Das Freie

Wir lernen uns kennen an einem Abend, in einer Gasse. Sie steht zwischen zwei Mülltonnen und ich stelle mich dazu, es ist die Rückseite eines kleinen Bio-Ladens mit Café, es hat längst zu, wir sind hier, um Abgelaufenes abzuholen, uns verbindet die dafür entworfene App. Weil ich so etwas noch nie gemacht habe, weil Leute vorbeigehen und uns mustern, schwitzen meine Hände. Ich mustere Marlene, deren Blick in die Ferne gerichtet ist, war der Name tatsächlich Marlene? Sie trägt einen bunten, samtigen Body mit wilden Pflanzen darauf, er ist tief ausgeschnitten, zwischen ihren Brüsten ist der Kopf eines Schlangentattoos zu sehen. Um ihren Hals eine Kette, deren Anhänger in ihrem Ausschnitt verschwindet, als hätte die Schlange ihn gefressen. Marlene ist groß gewachsen, kurvig und war bestimmt schon einmal hier. Alles oder etwas an ihr zieht mich magisch an. Es kommen noch zwei andere und Stefan- der damals mein Freund war- der gar keine Lust darauf hat, das sieht man ihm an. Ich habe es vorgeschlagen, er sagt dann nicht ja und nicht nein, er kommt vorwurfsvoll mit. Während der Ladenbesitzer kommt, während er ein paar Sätze mit uns wechselt, uns mit ins Lager nimmt und dort Papiertüten mit Essen verteilt, sehe ich Stefan an und merke, dass er Marlene, nicht ansieht. Es ärgert mich, ich wünsche mir, dass sie seinen Blick anzieht wie meinen, dass er sieht, was schön ist. Wütend drücke ich ihm weiche braune Bananen in die Hand. Ich bemerke Schweißflecken auf seinem blauen Hemd, das auf einer Seite aus seiner Hose gerutscht ist. In diesem Moment finde ich ihn erbärmlich, ich starre auf Marlenes Haar auf dem Weg nach draußen. Die Tür schließt sich, wir gehen ein paar Schritte weiter zu einer Grünfläche und beginnen dort das Essen zu verteilen. Stefan sieht mit etwas Abstand zu, ich bin innerlich seltsam erschüttert von diesem Abend, Marlene wühlt in den Papiersäcken. Sie wühlt und wühlt als würde sie nach einem Schatz graben. Wie eine Piratin, denke ich, und dass ich gerne wenigstens Steuermann wäre und ich sage Stefan, dass er doch mit dem Moped schon vorausfahren soll, ich würde nachkommen, ich habe keine Lust mehr nachzukommen. Mit vollem Rucksack, einer Flasche Wein in der einen und einer goldenen Dose Sardinen in der anderen Hand geht Marlene los, ich frage in welche Richtung sie muss, ich sage, ich auch, sie wirkt nicht begeistert. Gemeinsam gehen wir ein paar Straßen weiter und dann den Kanal entlang und ich weiß nicht mehr, was ich mir erhofft habe. Marlene bleibt für einen Moment stehen, um die Dose zu öffnen und das Öl abzugießen, dann essen wir im Gehen die Sardinen und spucken die abgebissenen Köpfe in den Fluss, der sie vielleicht raus aus der Stadt trägt. Während wir ein bisschen reden, merke ich schließlich, dass da etwas Dunkles, Unerfülltes ist. Ob mich das angezogen hat, frage ich mich.

„Wie heißt du nochmal?“, frage ich sie.

„Marlene.“

Es ist ein weiter Weg in Marlenes Leben.

Ich war keine Ausnahme, wie alle anderen auch habe ich sie im Laufe der Zeit immer wieder verloren.

Vor drei Jahren, erfahre ich irgendwann, ist sie in Wien angekommen, hat begonnen Psychologie zu studieren, nach einem Semester gemerkt, dass es nicht das Richtige war und einfach weiter gemacht. Immer noch ist das Studium unsichtbar, die Bücher in ihrem Regal sind allesamt Thriller, die Prüfungen schreibt sie von anderen unbemerkt.

Auf allen Fotos und jetzt gerade lacht sie, hält sie mich mit den Augen fest. Sie hat die lauteste Stimme in der WG, aber sie schweigt viel. Ich schlafe mit ihrem Mitbewohner und höre sie spät nachts zur Toilette schlurfen.

Manchmal sehe ich sie tagelang nicht und wenn dann die Türe aufgeht, sind ihre Schritte langsam. Über den Winter ist sie schwerer geworden.

„Wir wollten doch segeln gehen.“

„Heute nicht. Vielleicht morgen, wenn der Wind geht.“

Oft steht sie unruhig im Raum. Wolken, die sie nervös machen, fettige Pfannen wütend, aber kein Schwamm und keine Kerze machen die Wohnung zu einem Ort, an dem sie sein möchte. Wochenlang ist sie hungrig und still.

Aber jetzt ist Frühling und morgen, wenn der Wind geht, nimmt sie mich mit an die Donau, auf das Segelboot.

Ich gehe schlafen, sie sitzt noch länger dort am Tisch. Morgen, denke ich und in meinen Ohren rauscht es.

Am nächsten Tag erzählt sie, dass sie spät nachts ein Geräusch gehört hat, zwischen zwei und drei Uhr, sie war lang wach und ist spät aufgestanden. Es hätte jemand etwas Großes aus dem Fenster geworfen. Und dass sie sich heute doch nicht nach Segeln fühlt.

Mit einer Einkaufstasche verlasse ich das Haus, da liegt vor mir auf dem Gehsteig in einer glitzernden Lache ein toter Fisch.

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Tara Meister

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