freiTEXT | Sigune Schnabel

Die Zeit bleibt Kind

I

Es gab Menschen, in denen die Zeit schlief. Sie blinzelte morgens einmal in die Dunkelheit des Körpers, drehte sich um und schloss die Augen erneut. Der Atem ging so gleichmäßig und leis, dass ihre Anwesenheit aus den Köpfen verschwand.

Mit fünf Jahren hatte Johanna geglaubt, gänzlich von den Misslichkeiten des Lebens befreit zu sein. Damals hatte ihr Bruder eine eiternde Wunde auf dem Handrücken, die täglich versorgt werden musste. Johanna schaute angewidert zu, wie der Verband gewechselt wurde, und sagte sich im Stillen: Mir würde so etwas nicht passieren.

Erst als sie zur Schule ging, erkannte Johanna, dass die Zeit stärker war als sie. Ihre Großmutter ging ins Badezimmer und stellte den Fuß auf einem Hocker ab. Krampfadern überzogen das Bein vom Knie abwärts, schlängelten sich wie Flussbetten entlang und hatten beinahe die Dicke von Johannas kleinem Finger.

Sie hob ihr Kinderbein zu ihrer Großmutter empor und stellte es daneben. „Schau mal“, sagte sie und zeigte auf ihre Adern. Blau hoben sie sich vom Fuß ab. Ob sie einmal Krampfadern würden? Großmutter zwängte sich den Stützstrumpf über und antwortete: „Bestimmt.“

II

Später wurde die Zeit ein Strom. Je älter Johanna wurde, desto reißender stürzten die Jahre das Flussbett hinab. Früher, als sie noch ein kleines Mädchen war, bewegten sie sich in feinen Wellen, und an manchen Stellen blickte Johanna bis zum Grund. Heute sah sie nur treibende Blätter und aufgewirbelte Gischt.

Damals bestand ein Tag aus einem riesigen Sack. Sie sammelte und sammelte, und immer blieb noch Platz. Nachts füllte sie den Rest in anderen Welten. Dann trat ein Mann aus der Tür der schlechten Träume, die sich in der Wand am Fußende ihres Bettes befand, bäumte sich auf und sprach mit finsterer Stimme: „Ich bin der Schokoladenfresser!“ Leider war Johanna nicht schlagfertig und mutig genug, ihm die Reste vom letzten Osterfest anzubieten. Ihr kam nicht einmal der Gedanke, dass sie selbst gar nicht aus Schokolade bestand und somit außer Gefahr war, gefressen zu werden.

Mit den Jahren wurden die Säcke immer kleiner, und die alten befanden sich schon so weit hinten, dass Johanna nicht mehr zu ihnen durchdrang. Nur manchmal, wenn sie müde war, geriet sie für Sekunden in einen Bereich zwischen Traum und Wachen, in dem Erinnerungen wohnten. Gerüche und Orte vereinten sich in diesem Moment. Ihre Füße befanden sich plötzlich auf Straßen, die sie als Kind entlanggelaufen war, in Ecken, die ihr gänzlich entfallen waren. In solchen Augenblicken merkte sie, dass ihr Leben in ihr ruhte. Sie waren ein müder Nachklang der einstigen Fähigkeit, die Welt mit allen Sinnen zu erleben. Ein Echo der Kindheit und zugleich ein Tor.

III

Früher schrieb Johannas Mutter jedes Jahr einen langen Brief an die Verwandtschaft. Die Kinder durften diese Seiten nicht lesen, wussten aber, dass es um sie ging, was sie wütend machte. Einmal fanden Johannas Bruder und sie Schnipsel im Papierkorb, die unverkennbar von einer Kopie stammten. Jeden einzelnen breiteten sie auf dem Wohnzimmerboden aus. Ihre Mutter störte sie nicht bei ihrer Tätigkeit, denn sie glaubte offenbar nicht an den Erfolg. Bei manchen Teilen sah man sofort, dass sie zusammenpassten. Dann gab es diese weißen Randbereiche, auf denen sich nur einzelne Striche befanden, die nahezu jeden Buchstaben fortführen konnten. Immer wieder probierten die Kinder aus, die Teile zusammenzusetzen. Am Ende schafften sie es. Es entstand ein Text.

Sekunden im Halbschlaf waren manchmal solche Puzzleteile. Mit viel Geduld ließ sich von ihnen einmal der Text der Kindheit ablesen. Das nächste Mal wollte Johanna ihn luftdicht in Flaschen verstauen und in ein Boot tragen, ihn vor dem reißenden Fluss schützen.

IV

Bei Paul war die Zeit kein Fluss. Schon früh rannte sie in seinem Körper auf und ab. Ein unbändiges Kind, das gegen die Zellen trommelte; das noch nicht gelernt hatte, Spuren zu verwischen und Scherben zu beseitigen. Manchmal erschrak es einen Augenblick, das Kind; vielleicht, weil ein Glas auf den Kacheln zersprang. Doch dann rannte es weiter umher, bis der nächste Gegenstand zu Bruch ging.

Manchmal sah Johanna vor sich, wir sie mit Paul durch den Sand lief. Die Sandalen baumelten in seiner linken Hand. Johanna trieb es immer weiter, bis zum hintersten Zipfel der Insel, an dem das Vogelschutzgebiet begann. Auf einmal war der Weg überflutet. Wellen umspülten ihre Fahrräder, die sie oben abgestellt hatten. Paul stieg ins knietiefe Wasser. Hinterher lachten sie, froh, dass sie sich rechtzeitig auf den Rückweg begeben hatten.

Wenn Paul auf dem Stuhl saß, wollte Johanna sagen: „Steh auf!“ Doch niemand konnte die Zeit in seinem Innern bremsen. Wie gern hätte Johanna ihn wie ein Fahrrad aus dem Meer gezogen.

V

Die Pflegerin schob ein großes Gestell heran. Sie musste aufpassen, dass es nicht anstieß. Dann ließ sie es herunter, gerade so tief, dass sie Paul daran befestigen konnte.

Als sie es wieder nach oben kurbelte, schwebte er in einer Schaukel. Zwischen den Armlehnen des Rollstuhls ließ sie ihn herunter, so passgenau, dass er in Sitzposition landete. Jedes Mal konnte Johanna nur zuschauen, wie die Zeit jede Regung von Paul nahm.

VI

Die Fähigkeit der Hingabe war abhandengekommen. Johanna schlüpfe in einen Raum, in den keine Berührungen reichten. Müdigkeit legte sich in ihre Sätze, ließ sie schwer werden und langsamer klingen. Sie versuchte, ihre Unsicherheit durch Verstand zu tarnen, zerschnitt ihr Leben in kleine Stücke und setzte es schlüssig zusammen, legte es auf einen Teller und sagte: „Sieht es nicht schön aus?“ Paul verzog das Gesicht.

VII

Johanna hatte gedacht, sie würden es schaffen, nichts zu erwarten. Nicht mehr zu spüren, wie sie dahinter verschwanden. Aber sie hatte sich geirrt. „Ich will dich noch einmal von vorne verlieren“, dachte sie und schaute aus dem Fenster. Sie saß an Pauls Bett und sah zu, wie er immer weniger wurde. Wie seine Hände, seine Stimme ihm entglitten. Sie hatte Angst vor seinem Verschwinden, denn es lag außerhalb ihrer Ordnung. Außerhalb der Regeln ihrer Welt. Es ließ sich nicht erklären und beherrschen. Geradezu absurd in einer aufgeklärten Zeit. Lag hier nicht das größte Versagen, wenn nicht sogar ein Verspotten aller Errungenschaften?

VIII

Seit Pauls Körper ihm entglitt, war Johanna aus dem Takt geraten. Bei jedem Versuch, sich zu halten, fehlte das Gerüst, die Grundlage. Also fiel sie in sich hinein, bis sie sich nicht mehr auffinden konnte, so tief. In der Leere tauchte ihr altes Leben wieder auf, als Nordlicht. Wenn sie danach griff, stürzte sie weiter, denn die Farben hatten keine Substanz.

Sie konnte Paul nur zusehen, wie sich etwas um ihn auflöste; nichts war mehr möglich, außer in den Leerstellen zu versinken.

Ein Teil von Paul hatte sich in Johanna verankert. Wo er sich lockerte, riss er etwas auf. Ihre Wurzeln waren wund geworden an der Luft. Wie lange war es her, dass sie die Grenzen zwischen sich verloren hatten? Dass sie sich überschnitten und ineinander rankten? Auch auf Johannas Seite starb etwas.

IX

Manchmal hielten sie sich am Immergleichen, denn es täuschte sie über das Ende hinweg. Ihr Denken beruhigte sich in dem Schein von Beständigkeit. Sie ahmten die Tage nach, als könnten sie so die Zeit anhalten. „Glaubst du nicht auch, dass sie hinter Gewohnheit verschwindet? Dass sie ganz still wird, wenn wir sie in einen Rahmen pressen?“, fragte Johanna, doch sie sprach es nicht aus.

Und sie dachte weiter: „Kennst du die Angst vor der Zeit? Eine Wohnung, ein Möbelstück aufzugeben, weil dann auch ein Stück von dir verschwindet; ein Abschnitt beendet ist, der aus dir herausfällt und eine Lücke hinterlässt? Du haftest noch daran, zu einem kleinen Teil, und fühlst, wie sich ein Loch in dir bildet, ohne diesen Gegenstand. Die Zeit zerstört dich zunächst nur langsam, doch du wirst immer kleiner, bevor du etwas Neues werden kannst. Nein, selbst das ist nicht von Bestand. Bald wird dir die Fähigkeit zu werden abhandenkommen. Bleibst du dann ohne dich zurück? Weißt du, was ‚ohne dich‘ bedeutet?“ Johanna wusste es nicht.

X

Manchmal nahm sie ein kleines Stück Leben und warf es in die Leerstellen. Doch es verlor den Glanz, wenn es so einsam und zerschnitten an der falschen Stelle lag.

 

Sigune Schnabel

 

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freiTEXT | Elísa Lovísa

Lebensretter

Kondome in allen Farben kleben unentrollt auf einer Glaskugel, die von innen beleuchtet ist und sich dreht. Dazu ertönt Musik von ausschließlich schwulen Künstlern, von António Variações bis hin zu Gaahl von Gorgoroth. Die bunten Schatten gleiten über die Wand und verbreiten dabei frivole Tanzatmosphäre.

Es ist mein 18. Geburtstag und ich befinde mich auf der Ausstellung meiner zehn Jahre älteren Schwester. Es stimmt nicht ganz, dass es ihre Ausstellung ist – sie gehört zu einem kleinen Künstlerkollektiv, das hier für zwei Monate seine gesammelten Werke zeigt. Ich bin stolz auf sie.

Ihr Freund und Kollaborateur Haq schenkt mir Sekt nach und singt aus vollem Hals das Lied von Judas Priest mit, das gerade läuft. Die Stimmung ist erstaunlich ausgelassen dafür, wenn man bedenkt, dass sich bei der Eröffnung vor zwei Tagen ein kleiner Skandal ereignet hat. Nun, es war eher einen Tag später, denn eine der anwesenden Journalistinnen hat sich bei der Pressebegehung der Räume nichts anmerken lassen und am nächsten Morgen einen empörten Artikel in ihrem Blatt drucken lassen, der ordentlich Aufsehen erregt hat. Jetzt strömen die Leute nur so in das bescheidene Kunsthaus unserer kleinen Stadt.

Ich habe mich ohnehin gewundert, warum das Kollektiv um meine Schwester ausgerechnet hier ausstellen will, das ist doch viel zu abgefahren für dieses Provinznest, wo in der Regel nur die Arbeiten von Rentnerinnen gezeigt werden, die einen Kurs in impressionistischer Malerei besucht haben. Gelegentlich auch Schwarz-Weiß-Fotos von Schülerprojekten, in denen ein Lehrer seinen Schützlingen beigebracht hat, wie man den Film selbst entwickelt.

Das hier war eher etwas, das man in Berlin oder Köln vermuten würde. Aber das Kollektiv beharrte darauf und meine Schwester sprach sogar davon, dass es besonders hier nötig wäre. Jeder solle Zugang zu Kunst haben, meinte sie, und fügte etwas vage hinzu, dass die Inhalte nicht rein für Großstädter wären und auch hier sicher Menschen berühren würden. Sie sollte Recht behalten haben.

Am Tag nach der Eröffnung war nun also der Teufel los, der ganze Landkreis schien von der Ausstellung gehört zu haben, über sie zu sprechen, sie sehen zu wollen – trotz des meiner Meinung nach eher einfallslosen Titels „Re:Produktion“, der nicht danach klang, als könne er unsere Mitbürger zu Scharen ins Kunsthaus locken.

Der tatsächliche Höhepunkt der bisherigen Resonanz aber war der Brief, den jemand wohl noch in der Nacht unter der Tür durchgeschoben und den die Aufsicht heute Morgen beim Aufschließen erst gefunden hatte.

Er wird gerade an der Wand angebracht, mitten im Raum, der dem Projekt gewidmet ist, für das meine Schwester hauptverantwortlich zeichnet und das „Innigkeiten“ heißt.

Eigentlich liegt im Kollektiv das Urheberrecht immer bei der Gruppe. Genau dieses Projekt aber war so persönlich, dass meine Schwester fast ganz allein daran gearbeitet und dafür den Künstlernamen „Roe v. Wade“ gewählt hat. Was wie ein exzentrischer Adelsname klingen mag, ist in Wahrheit die Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA, der dort damals die Abtreibung legalisiert hat. Und davon handelt ihr Projekt. Unglücklicherweise war sie auf dem Bild zu sehen, das in der Zeitung abgedruckt war, allerdings nur mit diesem Künstlernamen, an den übrigens auch die Morddrohung gerichtet ist, die nun als vielsagendes Zusatzexponat die Ausstellung bereichert.

Auf die Frage meiner Mutter, ob sie damit nicht zur Polizei gehen wolle, winkt meine Schwester ab. Sie wirkt alles andere als eingeschüchtert und sieht die Nachricht eher als Beweis dafür, wie wichtig die Ausstellung sei, wie sehr sie es geschafft habe, die Menschen an wunden Punkten zu treffen. Auch wolle sie keinesfalls der Absicht nachgeben, sie zum Schweigen zu bringen. Sie kündigt sogar an, weitere Morddrohungen an derselben Wand zu sammeln, sollten noch mehr eintrudeln. Diese Reaktion, die ihrer Auffassung nach ausgezeichnet die Widersprüchlichkeit sogenannter „Pro Life“-Aktivisten einfängt, rundet das Gesamtwerk noch besser ab.

Zum diesem gehören unter anderem eine Modellstadt voller Abtreibungskliniken, zwischen denen die schwangere Maria in Begleitung von Josef auf Modelleisenbahnschienen hin und her pilgert, ohne Einlass zu erhalten, während im Hintergrund das Lied „Mary Never Wanted Jesus“ von Thee Majesty läuft. Des Weiteren lässt sich in der Mitte des Raumes ein großer Globus finden, dessen Kontinente dicht an dicht gedrängte Playmobilmännchen bevölkern, während seine Ozeane komplett mit Plastikteilchenmosaiken überzogen sind. Darüber schwebt ein Storch mit einem Bündel im Schnabel.

Es gibt eine kleine Wackelkopffigur des aktuellen Papstes, die mit einer Sprechblase verkündet, dass allen Frauen, die von ihrem Partner zu einer Abtreibung gezwungen wurden, vergeben wird, während ein Pappmaché-Jesus sich nebendran um den Andrang an vom Papst ignorierten und zurückgelassenen Frauen kümmert. An einer Wand thront über einer altarähnlichen Vorrichtung ein ikonenhaft stilisiertes Gemälde von Kristina Hänel, jener Ärztin, die angeklagt wurde, weil sie über Abtreibungen aufklärte, und die auf dem Bild das selige Lächeln einer Heiligen trägt.

Außerdem hängt da noch eine chinesische Flagge, vor der eine Waage steht, eine Schale befüllt mit Männlichkeitssymbolen, die andere, deutlich schwerere, mit dem weiblichen Pendant, entsprechend der dortigen Abtreibungsstatistik. Eine Klanginstallation mit einem Chor brasilianischer Frauen, die dafür beten, dass ihre Abtreibung unentdeckt bleibt, kann man sich ebenfalls anhören.

Meine Schwester eben – die ganze Welt muss repräsentiert sein, zumindest annähernd.

Zitate zum Thema Schwangerschaftsabbruch aus der ganzen Weltliteratur wie aus internationalen Geschichts- und Gesetzesbüchern zieren die Wände; Adichie, Márquez und zig andere.

Aber das sind die politischen, die offensichtlichen Werke. Ohne die ginge es nicht, meint meine Schwester, und mich beschleicht das Gefühl, sie hat kein Vertrauen in die Interpretationsfähigkeit der Leute hier – vielleicht zurecht. Allerdings wunderte ich mich anfangs sehr, ist ihr Stil doch sonst eher subtil, scheut geradezu jede Erwähnung tagesaktueller Themen und Namen, verwehrt sich allem Konkreten, meidet das allzu leicht Verständliche.

Und zwischen den aufmerksamkeitsheischenden Werken verstreut liegen diese Inseln der Introspektion, die persönlicheren Exponate meiner Schwester.

Von ihrer eigenen Abtreibung vor sechs Jahren hat sie mir vor Kurzem erst erzählt; unsere Eltern wissen es schon längst. Bemerkenswert an ihren Erlebnissen, ihrer Erzählung war vor allem der Umstand, dass die meisten beteiligten Frauen – Frauenärztin, Abtreibungsärztin – sich laut meiner Schwester eher als unsensibel bis repressiv erwiesen, während die Männer – der Berater bei Pro Familia, der Narkosearzt – wesentlich verständnisvoller, urteilsfreier und warmherziger reagierten. Warum das so war, darüber kann man allerhand Mutmaßungen anstellen, aber meiner Schwester erschien dieser Fakt sehr erwähnenswert.

In den Bildern, Installationen und Skulpturen, die inmitten der Provokationswüste stehen, liegen all die Leeren und Erblühungen, die meine Schwester seit der Zeit mitgemacht hat, ihre Verknüpfungen zu dem Ereignis mal mehr, mal minder stark. Das Wahnsinnige daran ist, dass ich diese spüren, nachfühlen kann, durch ihre Geschichten, durch ihre Kunst. Wie ein Echo kommt es bei mir an, ein Echo, dessen Schwingungen mich umwerfen.

Der Bauch als Körperhöhle, Lebensraum, Gefängnis. Verengung der Welt, Verengung des Seins, Reduktion auf ein paar wenige Organe. Allumfassende Angst, ungeheures Wachsen um einen herum von Aufgaben, Erwartungen, Druck und Zwängen. Die Verbindung bleibt tot, körperlich vorhanden, doch nicht fassbar, keine Vorfreude, keine Mamamutation, kein Rühren einer neuen Wesenshaftigkeit. Nichts. Zukunftssorgen, Geldsorgen, Planetensorgen, erdrückende Machtlosigkeit, und das Selbst ist immer noch zu schwach, um ein weiteres, ein anderes Bewusstsein zu erschaffen, zu halten, zu leiten. Welt- und Lebensfülle schwinden.

Die Entscheidung kostet Mut und Überwindung, Stigmata, die bluten, Hinterfragen der Beseelung aller Dinge, eines Jenseits, einer Transzendenz. Diese Unklarheiten, die schon immer welche waren und es auch bleiben werden.

Danach jedoch: weinende Wiedergeburt, Erleichterung, himmelhochjauchzend! Befreiung, Wärme, Dankbarkeit. Möglichkeiten, die erwachen, daneben Trotz – Kampf mit der Meinung der Leute, die richten, die nicht wissen, die Schuld suchen und Ausreden, um ihrem Hass freien Lauf zu lassen. Was gegen den eigenen Willen geschieht, soll gut sein, gottgewollte Überforderung. So oder so nichts als Strafe.

Es gibt Monate, wo sie nach Gefühl ringt, gegen die vernichtende Feindlichkeit, die Bitterkeit und Vorhaltung der Leute, sie kämpft um jede Empfindung.

Aber sie hat sich behauptet, sich gerettet, hat gelernt, dankt denen, die ihr das Leben wiedergeschenkt haben, ist in der Zeit gewachsen und erstarkt.

Kontrovers mag es sein, aber meine Schwester sagt genau das: Dass der Akt der Abtreibung der Moment war, in dem sie sich selbst gebar, die Auslösung eines tiefgreifenden Entwicklungsprozesses, das Ergreifen von Kontrolle und Selbstbestimmung mehr als je zuvor. Ein Ergründen der eigenen inneren Umstände. Und davon zeugen ihre Exponate.

Es überrascht mich, wie viele ältere Frauen da sind, die überaus emotional reagieren – manche, weil sie damals zu mitunter gefährlichen Abtreibungspraxen gezwungen wurden, manche, weil sie dies heimlich allein unternommen hatten, aber ihr Geheimnis mit niemandem teilen konnten, und manche, weil sie gezwungen waren, Familien zu gründen und ihnen dadurch viele Chancen verwehrt blieben, viele ihrer Träume platzten. „Kostenlos, sicher, legal“ war früher eben noch undenkbarer als heute.

Meine Schwester steht wie eine Triumphsäule inmitten ihrer sichtbar gemachten Verletzlichkeiten, ihrer Erschöpfungen und Erschaffungen, beobachtet die Menschen, die sich in diesen selbst erkennen und sie mit ihren Gefühlsregungen umbrausen, umtosen, bestürmen.

Sie ist mehr als zufrieden, sie ist im Frieden mit sich, vertraut sie mir an, und sogar mit den Absendern der Drohbriefe. Sie weiß, dass diese vermutlich keinen Fuß in die Ausstellung setzen und wahrscheinlich nie ihre Meinung ändern werden. Aber ihre Haltung spricht von anderen Ängsten, die dem Kollektiv Inspiration für die nächste Ausstellung geliefert haben. Meine Schwester sprüht momentan vor Tatendrang und Revolutionslust, Ideen vermehren sich stündlich. Der Angstabbau, der Schamnachlass, die Besinnung auf die eigenen Kräfte – in ihr knospen hundert neue Welten, alte erglühen wieder. Sie war so klein und schwach und verunsichert zwischendurch, erzählt sie mir, und jetzt ragt sie ins Leben, überblickt alles, weitsichtig, klarsichtig, clairvoyant.

Ein neuer Künstlername für ein neues Projekt ist geboren, meine Schwester strahlt, sie will und wird aufgehen wie eine verschlossene Blüte, eine goldgießende Sonne.

Lächelnd drückt sie sich an mich und überreicht mir mein Geschenk: ein Ring aus rotem Glas mit vier weißen Streifen, ein Rettungsring. Er ist ein Symbol: die Zusicherung von Hilfe und Unterstützung, die Erinnerung an meine eigene Stärke, und zugleich Dank, denn der Gedanke an mich und meine Zukunft hat sie durchhalten lassen, die Vorkämpferin, die Mutentbrannte.

 

Elísa Lovísa

 

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21 | Kathrin Lagatie

Sehen

Als ich meine Mutter am Boden liegen sah, lief ich eilig in die Küche. Die Küchenschere war die einzige im Haus, die regelmäßig geschliffen wurde. Ein Erbe meines Vaters. Ich griff also zur Schere, ging zurück zur Mutter und schnitt ihr die Haare ab. Wieder zu Hause angekommen, verfütterte ich den Zopf an die fleischfressende Pflanze, die irgendwer vor Jahren in unserem Treppenhaus ausgesetzt hatte. Ich kümmerte mich seitdem um sie. Ab und an ein Finger, hin und wieder eine Wimper, das bringt Glück. Während ich der Pflanze dabei zusah, wie sie das Haar meiner Mutter verschlang, wurde mir klar, dass ich die ganze Mutter verfüttern würde. Nun hatte ich endlich ein Ziel vor Augen. Ich musste nur aufpassen, dass mich niemand dabei beobachten würde.

 

Kathrin Lagatie

 

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18 | Lisa Gollub

nehcasnebeiS

Ich packte meine Siebensachen und verließ die Post, nachdem ich – endlich – den Brief nach Weißrussland aufgegeben hatte. Zur Sicherheit klatschte ich mit der Hand auf die Tasche, denn ich wollte nichts vergessen haben, blickte wie beim Autofahren über die Schulter in den toten Winkel der Postfiliale und schaute eine Sekunde später in das Gesicht eines Fußgängers. Wird schon passen, dachte ich und machte mich auf zur Nordsee, um das Mittagessen einzunehmen.

Gewissenhaft bestellte ich einen mit Siegel ausgestatteten Fisch aus Norwegen und setzte mich an einen Tisch beim Fenster. Ich beobachtete die Menschen, wie sie vorübereilten und fragte mich, was sie antrieb. Ich erinnerte mich an die Weisheit, einen Menschen nicht nach seinem Motiv zu fragen, sondern sein Verhalten zu analysieren. Man muss wissen, woraus man Schlüsse zieht, dachte ich.

Draußen ging ich ein wenig spazieren, wie ich es schon seit Jahren nicht mehr getan hatte. Ich sah mich völlig frei von Verpflichtungen, fast unabhängig von Raum und Zeit. Tja, ich fühlte mich ein wenig wie gesundes Gewebe, aus dem ein Tumor entfernt wurde. Es klaffte ja doch ein Loch in mir, das ich momentan nicht füllen konnte. Was tun?, fragte ich mich.

Da kam ich an einer Parkbank vorbei. Ein Kind versuchte sich bäuchlings auf die Bank zu robben. Ich sah, dass es mit aller Kraft alles versuchte, ja, ich fieberte ein wenig mit und war versucht, ihm den entscheidenden Ruck zu geben. Ich blickte mich um. Keine Mutter in Sicht. Also half ich dem angestrengten Kind. Und als es vollbracht war, konnte ich nicht umhin. Schon hielt ich es im Arm wie ein Eigenes. Wie beruhigend war es doch, ein Kind zu haben!

Glückselig streifte ich durch die Straßen und ließ keine Gelegenheit aus, meinem Glück Ausdruck zu verschaffen. Ich strahlte jeden beliebigen Fußgänger an, während das an die Hüfte gestemmte Kind bei jedem Schritt abhob und wieder landete. Wie alt ist es denn?, fragte mich ein alter Mann auf der Straße. Das dürfen Sie mich nicht fragen!, lachte ich ihn an und bestieg den nächsten Bus.

Einen Kinderwagen brauche ich jetzt!, dachte ich. Also schnappte ich den Zwillingskinderwagen, der neben einem anderen im Bus stand, setzte mein Kind hinein und stieg bei der nächsten Station aus. Erst als wir zehn Minuten später das Tor zum Prater passiert hatten, entdeckte ich das zweite Kind, das ruhig im Kinderwagen schlief. Umso besser!, dachte ich und machte mich wagemutig auf in die Menge, die sich jedes Jahr zur Eröffnung der Saison versammelt.

Von der Ferne hörte ich plötzlich vertraute Musik. Ich fühlte mich in meine Jungscharzeit zurückversetzt, als wir auf der Reise nach Tirol Stunden über Stunden Volkslieder sagen, dieselben, die ich allen meinen Kindern beigebracht habe. Schon standen wir vor einer Schießbude und ein trübsinniger Bub reichte uns Stoffbälle.

Warum bist du traurig?, fragte ich ihn, als die Kinder alle Bälle ins Off geschossen hatten. Ich muss jeden Tag hier arbeiten und darf nicht in die Schule gehen, sagte er. Das kann nicht sein!, dachte ich, griff seinen Oberarm, zog ihn über die Theke und lächelte ihn willkommenheißend an. Komm mit uns!, sagte ich mehr zu mir als zu ihm. Und schon waren wir eine fast vollzählige Familie.

Wir bahnten uns den Weg durch die Menschenmenge. Ich ließ den kleinen Buben vom Schießstand zur Entschädigung Motocross fahren, die beiden anderen setzte ich ins Kleinkindkanufahren und verspeiste währenddessen, wie ich es aus Jugendjahren kannte, Pommes frites mit Mayo.

Ebenso einfach wie man Kinder verliert, kann man Kinder auch wieder aufklauben. Denn als wir uns auf den Weg nach Hause machten, fix und foxi waren die Kinder, wie der kleine Bub immer wieder für alle anderen sprechend sagte, da sah ich in der Menge ein gestrandetes Kind. Es stapfte plärrend im Kreise, schrie nach Mama und Papa, obwohl es längst zu groß war, um zu schreien. Da platzierte ich mich mit dem Zwillingskinderwagen unmittelbar vor ihm, zumindest einen Halbkreis ausfüllend, und lächelte es ganz unscheinbar an, in etwa wie eine Vertrauensperson. Im nächsten Moment sah ich, wie ihm die ganze Szene Einhalt gebot, wie es seine Entscheidung fällte und auf uns zukam, als wären wir immer schon seine Familie gewesen. Schön!, sagte ich, schön! Und wir umarmten uns allesamt in Verklammerung mit dem Zwillingskinderwagen.

Endlich auf dem Weg nach Hause!, dachte ich, als wir mit der Rolltreppe abwärts fuhren. Und wie eine einsame Prinzessin sah ich ein Mädchen, das aufwärts fuhr, winken. Durch trübe Schichten der Erinnerung tauchte ich in die Gegenwart und erkannte schließlich eines meiner Kinder, meiner Kinder! Ich wollte es wiederhaben, dachte ich, ich wollte es wie eine Sache wiederhaben. Es erschien mir im Moment der Begegnung wie ein Edelstein in einer Mineraliensammlung. Dabei war es wahrscheinlich den ganzen Tag Rolltreppe gefahren, und ich fühlte mich schuldig wie eine Rabenmutter, die ein Kind ins Heim gibt und kurze Zeit später wieder abholen will. Da kam der Rolltreppenabsatz, ich musste schnell reagieren, beiderseits fuhr die U-Bahn ein und schon war alles, was gerade geschehen war, längst wieder Vergangenheit.

Ich nahm einen Umweg über die Schule, die sich in der Nähe meiner Wohnung befand. Schon oft hatte ich mich am Eingang platziert, um den Kindern allerlei Süßigkeiten zuzustecken. Ich hatte immer schon ein Bedürfnis nach Wohltätigkeit gehabt und in dieser Geste sah ich sie realisiert. Also stellte ich mich mit meinen vier Kindern, die ich rückwärts durchzählte, als würde ich vorwärts zählen, mit einer Packung Werther’s Original vor den Eingang des Musikgymnasiums. Die Glocke schrillte, Kinder gingen vorüber, bedienten sich ohne ein Dankeswort, bis die Packung mit dem Erklingen der Stundenglocke fast leer war. Ich nahm die verbliebenen zwei Bonbons in die Hand und dachte: Der Wohltätigkeit genug, aufs Ganze gehen! Wie gerufen kamen zwei Mädchen durch die Doppeltür, das Schicksal erfüllt sich selbst, dachte ich, denn sie nahmen mir die Bonbons aus der Hand und schauten mich erwartungsvoll an. Ich war ein wenig überrascht, dann sagte eines der Mädchen, etwa zwölf Jahre alt mit Zöpfen: Gehen wir?

Auf dem Rückweg wunderte ich mich ein wenig. Ich fragte mich, warum meine Kinder mich ohne jeden Zweifel an der Mutterschaft annahmen, dass sie mir geradezu in die Arme liefen, als wäre ich in der Tat eine Mutter. Was hatte das zu bedeuten? Vor vielen, vielen Jahren, dachte ich, habe ich in der Schule gelernt, dass bei einer Reaktion ein Teilchen von A auf B übergeht. Niemals kann aber ein Teilchen in der Luft hängen. Alle meine Kinder waren auf mich übergegangen und deshalb mussten sie an anderer Stelle fehlen. Ich empfand Glückseligkeit, aber was empfanden die Eltern? Was würde ich empfinden bei der rückwärtigen Übertragung? Faxen, dachte ich dann, soweit wird es nicht kommen. Verbissen pfügte ich wie schon einmal durch die Straßen, vorne die beiden Mädchen aus dem Musikgymnasium, die ich im Singen gar nicht anzuleiten brauchte, dahinter der Bub, der Händchen hielt mit dem verweinten Kind aus dem Prater, und dann ich – mit dem Zwillingskinderwagen.

Kurz vor der Wohnung drehte ich meinen Kopf ein wenig in den Nacken, um die Verspannungen des Tages zu lösen, und da erblickte ich das Sorgenkind, wie es mit traurigem Blick dahinbummelte, immer mit ein wenig Abstand zu uns. Und ich wusste nicht zu sagen, ob es dasselbe Kind war, das ich heute als erstes verloren hatte. Da winkte mir vom Hauseingang die Nachbarin zu und rief mir entgegen: Vorbildlich, eine vorbildliche Familie! Ich zählte durch. Es waren ihrer sieben. Positive Bilanz!, dachte ich und schüttelte der Nachbarin beim Eintreten noch energisch die Hand.

 

Lisa Gollub

 

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17 | Alexander Rall

Bibi ist verlassen

Bibi ist verlassen. Hans ist weg. Hans ist unglücklich. Vielleicht ist Hans so unglücklich, dass er sich gerade woanders bewirbt. Sie spürt eine kleine Angst, weil sie es nicht weiß. Dr. Flachs ist zwar noch da, aber nicht für sie. Hans ist eigentlich für sie zuständig. Das heißt, er sagt ihr, was sie zu tun und was sie zu lassen hat. Das beruhigt sie. Irgendwie. Er ist ihr Vorgesetzter. Dr. Flachs ist eine Nummer höher. Er vertritt Hans ausnahmsweise. Bibi schreibt ihm manchmal Mails, in denen sie fragt, was sie tun und was sie lieber lassen soll. Sie bekommt nie eine Antwort. Manchmal kommt Dr. Flachs vorbei und zuckt mit den Schultern. Da müsse sie warten, bis Hans wieder da sei. Das wisse er auch nicht. Der Laptop will auch nicht mehr. Schon die dritte Installation heute morgen. Bibi trinkt Tee. Der Vorgesetzte und der Laptop behindern ihre Arbeit.

Fürs Nichtstun müsste man eigentlich mehr bekommen als fürs Tun, denkt Bibi. Bibi denkt gerne, aber sie weiß momentan nicht worüber. Vermutlich werde ich vergessen, denkt Bibi und sagt laut: „Aber ich bin noch da.“ Das hört niemand. Sie schaut aus ihrem Büro und sieht alle bei der Arbeit in die Bildschirme schauen. Manche sehen ganz krumm aus. Tut doch nicht so, denkt sie‚ das ist doch die reinste Ignoranz. Am liebsten würde sie die Tür einfach aufreißen und allen mit ihren Vorwürfen überschütten. Arme Bibi, würden sie sagen, was ist nur los mit dir? Das wäre gelogen. Das wäre auch kein Ausweg. Sie seufzt. Stören kommt also nicht in Frage.

Sie überlegt, wie sie ein Zeichen ihrer Existenz in die Welt rausschickt. Vielleicht ein Joke oder ein Musik-Clip. Vielleicht auf Twitter, vielleicht ein Mail an alle. Aber was soll sie schreiben? Ihr seid alle Ignoranten? Das weiß jeder, auch wenn es niemand zugibt. Sie rollt mit den Augen zu den Klängen von Fade away. Sie sieht aus dem Fenster auf die ewige Baustelle eines Viertels, das seitdem sie hier arbeitet entsteht. – Es wird sicher noch weiter gebaut, wenn ich längst weg bin. Aber wohin bin ich dann weg – und bin ich dann auch woanders? Niemand gibt ihr eine Antwort. Das spürt sie. Am liebsten würde sie verschwinden, einfach so. Aber sie weiß nicht wohin. Sie sitzt da und starrt auf ihre Füße. Die waren auch schon mal kleiner, denkt sie und streckt sich. Wer bin ich?, fragt sie sich.

Sie überlegt: Ich muss langsam machen. Ich habe kurze schwarze Haare, blaue Augen und kleine gepflegte Hände. Sie schaut auf sich und auf ihre schicke Jeans. Sie vermisst einen Spiegel. Er würde sie jetzt ablenken. Das weiß sie. Sie sagt sich: Ich habe als Sekretärin angefangen und bin dann zur Assistentin aufgestiegen. Nach fünf Jahren. Keine Bilderbuchkarriere, aber immerhin. Außerdem bin ich schrecklich nett und habe eine klare Denke. Das sagt jeder. Aber davon hat zur Zeit niemand etwas, auch ich nicht. Ich nicht und niemand, denkt sie, ich nicht, weil Niemand, denkt sie, Niemand braucht mich, weil Niemand Niemanden braucht. Ihre Gedanken wiederholen weiter das Wort, Niemand Niemand Niemand, bis es sich anfühlt wie ein Brett, das ihr ein anderer vor den Kopf schlägt. Alle sitzen da. All die Niemande dieser Welt, denkt sie, sitzen draußen in ihren Glaskästen bei der Arbeit und schlagen sich gegenseitig lauter Bretter lautlos vor die Birne. Besonders dumpf ist das Brett von Dr. Flachs. Dick und dumpf. Sternchen, wohin man auch blickt.

Bibi kommt sich vor, wie eine Witzfigur in einem Comic-Strip. „Boing, boing, boing“, sagt sie und schlägt sich auf die Stirn. Sie kommt sich blöd vor. Das ist doch die reinste Ausbeutung, denkt sie. Ich bin doch nicht zum Vergnügen für die anderen da. – Vielleicht doch? Vielleicht sollte ich die anderen auch mal ignorieren. Sie zögert, sie weiß noch nicht wie, aber dann fällt es ihr ein: Einfach mal schnell weggucken, einfach mal etwas überhören, einfach mal den anderen reinquatschen, einfach so tun, als hätte man viel zu tun. Aus Hektik nicht grüßen. Sich alleine hinsetzen. Den anderen nicht ansehen. Oder nur so: von oben herab.

Sie spielt alles durch, gestikuliert im Büro. Sie ist zwar klein, aber eigentlich müsste es jemandem auffallen. Sich schaut sich um. Niemand schaut hin. Das wäre ja eine tolle Firma, wo jeder jeden ignoriert – großartig, denkt sie, was dabei wohl herauskäme, wenn jeder mit jedem ums Ignorieren konkurrieren würde. Aber dann müsste man sich ab und zu dem anderen auch wieder zuwenden, damit das Ignorieren auch wieder ein Ignorieren wäre. Sonst wäre das Ignorieren ja gar kein Ignorieren mehr, sondern… Sie überlegt und erschrickt: Vielleicht werde ich von den anderen ja gar nicht ignoriert, ich meine noch nicht einmal ignoriert. Ich wäre einfach Luft. Oder einfach nichts – sie lacht auf, erschrickt wieder, lacht auf – oder wie ein Satellit der vorbeizieht und wieder verschwindet? Interessant, denkt sie und schaut aus dem Fenster. Überall Stau.

Überall Scharen von Menschen. Ob sich alle genauso fühlen wie sie? Sie würde zu gerne in ihre Köpfe schauen. Das wäre spannend. Aber das kann sie nicht. Und wenn, fragt sie sich, was würde sie entdecken. Vielleicht immer nur mich selber. Das wäre nicht lustig. Das wäre das Ende. Aber das Ende von was? Auch das weiß sie nicht. Vielleicht wäre es eine Freiheit. Sie zweifelt, weil sie es sich nicht vorstellen kann. Vielleicht fällt ihr noch was ein. Sie hofft. Ganz leise.

Sie schaut auf ihre Schublade. Zum Trost hat sie sich ein altes Buch von Donald Duck dort hingelegt. Es ist bunt, aber zerfleddert. Sie blättert darin. Sie kennt jede Geschichte. Sie muss sich nur die Bilder ansehen, dann weiß sie gleich, worum es sich dreht. Das tröstet sie. Herrlich dieser grimmige, gelbe Schnabel und die gelben Entenwatschen. Würde er doch nur aus dem Bild direkt hier hereinkommen, wünscht sie sich. Sie würde ihm sofort die Hand schütteln und Guten Tag sagen. Sie können gleich hier anfangen, würde sie sagen. Ihr Job ist es, die Einstellungsverträge zu prüfen, ihre Richtigkeit zu bestätigen und sie dann Dr. Flachs zur Unterschrift weiterzugeben.

Unterhaltungskünstler wie Sie können wir schließlich gebrauchen. In der ganzen Firma ist nix los, lauter Finanzfachleute. Noch trockener kann man es sich nicht vorstellen. Und jeder ignoriert jeden und manchmal noch nicht einmal das. Wir brauchen Sie dringend, Herr Duck, die Stimmung ist echt auf dem Gefrierpunkt. Gehen Sie einfach durch Gänge und nehmen Sie Ihre Neffen mit, das reicht schon. Alle würden denken, jetzt bin ich verrückt. Das wäre großartig. Alle wären einen Moment lang verrückt. Das würde schon reichen. Nur so zum Durchatmen, zum Freisein. Für einen Moment. – Platz für den Geldspeicher Ihres Onkel haben wir auch. Muss nur noch die Tiefgarage ausgebaut werden, Herr Duck, oder reicht Ihnen Blockchain? Haben wir hier auch im Hause, ganz feine Technologie. Das Gehaltliche regeln wir natürlich ganz nach Ihren Vorstellungen. – Sie deutet einen Knicks an.

Dann füllt sie den Vertrag auf ihrem Laptop aus, fügt Namen, Adresse und Kontonummer ein. Titel: Unterhaltungskünstler mit Prokura. Sie legt den Vertrag zu den anderen Verträgen in die Unterschriftenmappe und bringt sie Dr. Flachs. Dr. Flachs ist da und telefoniert. Er deutet mit der Hand auf den Schreibtisch und nickt ihr zu. Sie legt die Mappe hin und geht zurück in ihr Büro.

Der Quatsch kann mich den Job kosten, denkt Bibi und lacht. Sie setzt sich und wartet. Sie fühlt sich wie gelähmt. Sie will nichts ändern. Nur noch die weiße Wand anschauen. Es ist nichts. Nur weiß. Leuchtend weiß. Die ganze Wand ist weiß. Ihr Inneres auch. Unbeschrieben weiß. Sie spürt ihren Atem, wie er ein- und wieder ausströmt. Es ist nichts, alles ist egal, alles ist gleich. Bibi spürt, wie sie anfängt zu lächeln. Alles ist weiß, auch ich, ich bin ich und die Wand. Ich bin die Wand und ich. Bibi spürt, wie ihr Lächeln stärker wird. Bibi fühlt sich frei – wie noch nie in meinem Leben, denkt sie. Dann sieht sie zur Tür. Sie öffnet sich unendlich langsam.

Dr. Flachs kommt herein und legt ihr die unterschrieben Verträge hin. Bibi lächelt noch immer über beide Ohren. „Na, so fröhlich heute“, sagt Dr. Flachs freundlich. „Einfach so, ein so schöner Tag heute“, sagt Bibi. Er legt ihr die Unterschriftenmappe mit den Verträgen hin. „Die können Sie jetzt rausschicken.“ Dr. Flachs geht wieder in sein Büro. Bibi sieht die Verträge durch. Donald Duck ist eingestellt.

 

Alexander Rall

 

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16 | Gloria Ballhause

Liebesroboter

Am Tag, als es endlich den ersten Schnee geben sollte, saß Theo im Wartezimmer seines Hausarztes. Husten- und Niesanfälle hatten ihn in der Nacht wachgehalten, vor Sonnenaufgang waren auch noch enorme Kopfschmerzen dazu gekommen. Ein Verdacht wühlte in seinem Kopf: Meningitis. Er hatte die Symptome gegoogelt und war nach einem kargen Frühstück – Kaffee schwarz und eine halbe Zigarette – in die Praxis gefahren.

Theo war der erste Patient im Wartezimmer. Kurz nach ihm betraten zwei Frauen den Raum. Sie setzten sich an die Wand gegenüber und schnatterten, ohne ihn zu beachten oder auch nur zu grüßen. Theo regte solch großstädtische Unhöflichkeit auf, aber so waren eben die Zeiten. Er beließ es bei einem Stirnrunzeln und wandte sich wieder dem Geo-Heft auf seinen Knien zu. Ein Artikel über Nordfriesland zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Nach einer Weile verschwammen die Zeilen vor seinen Augen, er schloss sie für einen Moment. Plötzlich riss ihn ein Satz ins Wartezimmer zurück.

„Schalten sich Roboter, wenn sie Langeweile haben, einfach ab? Wie läuft das bei euch…?“, hatte eine der Frauen gefragt.

Da er die Augen geschlossen hatte, wusste Theo nun nicht, welche der Frauen es gewesen war. Er musterte sie. Die beiden sahen ganz gewöhnlich aus. Sie waren ungefähr in seinem Alter, knapp sechzig. Die eine war groß und schlank, trug ihr blondes Haar zu einer Helmfrisur gefönt und schien Pastelltöne zu bevorzugen. Die andere war eher rundlich, hatte kurzes graues Haar und einen schönen Mund, von dem Theo ausging, dass er gern naschte. Die Augen der Kurzhaarigen erschienen ihm sehr lebhaft, ziemlich blau, nicht so eingetrübt, wie ihm oft seine eigenen vorkamen. War sie etwa diejenige, bei der ein Roboter zu Hause auf dem Sofa saß?

„Naja, Robotern ist nie langweilig, weil sie gar nicht so viele Erwartungen an ihre Freizeit haben“, sagte die Kurzhaarige.

Sehr richtig, pflichtete Theo ihr innerlich bei. Es war grundsätzlich ein Denkfehler, Maschinen menschliches Verhalten anzudichten. Das hatte ihn schon immer geärgert. All diese Filme über Roboter, die einsam und auf der Suche nach Gefährten waren. Das war absoluter Humbug. Wenn jemand einsam war, dann war es der Mensch selbst, der solche blödsinnigen Geschichten erfand, um den Umgang mit Maschinen ertragen zu können.

„Kann er auch weinen?“, fragte die Frau in Pastelltönen hinterher. Also tatsächlich: Die Kurzhaarige hatte einen Roboter zu Hause und die Pastell-Frau hatte immer noch nicht verstanden, dass Maschinen keine Menschen waren.

„Er ist programmiert, an den richtigen Stellen zu weinen, wenn ein trauriger Film im Fernsehen kommt oder sowas, aber Gefühle hat er ja nicht wirklich“, sagte die Kurzhaarige.

Theo war froh, dass sie in der Lage war, Mensch und Maschine auseinanderzuhalten. Allerdings: War es nicht traurig, dass die Kurzhaarige, statt eines richtigen Menschen, einen Roboter zu Hause hatte? Eine Frau, deren Augen leuchteten und die obendrein noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Sie war doch sicher beliebt und viel unterwegs und mit vielen Kontakten gesegnet. Auf welchem Weg war die Menschheit, wenn selbst jemand wie sie einen Roboter brauchte? Und warum wusste Theo nichts von Robotern für alleinstehende ältere Frauen? Er recherchierte viel und las alle wichtigen Zeitungen online. Wenn es so etwas schon zu kaufen gab, blieb es doch nicht geheim. Und warum hatte er noch nichts von weiblichen Modellen für zu Hause gehört? Es war doch unwahrscheinlich, dass es nur männliche Modelle gab. Schließlich waren Männer – und diesen Fakt konnte man nicht ignorieren – die Herrscher der Maschinen. Sie entwickelten und entwarfen zum überwiegenden Teil, was gebaut wurde. Theos Herz polterte in seiner Brust. Er verhedderte sich in einem Husten- und Niesanfall und nahm dankend ein Taschentuch von der Kurzhaarigen an. Nach ein paar Atemzügen gewann er seine Fassung wieder. Er legte das Geo-Heft zur Seite. Als Theo Augenkontakt mit der Kurzhaarigen hergestellt hatte und gerade seinen Mund für eine Frage öffnete, kicherte die Pastell-Frau dazwischen.

„Und wie ist das mit… ich meine, macht er alles, was du willst… na, du weißt schon?“. Die Kurzhaarige lief rot an und fiel ins Kichern ein. Verstohlen sah sie zu Theo, dem seine Frage schlagartig auf der Zunge vertrocknete. Er schloss den Mund und schluckte. Er war nicht ganz sicher, ob er ihre Antwort hören wollte.

„Herr Schliema, bitte in Behandlungszimmer zwei“, rief der Arzt über den Flur in das Wartezimmer. Theo erhob sich.

Im Behandlungszimmer saß einer dieser Jungdoktoren, die an Patienten wie ihm praktische Erfahrungen sammelten, denn Theos Hausarzt hatte seine Praxis als Lehrpraxis umfunktioniert. Das hieß, Theo bekam den richtigen Arzt eigentlich gar nicht mehr zu Gesicht. Jedes Mal, wenn er wegen seines Blutdrucks oder einer Erkältung in die Praxis kam, behandelte ihn eine neue junge Ärztin oder ein junger Arzt. Der Arzt, blond und mit einem derartigen Milchgesicht ausgestattet, dass Theo schon nach dem Ausweis fragen wollte, stellte sich als Herr Hoffmann vor.

„Herr Schliema, wo drückt denn der Schuh?“, fragt er.

Theo fühlte einen Stich in der Brust. Noch so jung und schon voller Floskeln, dachte er. Ihn überfiel eine Müdigkeit, die nicht nur von einer durchwachten Nacht kommen konnte. Es war eine Tonne Müdigkeit, die auf seine Lider drückte und auch auf seine Schultern.

Waren Männer wie er so einfach ersetzbar durch Roboter? Was wusste denn dieses Milchgesicht von Doktor überhaupt? Er behandelte Theo wie einen Idioten, bloß weil er aus seiner Sicht die Altersgrenze, in der man noch für zurechnungsfähig gehalten wird, überschritten hatte. Dabei war er erst sechzig. Er war noch zu gebrauchen, auch als Mann!

„Die Schuhe drücken nicht. Ich habe eine Meningitis!“, sagte Schliema.

„Das wollen wir uns mal anschauen“, sagte der Doktor sanft, was Theo noch mehr in Rage versetzte.

Er erläuterte in einem, wie ihm selbst auffiel, etwas herrischen Ton seine Symptome – Niesanfälle, Rotzbildung, Hustenfrequenz, Stärke und Art der Kopfschmerzen –, das hatte der Doktor nun von seiner Floskelattitüde. Theo übertrieb ein bisschen, auch weil der junge Doktor bei seinen Untersuchungen – Brust abhorchen, Nebenhöhlen abklopfen, Rachen inspizieren – immer mehr die Stirn auf Ärzteart in Falten legte, was er wahrscheinlich in einer Lerngruppe für angehende Hausärzte einmal die Woche geübt hatte. Theo ließ sich davon nicht einschüchtern. Er beendete seinen Vortrag mit der Diagnose Verdacht auf Meningitis und fügte die Frage an, ob er über die Feiertage ins Krankenhaus müsse.

Der junge Doktor schwieg einen Moment, entspannte seine Stirn und lächelte ihn triumphierend an.

„Herr Schliema, das müssen sie nicht, Sie haben einen stinknormalen grippalen Infekt“, sagte er.

Theo brauchte einen Moment, bevor er die Worte richtig verarbeitet hatte.

„Aber das kann gar nicht sein, die Symptome sind doch eindeutig“, wandte er ein, wurde aber sofort wieder unterbrochen.

„Sie können sich freuen“, entgegnete der Arzt, nun seinerseits etwas herrisch. Offenbar war Theo nicht der erste, der eine Diagnose des Milchgesichtes infrage gestellt hatte.

„Die Symptome passen nicht zu einer Meningitis“, sagte der Arzt weiter und setzte zu einem Vortrag über Meningitis an.

Theo sank in den Stuhl. Er war sich so sicher gewesen. Alles hatte so gut zusammengepasst und nun überführte man ihn quasi der Hypochondrie.

Und war er wirklich überhaupt noch ein Mann? Es stimmte ja gar nicht, dass er ohne Hilfsmittel mit einer Frau wie der Kurzhaarigen… Wenn er seine Erektionen ansah, dann war das doch ein Trauerspiel. In den letzten zwei Jahren hatte er es drei Mal mit einer Bekannten versucht, bei der er sich nicht getraut hatte, zu sagen, dass er ihr süßliches Parfüm abscheulich fand. Nachdem er zwei Mal gescheitert war, hatte er beim dritten Versuch eine dieser Pillen, die er ihm Internet bestellt hatte, eingenommen, was ihm zwar eine Erektion bescherte, aber auch Übelkeit und Schwindel, sodass ihm nichts anderes übriggeblieben war, als auf dem Rücken zu liegen und zu warten, bis seine Übelkeit abgeklungen war, mit ihr leider auch die ersehnte Erektion. Die Scham über dieses Ereignis hatte ihm verboten, die Bekannte noch einmal zu fragen und seine Hemmschwelle, in dieser Richtung aktiv zu werden, war enorm gestiegen. Vielleicht sollte er es auch mal mit einem Roboter probieren, beziehungsweise mit einem weiblichen Modell. Mit ihr könnte er üben, und wenn die Richtige dann käme, wäre er vorbereitet auf solch eine Situation. Es konnte unmöglich sein, dass es nur Liebesroboter für ältere Damen gab. Er musste das recherchieren. Theo unterbrach den Arzt.

 

Dicke Flocken sanken herab und ließen sich auf den Wollmützen der Fußgänger nieder. Theo lief, ja rannte fast über den Bürgersteig in Richtung seines Wagens. Als er um eine Hausecke bog, rempelte er jemanden an. Er entschuldigte sich hastig, stockte und blieb dann stehen. Es war die Kurzhaarige. Unter der roten Wollmütze hätte er sie fast nicht erkannt.

Theo sah in ihr Gesicht. Sie hat Augen wie Fenster, dachte er.

„Ach, Sie sind es… ich wollte Sie fragen...“, stammelte er. Sie nickte als wüsste sie, was er fragen wollte. Es schien ihm fast so, als wollte sie seine Worte herbeinicken. Strahlte sie nicht sogar vor Erwartung?

Auf seiner Zunge tat sich jedoch nichts. Die Worte kräuselten sich in seiner Kehle, strebten vor und zurück. Er konnte sie nicht nach einem, beziehungsweise nach ihrem Liebesroboter fragen. Das war zu seltsam und irgendwie auch eine persönliche Sache.

„Ach, nichts“, sagte er.

Das Strahlen erlosch. Vor ihre Augen schoben sich unsichtbare Läden. Sie macht zu, dachte er. So etwas wäre ihm früher nicht passiert. Er war einfach nicht auf der Höhe. Vielleicht würde er es nie mehr sein. Theo schüttelte einen Hustenanfall. Er zog den Kragen seines Mantels enger im den Hals.

„Sie sollten nach Hause gehen und sich ausruhen, Sie sehen müde aus“, sagte die Kurzhaarige.

„Das ist die Erkältung, ich habe kaum geschlafen“, sagte er außer Atem. Er wandte sich mit einem Alsodann von ihr ab.

„Sie wollten fragen, ob ich einen Roboter habe“, rief ihm die Kurzhaarige in den Rücken.

Theo drehte sich um. Die Stille der Flocken landete auf seiner Stirn, auf seiner Nase und seinen Lippen. Die Flocken schmolzen sofort.

„Verzeihen Sie uns, wir sind manchmal ein bisschen böse, Marianne und ich, und spielen Szenen aus unserer Kabarett-Gruppe“, sagte die Kurzhaarige. Ihr Lächeln kam ihm traurig vor. Eine Last fiel von ihm ab, die nicht von der Erkältung kam und auch nicht von der durchwachten Nacht.

„Kann ich Sie ein Stück begleiten? Ich erkläre es Ihnen“, sagte die Kurzhaarige.

Theo und die Kurzhaarige, die Iris hieß, gingen nebeneinander her. Er hörte ihr zu, nieste und hustete in ihre Worte hinein. Sein Kopf fühlte sich heiß an. Morgen würde er wahrscheinlich nicht mal mehr aus dem Bett kommen. Ab und zu lachte er. Sie auch. Das Lachen war warm und kam aus tiefster Kehle.

 

Gloria Ballhause

 

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14 | Sabine Schönfellner

Fahrtenbuch

Am Rückfenster sitzt ein kleines Mädchen in einem grünen Overall und reitet die Straßenbahn um die Kurven, es ruft: „Zwei noch, dann müssen wir aussteigen!“
An der Haltestelle warten viele, mehrmals wird eine Betriebsstörung durchgesagt, als dann doch eine Straßenbahn einfährt, drängen sich zwei junge Männer an einem Rollstuhlfahrer vorbei zur Tür.
Die alte Frau fragt laut, ob sie sich setzen dürfe, wie sie es jeden Morgen tut, der Mann im Anzug zuckt zusammen und steht unter gemurmelten Entschuldigungen auf.
Um einen Sitzplatz angeboten zu bekommen, sollte man schwer atmen, verzweifelt aussehen, am besten älter sein, idealerweise weiblich; ein Buch unter dem Arm und müde Augen reichen dafür nicht aus.
Unter dem Sitz ist Kies eingelagert, an der Endhaltestelle mischt ihn die Straßenbahnfahrerin durch, dann klappt sie den Sitz wieder herunter, ohne dass jemand fragt wozu, sollen damit die Schienen gestreut werden im Winter?
Der junge Mann mit den wirren Haaren, jeden Donnerstag fährt er hier lang, sitzt am Fenster und trommelt gegen das Fensterbrett, er spricht nicht, sondern summt nur, der Platz neben ihm bleibt wieder frei.
Ein Stoß in den Rücken, keine Entschuldigung, nur die Feststellung: „Überall müssens telefonieren“, dann ist die dicke Frau zur Tür draußen, die OP ist gut ausgegangen, danke der Nachfrage.
Es riecht, nach Schweiß, nicht nach Deo, nach Turnhalle, nach schwitzenden Jugendlichen, die einander Brudi nennen und von ihrer Fitnessroutine erzählen, den Mädels hinten im Wagon zurufen, sie sollen ja nicht nach vorne kommen, die Mädels kichern und tragen alle keine Jacken, obwohl November ist, eine Station früher aussteigen als sonst.
Ein kleiner Bub in der Reihe dahinter, der laut schreit, etwas fallen lässt, essen will, singen will, noch lauter schreit, als er sich wieder hinsetzen soll, seine Mutter hat ihn wohl nicht im Griff, beim Umdrehen merken, es kann nicht die Mutter sein, die ältere Schwester hat ihn aus dem Kindergarten abgeholt und sieht sich entschuldigend um, plötzlich Mitleid, mit einer Mutter hätte man das nicht?
Dann wie jedes Jahr dasselbe Spiel, witterungsbedingte Verzögerungen, als ob niemand erwartet hätte, dass es schneien würde, als ob ein paar Flocken und ein halber Zentimeter Matsch schon alles aufhalten können.
Dichtere Flocken, die die Schienen und Straßen einpacken und alles dämpfen, die Autos, die Busse, die Ampeln, die anderen Fußgänger, die mit gesenkten Köpfen vorbeirutschen.
An der nächsten Haltestelle immer noch keine Zeit auf der Anzeige, eine Entschuldigung läuft gelb leuchtend durch, in Dauerschleife, Schneeflockenpixel dazwischen.
Kein Buch dabei, keine Sitzplätze mehr, heute reitet niemand die alten Straßenbahnen. Die Schuhspuren zerrinnen in Matsch.

 

Sabine Schönfellner

 

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13 | Maya Olah

Die Hände aller Männer

Meistens sitzen die Menschen alleine im Auto. Manchmal sind sie auch zu zweit, dann sehe ich nur den, der nicht fährt. Im Wagen vorhin ist ein Hund auf dem Beifahrersitz gesessen. Er war der einzige, der neben sich zum Fenster hinausgeschaut hat. Ich glaube, er hat mich gesehen, wie ich hinter der Leitplanke stehe. Für einen Moment nur hat es so ausgesehen, als würde der Wagen stillstehen, mitten auf der Autobahn, bei über hundert Sachen. Der Hund hatte die Zunge draussen. Dann hat das Auto beschleunigt, wie ein Pfeil ist es vorbeigezischt.

Hinter mir steht der Tankstellenshop, ein grauer Klotz, der auf dem Kopf gelbrote Neonröhren trägt. Rundherum hat es nur Strassenwüste und Gestrüpp. Meine Pause ist schon seit fünf Minuten um, ich muss wieder hinein.

Heute habe ich noch keine grünen Busse gesehen. Bei diesen sieht man nicht, wer fährt, die Fenster sind vorne verspiegelt. Nur die Haarschöpfe der Passagiere, die in den oberen Reihen sitzen, erkennt man von aussen. Ein grüner Bus ist heute Morgen gekommen, zwei Fernbusse fehlen noch. Ich weiss genau, dass sie noch kommen, denke mir aber trotzdem: Heute habe ich noch keine grünen Busse gesehen.

Silvio steht vor dem Tankstellenshop neben den leeren PET-Flaschen und raucht. Er tippt auf sein Handgelenk, an dem keine Armbanduhr ist und schaut vorwurfsvoll. Ich gehe in den Laden, es stehen schon drei Leute vor der Kasse. Entschuldigend lächle ich sie an und bediene die Frau, die als erstes dran ist. Als nächstes ist ein Mann im mittleren Alter an der Reihe. Seine Hände sind gross. Ich erschrecke, etwas an ihm kommt mir vertraut vor, aber schnell merke ich, dass wir uns nie begegnet sind. Trotzdem höre ich mein Herz schlagen, während ich kassiere.

Silvio kommt zurück von seiner Pause, ich rieche zuerst den Tabakgeruch, den er mit sich zieht. Er nimmt das Schild vom Ladentisch. Die Leute, die im hinteren Teil meiner Schlange stehen, wechseln zu ihm. Silvios Piercing oberhalb der Augenbraue reflektiert sich im Röhrenlicht. An meinem ersten Arbeitstag hat er mir alles gezeigt. Wenn gerade keine Kundschaft kam, hat er mich vollgetextet. Er möchte eigentlich nach Berlin, hat er mir erzählt. Aber jetzt sei er in dieser Voralpenregion gelandet. Er brauche Geld, Schweizer Lohn, hat er gesagt und einen Kreis mit Daumen und Zeigefinger geformt. Ich bin froh, dass er aufgehört hat zu fragen, weshalb ich hier arbeite. Immer wenn ich ihn ansehe, zwinkert er mir zu, als hätte er etwas im Auge.

Im Shop läuft immer der gleiche Radiosender, er lässt sich nicht umstellen. Jedes Lied klingt gleich. Es riecht nach Aufbackbrötchen und Keller, auch ein wenig nach Benzin. Mit den Turnschuhen, die ich anhabe, kann ich ewig lange stehen, ohne dass meine Füsse schmerzen. An meinem Firmenshirt ist mein Name angebracht. Ich stelle die Zeitungen des Tages in die Ablage, lege gefrorenes Gebäck aufs Blech, schlage Münzrollen auf. Die Leute trotten herein, viele wie zufällig, andere zielstrebig. Ich kassiere, manchmal weise ich auf Aktionen hin und immer frage ich nach, ob sie getankt haben.

Etwa in einer Stunde kommt der zweite Bus. Jemand wird aussteigen, nur einer der beiden Fahrer. Und den zweiten, den der drinbleibt, den sieht man nicht, weil die Fenster die Aussenwelt spiegeln und das Innere verbergen. Schon das verringert die Möglichkeit beträchtlich.

Ich habe ein Muster bemerkt: Nach etwa einem Monat wird einer der Fahrer ausgewechselt und die Routen neu verteilt. Es könnte jeden treffen, diese Route zu übernehmen, die hier an dieser Raststätte tanken muss. Doch es gibt immer Unregelmässigkeiten. Manchmal ist auch mitten im Turnus ein anderer Fahrer in den Shop gekommen. Vermutlich weil der eine krank war oder noch Ferientage zugute hatte. Ich habe die Fahrer nie danach gefragt, wo der andere bleibt.

Den ersten Bus habe ich verpasst, er ist um sechs Uhr morgens gekommen. Gestern habe ich mir überlegt, ob ich zur Tankstelle fahren soll, nur um die neuen Fahrer anzusehen. Kurz vor dem Einschlafen erschien mir das übertrieben und ich habe den Wecker ausgestellt. Ich bin dann trotzdem um fünf Uhr erwacht, ohne Alarm, einfach von alleine. Ich hätte Silvio sagen können, dass ich den Arbeitsplan falsch gelesen habe, in der Zeile verrutscht bin. Das ist ihm schon passiert. Es wäre nicht sehr verrückt gewesen, wäre ich zur Morgenschicht schon da. Ich bin dann aber nicht

aufgestanden, sondern bin den ganzen Vormittag liegen geblieben und habe auf meinem Handy rumgespielt. In die Uni bin ich auch nicht gegangen, ich habe die Vorlesung versäumt. Manchmal ist es besser zu warten. Nächsten Donnerstag habe ich Frühschicht, dann werde ich den Fahrer des ersten Busses sehen. Der Enttäuschung muss man Hürden bauen und Hindernisse, damit sie den Weg nicht so einfach zu einem findet. So wie man mit Sand gefüllte Säcke neben einem überquellenden Fluss stapelt.

Frau Bürkli, die Chefin, kommt herein. Wir sagen zu ihr Frau Bürkli und sie duzt uns, dass sie das möchte, hat sie beim Anstellungsgespräch klargestellt. Sie schaut mir zu, wie ich an der Kasse stehe und die Leute bediene, dann sagt sie mir, ich soll öfters lächeln. Silvio lächelt nie, aber ihm sagt sie das nicht. Sie läuft an ihm vorbei und verschwindet hinten im Büro.

Die Farbe des T-Shirts, das die Frau trägt, die vor dem Kühlregal steht, sticht mir ins Auge. Ein Grün zum Schreien. Sie ist die erste Fahrerin der grossen Busse, die bisher in diese Raststätte gekommen ist. Nur sie ist ausgestiegen, ich sehe keinen anderen Fahrer neben dem Bus stehen und rauchen. Heute gibt es also nur noch eine Gelegenheit.

Vaters Hände sind Pranken und die Adern stechen hervor. Und ich frage mich, warum ich immer auf die Hände schaue, ich würde Vater sofort erkennen. Schon an der Art wie er vom Bus aussteigen und zum Shop laufen würde.

Die wenigen in der Uni, die wissen, dass ich hier arbeite, fragen mich, ob ich keine Angst habe. Kürzlich wurde eine Tankstelle überfallen. Die Titelseite der Lokalzeitung hat verpixelt schwarzgekleidete Gestalten gezeigt. Auf dem Überwachungsvideo hat man gesehen, dass die Einbrecher dem Verkäufer eine Schusswaffe an den Kopf gehalten haben.

Ich fürchte mich nicht vor Einbrechern. Ich würde es an der Zielstrebigkeit merken, dass jemand im Sinn hat, die Tankstelle zu überfallen. Vorhaben sieht man den Menschen in den Augen an und im Gang. Bestimmt würden sie auch gleich merken, dass ich ihnen alles geben würde. Sie müssten nicht einmal so tun, als wollten sie mich erschiessen. Das ganze Geld würde ich ihnen geben, alle Scheine hinlegen, all die Schokolade, die Zigaretten, den Schnaps und die Rubbellose. Sie müssten nur danach fragen. Ich packe es ihnen sogar in Tüten ein.

Selbst würde ich aber nie was einstecken, obwohl es dafür viele Gelegenheiten gibt, trotz der Kameras in allen Ecken. Hin und wieder starre ich ganz lange in die Objektive, versuche nicht zu blinzeln, das ist meine einzige Provokation. Dabei stelle ich mir vor, dass jemand die Aufnahmen ablaufen lässt und mich anblickt.

In wenigen Stunden kommt der letzte Bus für heute. Von diesem könnte Vater aussteigen, durch die Schiebetür treten und mich sehen. Ich weiss noch nicht, was ich ihm sagen werde, wenn er vor mir steht, hier in der Raststätte vor der Kasse mit seinem knallgrünen Firmenshirt, in dem er bestimmt albern aussieht. Ein Mann mit Bauchansatz und Halbglatze in so einer schreienden Farbe, die gute Stimmung machen soll. An den Oberarmen wäre das Shirt bestimmt zu eng, denn Vater ist stark.

Ich werde so tun, als wäre es ein Zufall, dass wir uns gegenüberstehen. Was genau ich ihm sage, werde ich aus der Situation heraus entscheiden. Was ich jetzt schon weiss, ist, dass ich ganz bestimmt nicht den Preis nennen werde, den er bezahlen muss für das Benzin.

Die Zeit bleibt beinahe stehen im Shop. Immer wenn ich auf dem Bildschirm die Ziffern ansehe, haben sie sich kaum verändert. Besser, ich putze die Plastikbehälter, in denen die trockenen Brötchen drin waren. Zuerst wische ich das Gefäss mit einem feuchten Tuch aus, die Krümel bleiben dran kleben. Dann spraye ich es mit Putzmittel voll und wische es mit Papier nochmals heraus. Das mache ich sehr sorgfältig und gründlich.

Silvio steht derweil an der Kasse. Was machst du heute Abend, ruft er herüber. Ich zucke mit den Schultern und er fragt mich, ob er heute früher gehen kann. Er hat eine Verabredung, aber vergessen, dass er so lange arbeiten muss. Ich zucke wieder mit den Schultern und sage okay.

Das letzte Mal, dass ich Vater gesehen habe, war, als ich in Paris war. Eigentlich war ich nur angereist, um ihn zu sehen, aber am Telefon habe ich ihm erzählt, dass ich wegen einer Studienreise in der Stadt war.

Ich habe in einem hell erleuchteten Café gewartet, welches er ausgesucht hatte. Er ist eine halbe Stunde zu spät gekommen. Als er da war, habe ich bemerkt, dass sein Haar schütterer geworden ist und sich feine Fältchen im Halbkreis um seine Augen gebildet haben. Alles andere war noch gleich – die Art, wie er zur Tür hereingekommen ist, sich gesetzt und sofort nach einem Bier gebeten hat. Ich habe gleich eins mitbestellt.

Er hat mir erzählt, dass er nicht mehr Lastwagenfahrer sei, sondern jetzt Fernbusse herumfahre. Da sei man mehr unter Leuten und die Strecken seien nicht mehr so lange, er könne mehr zuhause sein bei seiner Familie. Als er dann von seinem einjährigen Sohn erzählt hat, konnte ich nicht anders, als mir Vater in klein vorzustellen – seine grossen Hände, seine starken Arme an einem winzigen Körper.

Die Sonne ist bereits untergegangen, ich spiegle mich in der Scheibe, durch die man sonst die Tanksäulen sieht. Es regnet und es kommen kaum noch Leute in den Shop.

Heute ist es kalt, ich esse das Sandwich, das ich im Shop gekauft habe, hinten im Raum. Ich setze mich auf den Drehstuhl und nehme das Brötchen aus der Verpackung. Neben mir blättert Frau Bürkli in Papieren. Ich gebe mir Mühe leise zu essen und keine Unordnung zu machen. Ihre Hände sind ganz weiss und verschrumpelt, obwohl sie noch nicht alt ist. Es sieht so aus, als wäre sie lange im Wasser gesessen.

Um aufs Klo zu gehen, muss ich raus aus dem Shop, an den Tanksäulen vorbei. Ich nehme einen Schlüssel mit, der einen dicken, hölzernen Anhänger dranhat. Das Waschbecken ist so klein, dass mir beim Händewaschen Wasser über die Hose läuft.

Ein grosser grüner Bus rollt an, ich erkenne ihn durch die Spiegelung hindurch. Heute könnte es der Tag sein, an dem wir uns wiedersehen. Die Wagentür öffnet sich, während der Bus noch in Schrittgeschwindigkeit fährt. Schon an der Art, wie der Mann aussteigt, merke ich, dass es nicht Vater ist.

Am Schluss der Schicht wische ich den Boden. Ich fange hinten an, wo die Getränke stehen und wische in Richtung Kasse. Einmal habe ich aus Versehen beim Putzen das Kabel der Tiefkühltruhe herausgezogen. Alles ist aufgetaut. Im Behälter ist flüssige Glacémasse und Spinat geschwommen.

Im Eimer saugt sich der Mob mit Wasser voll, ich klatsche ihn gegen den Boden. Dabei denke ich an die Sandsäcke neben einem Fluss. Ich sage mir, man muss der Enttäuschung etwas in den Weg legen. Wenn ich Frühschicht habe nächsten Donnerstag, vielleicht ist das der Tag, an dem wir uns wiedersehen. Möglicherweise tritt er dann aus dem Bus und kommt in den Laden.

Er hat eine seltsam wackelige Art zu gehen, habe ich gedacht, als er sich im Café von mir verabschiedet hat, aufgestanden und gegangen ist, während ich noch sitzengeblieben bin. Weil sein Oberkörper so breit ist und seine Hüften schmal, sieht es so aus, als würde er ein wenig taumeln. So wie der grosse grüne Bus von vorhin, als er wieder losgefahren ist. Der grosse Kasten, der geruckelt hat und dann stotternd losgefahren ist, so als müsste er sich umsehen, bevor er verschwindet.

 

Maya Olah

 

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08 | Melitta L. Roth

Ihr Schreiben von gestern ist gegenstandslos

Mir ist gestern beim Schreiben doch tatsächlich mein Gegenstand verloren gegangen. Als ich mich an den Schreibtisch setzen wollte, war er noch da, aber dann war er auf einmal weg. Wie weggeblasen.

Ich habe noch ein wenig herumgekramt, bis in die entferntesten Winkel des Gehirns gestöbert. Ohne Erfolg. Andere längst verschollene Sachen sind zutage getreten. Aber nicht das, worüber ich hatte schreiben wollen. So läuft es immer. Du suchst etwas und was anderes tritt an seine Stelle. Mit realen Dingen ist es ebenso. Du suchst deine Bahncard und andere längst vergessene Sachen treten zutage: ein verrosteter Nagel, ein leerer Labellostift oder eine Arbeitsbescheinigung, die dir vor zwei Jahren abhanden gekommen war und die du mühsam beim Arbeitgeber hattest wieder einholen müssen, wegen der Steuer. So ging es immer. Als wäre ein Plan dahinter.

Ich hätte noch ewig nachdenken können, sicher wären noch andere vergessene Ideen aufgetaucht. Fakt war, dass dieser gewisse Gegenstand, über den ich heute unbedingt hatte schreiben wollen, verschollen blieb. Wie ausradiert.
Bloß nicht suchen, das sei der beste Trick, damit Verschwundenes wieder auftaucht, so hatte es mir meine Mutter beigebracht. Und die hatte das von ihrer Mutter.

Egalsein, sagte sie, ist Zauberwort bei jeder Sucherei. Du musst so tun, als ob es dir komplett egal ist. Schreib dir das hinter die Ohren, Dotscha.

Natürlich sagte sie nicht genau das, sondern etwas wie: Bind dir das gefälligst auf deinen Schnurrbart, Dotscha.
Die Redewendungen wurden bei uns noch immer frei aus dem Russischen übersetzt. Und diese mit dem Schnurrbart schien aus einer sehr alten Zeit zu stammen, als die Mushiks noch prächtige Bärte trugen.
Überhaupt war der Umgang mit Sprachbildern in unserer Familie eher kreativ. Wenn etwas erstaunlich war, standen wir davor wie die Kuh vorm neuen Tor. Bei uns waren auch überall Tretmühlen versteckt, wir wurden abwechselnd übern Kamm gekehrt oder über den Tisch gehauen. Vielleicht hatte diese Art, Dinge zu überlisten auch etwas mit unserer Herkunft zu tun? Der Trick, nicht nur Menschen, sondern Dinge bewusst zu schneiden, damit sie nervös wurden und dir hinterherliefen. Willst du was finden, hör auf zu suchen. Gab es dieses Konzept auch im Westen?

Als ich klein war, habe ich mir folgendes darunter vorgestellt: Dinge wollen verborgen bleiben, sie sind wie kleine Kinder. Spielen gern verstecken und freuen sich diebisch, wenn sie nicht gefunden werden. Tust du dagegen so, als würden sie dich nicht im Geringsten interessieren, geben sie ihr Versteckspiel auf und kommen schmollend wieder hervor. Das gilt für Gegenstände wie für Gedanken. Mit der Zeit wird das, was wichtig war, eh wieder angeschwemmt, das ist der Lauf der Dinge. Oft geschieht das ganz unerwartet, in einem unbedachten Moment.
Am allerbesten sei es, so hatte es mir meine Mutter beigebracht, wie es ihre Mutter ihr immer gepredigt hatte, etwas komplett anderes zu tun, beispielsweise sich hinzulegen und zu schlafen. Na warte, denke ich und setze mich aufs Sofa, wirst schon sehen. Mir doch egal, wo du bleibst und ob ich später Lust habe, mich überhaupt mit dir zu befassen, mal sehen, wer von uns sturer ist.

Erst mal ein kleines Schläfschen. Plötzlich erinnere ich mich an dieses Wort. So hatten unsere Eltern das genannt, ein Schläf-s-chen machen, mit falschem s mitten im Wort. Sie hatten diese Art, Worte zu verdrehen oder auszuschmücken, sodass sie unabsichtlich niedlich wurden. Bei uns gab es Millich zum Frühstück oder ein Gast hatte eine Mitbring-Insel dabei und Ohrringe waren im besten Fall mit Steinen verzerrt.
Erst mal also ein Schläfschen halten? Wie lang war das her, dass ich das so gehört habe? Irgendwann, beim Aufwachen, werde ich mich schon daran erinnern, was ich schreiben wollte. Die prophetische Kraft der Träume. In der Antike gab es ganze Traumzentren, wohin Menschen sich zurückzogen, um zu träumen, sich zu heilen, wieder klarzukommen. Ein Retreat auf Delphi, das wärs jetzt.
In einem russischen Märchen schläft der Held auf einem warmen Ofen aus Ton, der den gesamten Raum der Hütte einnimmt und die Lösung kommt zu ihm wie von selbst. In einem anderen bittet die Froschprinzessin den Prinzen, sich keine Gedanken zu machen und sich schlafenzulegen. Der Morgen ist klüger als der Abend. Schlafen als Lösung eines Problems scheint mir ein eher östliches Konzept zu sein. Zu wenig protestantisch, zu wenig an einem alles bestimmenden Arbeitsethos orientiert. Busy busy bis zum Burnout ist doch die Devise. Wie heißt noch gleich dieser faulenzende Mensch in einem alten russischen Roman? Habs gleich, Oblomow. Ich schau kurz nach, und siehe da, es gibt mehrere Dutzend Synonyme für Nichtstuer im Russischen, einer davon Leshebok oder Lesheboka, also Lieg-auf-der-Seite. Das, was ich gerade mache.
Ich browse weiter, im Deutschen gibt es mehr als 150 Begriffe für Faulpelz. Gewonnen!
Zugegeben, die Lieg-auf-der-Seite-Methode führt nicht immer zum unmittelbaren Erfolg. Vor allem nicht sofort. Es kann Stunden dauern oder sogar Wochen oder Monate, bis der verschwundene Gegenstand sich bequemt, wieder ins Bewusstsein zu dringen. Die Dinge sind bekannt dafür, dass sie solche Spielchen gern in die Länge ziehen. Also musste ich das Spiel mitspielen, um den verfluchten Gegenstand zu reizen. Ich legte mich wieder hin. Vielleicht macht ihn meine mangelnde Aufmerksamkeit mürbe und er tritt zwischen den Falten der Erinnerung hervor? Bis dahin würde mein Schreiben eben gegenstandslos bleiben. Reine Deko. Wobei, Dekoration ist in ihrer Dreidimensionalität doch auch irgendwie gegenständlich. Oder etwa nicht? Während ich so liege, huscht unvermittelt eine wabernde Kontur vor meinem inneren Auge, na, gleich habe ich dich! Ach, doch nicht. Zu flüchtig.

 

Melitta L. Roth

 

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07 | Sophia Fritz

Adventszeit

  1. Türchen

Lars und ich haben heute zusammen unsere Spuren in den Schnee geknirscht. Ich habe ihm gesagt, dass du mir früher immer einen Kalender gemacht hast und ich mir dieses Jahr zum ersten Mal selbst was ausdenken musste.

Die Handschuhe stören, also lasse ich sie irgendwann fallen und hoffe, dass in seiner Halsbeuge kein Tellereisen versteckt ist.

  1. Türchen

Ich habe heute solange Jonas gegen meinen Bauch gepresst, bis er mir erzählt hat, was ihn wirklich nicht schlafen lässt. Danach wusste ich nicht mehr, was ich sagen sollte. Ich habe ihn noch eine Weile gehalten, aber irgendwann ist er gegangen und ich glaube nicht, dass er wiederkommt.

  1. Türchen

Der Schnee ist wieder weg, aber seit dir bin ich es gewohnt, auf Dinge, die plötzlich verschwinden, nicht mehr zu reagieren.

Ich war im Club, ich war in seiner Hose, er hat meine Hände weggeschoben und meinte: Eins nach dem anderen. Ich dachte: Einer nach dem anderen, und seitdem du nicht mehr da bist, sind alle nur noch Andere nach dem Einen.

  1. Türchen

Mein Herz ist eine Lande- und Startbahn ohne Funktower, d.h. ab und zu Nachricht von Paul: Schön, dass ich mich ab und zu in dir ausruhen darf.

  1. Türchen

Du hast den Zweitschlüssel zu deinem Schrebergarten immer an verschiedenen Orten versteckt und das sagt mehr über dich und das Verhältnis zu deinen Ex-Freundinnen aus, als dir wahrscheinlich lieb wäre.

Ich stand in der Mitte des Raumes und habe vor Enttäuschung angefangen zu heulen, weil ich dachte, dein Lieblingsversteck und ich hätten mehr Gemeinsamkeiten, aber hier ist alles noch genauso ordentlich und aufgeräumt wie vorher.

  1. Türchen

Gestern Abend habe ich noch einen alten Schuh von dir gefunden, mit Schokolade gefüllt und vor die Tür gestellt. Der Hund hat heute Morgen alles aufgefressen. Jetzt liegen wir zu zweit auf dem Boden und haben eine Wette mit dem Schnee am Laufen, wer von uns dreien am längsten liegenbleiben wird.

  1. Türchen

Heute hat Daniel mir durch die Trennwand der Unitoiletten erzählt, dass er mein Herz erobern möchte. Ich weiß nicht, wie er sich das vorstellt. Eine ausladende Wüste zu bezwingen, oder mit Ritterrüstung und Helm und Lanze loszustürmen und ein brachliegendes Feld zu finden.

  1. Türchen

Du hast mich aufgeschraubt wie eine Flasche, du hast deinen Korkenzieher in meinen Schaumstoff gebohrt, wenn du betrunken warst, habe ich dich mein blaues Wunder genannt und du hast den Ausdruck auf die Liste der Klischees gesetzt, mit denen wir uns nicht weiter ruinieren sollten.

Mein Waschbecken fragt manchmal noch nach dir.

  1. Türchen

Julian kennt mich inzwischen aus allen Perspektiven, ich kenne seine Perspektiven und befinde mich in keiner einzigen davon.

 

  1. Türchen

Ich habe Matze heute wieder für deinen Unfall verantwortlich gemacht. Ich habe Angst vor dem Tag, an dem er mir glauben wird.

  1. Türchen

Ich habe heute an den Türen von Freunden geklingelt, bis einer aufgemacht hat. Ich bin jetzt meistens die, die am längsten irgendwo bleiben will.

Seitdem du nicht mehr mein Zuhause bist, fällt mir der Heimweg schwerer.

  1. Türchen

Drei Leute haben mir heute erzählt, wie viel ihnen meine Ratschläge in letzter Zeit geholfen haben.

Wie viele Türchen muss ich aus den Angeln heben, bis du mich so sehr hasst, dass du eine Petition gegen mich unterschreibst?

 

  1. Türchen

Beinahe hätte ich Oliver gefragt, wie er die Frau vor mir genannt hat. Ich persönlich ändere die Kosenamen der Männer jetzt, als müsste ich mir irgendwas beweisen.

Ich meinte zu ihm, dass es nichts zu sagen hat, wenn ich mir in den letzten Monaten keine Zeit mehr für ihn nehme und dass wir uns deshalb nicht weniger bedeuten.

Aber eigentlich wissen wir beide, dass einer immer mehr Umstände für den anderen eingeht und dass wir seit Jahren noch keine genauere Skala für Liebe gefunden haben.

  1. Türchen

Als ich bei den Kosenamen bis F durchgekommen bin, habe ich angefangen, zu googeln. Wusstest du, dass der erste Name, der angezeigt wird, ‚Herzblatt‘ ist? Es gibt noch 228 weitere lustige Kosenamen für Männer und Frauen auf www.flirtuniversity.de, also muss ich mir in nächster Zeit keine Sorgen machen.

  1. Türchen

Marta versucht immer herauszufinden, wie es mir wirklich geht, also habe ich ihr heute gesagt, dass sie zu dick ist und mich nie ganz verstanden hat, bis sie langsam angefangen hat zu weinen.

Du lässt plötzlich Dinge zu, die wir beide mir früher nie hätten durchgehen lassen.

Die Leute sagen, manchmal suchen einen Geister heim, aber die einzige, die noch nach einem Geist sucht, bin ich.

  1. Türchen

Deine Abwesenheit ist manchmal so präsent, ich würde ihr gerne Biotin-Tabletten geben, damit ihre Haare länger werden und ich sie endlich zu Abendveranstaltungen mitnehmen kann ohne mitleidig angestarrt zu werden.

Irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten und bin über das Klofenster nach draußen ge­klettert. Ich habe mich wie die Protagonistin eines Musikvideos gefühlt, für das ich mich selbst schämen würde, es in meiner Playlist zu haben.

  1. Türchen

Heute habe ich versucht, Gott mit einem Kissen zu ersticken, dabei weiß ich doch schon von zwei Dingen, die ganz sicher nicht existieren: Gott und sanfte Gewalt.

  1. Türchen

Tinder, aber für Verletzte. Tinder, aber für Romantiker. Tinder, aber als Kalender. Tinder, bis meine Fehler anfangen, aus mir zu lernen.

  1. Türchen

Heute bin ich mit einem Mann mitgegangen, auf dessen Jacke fett SECURITY draufstand, weil ich dachte, dass man sich sowieso nicht mehr wünschen kann. Ich war zu müde, um mit ihm zu schlafen, und als ich ein paar Stunden später aufgewacht bin, war er nicht mehr in der Wohnung. Den Stempel für den Club lasse ich mir jetzt immer direkt über den Pulsadern geben.

  1. Türchen

Anna hat sich heute in der Mittagspause zu mir gesetzt, weil sie sich Sorgen um mich macht. Anna weiß, dass ich mich früher meinen Problemen immer angenommen habe und jetzt selbst von meinen Problem genommen werde, meistens von hinten. Anna weiß nicht, wie sie mir helfen kann.

Ich vermisse deine Unterschrift auf meiner Daseinsberechtigung.

 

  1. Türchen

Es gibt einen Kurzbefehl, um mich zu öffnen und die Kombination der Tasten wird immer beliebiger. Ich will dir noch sagen: Ich weiß jetzt, du warst der eine Liebhaber, der mich wirklich lieb gehabt hat.

  1. Türchen

Weil in zwei Tagen Weihnachten ist, breche ich heute in den Antiquitätenladen ein und klaue eine Landschaft. Mein Leben ist ein eingefrorenes Bild und wenn alle Linien auf dich zulaufen, bist du immer noch meine Fluchtperspektive, selbst wenn du außerhalb des Rahmens liegst.

  1. Türchen

Ich wollte immer mein Leben in den Griff kriegen aber ich wünschte, ich könnte dich noch einmal mit beiden Händen in den Griff kriegen. Du bist immer noch der Mann meiner Träume und ich würde gerne mal wieder ruhig schlafen.

  1. Türchen

24 Menschen wie Türen aufgestoßen, 24 mal meinen Fuß im Spalt stehen lassen, aber ich finde noch nicht mal das Kellerfenster zu mir selbst, ich ziehe mich aus Affären und kann nicht aufhören dich mitzuschleifen.

 

Sophia Fritz

 

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