freiTEXT | Simon Loidl

Es war nichts

Wir saßen in Blickweite der Bar und warteten auf unser Essen. Wir sprachen kaum, denn wir hatten uns schon den ganzen Tag über unterhalten. Ich beobachtete die anderen Personen in dem Lokal, doch da gab es nicht viel zu sehen. Ein Mann ging an uns vorbei in Richtung des vorderen Teils, wo sich die Bar befand. Er blickte sich um, als wäre er ebenfalls zum ersten Mal hier. Weder vor noch hinter der Bar war jemand zu sehen. Plötzlich blieb der Mann stehen. Er schien etwas auf dem Boden zu betrachten, aber ich konnte nicht sehen, was. Nach ein paar Sekunden bückte er sich und hob etwas auf, das er in die Höhe hielt: eine oder zwei Spaghettinudeln, die offenbar beim Abräumen eines Tellers hier gelandet waren. Ich verstand nicht, weshalb der Mann die Nudeln aufgehoben hatte. Während er seine Hand, in der er immer noch die Speisereste hielt, wieder senkte, näherte sich in seinem Rücken, vom Eingang des Lokals her, eine Frau. Sie ging direkt auf ihn zu. Sie sprach ihn an. Ich hielt den Atem an, gespannt, wie sich der Mann aus der Situation herausmanövrieren würde, mit vom Boden aufgehobenen Nudeln ertappt zu werden. Ich weiß nicht, warum, aber ich war mir sicher, dass er die Nudeln in die Hosentasche stecken würde. Eine andere Möglichkeit sah ich nicht, wenn er nicht erklären wollte, weshalb er mitten in einem Lokal stand und Nudeln in der Hand hatte, die offensichtlich nicht seine waren. Doch der Mann machte weder das eine noch das andere. Er drehte sich um und grüßte die Frau. Dann wandte er sich zur Bar, legte die Nudeln in einen Aschenbecher, nahm diesen und trug ihn durch eine Tür, die hinter der Bar in eine Küche oder einen Abstellraum führte. Mir wurde klar, dass der Mann hier arbeitete. Ich begann wieder normal zu atmen, wandte meinen Blick von der zu Ende gegangenen Szene ab, blickte mein Gegenüber an und hob die Schultern.

„Was ist?“, fragte sie mich.

Ich schüttelte den Kopf.

Es war nichts.

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Simon Loidl

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