freiTEXT | Sean Keibel
Der junge Anwalt
In der Stadt hatte schon lange kein Prozess mehr stattgefunden; während die Stadt weiter und weiter angewachsen war, hatte man das Gericht darüber ganz vergessen und nie weiter ausgebaut. Es war noch ganz vom dörflichen Charakter geprägt, von der Gestaltung des Saales, der mehr einem Wirtshaus glich, bis zu der Kreidetafel hinter dem Richterstuhl, die die Punkte der beiden Seiten aufnahm, als wäre es ein Spiel. Für gewöhnlich wurden Streitfälle ausgelagert in die zweitgrößte Stadt im Kreis, wo man bei der Städteplanung weniger nachlässig gewesen war und zudem im Winter gut beheizte Bänke erwarten durfte; in dem nun vorliegenden Fall aber traten zwei einflussreiche Familien gegeneinander an, an denen sich die Nachbarstadt nicht die Finger verbrennen wollte. Es blieb also nur der alte Saal.
Angehörige beider Familien saßen zu beiden Seiten, prominent hervorgehoben ihre Oberhäupter, die als Ankläger und Angeklagte fungierten und neben ihren Anwälten leicht erhöht saßen. Auf den mittleren Bänken saßen unbeteiligte Zuschauer, hinter ihnen auf einer kleinen Tribüne die Geschworenen. Alles erhob sich, als der Richter mit seinen Dienern eintrat und vor der Tafel Platz nahm, die noch halb verblasste Reste von Prozessergebnissen aus alten Zeiten anzeigte. Man machte sich nicht die Mühe, eine gründliche Reinigung vorzunehmen – es hätte als ein Akt der Respektlosigkeit aufgefasst werden können –, und so nahmen zwei Gerichtsdiener, einer für jede Seite, statt eines Schwammes gleich ein Kreidestück in die Hand und gingen in Position. Der erste Prozesstag war noch ganz der Ausbreitung des Falles gewidmet gewesen, den Grundsätzlichkeiten, den unumstößlichen Tatsachen, der Vorstellung aller Beteiligten. Jetzt ging es an die Erörterung der Schuldfrage. Aus größtem Respekt wollte der Richter – er machte das gleich zu Anfang klar – so schnell wie möglich fertig werden, denn er fühlte sich verantwortlich für jede Minute, die dieser unwürdige Saal das Ansehen der Familien trübte. Da sich beide Parteien dasselbe vorwarfen, waren die Anwälte, die als Hauptakteure auftraten, sowohl Ankläger als auch Verteidiger. Beide hielten zum Auftakt eine feurige Rede, um diesen Umstand auch dem Letzten im Raum einzuschärfen, vor allem aber den Geschworenen, von denen alles abhing. Die ersten zeigten sich bereits sichtlich beeindruckt vom Redetalent der beiden Anwälte, was vom aufmerksamen Richter bemerkt wurde; das bedeutete die ersten Striche, einen für jede Partei; die Kreide knarzte wie auch die Zähne der Anwälte.
Anwalt A fackelte nicht lange und verkündete pompös, den Arm zum Seiteneingang ausstreckend: „Ich rufe den ersten Zeugen in den Zeugenstand!“ Es folgte das übliche Prozedere zum Einlass: Die Diener trugen einen zweckentfremdeten, vierteiligen Raumtrenner aus dicken Leinwänden mit Holzrahmen zum Eingang, ließen den Zeugen eintreten und klappten die Trennwand um ihn herum, sodass er wie in einer Box, die mit ihm mitgetragen wurde, sicher verwahrt und ungesehen zum Zeugenstand gelangte. Schon ging das Getuschel los, noch während des trägen Ganges. Handelte es sich um einen Mann? Zeuge, hatte der Anwalt gesagt. Verdächtig langsam kam die Kiste voran. Trug also die Person darin womöglich Stöckelschuhe? Aber man hörte nichts. Gefilzte? Gab das Tempo Aufschluss über eine mögliche Selbstunsicherheit? Wie viel Glaubwürdigkeit könnte man also dem Zeugen oder der Zeugin zugestehen? Vielleicht lag die Trägheit aber auch an der mangelnden Kraft oder Unbeholfenheit der Träger. Eine eindeutige Einschätzung war noch nicht möglich. Seinen vorherigen Fehler anscheinend bemerkend sagte Anwalt A nun korrigierend: „Möge die bezeugende Person bitte ihre Aussage machen.“ Der Richter sah von einem rückwirkenden tadelnden Kommentar ab und schaute stattdessen gespannt auf den Zeugenstand, der inzwischen ganz vom Sichtschutz umzäunt war. Man hörte das Kratzen einer Feder. War es ein zügiges, bestimmtes Kratzen? Ein beschwingtes Führen der Feder, das eine spontane authentische Aussage bedeutete – oder vielmehr ein unaufrichtiges Abstottern einer einstudierten, vielleicht eingeflüsterten Lüge? Höchste Konzentration herrschte in der Zuschauerschaft, die Geschworenen hielten sich nach vorne gebeugt in ihren Sitzen. Das Papier schlitterte unter der Trennwand hindurch, ein Diener preschte hervor, verursachte dadurch einen Windstoß, der es fast in die Menge blies – alle drehten sich weg und hielten einander die Augen zu, wie man es mit Kindern tut, um sie zu schützen, einige heulten auf. Der Diener bekam die Aussage rechtzeitig zu fassen, las sie und reichte sie mit einem vielsagenden Augenschwenk dem Richter. Dieser beeilte sich, sie ungelesen in einem bereitstehenden Schredder verschwinden zu lassen, ganz nach Protokoll, ohne auch nur einen halbsekündigen Blick darauf zu werfen; das Schriftbild allein hätte ja schon etwas Falsches aussagen können. Dann, noch während der Zeuge in der Kiste und der Zeuge der Aussage abtraten, machte er sich unter Stirnrunzeln daran, den Augenschwenk des Dieners zu interpretieren. Gleichzeitig war wieder ein allgemeines Geflüster zu vernehmen: Es wäre doch auf der Leinwand die Silhouette des Zeugen zu sehen gewesen, und sie hätte doch Bände gesprochen; nein, das sei nicht wahr, zu dick sei die Leinwand, und das mit Absicht, das Gegenteil zu behaupten wäre ja die Andeutung von Inkompetenz, eine Verunglimpfung des Gerichtes. Diesem gefährlichen Geflüster ausgesetzt befahl der Richter verantwortungsbewusst einem Diener, ihm die Ohren zuzuhalten. Sodann vollendete er seine Gedanken und warf ein Nicken in Richtung Familie A. Die Kreide knarzte an der Tafel, Familie A schlug sich jubelnd die Fäuste, wohingegen Familie B drohende Blicke auf den Richter warf; er aber reagierte mit einem entschuldigenden Fingerzeig auf die Seitentür, durch welche die zwei Zeugen bereits hinausgegangen waren und vor der bloß noch ausgedient die entfaltete Trennwand stand.
Anwalt B hatte keine Zeugen, die seiner Anklage oder Verteidigung dienlich hätten sein können. Dafür hatte er aber Indizien und sogar Beweise. Zuerst die Indizien. Eines nach dem anderen wurde hereingebracht. Es war ein sonderbarer und ganz und gar unschuldiger Anblick: Zahlreiche kleine Objekte, die auf Tabletts getragen und wie ein Menü auf dem großen zentralen Eichentisch präsentiert wurden, alle zwar von unterschiedlicher Größe, aber keines so groß, dass es nicht in zwei Handteller gepasst hätte – und jedes Indiz war abgedeckt mit einem weißen Tuch von so dichtem Material, dass es keine Rückschlüsse auf die genaue Form des darunter ruhenden Gegenstands erlaubte. Die schiere Anzahl war beeindruckend, es hatten bereits ein paar Eifrige zu zählen begonnen, da sagte Anwalt B mit erhobenem Zeigefinger: „Sechsundzwanzig Indizien, werte Damen und Herren Geschworenen.“ Die Zahl wanderte von Mund zu Mund. Ein Strich für Familie B. „Sechsundzwanzig Indizien“, fuhr er fort, davon mehr als ein halbes Dutzend, welche die Angeklagten unmittelbar belasten.“
Anwalt A warf ein: „Unmittelbar belasten? Euer Ehren, ich bitte zu fragen“ – der Richter winkte es durch – „was tun denn dann die übrigen?“
„Sie belasten die Angeklagten indirekt“, sagte Anwalt B.
„Will heißen?“
„Euer Ehren –“, wollte Anwalt B protestieren, aber da erkannte er an der Reaktion der aufgewiegelten Menge, dass sie eine Antwort brauchte. Er fasste sich, schritt zum Tisch und ordnete die Gegenstände, dass sich acht Stränge ergaben. „Acht der Indizien, nämlich diese hier vorne, belasten die Angeklagten unmittelbar. Die restlichen bekräftigen die Indizien.“
„Sind also Indizien für die Indizien?“
„Sie sind mehr als das, Herr Kollege.“
„Also Beweise?“
„Zu den Beweisen komme ich gleich.“
„Dann verstehe ich nicht, was Sie uns hier auftischen.“ Anwalt A war gut in Form. Er war ungefähr eine halbe Generation jünger als Anwalt B, aber das genügte schon, um mit einem ganz anderen Geist groß geworden zu sein.
Ruhig erklärte Anwalt B: „Ich versichere allen Anwesenden sowie dem ehrenvollen Richter, dass die achtzehn sekundären Indizien die acht primären Indizien hervorragend bekräftigen und bloß vorsorglich als Versicherung mit vorgebracht wurden, falls die primären entgegen aller Vernunft in Zweifel gezogen würden.“
Anwalt A trat an den Tisch heran und zog die Augenbrauen hoch. „Auf mich wirken sie nicht sehr beeindruckend.“ Sein Finger schwebte kreisend über eines der Objekte, ein überaus kleines, doch wagte er nicht, es probeweise zu berühren.
„Mit Verlaub, Sie können es nicht wissen“, sagte Anwalt B.
„Das stimmt“, sagte Anwalt A. „Alles, was wir haben, ist Ihr Wort. Aber haben Sie sich denn selbst von der angeblichen Schlagkraft dieser Indizien überzeugen können?“
„Diese Indizien“, schnaufte Anwalt B, „wurden im Vorfeld bestätigt und als solche hier akzeptiert. Wenn Sie also Zweifel daran aussprechen, kommt das einer Beleidigung des hohen Gerichts gleich.“
„Wenn die Aussagekraft Ihrer Indizien dem Gericht bereits bewusst ist, warum hielten Sie es dann eben für notwendig, diese dem Richter zu versichern?“
Darauf konnte sich der Richter kaum in seinem Sitz halten; der Diener deutete sein Stöhnen und verzeichnete einen weiteren Strich für Familie A. Wütend warf das Oberhaupt der Anderen die Arme in die Luft, fügte sich aber mit einem Augenrollen. Anwalt B, der in starkes Schwitzen geriet, sah sich um auf der Suche nach Zuversicht, fand aber nur die angespannten Gesichter der Geschworenen, geschmückt mit Zeigefingern, die über halbgeöffnete Lippen strichen. Wie zur Beschwichtigung ließ er seine flachen Hände auf und ab wippen, dabei befand er, dass es Zeit sei für die Beweise. Selbst seinen Kollegen schien dieser Ankündigung, dieser Begriff mit Respekt zu erfüllen, er hielt sich vorerst zurück. „Man bringe den ersten Beweis!“, rief Anwalt B aus voller Brust, und herein trug ein Diener eine weiße quadratische Box, deren Seitenlänge vielleicht drei Handrücken betrug. Vorsichtig stellte er sie auf dem Tisch ab, wobei er streng nach Regel peinlichst darauf bedacht war, in keiner Weise durch seine Körperspannung ihr Gewicht zu offenbaren. Natürlich wurde der Beweis eingehend gemustert, auch der Richter konnte sich dieser Versuchung nicht erwehren, vor allem aber die Zuschauer und die Geschworenen verzerrten ihre Hälse: Um wie viel größer mochte die Box sein als das größte Indiz? Bog sich die Tischplatte unter ihr vielleicht ein kleines bisschen? Wie weiß war das Weiß der Box, war es etwa getrübt, und hätte das ein verstecktes Anzeichen des unbekannten Verpackers sein können? Anwalt A presste die Lippen zusammen, als Anwalt B mit Genugtuung und auch Erleichterung die Wirkung des Beweises studierte und die nächsten Beweise auf den Plan rief. Einer nach dem anderen wurde hereingetragen von einer kleinen Karawane an Dienern, Box um Box, eine größer als die andere, und je größer die Beweise wurden, desto kleiner wurde der gegnerische Anwalt. Familie B zeigte sich überwältigt von dem absehbaren Sieg, die Kreide überschlug sich an der Tafel, und schon lehnten sich die ersten Geschworenen wie nach getaner Pflicht in ihren Bänken zurück – da geschah ein schwerwiegendes Missgeschick. Der letzte Diener hatte gerade die letzte und größte Box abgestellt und wendete den Oberkörper zum Abmarsch, da stieß er sie versehentlich mit dem Ellbogen an. Ganze drei Fingerbreit verrutschte die verräterische Box. Alles schnappte nach Luft; der Gerichtsdiener an der Tafel erstarrte mitten im Strich; die Geschworenen, die sich schon im Feierabend gewähnt hatten, sprangen unwillkürlich auf; selbst die Angehörigen der Familie A schlugen sich ungläubig die Hände vor den Mund.
Anwalt A warf mit triumphaler Vorahnung das Kinn in die Höhe und trat langsam wieder vor aus dem Hintergrund, die Hände hinter dem Rücken. „Man hätte fast einen Beweis erwartet“, sagte er mit einem theatralischen Kopfschütteln, „für den die Größe der Verpackung angemessen ist. Fast.“
„Sie wissen ja gar nicht um seine Größe“, beeilte sich Anwalt B festzustellen.
„Meinetwegen sei er so groß wie die Box“, sagte Anwalt A. „Dann muss er aber leicht wie Luft sein. Ich denke, ich spreche dem Gericht aus der Seele, wenn ich sage: Ich fühle mich ein wenig getäuscht.“ Aus dem Publikum kam noch unsichere, aber gefährlich aufschwappende Zustimmung.
„Was haben Größe und Gewicht mit der Kraft des Beweises zu tun?“, rief Anwalt B. „Worin sollte denn die Täuschung bestehen?“
„Oh, ich weiß nicht, Herr Kollege, aber der Großteil der Anwesenden hat anscheinend etwas anderes erwartet, als diese riesige Box herangeschafft wurde, und Sie können uns nicht weismachen, derartige Erwartungen nicht vorhersehen zu können. Da Sie also um den zu erwartenden Eindruck wussten, den die Box machen würde, haben Sie ihn gleichsam forciert.“
Fast legte Anwalt B, der sich hinter die Box stellte, seine Hand auf ihr ab, hielt sie aber gerade noch um eine Haaresbreite darüber in der Schwebe. Er wiederholte stur seine Frage nach der Relevanz für die Kraft des Beweises.
Darauf rief Anwalt A: „Weniger stand der Beweis in Frage als vielmehr Ihre Aufrichtigkeit, Herr Kollege. Was für eine Glaubwürdigkeit haben Ihre vorgebrachten Beweise und Indizien, wenn Sie keine haben? Was Ihre Frage angeht, haben Größe und Gewicht natürlich nichts mit der Kraft, wohl aber mit der Natur des Beweises zu tun. Da Sie so darauf herumritten, könnte man meinen, Sie wüssten etwas über seine Natur.“
„Sie, Herr Kollege, sind darauf herumgeritten! Und worin lag nun meine Täuschung? Ich habe niemanden getäuscht.“
„Über seine Natur haben Sie uns getäuscht!“
„Das habe ich nicht!“
„Und woher“ – Anwalt A sprang dem unglückseligen Kollegen jetzt fast ins Gesicht – „wissen Sie das?“
Es herrschte eine plötzliche Stille, dann wurde es ungestüm im Saal. Der Gerichtsdiener rechts an der Tafel trat über zu seinem Kollegen auf der linken Seite. Anwalt B öffnete den Mund, stammelte etwas, aber es hörte schon keiner mehr. Zu riskant war es, noch weiter diesem Mann zuzuhören, man hätte sich ja verdorben, und darum gab es mit einem Mal nicht ein einziges Paar Ohren mehr, das nicht von einem Paar Hände zugepresst wurde. Auch dem Richter waren erneut die Ohren bedeckt, als er den Hammer hoch in die Luft erhob und machtvoll sprach: „Der Anwalt soll kein Wort mehr sprechen, denn er ist befangen. Was sagen die Geschworenen?“
Die Geschworenen erhoben sich und bellten einhellig: „Schuldig.“
Den Hammer auf das Pult schlagend rief der Richter: „Ich verurteile den Angeklagten zur Reinigung und erkläre den Prozess für beendet.“
Somit wurden die Kreidestriche halbherzig weggewischt und vereinten sich mit den halb verblassten Ergebnissen vergangener Prozesse. Während man dem noch so jungen Anwalt A gratulierte, die Oberhäupter sich die Hände reichten und das Gericht sich langsam auflöste, wurde der arme Anwalt B, nachdem man ihm am Ausgang ein weißes Laken übergeworfen hatte, von allen Blicken geschützt abgeführt. Es hatte lange kein Prozess in diesem alten Haus stattgefunden, und es sah nicht danach aus, dass sich das ändern würde; darum packte der Richter nach dieser Ausnahme seine Sachen und kehrte zurück zu den höheren Gerichten.
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freiVERS | Philipp von Bose
Die kleinen Triebe
fast wie abdrücke der jungen jahre
liegen triebe zugewandt im wachstum meiner
hände
aus der nähe angesehn scheint ein lichter wald
(aus dem stumpf und all dem warten) kraftvoll aus sich selbst
zu gehen
selbst im schatten diesem kalten haus
treibt sie der wunsch von zeit geführt
die decke grün
dem licht zu geben
.
.
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freiTEXT | Valeska Stach
Die Qualle hat keine Stimme
Das Kind bekommt ein Aquarium ins Zimmer gestellt, nachdem es eines Nachts plötzlich nicht mehr atmen konnte. Es war, als wäre da einfach keine Luft mehr gewesen. Ins Aquarium wird eine Qualle gesetzt. Das Wasser, in dem die Qualle schwimmt, macht, dass die Luft wieder nachwachsen und das Kind besser atmen kann.
Das mit dem fehlenden Atem, das ist ein bisschen so, wie wenn da keine Worte mehr sind. Außer, dass das mit den Worten ständig so ist. Da sind eigentlich ganz viele Worte, aber sie passen nicht in den Mund oder der Mund passt nicht zu den Worten. Das Kind ist voller Worte, aber es hat nichts, womit es sie aussprechen kann. Es hat gar keinen Mund. Da ist einfach kein Platz. Kein Platz für etwas von diesem Kind in dieser Welt.
Die Tante mit den rot gefärbten Haaren ist eine böse Hexe, das Kind weiß es genau. Sie friert Kuchen in der Truhe ein und das Frieren des Kuchens kitzelt auf der Zunge, wenn man ihn isst. Und auch der Magen, in dem der Kuchen später liegt, beginnt zu frieren. Und die Kälte krabbelt bis hoch ins Herz. Das Kind stellt sich vor, es legt sich zum Kuchen in die Gefriertruhe und atmet weißen Kuchenschnee, durch die einfrierende Kehle.
Der gewölbte Körper der Qualle sieht hohl aus, er hält sich durch eine ungreifbare Hülle zusammen, die das Nichts in sich hineinfrisst und in sich zu einer dichten, glibberigen Masse zusammenpresst. Auch die Brust der Mutter wird langsam ausgehöhlt, von der schwarzen Knolle, die darin wuchert.
Das Kind kann erahnen, wie es sich anfühlt, im Bauch der Qualle zu sein. An der Unterseite ihres hängenden Magenstiels, dem Manubrium, befindet sich ihre Mundöffnung, die gleichzeitig ihr After ist und durch den sie ihr erbeutetes Fressen verschlingt und in den Magenstil würgt. Die Qualle hat kein Gehirn. Ihre Jagdinstinkte sind automatisiert. Die Nesselzellen auf ihren Tentakeln haben stielartige Cnidocil-Fortsätze. Diese stülpen, nach Aufplatzen der Kapsel unter einem Druck von hundertfünfzig Bar, rasend schnell einen Nesselfaden nach Außen. Feine, dünne Giftschläuche, setzen einen Widerhaken in das Gewebe ihrer Beute und injizieren das tödliche Sekret ins fremde Fleisch, pumpen ihr Opfer damit voll. Wie die Knolle. Auch sie streut ihr Gift ins Fleisch der Mutter. Und dann frisst die schwarze Knolle das vergiftete Fleisch auf, bis sie satt ist. Aber die Knolle wird nicht satt. Sie gräbt sich in die Brust der Mutter und wuchert darin mit ihren giftigen Fäden. Auch wenn man die Knolle herausgeschnitten hat, wachsen die Fäden in der Brust der Mutter weiter fort.
Unter Wasser beginnen die Haare der schwebenden Wasserbrust zart zu leuchten. Die Fäden schimmern hell, silbrig und bewegen sich im Rhythmus der Qualle, die mit ihrem runden, transparenten Körper und den flatternden Fadenhaaren lautlos durch die Tiefe schwebt. Sie wird fast unsichtbar im Wasser, sie ist perfekt getarnt. Das Kind denkt an die leergesaugte Brust der Mutter. Brusthülse. Sie wird nie wieder voll sein, voluminös wie Quallenfleisch. Das Kind drückt seine Finger an die Scheibe des Aquariums und malt die Bewegungen der Qualle nach. Es bilden sich Schmierlinien auf dem Glas. Das Kind denkt, wenn es die Qualle sieht, an eine schwimmende Silikonbrust. Es möchte sie aus dem Aquarium fischen und der Mutter an die kahle Stelle auf ihrer Brust legen.
Die Qualle schläft nie. Sie treibt mal regungslos durchs Wasser, dann lässt sie wieder eine Welle durch ihren Bauchkranz fahren und stößt sich ruckartig vorwärts. Der Schirm der Qualle wird von einem Ringmuskel zusammengezogen und ihr verformter Körper wird anschließend von der Stützschicht, die zwischen Außen- und Innenhaut liegt, wieder glatt gezogen und breitet sich zu einer faltenfreien, homogenen Masse aus. Dabei gleitet die Qualle lautlos durchs Wasser. Die Flüssigkeit, in der sie schwimmt, sieht in der Nacht fast schwarz aus, so dunkel ist es im Zimmer und das Aquarium verliert im Raum seine Konturen. Der pulsierende Quallenkörper pumpt sich vorwärts und dreht sich dabei immer wieder im Kreis. Das Kind schaut ihm zu, wie er bis zur unsichtbaren Grenze an der Wasseroberfläche vordringt und dann erschrocken wieder zurück nach unten treibt. Der Quallenkörper, der immer wieder zwischen dem Schwarz verschwindet, leuchtet milchig weiß durch die Scheiben des Aquariums. Er schwebt als Mond durch das Kinderzimmer.
Manchmal steht das Kind, wenn es nachts nicht schlafen kann, auf und geht zum Aquarium. Es greift mit der Hand ins Wasser. Der glibberige Quallenkörper glitscht durch die Kinderhand und die Hand hat Mühe, das Tier fassen zu bekommen. Wenn die Qualle dem Kind durch die Finger gleitet, greift es zu und quetscht die durchsichtige Fleischmasse mit der Faust zusammen, damit die Qualle nicht mehr entwischen kann. Dann hebt das Kind den kleinen Körper für einen kurzen Moment aus dem Wasserbecken. Als es Angst bekommt, die Qualle könnte sterben, lässt das Kind sie wieder ins Wasser plumpsen. Dabei stellt es sich vor, wie es sich mit dem kleinen, nassen Körper ins Bett legt, stellt sich vor, es presst die kalte Glibschkugel auf seinen Bauch und atmet ein und atmet aus.
Der Kuchen schmeckt nie. Er kommt nämlich aus der großen Tiefkühltruhe der Tante mit den rot gefärbten Haaren und ist kalt. Alle sagen, er wäre lecker. Das Kind sagt nichts.
Die Qualle hat keine Stimme. Sie ist stumm.
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freiVERS | Clara Dobbelstein
Das Nest
Sogar in meine hellsten Träume
Wirfst Du Dein grünes Schattenbild.
Und Deine Hände fahren durch das Laub
Wie früher – (damals beinah zärtlich) –
Durch Hecken meines Haargeästs.
Dein Griff wiegt schwer auf Lorbeerhaut,
Umschnürt wie Efeutaue meine Zweige,
Drückt mir die Luft aus den Organen.
Dein Kuss versickert als ein Bach
Im Labyrinth der Rindengänge.
Du warst schon immer halb ein Specht.
Doch als ich noch kein Lorbeer war,
Da ließ ich Dich in meinem Mund
Und meinen angewärmten Worten
Auch manchmal wie in einer Heimat nisten.
Ich baute Dir den Unterschlupf,
Die Welt blieb hinter einem Vorhang.
Durch meine Blätter blickst Du nicht
Nach draußen in die weite Ferne.
Du wartest immer weiter auf den Einlass.
Du pochst beharrlich, flehst und bittest –
Doch diesmal gibt es keine Tür für Dich.
So richte Dich im Schweigen ein
Und spanne Deine Blicke bis zum Morgen.
Vermische Deinen Schatten mit dem grünen Tag,
Und nicht mit mir und meinen hellen Träumen.
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freiTEXT | Katrin Oberhofer
Wie du bist, Orion, in einem Feld aus Gold
Das Gras steht hoch im Spätsommer, die Halme schon trocken. Auf manchen Wiesen ist der Mähtraktor schon gefahren, dem eine Reihe von Menschen vorangeht, die durch die Wiese, den Acker kämmt, um die Rehkitze und Hasen aufzuscheuchen, damit sie von den rotierenden Messern nicht zerfetzt werden. Frühmorgens passiert das, vor der Arbeit, aber jetzt ist es Samstagnacht, und die Nachtluft legt sich schwer vom Geruch des Heus auf die Landschaft. Wenn wir uns jetzt ins hohe Gras legen, droht keine Gefahr.
Dort, sagst du, ist einmal ein Birnbaum gestanden, doch vor vielen Jahren stürzte er um im Sturm, und dein Großvater hat aus dem wertvollen Birnenholz eine Bank gefertigt, die jetzt immer noch vor eurem Haus steht, obwohl der Großvater schon viele Jahre tot ist. Du erinnerst so viele Dinge in dieser Landschaft, von denen ich keine Ahnung habe, denn ich bin nicht von hier.
Wann immer ich dich treffen will, komme ich ins Dorfwirtshaus, am Samstag. Am Gang vor den Toiletten sind wir uns diesmal begegnet, voreinander stehen geblieben, weder ich noch du haben eine Ausweichbewegung gemacht. Stattdessen wenige Schritte aufeinander zu, die Körper greifen ohne Zögern ineinander, die Münder küssen. Meine Finger in diesen deinen langen, blonden Haaren, deine hellblauen Augen geschlossen. Nur dieser gegenwärtige Moment.
Komm, sagst du, und führst mich hinaus zu deiner Klapperkiste aus Rot und Rost und ich steige ein, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Die Hand in deinem Nacken, während du fährst, und ich weiß nicht, will gar nicht wissen, wohin.
Das Auto haben wir stehen gelassen an der Kehre, wo die asphaltierte Straße in einen geschotterten Waldweg mündet, und von dort aus sind wir den Hügel hinab gelaufen, gemeinsam haben wir die Mitte der Wiese gesucht, das Zentrum, gefunden in einer kleinen Kuhle, die sich in die Hügelflanke schmiegt, und uns einlädt zum Rasten.
Schau, sagst du, und deutest hinauf. Ich schaue zum Himmel, folge dem Fingerzeig. Orion und die Plejaden. Die Geschichte von den sieben Schwestern, sage ich, die von Orion verfolgt werden. Die älteste Erinnerung der Menschheit soll das sein, diese Geschichte. Es gibt sie in Europa, aber auch in Australien. Kennst du die? Du antwortest nicht, und auch ich verstumme, meine Stimme kommt mir zu laut vor, fühle mich wie die besserwisserische Studentin aus der Stadt.
Nun, da wir nebeneinander in der Wiese sitzen, und nicht fürchten müssen, dass uns jemand überraschen könnte, halten wir Abstand voneinander, die angebrochene Rotweinflasche zwischen uns. Du nimmst einen großen Schluck, hältst mir die Flasche hin, ich gieße Wein in mich hinein. Ob meine Lippen, meine Zunge blau verfärbt sind, frage ich mich. Ich stecke mir eine Zigarette zwischen die Lippen, hastig, damit kein Raum bleibt zum Küssen. Mit zitternden Händen fummelst du dein Feuerzeug aus der Hosentasche und zündest mir die Zigarette an, beide starren wir auf die Flamme, bis ich Rauch ausatme, den du mit dem Mund fängst.
Lachend lässt du dich nach hinten fallen, ins trockengelbe Gras. Zuerst ist es nur ein Summen, später ein Singen, deine Stimme rauh, so wie die deines großen Vorbildes. Du siehst aus wie er, sagen alle, und Gitarre spielst du auch, in den dunklen Himmel singst du hinauf: Take your time, hurry up, choice is yours, don't be late, take a rest as a friend ...
Das ist die Rolle, die du am liebsten spielst, wiedergeboren, sagst du, wenn du betrunken bist, in diesem Scheißkaff umgeben von Bergen. Endlich nicht gesehen werden. Die Bürde der Berühmtheit abgelegt. Du glaubst trotzdem, dass du mit der Stimme, mit der Nummer, jede haben kannst, die du willst. Ich frage dich nicht, warum du diese Vorstellung brauchst, die mir so kindisch vorkommt. Dass du ein früheres Leben abrufen könntest. Als wärst du nicht selbst genug.
Ich konzentriere mich auf deine Stimme, sie trägt mich, wenn ich zwischendurch die Augen schließe. Ich intoniere in dein Singen hinein, wir improvisieren zusammen, es wird eine harmonische Mischung, obwohl ich schon lange nicht mehr gesungen habe.
You'll remember me when the west wind moves
Come as you are, as you were
You'll forget the sun in his jealous sky
As I want you to be
As we walk in fields of gold
As a friend, as a friend
Gleichzeitig verstummen wir, lassen etwas verklingen in die Nacht hinaus, und du drehst dich zu mir, dein Kopf auf deinen Arm aufgestützt. Ich rücke näher, drücke mich an dich, und deine andere Hand legt sich zwischen meine Brüste, ruht da, sie streicht über die Länge meines Körpers, von oben nach unten, immer wieder.
Come as you are, sagst du.
Meine Stimme kommt dir entgegen, ganz fremd mit zu viel Atem, aber trotzdem klar: Nein, sage ich zu dir.
Keiner im Dorf würde mir dieses Nein abnehmen, das jetzt zwischen uns steht. Ich kann mir gut vorstellen, was sie über uns geredet haben, ab dem Augenblick, in dem wir das Wirtshaus zusammen verlassen haben. Wenn wir zurückkommen, werden sie sich das Maul zerreißen über mich, und dir auf die Schulter klopfen.
Du rollst dich weg von mir, lässt eine Körperbreite Abstand zwischen uns. Ich lächle dich an, suche deinen Blick, nehme deine Hand. Dieses Nein eröffnet einen Raum zwischen uns, der sich so weit anfühlt wie der Nachthimmel.
Wir schauen hinauf, zu den Plejaden.
Choice is yours, sagst du.
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freiVERS | Anna Lena Bercht
Zukunft
Zukunftsangst
Zukunftsangstunterdrückung
Zukunftsangstunterdrückungsstrategien
Zukunftsangstunterdrückungsstrategienmüdigkeit
Zukunftsangstunterdrückungsausbruch
Zukunftsangstkonfrontation
Zukunftshandeln
Zukunft
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freiTEXT | Sabrina Busch
Notausgang
Ich wollte niemals hier enden. Ich wollte Gründerzeit und Eisblumen an schlecht isolierten Fenstern, ich wollte offene Kamine und geheimnisvolle Dachböden. Verwinkelte Räume und enge Flure, vertäfelt mit dunklem Holz. Ich wollte verriegelte Türen und verschwundene Schlüssel. Ich wollte alte Fotografien und Zeitungsausschnitte, versteckt in den Fugen des Mauerwerks, wollte, dass das Haus erzählt von seiner Geschichte und den Menschen, die vor mir dort waren.
Aber jetzt bin ich hier. Bestens isoliert. Perfekt verputzt. Eine weiße, sterile Box, in der wir sitzen. Darauf warten herausgenommen zu werden. Wie Figuren eines Brettspiels.
In Gedanken ziehe ich durch meine Gründerzeitvilla, die Kriege und Brände, Familien und Vernachlässigung überlebt hat. Ich erzähle vom Brand, der den hinteren Teil der Villa zerstört hat, dem Teile des Dachs zum Opfer gefallen sind. Von dem Wintergarten, der dort angebaut wurde und durch den jetzt Licht strömt und alles erhellt.
In dieser Box hängen auf jedem Flur Poster mit grünen Linien und roten Kästen, Fluchtpläne. Neben dem Aufzug hängt ein Schild: Aufzug im Brandfall nicht benutzen. Gekennzeichneten Fluchtwegen folgen. Daneben läuft ein weißes Männchen. Sie versuchen uns zu retten. Aber die gekennzeichneten Fluchtwege führen ins Treppenhaus. Schutz ist für die Privilegierten.
Der Bau begann vor fünf Jahren. Das Ziel war barrierefreien Wohnraum zu schaffen. Sie schickten ein paar Bulldozer über einen alten Bauernhof weit außerhalb der Stadt und stellten diese Box auf. Applaus und Segnungsmarathon, oh welch Güte.
Niemand wollte so weit außerhalb der Stadt leben. Niemand zog ein. Außer wir, wir, die nicht in Häusern mit engen Fluren und knarrenden Treppen, die zu geheimnisvollen Dachböden und Kellern führen, leben können.
Zu Beginn kamen Reporter mit glänzenden Augen. Viele von uns waren wohnungslos gewesen oder hatten sich selbst verletzt, um Zeit im Krankenhaus überbrücken zu können.
Sie fragten: Ist das nicht wunderbar, dass ihr hier nun gemeinsam leben könnt?
Aber wir antworteten: Wir hätten gerne näher an der Stadt gewohnt. Dort wo alle anderen wohnen.
Sie runzelten die Stirn. Undankbares behindertes Volk, das wir sind. Sie kamen nie wieder.
Der Weg in die Stadt führt über eine kurvenreiche Landstraße. Die Frage, wie wir Besorgungen erledigen sollen, wurde mit Broschüren von Lieferdiensten, Fahrdiensten, die wir nicht bezahlen können und Online-Angeboten wie z.B. Livestreams von Sonntagsmessen beantwortet.
Und sowieso haben sie in der Stadt Misstrauen gegen uns gehegt. Wenn ich es bis dorthin schaffe, stecken sie die Köpfe zusammen, denken, ich könnte sie nicht hören: Oh, eine aus dem Wohnprojekt. Als wären wir Teil eines Experiments. Und vielleicht sind wir das auch. Vielleicht beobachten, studieren, erforschen sie uns in der Box. Aber dann muss ich lachen. Niemand schert sich einen Scheißdreck um uns, wer wir sind, was wir tun. Sie mögen, dass wir aus dem Weg sind. Und möchten, dass es so bleibt.
Als ich auf meinem Flur ankomme, steht die Wohnungstür der Nachbarn offen. Ich habe sie vor Wochen gehört, wie sie Möbel und Koffer hereingetragen haben. Gedämpfte Stimmen und seitdem Stille. Ich stecke meinen Kopf am Türrahmen vorbei.
Eine ältere Frau sitzt in einem Sessel. Sie hat einen winzigen, adretten Dutt und ihr Gesicht ist nur Knochen. Scharfe Kanten überzogen mit Pergamentpapier, wenn sie ihren Mund öffnet, erwarte ich ein lautes Knistern. Sie sitzt da, erhobenen Hauptes, die Lippen stramm über ihren Zähnen. Ihre Augen treten aus den Höhlen hervor, große dunkle Kugeln, als hielten sie an der Welt fest, während der Rest ihres Körpers langsam ins Nichts schrumpft.
Ich wollte an die frische Luft, aber weiter als zur Tür hab ich es nicht geschafft. Sie lässt sich in ihren Sessel fallen. Seufzt. Mein Stuhl frisst mich irgendwann noch auf.
Und ich sehe es vor mir. Wie die Ritze zwischen dem Sitz und der Rückenlehne hinter ihr klafft. Sie jeden Moment hinein saugen könnte. Sehe meine Nachbarin in tausend kleine Einzelteile zerfallen. Wie sie zerbröselt und sich in der Ritze sammelt. Wie Krümel.
Sie sagt, ihr Name sei Alma. Sie erzählt von ihrer Wohnung in der Altstadt. Meine Badewanne war sehr tief, hatte wunderschöne, gusseiserne Klauenfüße. Ich kam da nicht mehr alleine raus. Meine Tochter sah die Anzeige. Und jetzt bin ich hier. Es soll ein Bericht über das Haus und mich geben. Meine Tochter hat zugestimmt. Jetzt kommen irgendwelche Leute von der Zeitung morgen hierher… ich wünschte, ich könnte mich in meiner Badewanne ertränken, aber diese ebenerdigen Duschen hier haben den effizientesten Abfluss, den ich jemals gesehen habe.
Was für einen Bericht denn?
Ich soll das Projekt loben, beteuern, dass wir alle glücklich und zufrieden sind.
Das ist schrecklich, Alma.
Es ist ein gottverdammter Alptraum.
Warum sagst du es nicht ab?
Sie zuckt mit den Schultern, überlegt, wartet, antwortet: Manchmal gehe ich am Fenster vorbei und kann mein Spiegelbild nicht sehen. Ich kriege Panik, dass ich einfach verschwunden bin. Ich gucke dann nochmal hin, versichere mich, dass es mich noch gibt.
Die Leute von der Zeitung kommen am Nachmittag. Auf dem Parkplatz haben wir einen Grillabend organisiert, alle sind dort, decken Tische, tauschen Salatrezepte aus. Die von der Zeitung lieben es, machen Fotos, fühlen sich bestätigt. Beschwichtigt. Wir leben unser bestes Leben hier.
Dann marschieren sie durch die Box, schleppen ihre Ausstattung und ihre Leute an.
Wir beide verstecken uns hinter meiner Tür. Alma steht, Hand auf der Türklinke, angelehnt an den kalten Lack und späht durch den Türspion. Ihre Tochter schließt Almas Wohnung auf. Sie gehen rein. Wir hören ihre Rufe.
Alma öffnet die Tür und wir schauen hinüber zum anderen Ende des Flurs. Dort steht der Umzugskarton. Alte Zeitungen, einen Weidenkorb, ein paar Pullover, getränkt in Nagellackentferner, einen synthetischen Vorhang. Ich bahne mir meinen Weg, vorbei an Almas Wohnung und spritze etwas von dem Grillanzünder, den ich von unten hab mitgehen lassen, über den Läufer vor der dritten Wohnung auf diesem Flur und in den Karton. Sicherheitshalber entleere ich die Flasche über der Wand und dem nächstbesten Türrahmen. Ich zünde ein Streichholz, lege es sanft ab und kehre zu Alma zurück.
Von der Türschwelle aus beobachten wir, wie alles entflammt. Zuerst recht langsam, dann erwachen die Flammen zum Leben. Fressen sich in die Wand, krabbeln die Fußleisten entlang, klettern am Türrahmen hinauf bis hin zur Decke. Der Rauchmelder dreht auf und bohrt uns Löcher in den Kopf. Sie laufen aufgeregt in den Flur. Während sie sich umsehen, streifen sich unsere Blicke. Sie laufen zurück in die Wohnung, greifen nach Taschen und Jacken, kommen vollgepackt wieder in den Flur. Wir wissen nicht, ob sie nach dem Feuerlöscher Ausschau halten. Wir haben ihn als Geisel genommen, er liegt unter einem Haufen Handtücher in meinem Badezimmer. Doch vielleicht benebelt sie der chemische Geruch des Grillanzünders, vermutlich brennt auch ihnen die Kehle vom schwarzen Rauch, der sich gegen die Wände unseres Flurs presst.
Das Feuer kriecht über den Läufer, kommt auf uns zu, es drängt uns alle vor die Tür, über der das Notausgangschild leuchtet. Sein grünes Licht verspricht die Erlösung. Und während die ersten die Türe aufdrücken, ins weiße Licht des Treppenhauses strömen, bleiben wir zurück.
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freiVERS | Rosen de Almeida
alle tage
-1-
kochen
putzen
kissen sein
und was weh tut
den kopf den rücken die füsse nicht
anfassen
in der nacht steigt der pegel
ich dreh
den hals
und es knirscht
bis ich
im sand
eine position finde
in der ich von den zumutungen der alpen
träume
-2-
in der frühe lüften
bedeutet die nacht hereinzulassen
und damit die einladung sich vom tag
abzuwenden
vom aftershave des nachbarn
vom rauch der frühschicht
vom müden trab
der ersten
die den bus
noch erwischen
wollen
ich schüttle
kissen
decken
und mich aus
auf
-3-
auf einmal
schlägt der wind das fenster
zu
der rabe erschrickt
und fliegt davon
die wolken
bauen
türme
im letzten licht
während
das spülwasser
kalt
wird
ich schaue
in den himmel
dann
in jeden topf:
die
gurken kommen, der
basilikum
-4-
die nacht schaut zum fenster rein auf das sich
re
gen
trop
fen
ge
legt
ha
ben
wie
schup
pen
eines müden falters
es gibt nicht viel zu sehen: ein bett
ein lichtkegel
pantoffeln
ein ladekabel,
ein glas mit medizin
.
.
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freiTEXT | Michael Hirle
Rehgefühle
Wir zählen Rehe, ich kam auf fünf.
Die Zugfahrt sparte nicht an Bildern.
Kniend jedes Bild vor dem Altar abgenutzter Sinne.
Nebel in jedem Bild, manchmal glaube ich, er wäre schon auf meinem Auge.
Die Wälder, die sich namenlos entlang der Felder falten,
mühen sich nicht um Klarheit, unterbrochen von morschen Zäunen, die wohl schon viele Winter sahen und vor ihnen in die feuchte Erde sanken, jetzt sind sie würdig auf Augenhöhe.
Krähen oder sind‘s Falken, die auf den Pfählen wie ungedrückte Knöpfe hervorstehen und warten, warten.
Ob sie gedrückt werden, ich werde es nicht erfahren,
der Gedanke kehrt ins Schattenreich, wie so vieles auf dieser Fahrt.
Wenige Minuten noch, dann sind dort wieder Häuser.
Dieses unnatürliche Grau, das Wehmut weckt,
dieselbe, die mich auf Reisen schickte.
14 Rehe sagtest du. Vielleicht ist es die falsche Tageszeit. Zu hell für Mut.
Irgendwo ist dann das Meer.
Ich hoffe auf Alternativen, etwas, was man als Reh durchwinken könnte,
im schnellen Blick aus beschlagenen Fenstern.
Ich lege noch etwas Hauch darüber. Ja, dies könnte eines gewesen sein. 4.
So genau musst du es ja nicht wissen.
Der Zug wird langsamer, die Bilder deutlicher, die Mogelei würde jetzt auffliegen,
zum Glück gibt es keine Zeugen, nur ich und mein Gewissen.
Letzteres ist streng, die Vier ist in seiner Gegenwart nur schwer auszuhalten.
Wir warten auf einen Gegenzug, das Feld ist offen,
der Wald ist nah und es gibt keine Zäune, vielleicht gibt es etwas Glück, das ein Reh hervorlockt. Kurz bevor mir ein Ruck die „Wahlverwandtschaften“ vom Schoß schiebt,
meine ich etwas zu sehen, das mehr ist als unbewegtes Braun.
Doch, das ist meine Vier, ganz ohne schlechtes Gewissen. Ich schlafe ein.
In einem Zug scheint sich viel Müdigkeit zu sammeln.
Ich nehme sie in mich auf, trotz Schal und dicker Jacke.
Wieder ein Ruck, diesmal einer, den ich mir selbst sandte, schnell die Mundwinkel abtasten,
ob dort etwas Warmes … und der Blick nach links, ob da jemand lächelt …
Vor dem Fenster eine andere Welt, eine, die ich nicht wählte,
aber sie ist und sie ist mit Gleisen bedeckt, Striemen vieler Sehnsüchte.
Du wartest am Bahnsteig, als blättere sich die Welt an dir vorbei,
reglos und zart und mit einem Lächeln.
Kein Reh, aber ein Rehgefühl.
5.
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freiVERS | Fabian Lenthe
Wie lange wir wohl
Geradeaus hätten fahren können
Während wir einander geküsst hätten?
Und ich denke dabei an das Kleid
Und ihre Haare
An den Fahrtwind
Und die Zigarette
Die sie sich anzündete
Als wir knapp zweihundert fuhren
Dann fragt mich jemand
Ob dies die Linie
Richtung Friedhof sei
Und ich antworte ja
Und sehe auf die Uhr
Und sage
Kommt in zwei Minuten
Und wie immer
Beginnt es zu regnen
.
.
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