nicht so viel Wechselgeld braucht. Trinkgeld gibt hier sowieso niemand, also warum 2,60 verlangen? Der Hamad hat jetzt 26 Zoll auf der G-Klasse. Chrom. Der ist ein Junger, aber die Rolex kann er tragen. Der ist ein Junger, aber kann dein Todesurteil sprechen. Der Harrie hätte es wissen müssen. Aber da war er schon nur noch Flickwerk.

Der Paule kann sich noch daran erinnern, wie der Harrie das erste Mal im Karzer war. Im weißen Anzug und mit Damenbegleitung. „Kellner, zwei Flaschen Champagner“, hat er gerufen und noch mal „Kellner“, als der Paule auch nach drei Minuten keine Anstalten machte, ihn zu bedienen. Der Erwin hat ihn kurz fragend angeschaut, weil der Neue hier den Luftikus spielte. Der Erwin war damals Boxer auf Landesebene, aber als die Marie von ihm schwanger war, da musste er ins Stahlwerk. Und dann der Schnaps und der Raub und der Knast und das waren einfach andere Zeiten. Der Paule schüttelte den Kopf und der Erwin zuckte mit den Schultern. Dann ging der Paule zu Harries Tisch, setzte zwei Pils ab und sagte: „Gekokst wird draußen.“ Da ist der Stieglitz kurz übergeschnappt und hat ihm erklärt, dass er Prinz Harrie sei, aber als der Erwin ihm die Hand auf die Schulter legte, da war er rasch wieder vernünftig. Der Paule mag vernünftige Gäste. Die sind besser fürs Geschäft. Zwei Wochen später kam Prinz Harrie wieder in den Karzer. Im roten Anzug, mit einem halben Frauenhaus im Schlepptau und schließlich immer öfter. Dem Paule war es immer ein Dorn im Auge, wenn der Harrie auf seinen Absacker reinschneite. Doch es bedeutete auch immer anständige Frauen. Der Paule mag anständige Frauen. Die sind besser fürs Geschäft als die Handvoll Eulen, die hier sonst verkehrt. Und tatsächlich hat der Harrie sich nie beim Koksen erwischen lassen, bis auf das eine Mal vor sieben Jahren. Zwei Tage später hat der Paule den Kalle getroffen, als er in der Metro war. Dem Kalle gehört der Trichter und da war der Harrie auch rausgeflogen, genauso wie im Pacha und im Hirsch. Das hätte der Markus vom Wirtschaftskontrolldienst erzählt. Der Kalle und der Markus kennen sich noch aus der C-Jugend und deshalb passt das schon mit den Kontrollen.

Beim Harrie passte nichts mehr. Der Hamad wusste das. Der Harrie wusste das. Und so konnte er auch nicht ablehnen, als der Hamad ihm seine neuen Sitzbezüge zeigen wollte. Schwarzes Leder mit goldenen Nähten. Wirklich schöne Bezüge, wirklich. Aus der G-Klasse nimmt man alles ganz anders wahr, intensiver. Was man für einen Überblick hat. Über die Straße, die Menschen, das Geschäft. Wirklich ein tolles Auto, wirklich. Der Hamad war ein schlauer Junge. Er war clean und er war überzeugend. Wirklich ein großzügiges Angebot, wirklich. Und als der Harrie nach zwei Runden über Bahnhofstraße und Neue Straße wieder ausstieg, da war er Hamads Knecht.

Für eine Weile ging das gut und dann kamen die Wetten. Anfangs hatte der Harrie nur mit dem Mario gewettet, dass Italien rausfliegt und Recht behalten. Marios Eltern kamen damals aus Kalabrien und haben hier das La Spezia aufgemacht. Ihrem Sohn haben sie beigebracht, dass die Deutschen keinen echten Mozzarella auf ihrer Pizza brauchen, weshalb mehr auf der Haben-Seite bleibt. Deshalb war es für den Mario kein Problem, seine 200 Euro Wettschulden beim Harrie einzulösen. Für den Harrie aber war es ein immer größeres Problem, seine Drogen zu zahlen. Und so wurde Koks zu Pep und Pep zu Crack und der Ivan vom Tipico wollte seine Kohle und der Harrie dachte, dass der Hamad es nicht merken würde. Aber weil der Hamad ein schlauer Junge war und der Harrie ein immer größeres Problem, sitzt der Harrie jetzt wieder im Karzer und wartet. Die letzten zwölf Wochen brachte er hier zu und weiß, dass er es hätte wissen müssen.

Die ganze vertrackte Angelegenheit könnte auch schon lange erledigt sein. Aber der Hamad ist ein schlauer Junge und weiß, dass der Harrie dafür zu viele Gläubiger hat. Als endlich alles geregelt war, schickte er den Deniz in den Karzer. Der Deniz ist ein Junger und würde gerne Rolex tragen. Deshalb macht er, was der Hamad ihm aufträgt und unterbreitete dem Paule ein Angebot. Doch der Paule will damit nichts am Hut haben, denn er ist kein Mörder. Schließlich wurde er damals nur wegen Totschlags verurteilt. Das sollte der Hamad eigentlich wissen. Ist doch ein schlauer Junge. Aber der Harrie dürfe hier wieder rein, wenn der Hamad die Rechnung zahlt.

Seitdem ist der Harrie wieder jeden Abend hier und säuft. Außer montags. Jetzt säuft er seit zwölf Wochen und merkt trotzdem, wie Deniz sich an Tisch 4 setzt. Der Harrie schaut dem Paule in die Augen. Das erste Mal seit sieben Jahren. Er rappelt sich auf und wankt hart nach Lee zur Kellertreppe, stürzt hinunter ins Klo, reihert eine Woge Kotze an die Wand über den Pissoirs und kann nichts mehr halten. Deniz steht auf, nickt dem Paule zu und geht hinterher. Der Paule trinkt beim Arbeiten schon lange nicht mehr. Jetzt schenkt er sich einen Klaren ein. Ausgerechnet bei ihm auf dem Klo muss das passieren. Noch einer zum Nachspülen. Aber wohin soll der Sünder auch rennen? Der Harrie war in seiner eigenen Pisse ausgerutscht, wird es später heißen. Platzwunde. Erstickt im Pissoir. Harries Muskeln entspannen und milder Druck bettet sein Gesicht in die Wärme der Kotze, bis die Lichter nach und nach ganz im Regengrau verschwimmen. Deniz hat sein Geschäft verrichtet und kommt wieder hoch. Er nickt wieder und legt einen Umschlag auf den Tresen. Der Paule muss das Geld nicht zählen: Es sind genau zweitausendsiebenhundert Euro. Und Prinz Harrie, der war mal eine große Nummer.

 

Sebastian Franz

 

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freiTEXT | Anne Büttner

Buttermenschen

„Entschuldige, ich muss Dir das einfach sagen: Du hast unglaublich schöne Flanken! Wirklich. Fiel mir gleich auf, als Du zugestiegen bist.“ Adjektivlos schaut sie mich an. „Das hörst Du sicher öfter, oder? Dass Du atemberaubende Flanken hast." „Ehrlich gesagt, nicht so oft, nein." Erstaunlich eigentlich, denke ich und antworte entsprechend. „Ist ja nicht so, dass perfekte Flanken alltäglich sind. Entweder haben die Menschen den Blick für das Schöne oder den Sinn für Komplimente verloren. Beides nicht vertretbar, wenn Du mich fragst.“ Sie fragt mich nicht.

Das frühzeitige Verebben eines nicht zustande gekommenen Gesprächs ist eine mir vertraute Situation, mit der ich umzugehen weiß. Normalerweise würde ich einen letzten, bewundernden Blick auf ihren komplimentierten Bereich werfen und mich dann bis zum Erreichen des Zielbahnhofs meinem Larvenbestimmungslexikon widmen. Normalerweise. „Oh“, sage ich und meine damit die Jubiläumsausgabe, in die die Schönbeflankte sich vertieft hat. „Du interessierst Dich für mikrobiologische Prozesse?“ Sie nickt. „Dann darf ich also hoffen, dass Du auch auf dem Weg nach Neuruppin bist?“ Neuruppin und Hoffnung in einem Satz, passiert mir sonst eher selten. „Zum Käferlarvensymposium?" Erneutes Nicken. „Tja, dann", gebe ich mich geheimnisvoll und ihr Gelegenheit, nachzuhaken.

(Gelegenheit 1)

(Gelegenheit 2)

(Gelegenheit 3)

„Tja dann“, wiederhole ich, „dann bin ich wohl weiter dran, was?“ Keine Regung ihrerseits. „Okay. Also bin ich.“ „Bist was?“, fragt sie. „Na - weiter dran“, antworte ich. „Mit fragen. Man ist solang dran, bis man daneben liegt oder das Rätsel gelöst hat.“ Es gehört nicht viel dazu, ihre Körpersprache als Desinteresse zu deuten. Immerhin keine gänzliche Ablehnung. Das schürt Hoffnung. Und noch glüht mein Gesprächsfunke. „Lustig, dass ausgerechnet der Ptilinus Pectinicornis auf dem Umschlag abgebildet ist. War mein allererster Käfer, weißt Du.“ Weiß sie natürlich nicht. Woher sollte sie. „Siehst Du, hier.“ Ich halte ihr meinen Unterarm hin. Sobald sie das dort tätowierte Ebenbild von Sir Arthur bewundern würde, denke ich im Konjunktiv, werde ich ihr im Indikativ erklären, was es damit auf sich hat. Nun gut, ich würde es ihr auch erklären, wenn sie nicht bewundert. Wenn sie einfach nur fragt. Oder fragend blickt. Oder blickt. Okay, beschließe ich, ich erkläre es ihr, ohne dass sie etwas dafür tun muss.

„Darf ich vorstellen: Sir Arthur. So sah er aus, als ich ihn fand. Mutters Putzfimmel. Ein strahlender Tag für den Haushalt, ein schwarzer Tag für Sir Arthur und mich. Von wegen, Käfer könnten in so einem Staubsaugerbeutel noch eine ganze Zeit überleben, wie Abraham in Moby Dicks Bauch. Ich hoffe, Sir Arthur war auf der Stelle tot und musste sich nicht zwischen all den Fusseln, Flusen Krümeln und anderen Klack-Klacks quälen, aus denen ich ihn barg. Zumindest sieht er friedlich aus, oder?“ Ich betrachte noch einmal sein Bild. „Ja. Doch. Friedlich.“, bestätige ich meine Einschätzung und krempele den Ärmel wieder runter. Sie hatte wirklich genug Zeit, einen Blick darauf zu werfen.

Wie aus dem Nichts schiebt sie ihr linkes Hosenbein nach oben. Herrjeh, schöne Fesseln hat sie auch noch. „Da“, sagt sie und tippt auf das tätowierte Wimmelbild aus Punkten und Stäbchen an ihrem wohlgeformten Knöchel. „Meine Lieblingsmikroben in tausendfacher Vergrößerung.“ „Gibt es etwas Bedeutenderes, das zwei Fremde auf der Fahrt nach Neuruppin miteinander teilen können?“, frage ich und meine es ernst.

„Vielleicht schon“, gibt sie, ebenfalls ernst, zu bedenken und sendet folgende Signale:

  • hungriger, beinahe gieriger Blick
  • dezent geöffnete Lippen, mit der Zunge selbstvergessen umfahren
  • leicht gerötete Wangen
  • sichtbares Pulsieren der Halsschlagader
  • mir zugeneigter Oberkörper

Obwohl Flirten nicht meine Königsdiziplin ist, weiß ich, die Zeichen zu deuten und rutsche auf meinem Sitz vor. Die Nervosität versuche ich mir nicht anmerken zu lassen. Als ich mich gerade zu ihr beugen und ihr das geben will, wonach ihr offensichtlich ist, holt sie mich mit einem „Hoffentlich richtige Butter und keine Margarine?“ in das Wurstbrot-Hier zurück. „Ach, das meinst Du." So, wie sie mein Proviantpaket auf dem Klapptischchen zwischen uns fixiert, ahnt sie wohl nicht, was ich eben vorhatte. "Nein. Ist richtige Butter. Und richtige Wurst und richtige Landgurke auch.“

Ich bedeute ihr, sich an den Broten zu bedienen. „Ach super, danke!“ Um unser zartes Band zu stärken, greife ich mir trotz Völlegefühls auch eins. „Es gibt ja Buttermenschen und Margarinemenschen. Obwohl letztere gar keine richtigen sein können. Meine Meinung.“ Meine auch, wie ich ihr mit Nicken und aufgestelltem Daumen zu verstehen gebe, während ich mit der anderen Hand versuche, mein Brot so zusammenzudrücken, dass ich beim Abbeißen nicht den kompletten Rohschinken runterziehe. Ich wünschte, ich hätte mich für einen weniger komplizierten Belag entschieden oder sie sich wahlweise für den gleichen.

Stattdessen hat sie sexy Teewurst und ich ein kulinarisches Desaster. „Mal ehrlich, was ist das für ein Leben? Kompromiss wählen, statt sich für das einzig Richtige zu entscheiden? Sowas zieht sich ja durch. Das hört ja bei Ersatz-Butter nicht auf. Nehmen wir beispielsweise ..." Kaugeräusche überlagern ihr Beispiel. Hätte ich nicht noch immer mit dem Schinken zu kämpfen, würde ich nachfragen. „Während Margarinemenschen also noch Probleme suchen und hadern, haben sich Buttermenschen schon entschieden. Und zwar richtig." Erneut beißt sie in ihre Teewurststulle. Gerade so, als sei die ein Apfel und dies ein TV-Spot für Zahngesundheit. Ob ihre Makellosigkeit ihr manchmal ähnlich lästig ist, wie mir aktuell der Rohschinken? „Müsstest Du doch genauso sehen. Bist ja schließlich auch ein Buttermensch.“ Egal jetzt - ich ziehe den Schinken vom Brot und schlinge runter. Sie hat mich tatsächlich soeben zum Buttermensch geadelt. „Nehmen wir dieses Oder-Spiel. Kaffee oder Tee. Winter oder Sommer. Katze oder Hund. Berg oder Meer. Jetzt oder später. Später oder nie. Und oder oder? Solche Spiele fallen nur Margarinemenschen ein. Für Buttermenschen gibt es kein Oder. Kein X, wo ein U ist, keine Birne im Apfelgewand." Ich bewundere ihre Tiefgründigkeit und Entschiedenheit ebenso, wie ihre Flanken und Fesseln.

„Ah. Hier ist noch was frei", tönt es da unangenehm aus der Schiebetür unseres Zugabteils, das leider keine Zweier-Suite sondern ein Sechs-Personen-Abteil und damit auch anderen zugänglich ist. In diesem Fall dem verhutzten Störer, der sich geräuschvoll auf den Sitz neben mir fallen lässt. Ausgerechnet, als sie und ich kurz davor waren, einander ewige Liebe zu schwören oder uns wenigstens unsere Namen zu verraten, platzt er rein. Tatsächlich ist seine Hutzigkeit das einzig Besondere an ihm. Ansonsten lässt sich ganz objektiv feststellen, dass er über sehr viel Gesicht, sehr wenig Behaarung und einen zweckmäßigen Körper verfügt und dass er ein typischer Weder-Noch ist, was in diesem Fall dem Mängelexemplar eines Sowohl-als-Auchs entspricht. Beeindruckend unangenehm, wie er versucht, um ihre Aufmerksamkeit zu buhlen. Nicht in der Lage, ihr Desinteresse zu erkennen oder zu akzeptieren, monologisiert er unablässig über sich und ähnlich Unspektakuläres. Während sie ihn dabei entweder gar nicht oder versehentlich ansieht, befasse ich mich mit folgender Rechnung: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit W, in einem beliebigen Abteil X eines beliebigen Zuges Y auf eine Person Z zu treffen, die nicht nur die weltschönsten Flanken und Fesseln hat, sondern zudem Interesse I an der Lösung "für das vieldiskutierte Problem, dass es beim Verschrauben der Pins immer zu Beschädigungen durch den Flansch kommt beziehungsweise, haha - aufgemerkt, kam", wie der Verhutzte uns wissen lässt. Die Interessenwahrscheinlichkeit liegt meiner Berechnung nach bei beruhigenden minus Null Prozent.

„Oh", oh-t er in ihre Richtung, „Du interessierst dich für Prozessleittechnik im Alltag?" Sie nickt. Davon hat sie mir nie erzählt. Vielleicht braucht sie ihre kleinen Geheimnisse. Aber woher weiß er es dann, frage ich mich. Antwort gibt die von mir bislang unbemerkte Ausgabe der aktuellen `Prozessleittechnik im Alltag`, die, bei Hinschauen erkennbar, in der Seitentasche ihres Rucksacks steckt. „Dann darf ich hoffen, dass du auch auf dem Weg nach Groß Twülpstedt zum Dichtungstechnikkongress bist?", fragt er und birst fast vor Begeisterung.

„Das wär ja nicht zu fassen, wär das ja nicht. Ich meine, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit W, in einem beliebigen Abteil X eines beliebigen Zuges Y eine Person Z zu treffen, die sich für exakt dasselbe Spezialgebiet interessiert, wie man selbst?" Statt die Lösung zu verraten, würde ich ihm gern klarmachen, dass das hier nicht das Flanschen-für-Interessierte-Abteil ist und wir auch nicht auf großer Fahrt zum Dichtungstechnikkongress sind, sondern Buttermenschen auf dem Weg nach Neuruppin. Sie antwortet ähnlich. "Eventuell auf dem Rückweg, je nachdem, wie Neuruppin wird." „Wie soll Neuruppin schon werden? Es ist und bleibt Neuruppin. Dann sehen wir uns also in Groß Twülpstedt." Was für ein selbstgefälliger Fatzke. Kennt er Neuruppin? War er schon mal da? Nie war mir Neuruppin näher als jetzt. „Darauf sollten wir uns zubroten. Magst Du?" Obwohl die Frage nicht mir gilt, lehne ich dankend ab. „Leider war die Margarine leer - aber es schmeckt auch mal ohne, oder?" Margarine, schmecken und oder in einem Satz. Das Glück sorgt für Wiedergutmachung, denke ich und hoffe ausnahmsweise, dass sie ihm zugehört hat. "Zum Anstoßen reicht`s allemal, was?" Anscheinend meint er es ernst. „Danke. Aber ich bin so satt wie lange nicht mehr", höre ich sie sagen. Und dann schenkt sie mir ihr schönstes Buttermenschenlächeln. Auch auf die Gefahr hin, noch Schinken zwischen den Zähnen zu haben, lächle ich zurück. Lieber Schinken im Zahn, als Margarine im Herzen.

 

Anne Büttner

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Als die Leiter fiel

Der erste Fall von der Leiter geschah Mitte August. Niemand hätte es vorhersehen können außer die Person, die fiel, und das war der Vater. Er stieg mit klobigen Straßenschuhen auf die Leiter, holte etwas aus der Kammer oberhalb der Garage, ließ den Gegenstand von oben auf die Wiese plumpsen und stieg dann verkehrt von der Leiter. Auf einer der unteren Sprossen blieb er mit dem Absatz seiner Schuhe hängen, sprang ab und landete mit Kopf, Händen und Knien auf den unebenen Fliesen. Er richtete sich mühevoll auf, hielt eine Hand an den Kopf, die andere ans Knie, beide waren blutig. Geht schon, dachte er sich und holte die Gartenschere aus der Garage. Auf dem Rückweg in den Garten tropfte schon Blut von der Stirn übers Kinn auf sein Arbeitshemd. Papa, was ist los?, rief der Sohn, als er ihm begegnete. Und da war es schon geschehen. Der Vater klappte auf dem Rasen zusammen. Ruf den Notarzt!, rief der Sohn zum Nachbarn, der zu Gast war, schnell!

Geht schon, sagte der Vater wieder bei Bewusstsein, als der Notarzt eintraf, aber der Sohn hielt ihn auf dem Boden. Geht nicht, sagte der Arzt dann, Sie haben eine Platzwunde am Kopf und Abschürfungen auf Händen und Knien, Verdacht auf Gehirnerschütterung, wir nehmen Sie jedenfalls mit. Alle Beschwörungen des Vaters gingen ins Leere. Es sei alles nicht so schlimm, er sei nur von der Leiter gehüpft, weil es nicht anders ging, es sei ja eigentlich nicht viel passiert, jeden Tag fallen Leute von der Leiter. Der Notarzt hörte ihn an und bereitete dann die Liege vor, denn beim Aufstehen schwankte der Vater ordentlich.

Die Tochter war gerade auf der Autobahn unterwegs, als der Bruder anrief. Der Papa ist umgekippt!, sagte er, wir fahren ins Landesspital. Was passiert sei, wollte sie fragen, aber da war die Leitung tot, und sie dachte: Schlaganfall oder Herzinfarkt. Sie änderte die Route und fuhr geradewegs zum Landesklinikum. Die Fahrt dauerte quälend lange. Und der Bruder war nicht mehr zu erreichen.

Die Rettung brachte den Vater in die Notfallambulanz des Landesspitals. Er wurde geröntgt und genäht und sollte zur Beobachtung über Nacht bleiben. Die Tochter stürzte herein, als der Vater die Dokumente entgegennahm. Auf seinem Gesicht lag ein mildes Lächeln, und der Bruder sagte erleichtert zu seiner Schwester: Fast nichts passiert!, worauf der Vater entgegnete: Hab ich doch gesagt!

Am nächsten Tag wurde der Vater entlassen. Verkrustetes Blut überzog einen Teil der Stirn und auch Arme und Beine. Ich bin komplett schmerzlos, sagte der Vater wie zum Spaß zur Mutter, die ihn besucht hatte. Die Mutter rügte ihn mit Blicken und Worten. Wie so etwas passieren könne, rückwärts die Leiter heruntersteigen, herunterspringen! Man müsse auf ihn aufpassen wie auf ein Kind. Sie verließ das Wohnzimmer und holte aus dem Medizinschrank Ringelblumensalbe. Dann sagte sie zu ihm: Dass du sie auch verwendest!

Einen Tag später taten sich Mutter und Sohn zusammen und verräumten die Leiter umständlich in der Garage. Auf die an der Wand befestigte Vorrichtung steckten sie zusätzlich zur Leiter Ketten und Seile, davor stellten sie den Rasenmäher und die Autoreifen. Als die Mutter vorschlug, sie könnten die Leiter versperren, antwortete der Sohn: Der Papa ist erwachsen. Es vergingen einige Tage, ehe der Vater wieder ordentlich hantieren konnte. Bald wurden die Nähte gezogen und die Abschürfungen schienen gut zu verheilen. Nicht kratzen!, ermahnte der Sohn den Vater, wenn er an den Krusten kratzte. Dann erheiterte der Vater sich zu sagen: Das weiß ich schon.

Bald bekam die Tochter von der Mutter einen Anruf. Sie lebte in der Stadt und war nur alle Zeiten mal am Land. Im Grunde konnte man sagen, sie hatte sich vollkommen von ihrer Familie emanzipiert. Die Mutter trug vorwurfsvoll vor, was sie über die Verhältnisse zu sagen hatte. Dass der Vater meistens ganz allein sei, dass sie zu selten nach ihm sehe, dass es gar nicht hätte passieren dürfen, dass der Vater von der Leiter fällt. Die Tochter hörte sich das an und antwortete, dass das nicht in ihrer Macht stehe.

Bald war der Vater wieder fit. Er setzte gemeinsam mit dem Gärtner Blumen, grub Wurzeln verdorrter Bäume aus, montierte einen Sichtschutz am Maschendrahtzaun. Er war ganz in der Tat. Anfang September stieg er zum ersten Mal seit seinem Unfall auf die Leiter. Mühevoll hatte er sie aus der Garage hervorgeräumt, geputzt und aufgestellt. Zur Demonstration seiner Gesundheit hatte er den Nachbarn bestellt, der ihm zusah, als er die Leiter erklomm. Von oben winkte er herab, und der Nachbar sagte händeringend: Seien’S bloß vorsichtig! Kaum war er wieder am Boden, lachte er wie ein Kind, das sich freut, eine Aufgabe gemeistert zu haben. Alles halb so schlimm, sagte der Vater.

Als er zum zweiten Mal von der Leiter fiel, war der Vater allein. Er platzierte die Leiter an einer anderen Stelle der Hausmauer, um die Satellitenschüssel zu justieren, denn der Fernseher hatte ausgesetzt. Als er ganz oben war, überkam ihn Schwindel. Er hielt sich fest, aber trotzdem schien sich alles zu bewegen. Er bemühte sich, so schnell wie möglich herunterzusteigen, und dann, fast war er da, stürzte er rücklings auf die Wiese. Wie eine umgedrehte Schildkröte lag er auf dem Rücken, die Wiese war hart und hatte den Sturz kaum abgefedert, und als er aufstand sagte er sich, wie immer, wenn etwas passiert war: Nichts passiert!

Am Wochenende kam die Familie zusammen. Der Vater saß mit steifem Rücken auf der Wohnzimmer-couch und trank seinen Kaffee. Die erste, die Verdacht schöpfte, war die Mutter. Sie beobachtete ihn einige Zeit, und dann sagte sie nicht ohne Vorwurf: Warst du wieder auf der Leiter? Der Vater verneinte, wie man eine Frage verneint, die man nicht gestellt bekommen will. Wortlos ging die Mutter hinaus und holte die Kette aus der Garage und das Vorhängeschloss vom Gartentor. Damit kettete sie die Leiter an die Winterreifen. Genauso wortlos setzte sie sich zurück ins Wohnzimmer.

Als er im Laufe des Nachmittags in die Garage kam, entdeckte der Vater die angekettete Leiter. Er stand einen Augenblick da und betrachtete das Werk. Dann griff er in die Schlüsselschublade, in der sich alle Zweitschlüssel des Haushalts befanden, probierte mehrere von ihnen, bis einer passte und machte die Leiter frei. Bald stand sie wieder an der Wand, fern von Satellitenschüssel und anderen Gründen, auf eine Leiter zu steigen.

Er hielt Ausschau und entdeckte hinter dem Fenster, über das die Leiter reichte, seine beiden Kinder. Sie standen einander gegenüber. Der Sohn schien etwas zu erzählen, über das die Tochter schon erwartungsvoll lachte. Dann lachten beide. Und dann lagen sie einander vor Lachen in den Armen. Der Vater war versucht, ebenfalls zu lachen, aber es blieb bei einem Lächeln. Mit Bedacht stieg er auf die Leiter, er hatte wieder die Straßenschuhe an und das Arbeitshemd mit rosa Flecken auf Brust und Bauch, in Richtung der Schwerkraft, dachte er, als er an sich herabblickte. Dann hörte er die Terrassentür, und im selben Moment rafften seine Kinder im Haus die Vorhänge und blickten ihn ungläubig durchs Fenster an. Es ist die Zeitspanne, in der man versucht, aus der gegebenen Information Schlüsse zu ziehen, und, kann man es nicht, zu handeln, ganz gleich, ob es hilft oder nicht. Die Mutter stürzte in den Garten, die Kinder öffneten die Fenster und versuchten den Vater wie die Feuerwehr von der Leiter ins Haus zu hieven. Indes stand die Mutter hilflos vor der Leiter, schrie, wedelte mit den Armen, flehte den Vater an, er möge herabsteigen. Aber der Vater stand mit einer Festigkeit und Sturheit auf der Leiter, knapp eineinhalb Meter über dem Boden, und ließ sich nicht bewegen, auf den Boden zu kommen. Stattdessen lächelte er seiner Familie wie aus einem Passfoto entgegen und umklammerte die Leiter umso mehr.

Zuerst hielt die Tochter inne. Ruhig stand sie am Fenster und schaute ihren Vater an. Sie sah die Furchen auf der Stirn, die jetzt geglättet waren, das arglose, halb schadenfrohe Lächeln, das sie manchmal selbst nach dem Zähneputzen aufsetzte. Was wollte der Vater sagen?, fragte sie sich. Da hielt auch er Bruder inne und blickte sie an. Die Mutter hatte sich inzwischen in die Hosenbeine des Vaters verkrallt und versuchte ihn unter noch größerer Gefahr auf den Boden zu ziehen. Aber still war es geworden. Die Kinder schwiegen und der Vater stand unverändert starr und wortlos auf der Leiter. Die Mutter schnaufte, hing mit den Fingern noch an der Hose, kämpfte mehr mit sich selbst, als mit dem Vater, und letztlich, als sie auf den Boden plumpste, musste sie einsehen, dass es allein dem Vater oblag, von der Leiter herunterzukommen oder nicht.

Die Fenster wurden geschlossen. Der Vater stand noch einige Zeit auf der Leiter, aber ohne Publikum macht auch das größte Kunststück keinen Spaß. Er drehte sich um hundertachtzig Grad, nahm Sprosse um Sprosse, sprang von der letzten ab und landete sicher er auf dem Rasen. Im nächsten Augenblick sauste die Leiter an ihm vorbei und fiel klirrend auf die Wiese. Nichts passiert!, dachte sich der Vater heiter und saß bald wieder auf der Wohnzimmercouch.

 

Lisa Gollub

 

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freiTEXT | Matthias Becher

Styx

Auf der Rolltreppe befinden sich erheblich zu viele Menschen, um die Fahrt nicht als direkten Eingriff in Leas Privatsphäre zu werten. Die von Körperausdünstungen und sich auflösenden Bremsbelägen geschwängerte U-Bahnluft drängt spürbar gegen Fahrtrichtung den Treppenschacht hinauf, geradewegs in Leas Nase. Abartig. Sie wünscht sich, die Treppe genommen zu haben, weiß gar nicht, warum sie es nicht getan hat, und befindet sich nun in einem idiotischen Menschenauflauf, dem das Rechts-Stehen-Links-Gehen-Prinzip offensichtlich fremd ist. Sie ist festgesetzt.

Ihr linker Unterarm liegt auf den schwarzen Gummihandlauf – so konnte sie zumindest noch wenige Zentimeter von ihrem Stufenpartner wegrutschen –, doch aus nicht nachzuvollziehenden Gründen ist die Geschwindigkeit des Handlaufs minimal schneller als die der Treppe, sodass Lea alle paar Meter den nackten Unterarm mit einem leise schmatzenden Geräusch anheben und in eine angenehmere Position bringen muss, bevor ihr Oberkörper so weit nach vorne gezogen wird, dass ihre Nase in der Frisur des Vordermanns landet.

Kurz verschränkt sie die Arme vor der Brust, aber dann ruckelt die Treppe und Lea denkt daran, wie sie als Kind einmal auf einer Kaufhausrolltreppe hinfiel und die metallenen Zähne am Ende sich etwas von ihrem Babyspeck einverleibt haben. Es war eigentlich nur ein kleiner Hautfetzen, aber in ihrem Kinderkopf formte sich dich Sicherheit, gerade noch einmal mit dem Leben davongekommen zu sein. Unbewusst wandert die Hand wieder auf das klebrige Gummi.

Ein Tropfen fällt ihr auf den Arm, Lea zuckt zusammen und schaut reflexartig an die Decke, die im Schneckentempo an ihr vorüberzieht, kann aber keinen Ursprung lokalisieren. Die Flüssigkeit ist irgendwie zu dunkel, fast schwarz. Als Lea sie mit den Fingerkuppen berührt, ist es für eine Sekunde so, als könnte sie den Tropfen als Ganzes verschieben wie Regen auf einem Lotusblatt, erst dann bricht die Oberflächenspannung.

Auf den Zehenspitzen versucht Lea, das Ende der Rolltreppe zu sehen, so lange kann die Fahrt doch nicht dauern. Sie sieht jedoch nichts außer einer schier endlosen Menge von Hinterköpfen, unbewegt und gleich ausgerichtet. Ihr umherschweifender Blick findet wenige Fixpunkte, die Plastikrahmen an den Wänden zeigen alternierend das gleiche Motiv: Dr. Eckart von Hirschhausens neue Glückswortspielfolter auf Tour, zwei Wochen später gefolgt von Chris de Burgh. Beide grinsen debil in dem Wissen, dass sie fürstlich dafür bezahlt werden, in den großen Hallen des Landes den Menschen das zu geben, wofür sie gekommen sind: Durchhalteparolen und die Bestätigung, dass doch alles gar nicht so schlimm ist.

Eine Abweichung von dieser Reihung gibt es an genau einer Stelle, wo auf die Wand zwischen die Entertainment-Klone ein Sticker geklebt wurde. Der Aufkleber sieht aus wie ein Namensschild aus amerikanischen Filmen, in denen jemand zu den Anonymen Alkoholikern geht. Ein blaues Feld trägt den weiß ausgesparten Schriftzug HELLO, MY NAME IS, gefolgt von einem Blanko-Feld. Darauf hat der Urban Artist mehr oder weniger kunstvoll die Buchstaben Styx getagt. Der Aufkleber ist an drei der abgerundeten Ecken beschädigt, konnte jedoch nicht erfolgreich entfernt werden.

Die omnipräsente Aluminiumverkleidung spiegelt das gelbliche Licht der Leuchtstoffröhren und verzerrt die Körperformen der Reisenden. Monströse Schenkel und deformierte Hände, disproportionale Köpfe und weichgezeichnete Konturen bilden ein gespenstisches Wimmelbild im Treppenschacht.

Unruhe dringt von weiter hinten zu Lea und als sie sich umsieht, kann sie gerade noch die Hand wegreißen, bevor eine Person mit hoher Geschwindigkeit knapp an ihr vorbeirauscht. Der Ausbrecher gleitet auf dem schmalen Steg zwischen Handlauf und Wand herunter, doch kurz nachdem er an Lea vorbeirutscht, passiert das Unvermeidliche: Sein Sneaker weicht von der Ideallinie ab und die linke Ferse verkantet am Gummilauf. Er hebt ab, kracht mit dem Kopf an eine von Hirschhausen-Ikone und fällt zurück in die geregelte Bahn der Treppe.

Kurz bewegen sich die Köpfe und Oberkörper der anderen Treppennutzer, während der Gefallene in den kaum vorhandenen Zwischenräumen auf den Boden sinkt. Dann herrschen wieder stoisches Nach-Vorne-Schauen.

Lea kann nicht ausmachen, was mit dem Ausreißer passiert, aber es sieht nicht so aus, als würde sich jemand um ihn kümmern. Gerade ist sie auf der Höhe, an der sein Kopf gegen den die Wand geschlagen ist, Blutspritzer verfeinern das manische Lächeln des Glücksdoktors. Es ist einfach, glücklich zu sein. Schwer ist nur, einfach zu sein, zitiert die Masse unerwartet im Chor und verfällt dann wieder in Schweigen.

Instinktiv drückt Lea den Not-Aus-Knopf, der gerade an ihr vorüberzieht. Die Treppe kommt zum Stehen und das Licht geht aus. Wassersprinkler an der Decke schalten sich ein und innerhalb von Sekunden ist Lea vollkommen durchnässt. Ein Bach bildet sich, der die Stufen hinunterfließt, ihre Ballerinas durchweicht und binnen kurzer Zeit auch ihre Knöchel umspült. Panisch reißt sie den Knopf aus seiner Arretierung. Flackernd gehen die Lampen an, die Rolltreppe bewegt sich wieder und das Wasser, das bei Licht betrachtet die ekelhafte schwarze Flüssigkeit ist, versickert langsam in den durchlässigen Stufen. Fröstelnd schaut sich Lea um, sie ist die einzige, die von der Horror-Episode überhaupt Notiz genommen hat. Sie wischt sich die restlichen Tropfen von den Armen, wringt Haare und Kleid aus, um dann wieder in Gedanken bei dem Gestürzten zu landen, dem ihre Aktion sicher eher geschadet hat.

Sie drückt sich weiter nach vorne, schiebt sich zwischen den regungslosen nassen Gestalten voran, gewinnt nur langsam Raum. Es wirkt, als wollten die Gestalten sie wirklich zurückhalten. Doch immer, wenn sie sich umdreht, sind die Mitfahrer bewegungslos. Lea fixiert den ihr am nächsten Stehenden, baut sich vor ihm auf und schaut ihm direkt in die Augen. Dieser nimmt sie nicht wahr, guckt apathisch durch sie hindurch und blinzelt sehr langsam und regelmäßig. Er stinkt.

Alle haben hier den gleichen Gesichtsausdruck und obwohl sie sich in Statur, Kleidung und Gesichtszügen unterscheiden, sind sie dennoch wie uniformiert. Alle tragen Kopfhörer und wenn Lea raten müsste, würde sie auf Chris de Burgh in Dauerschleife tippen.

Auf dem Treppenboden befinden sich aufgeweichte Pappbecher und Fastfoodreste, die sich so weit auftürmen, dass Lea weniger gehen kann als waten muss. Tauben fliegen wie Aasgeier auf und ab, kreisen unter der Leuchtstoffsonne, suchen nach einem Landeplatz, von dem aus sie die Abfälle ungestört ausweiden können. Die Blicke des Chors richten sich auf das nächste Medizinkaberettplakat, geschlossen intoniert er: Shit happens. Mal bist du Taube, mal bist du Denkmal.

Schließlich erreicht Lea den Verunglückten, der zwar an einer frischen Platzwunde am Kopf zu erkennen ist, ansonsten aber wie die anderen steht und sich nicht weiter abhebt. Das Blut ist bereits geronnen und er hat offensichtlich keine ernsteren Verletzungen davongetragen.

Dann geht ein Zucken durch seinen Körper, erst rebelliert das Zwerchfell, die Schultern zittern, ein Röcheln folgt, dann ein vorsichtiges Husten, das sich in einen regelrechten Anfall steigert. Als es vorbei ist und der Gebeutelte die Hand vom Mund nimmt, hält er eine Münze darin. Kurz schaut er sie an, der Grauschleier vor seinen Pupillen lüftet sich. Seine Hand schließt sich um die Münze und wie auf ein Signal hin, das Lea verpasst hat, heben die Umstehenden ihn hoch, lagern ihn auf ihren Händen und reichen ihn nach oben hin weiter, als wäre er vollkommen gewichtslos, als würde die hochgereckte Faust mit der Münze darin ihn nach oben ziehen.

Lea schaut ihm nach, doch er ist schnell außer Sichtweite und sie kann es nicht ertragen, so stehenzubleiben und in all die stumpfen Augenpaare zu blicken. Also dreht sie sich um und starrt auf den Hinterkopf ihres Vordermanns. Wieder ruckelt die Rolltreppe, doch Lea fühlt sich nicht mehr dazu verpflichtet, den Handlauf zu benutzen. Ihr Körper nimmt die Unregelmäßigkeit unbeteiligt auf, als die Schockwelle der Erschütterung von den Füßen bis in den Kopf läuft, die Zähne kurz aufeinanderschlagen lässt und dann verschwunden ist.

Wie lange ist sie nun schon auf dieser Treppe? Es können Sekunden oder Stunden oder Tage sein. Wie ist sie überhaupt hergekommen? Sie sucht nach ihrem Handy, doch ihr Kleid hat keine Taschen und ihre Handtasche muss von der Flut weggespült worden sein.

Mittlerweile hat sie den Eindruck, dass nicht die Treppe selbst sich bewegt, sondern nur die Wände um sie herum wie eine Leinwand im Loop vorbeiziehen. Immer, wenn die Erschütterung kommt, ist die Leinwandrolle einmal durchgelaufen und beginnt wieder von vorne. Von Hirschhausen, de Burgh, von Hirschhausen, de Burgh, von Hirschhausen, de Burgh, der Aufkleber HELLO, MY NAME IS Styx, an dem drei Ecken abgefetzt sind.

Das kann natürlich Zufall sein, die Sticker sind schließlich dafür gemacht, in größeren Mengen verklebt zu werden. Trotzdem ist Lea sich sicher, dass sie ihn bald wiedersehen wird und macht sich darauf gefasst, die vierte Ecke zu bearbeiten, um ganz sicher zu gehen. Sie schwört sich, die Plakate zu zählen und die Abstände zwischen den Aufklebern, aber nach dem achten von Hirschhausen verliert sie den Überblick, als der Chor murmelt: Du willst anders sein? Andere gibt es schon genug.

Es gibt keine Exit-Strategie. Erst einmal abwarten. Ein Tropfen schwarzes Wasser fällt auf ihre Schulter, sie nimmt es hin. Dann wird Lea bewusst, dass auch sie Kopfhörer trägt, aus denen 80s-Rock erklingt: Don’t pay the ferryman / until he gets you to the other side. Und alle drei Minuten und zweiundfünfzig Sekunden ruckelt die Treppe und ein neuer Durchlauf beginnt.

 

Matthias Becher

 

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freiTEXT | Marcus Jensen

Buch Fes

Es hatte nun die Welt einerlei Zunge. Das Tor auf dem Schirm aber stand wüst und leer. Miguel Varoum ließ Mauszeiger und Buchstabenbrett sprechen, und das Volk Fes antwortete und verkündete ihm: Siehe, dein Name ist unversehrt, und dein Scheidewort gehorcht unseren gemeißelten Gesetzen. Aus Name und Scheidewort begab sich also der Zugang, und er war gut. Miguel Varoum fand Herberge und machte sich die Einstellungen untertan, seine Zeitleiste war gekommen. Er befreundete sich mit Giselher Okumbo, und Giselher Okumbo befreundete sich mit Zazie Thornsdottir, und Zazie Thornsdottir befreundete sich mit Kwame Li Feng, der da schaffte beim Schreibtisch von Halga Bmbam im Schweiße seines Angesichts, und Kwame Li Feng befreundete sich mit Are Friends, dem sein eignes Antlitz gefiel, und Are Friends befreundete sich mit Brünhild da Silva, die hatten vierundvierzig gemeinsame Freunde und waren ein Fleisch und schämten sich nicht. Brünhild da Silva wollte sich mit Ivan Singh befreunden, der aber verwarf ihr Sinnen. Ivan Singh bildete sein Linsengericht ab und gab es hinein, und es gefiel sieben Personen. Zazie Thornsdottir gab Unliebsames hinein und wart deabonniert von Miguel Varoum, der sonst keiner Frucht widersagte und seinen gereckten Daumen schließlich nun aber auch Otta Serpens gewährte, die da hineingegeben hatte: Lobet das Volk der Dviter und ihre zweihundertachtzig Zeichen.

Dies war den Erzengeln unter dem erlassenden Firmament ein Gräuel, auf dass sie die Ihren in die Finsternis trieben. Das Volk Fes und all seine Vervielfältigungen wurden unstet.

Es war ein großes Heulen und Zähneklappern.

Nacht und Tag schufen einen Anstupser.

Da ereigneten sich Neubeginn und Scheidewortabfrage.

Und Zazie Thornsdottir, die einst deabonniert wart, sprach: Meine Befreundeten, ihr sollt nicht länger auf euren Bäuchen kriechen und Erde fressen, denn Miguel Varoum wird verflucht sein siebenundsiebzigmal. Dies belohnten die Erzengel. Und Zazie Thornsdottir gab dreihundertdreiundfünfzig Preisungen oder Verdammungen des Wetters hinein, und sie erkannte Giselher Okumbo, der fünfhundertfünfundsechzig bewegte Bilder von kleinen behaarten Tieren hineingegeben hatte, und sie schrieb die Beziehung in ihre Zeitleiste, und alles, was Odem des Lebens hatte, fand daran Wohlgefallen. Zazie Thornsdottir und Giselher Okumbo machten einen Kasten, den nannten sie Seite und füllten hinein die Geschlechter aller ihrer derer aus dem Volke Fes, die niemals den trügerischen Reizen fremder Netzwerkungen gefolgt waren, und es gefiel den Erzengeln, auf dass sie die Wahren mit blauen Haken versorgten als Zeichen ihres Bundes und den Treuen frohlockende Sticker schenkten, funkelnd und gelb.

Miguel Varoum musste achthundertdreiundneunzig schmerzende Stürme des Unrats erdulden. Aber seine Reue war tief, indes er rief: Was habe ich getan? So wurde er fromm und hütete sich fortan. Und Zazie Thornsdottir verzieh ihm und fügte ihn hinzu, und prachtvoll anzuschauende Antwortranken vieler Freunde sprossen unter ihren Eingaben gleich den Wasserfällen von Kom’ndahre.

Nun begab es sich, dass das Volk der Dviter sich zusammenrottete im Tale Silicohn und auf Rache sann und auszog, doch die Erzengel trieben ihm das Volk Gugelpluss zu, da fand ein Gemetzel statt nahe der Senke Lingt-Inn, und beide Völker rieben sich auf bis in die dritte Generation, was gefiel dem Volke Fes, und es erhob sich großer Jubel, na und so weiter.

 

Marcus Jensen

 

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freiTEXT | Stefan Reiser

Verkaufstalent

Ein darstellender Künstler, der sich durch ständiges Hinterfragen seiner künstlerischen Tätigkeit das Leben unnötig schwer machte, lernte eine bildende Künstlerin kennen, deren größte Sorge nicht auf die Qualität ihrer Arbeit bezogen war, sondern allein auf deren Vergütung. Hingegen war sein Selbstbewusstsein insbesondere auf die Tatsache gestützt, dass er für seine Kunst - ob sie ihm nach eigenem Urteil nun gelungen war oder nicht – immer einen Abnehmer gefunden hatte, mühelos. Eine Zusammenarbeit schien also folgerichtig. Schon bald brachte er die Künstlerin in eine Situation, von der sie nie zu träumen gewagt hätte: Beinahe täglich kamen Offerten von privaten Sammlern, renommierten Galerien und Auktionshäusern in London und New York; die Nachfrage nach ihren Werken überstieg das Angebot um ein Vielfaches; Kritiker bezeichneten die Preisentwicklung als überraschend, Neider die Künstlerin als überschätzt. Grundlegend für die Verkaufserfolge des darstellenden Künstlers war - das bestätigte sich bei jedem Geschäft -, dass er von den Werken der Künstlerin, ja von bildender Kunst im Allgemeinen, nicht die geringste Ahnung hatte.

 

Stefan Reiser

www.stefanreiser.com

 

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