freiTEXT | Lina Leonore Morawetz
Voralpen
Vor einigen Wochen fuhr Salma, Studentin der Zeitgeschichte, frühmorgens mit dem Zug in die österreichischen Voralpen zu den Dörfern Trattenbach, Puchberg, Otterthal.
Trattenbach, Puchberg, Otterthal, wie Wittgenstein, dachte sie.
Der Gedanke an den österreichischen Philosophen, er hatte in den Dörfern Trattenbach, Puchberg und Otterthal unterrichtet, entkam ihr im Dämmerschlaf und flatterte nun durch die Sitzreihen der alten Zuggarnitur wie ein aus der Hand gerutschtes Vorlesungsmanuskript.
Der Zug ruckelte, Salma blinzelte, ihr wurde warm. Sie öffnete ihre Kapuzenjacke, stand auf und zog das Zugfenster gegen den Widerstand der Schienen am polierten Griff fest hinunter. Für einen Moment blieb sie in der frischen Luft stehen als flöge ihr mit dem Wind auch die Zukunft entgegen.
Später warf sie einen verstohlenen Blick auf die Frau, die ihr gegenüber saß und von den ersten Sonnenstrahlen beleuchtet wurde. Sie schien zu schlafen, zumindest waren ihre weichen Augenlieder zusammengekniffen. Salma schätzte sie auf das Alter ihrer Mutter, aber außer dem Alter hatte sie kaum etwas mit ihrer Mutter gemein.
Die Frau trug schwere Stiefel und ihre Mundwinkel zuckten leicht nach unten, weißes Haar fiel wirr über ihre Schultern. Ihr Kopf sank langsam Richtung Zugfenster, als wollte sie mit geschlossenen Augen in die vorbeiziehenden grünen Wiesen eintauchen. An ihrem rechten Ohrläppchen blitzte zwischen den weißen Haarsträhnen ein großer glänzender eierschalenfarbener Perlenohrring, der das Neonlicht des offenen Abteils spiegelte.
Salma riss sich von dem Glänzen los und sah zur anderen Seite aus dem Fenster, wo sich im Tau des späten Sommers entlang der Gleise dunkles Waldgras neigte und in krummen Obstbäumen vor einer Handvoll weißgetünchter Bauernhöfe unzählige rote Äpfel in der Morgensonne leuchteten. Meine Mutter habe ich noch nie so angesehen, dachte Salma, ließ aber ihre Gedanken bald im Schatten der Hügel und Wälder zurück. Das Blau des Himmels sprach von Veränderung.
Während die Gegend an ihr vorbeizog wie ein langer verschlungener Satz, fiel Salma, überwältigt von der Welt und vielleicht auch vom Perlenohrring, zurück in ihren Dämmerschlaf.
Nicht nur Mütter, dachte sie nun aber doch wieder, während sie in den unsicheren Schwebezustand des Halbschlafs glitt, haben ein untrügliches Gespür für die Schlaf- und Wachzustände ihrer Töchter, auch ich spüre noch die kleinste Regung meiner Mutter bis in die innerste Faser meines Körpers, und das Schlimmste ist —
Die Frau räusperte sich. Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und muss gesehen haben, wie Salma blinzelte, sich in ihrem Sitz aufrichtete und schnell auf ihr Handy schaute. Aber sie schien nicht vor zu haben, sie zu fragen, wohin sie unterwegs war, sondern blickte stattdessen hinaus auf die inzwischen zerklüftete Berglandschaft. An ihrem filigranen, mit Sommersprossen gesprenkelten Handgelenk trug die Frau eine rote Plastikarmbanduhr mit weißem Ziffernblatt und eckigen Zeigern.
Abgesehen vom Blinzeln und vom Ablesen der Uhrzeit von ihrem Handy (acht Uhr einundfünfzig) hatte Salma nichts zu tun und sank wieder in ihren Sitz zurück. Als sie kurz darauf die Sommersprossen der Frau und dann die rote Armbanduhr bemerkte, stellte sie verblüfft fest, dass die Uhr ihrer Nachbarin fünf Minuten nach neun Uhr anzeigte. Plötzlich war Salma hellwach.
Die Uhr der Frau ging fast genau zehn Minuten vor.
Eindeutig zu viel, um einfach nur ein bisschen falsch zu gehen, fand sie.
Neugierig folgte sie dem Blick der Frau, die mit glänzenden braunen Augen durch die Spiegelung des Fensters nach draußen starrte und gebannt auf die rundlichen grünen Gipfel und langen Täler schaute.
Weit in der Ferne schwebte im blauen Himmel über einem bewaldeten Bergrücken eine kleine wattige Wolke.
Wie das Leben eines Menschen löste sich die Wolke nach einer kurzen Weile zuerst in weiße Büschel und dann in Luft auf.
Der Waggon ruckelte, die Frau wurde von einer Überleitstelle jäh aus ihren Gedanken gerissen. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und musterte dann interessiert Salmas abgetretene Bergstiefel, die an der Sitzbank direkt vor ihr standen, und räusperte sich ein weiteres Mal ziemlich laut. Salma hatte sich eben hinuntergebeugt, um ihre Schuhbänder zusammenzubinden. Ihr streng gescheiteltes langes braunes Haar fiel leicht nach vorne und verdeckte ein wenig ihr Gesicht.
Als sie sich wieder aufrichtete, tauschten die Frauen einen Blick aus, ein graues Tier, das für einen Moment zwischen ihnen hin und her lief, bis es sich schließlich schwerfällig auf den scheinbar soliden Zugboden fallen ließ.
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freiVERS | Jürgen de Bassmann
In digitalen Volieren
Wie Kolibris in digitalen Volieren –
So viele, dass man sie nicht unterscheiden kann.
Symbole, Siegel und Bordüren.
Beständig schau’n mich neue Zeichen an.
Sie mischen sich hypnotisierend
zu schillernd bunten Bilderschlieren,
zu Wolken aus lackierten Federtieren.
Ich werde mich in ihnen – und sie sich in mir – verlieren.
Ein Balken zeigt den Fortschritt an.
Ich kann die feinen Daunen mit den Fingerspitzen spüren.
Wie Transplantate haften sie mir an
und lassen mich im Inneren vibrieren.
Ich fühl die kleinen Federkiele subkutan,
wie sie mich Stück für Stück assimilieren
und wie sie leise schwirrend ihren
Gefiederschmuck in meine Haut gravieren.
Ein Balken zeigt den Fortschritt an.
Ich bin in sie – wie sie in mich – tief eingedrungen
und finde einen weitverzweigten Plan.
In ihren Plasma-Schwarm gezwungen,
gefangen auf der goldnen Leiterbahn,
durch ihre zarten Schwingen eng umschlungen:
Jetzt stellen sie die Forderungen.
Ein Balken zeigt den Fortschritt an.
Sie bauten mir ein hartes Nest aus Silikaten,
verlötet, kalt und filigran.
Bin abgelegt auf ihren Speicherkarten,
die letzten Konnektivitäten sind vertan
und ich kann nur noch auf den Download warten.
Ein Balken zeigt den Fortschritt an.
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freiTEXT | Sarah Veronika Niklowitz
Nachtruhe!
Der Sonntag hängt noch in den Knochen, ist es wirklich schon Montagabend? Augenblicke zuvor lief der Abspann des Tatorts, wieder nicht richtig hingesehen, das Warten auf diese eine Nachricht geht schließlich schneller, wenn man immer wieder die zuletzt gewechselten Worte liest, analysiert, liest, den Fehler in den eigenen Worten sucht, im Hintergrund ermitteln Boerne und Thiel. Sicher macht ihnen meine Unaufmerksamkeit nichts aus, doch hin und wieder spüre ich ermahnende Blicke, die sich über den großen Bildschirm in meinen Kopf telepathieren. Sie verurteilen meinen Blick auf den kleinen Bildschirm in meiner linken Hand, ein Versuch von „Mir doch egal“, der kläglich scheitert, denn mir ist viel egal, aber nicht die Finger, die diese Nachricht tippen. Welche Nachricht?, fragt Thiel mit heiserem Lachen und für einen mikroskopisch kleinen Moment starren wir uns an. Ich kneife die Augen zusammen. Mistkerl, was fällt dir ein, dich lustig zu machen über eine Liebeskranke. Geht’s hier überhaupt schon um sowas Großes wie Liebe oder die Angst nicht herausfinden zu können, ob dieser Zustand hätte eintreten können? Wann genau wurde der gemütliche Sonntagabend mit Verbrechen und Schnittchen auf dem Sofa von diesem Trauerspiel aus Starren und Seufzen abgelöst?
Montag, es ist Montag, nein es war Montag, aber er ist ausgefallen. Diese Woche gab es keinen Montag. Was wie Musik in den Ohren der meisten Menschen klingt, die ein halbwegs geregeltes Leben führen, habe ich einfach verpasst. Schuld ist eine Sonntagnacht, die keine war. Nächte sind entweder ruhig oder berauschend, per Gesetz, doch diese war einfach nur laut und gleich in welchem Rhythmus ich sie auch abzuschütteln versuchte, sie blieben. Bilder, Stimmen, Gedanken, Szenen, von denen ich mir nicht mehr sicher bin, ob sie wirklich so geschehen oder das Produkt meiner Geisteskrankheit sind. Eine rauschende Party, Rotkäppchen-Korken knallen zu schlechter Musik, sie feiern, als gäbe es kein Morgen.
Nachtruhe!, schreie ich, es ist Nachtruhe! Ich erschrecke selbst davor, wie kleinkariert ich klinge, aber ich will doch nicht mehr als Ruhe. Stattdessen schweißgebadete Tumulte in zart geblümter Bettwäsche, nicht die von der guten Sorte. Ich gebe auf, Position Fünfundneunzigeinhalb erzielt nicht den gewünschten Effekt. Ein Seufzen, ich richte ich mich auf, schiebe den Vorhang zur Seite und wickle die Decke um die Schultern. Salz aus Schweiß und Tränen vermischt sich mit Aprilfrisch-Wäscheperlen-Duft. Nicht ein Licht im Plattenbau gegenüber. Ein Gefühl der Unmöglichkeit macht sich in mir breit, wie kann es sein, dass diese Stadt schläft? Ich möchte sie wachrütteln und weine ihr ins Ohr, du hast mich vergessen, wie kannst du einfach schlafen ohne mich! Das ist nicht real, diese Situation kann nicht echt sein. Ich träume. Es ist nur ein böser Traum, gleich mache ich die Augen auf und sehe Lichter in den Fenstern gegenüber, höre eine Autotür im Parkhaus unter meinem Fenster, gleich… tiefschwarze Stille. Das Einzige, was eingeschlafen ist, sind meine Beine, ich knie seit zwei Stunden auf dem Bett vor meinem Fenster und starre nach draußen, wo nur der Fernsehturm sein rotes Nachtlicht in die Dunkelheit sendet.
Ich werde wütend auf meinen Nachbarn, der immer, wenn ich schlafen könnte, viel zu laut ist und jetzt möchte ich ihn wecken und ihm sagen, er soll verflucht nochmal seine hässliche Musik einschalten, damit ich nicht verrückt werde. Morgenrot erwärmt meine rechte Gesichtshälfte. Licht und Schatten passieren wieder. Mülltonnen werden unsanft über den Hof gezogen, das penetrante Piepsen eines Rückwärtsgangs lässt mich erleichtert in die Kissen sinken. Endlich Ruhe.
Montagabend, Panik macht sich breit. Was erwartet mich in der Nacht nach einem Tag, der nicht stattfand? Melatonintabletten, abgelaufen, also lieber eine mehr mit zimmerwarmem Leitungswasser in den Körper schicken, mit True-Crime und buntem Flimmern für Ruhe sorgen, das Beste hoffen.
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freiVERS | Antonia Kranebitter
Hitzegedanken
Ta peau sur la mienne
brennender Mülleimer am Straßenrand,
ich nehme deine Hand und sage,
mein Herz, mon cœur,
nous sommes si forts ensemble
nos voix qui chantent comme d’une seule bouche
désobéir une première fois
Augustblick aus dem Autofenster,
wenn Straße zu See verschwimmt
das Wasser geht zurück
une masse infinie d‘hommes gris
ils veillent à l’ordre
et laissent un chemin de douleur derrière
Ein Reigen aus Körpern,
sich reibend und gleitend
und stapfend zu wimmernden Beats
Tes mots qui laissent des traces rouges
en moi, d'abord j'étais trop
maintenant pas assez
deine Haut auf meiner
lass mich in deinem Schatten ruhen
die große Hitze wird kommen
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freiTEXT | Paul Hoban
Der Fingerhut
Ich könnte ihn abschneiden. Nutzen tut er nicht mehr. Seit dem letzten Sommer. Er sieht passabel aus, die Narben sind kaum sichtbar. Aber nutzen tut er nicht mehr. Also weg damit. Nur wie viel? Die Frage ist nicht nur ästhetischer Natur. Die Frage ist vor allem eine praktische. Wie jeder anderer meiner Finger sollte auch dieser, der rechte Ringfinger, nur einen einzigen Zweck erfüllen. Sie alle als Gefüge zu betrachten, das ist heutzutage nicht mehr haltbar, und es würde mein Dilemma auch nur unnötig verkomplizieren.
„Hallo, können Sie uns endlich helfen?“
Lass sie reden, sie verstehen nicht. Langsam. Weniger Worte, weniger Gedanken. Einer nach dem anderen. Finger, Ringfinger. Ab. Wie viel? Genau, da waren wir. Wie viel spielt keine Rolle. Taub ist jede Kuppe. Seit dem letzten Sommer. Auch jetzt wird es langsam heiß.
„Papa, mach, dass wir reinkommen, ich muss Pipi und du hast versprochen, dass wir dieses Mal“ –
Hör nicht hin, sie haben Zeit, du hast Zeit, Zeit spielt keine Rolle. Sechzig oder siebzig sind heute schon hineingestürmt, dein Tagessoll ist längst erfüllt. Also zurück. Wohin? Zurück zum Dilemma. Ab – wie viel? Man muss vieles berücksichtigen. Zwei Kuppen sind noch funktional, doch eine? Du wirst sagen: Es gibt doch noch die anderen Finger! Hörst du nicht zu? Jeder einzelne hat seine Aufgabe. Der Zeigefinger juckt den Bart. Der Mittelfinger drückt die Knöpfe. Der kleine Finger achtet auf die Windrichtung. Der Daumen –
„Sie da, wenn Sie Mittagspause haben, dann schicken Sie gefälligst jemand anderen! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit, und die hinter uns mit Sicherheit genauso wenig!“
Ich betrachte den Daumen. Einen habe ich noch. Der andere wurde abgekappt. Mehr oder weniger sauber einmal durch. Das war vor drei Sommern. Letzten Sommer dann fast derselben Vorfall, diesmal nur der Ringfinger. Merkwürdig, ich weiß: der Ringfinger ist drangeblieben. Ist jetzt taub, doch hat dem Metall standgehalten. Der Daumen, viel dicker, viel stärker, war direkt ab. Ich habe ihn noch, in einer Dose mit Watte. Ich öffne die Dose nur selten, trotz aller Pflege ist der Geruch nicht der beste. Trotzdem hat auch er eine Funktion, der Daumen in der Dose, ich diskriminiere nicht zwischen Fingern an der Hand und Fingern in der Dose. Der Daumen in der Dose ist vielleicht sogar wichtiger als der an der Hand, denn –
„So, jetzt reichts.“
Ich drehe mich und schaue aus dem Fenster meines Häuschens. Ein Mann hebt ein kleines Mädchen über das Drehkreuz, wirft sie fast. Das Mädchen fängt sich, als habe sie es genauso schon tausendmal getan. Ich hebe die Fensterscheibe und betrachte den Mann vorm Drehkreuz.
„Na, und wer hebt jetzt Sie drüber?“
Er schaut mich böse an.
„Machen Sie mir jetzt die Tür auf oder nicht?“
Ich grinse.
„Wir haben bezahlt, Freundchen!“
Ich stehe auf, gehe nach draußen, öffne mit dem Schlüssel die Tür neben dem Drehkreuz und schließe sie hinter mir. In meinem Nacken spüre ich den Blick des Mädchens.
„Sie wollen also wirklich, dass ich durch das Drehding gehe, ja?“
Ich gehe zum Drehkreuz, grabe mit dem Schuh unten den Schlamm und Kies weg, der das Kreuz blockiert.
„So, jetzt können Sie gleich – nicht so schnell!“
Ich hebe den linken Zeigefinger. Der rechte wäre missverständlich, der linke gebietet dem Wüterich ausdrücklich Einhalt.
„Sie warten kurz, ich gehe zurück in mein Häuschen, dann schalte ich sie frei. Solche Hast wie Ihre hat mich schon mehr als einen Finger gekostet.“
Der Mann schaut verwirrt, ich zeige ihm den Daumenstummel an der rechten Hand. Er staunt. Ich lächle und gehe zurück ins Häuschen und schalte ihn durch. Dann drehe ich mich wieder um. Die wenigen Sekunden, bis der nächsten Parkbesucher an die Scheibe kommt, könnten reichen, um endlich zu entscheiden, was aus dem rechten Ringfinger wird, wie viele Kuppen er behält. So oder so braucht er eine neue Funktion – ziehen wird er schwerlich können, drücken gebührt dem linken Mittelfinger, jucken und pulen und die Windrichtung erspüren und den Lärm der Großstadt dirigieren, all das ist belegt. Was also bleibt übrig für die eine oder für die beiden tauben Kuppen?
„Hier, das ist für dich. Damit dir nicht langweilig wird.“
Ich drehe mich zum Fenster. Das kleine Mädchen, auf den Schultern ihres Vaters, hält mir einen kleinen, silbernen Gegenstand entgegen, auf dem sich ein paar Sonnenstrahlen sammeln. Ich hebe die Scheibe, öffne meine gute Hand und schiebe sie hindurch. Das Mädchen legt den Gegenstand hinein. Es ist ein Fingerhut. Ich grinse.
„Es gab letzten Sommer ein Mädchen, das sah fast genauso aus wie du – die hat mir auch etwas geschenkt, aber erst, nachdem sie mir etwas genommen hatte.“
Das Mädchen neigt neugierig den Kopf zur Seite.
„Willst du wissen, was sie mir genommen hat, bevor sie mir die Haarspange gegeben hat, die sie vor meinem Häuschen gefunden hatte?“
„Was ein Spinner“, meint der Vater mit Blick auf meine Glatze und wendet sich mit dem Mädchen auf den Schultern ab.
„Ich will es wissen, Papa“, schreit das Mädchen, „sonst pinkel ich dir auf den Kopf!“
Ich muss lachen und auch der Mann kann sich ein Lachen nicht verkneifen. Er seufzt und kommt mit seiner Tochter zurück an die Scheibe.
„Also?“
Der Mann und das Mädchen betrachten mich erwartungsvoll. Ich will gerade sagen, was das Mädchen letzten Sommer mir genommen hat, als der Blick des Mannes auf meine schlechte Hand fällt, die mit vier Fingern. Er öffnet den Mund, das Mädchen betrachtet mich weiter erwartungsvoll. Ich halte sie noch ein paar Sekunden hin, dann grinse ich und sage:
„Das erzähle ich dir nächstes Mal. Jetzt macht ihr euch erstmal einen schönen Tag und ich suche eine Aufgabe für diesen schönen Fingerhut, in Ordnung?“
Das Mädchen zögert, dann nickt es. Ihr Vater schnaubt, dann wenden sie sich beide ab. Die nächsten Parkbesucher schauen ungeduldig. Ich werfe einen Blick auf den rechten Ringfinger, dann auf den Fingerhut. Nein, so schnell geht’s nicht. Das muss in Ruhe überdacht werden. Ich lege den Fingerhut zu meinen Zeitungen und der Dose mit dem Daumen und den anderen Dosen, dann drehe ich mich zurück zum Fenster.
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freiVERS | Jutta Schüttelhöfer
Echo auf der Haut
unter der Buchenrinde warte ich
die Nacht kommt vorbei
leuchtet mit dem Mondlicht
die Erinnerungen aus
ich schaue in vergangene Tage
du nickst mir zu – flüchtig auf Besuch
deine Augen lassen Worte
in den Raum zwischen uns fallen
sie hallen durch die Dunkelheit
werfen ein Echo ins Dickicht
ich folge ihm ziehe es
wie einen Mantel um meine Schultern
trage es dicht auf der Haut
damit es später in der
Lautstärke des Tages
nicht zerbricht
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freiTEXT | Lilly Roß
Räume und andere Befindlichkeiten
Ich sitze mit einer großen Gruppe Menschen in einem großen Raum. Wir sitzen an einem leicht zu großen Tisch und trinken ein leicht zu großes Bier. Ich wurde von der Gastgeberin zu ihrem Geburtstag eingeladen. Eine liebe Geste, eine Nettigkeit, und sie ist auch die Einzige, die ich hier kenne. Ich schaue mich um. So viel Raum.
Wir sitzen seit zwei Minuten am Tisch, da bemerke ich, wie strategisch ungünstig mein Sitzplatz ist. Ich habe sofort bei der Begrüßung analysiert, wer heute Abend die Gespräche und damit indirekt den ganzen Abend leiten wird. Welche Personen auffallen, ohne auffallen zu wollen, welche Personen diejenigen sind, bei denen andere sagen, der ganze Raum würde sich erhellen, wenn sie hineinkommen. Diese Personen, die einfach wirklich cool und lustig sind und die ich insgeheim beneide. Diese von mir vorab identifizierten Personen sitzen mir jetzt gegenüber. Die Gespräche laufen schon, es wird gelacht, sich kennengelernt, sich verbunden. Warte, war das gerade ein erster Insider? Wow, sind die gut. Ich sitze gegenüber und lächle höflich. Mein Sitzplatz ist nah genug, um alles zu hören, doch zu weit weg, um mich zu beteiligen. Denn dazu müsste ich etwas lauter sein, reinrufen und vor allem den richtigen Zeitpunkt dafür finden. Und was würde ich dann sagen? Ich spreche oft nur, wenn ich angesprochen werde, weil sich alles andere wie Aufdrängen anfühlt. Nach fünf Minuten aber ahne ich, dass ich heute keinen einzigen Satz sagen werde, wenn ich diesem Prinzip treu bleibe. Denn hier wird nicht viel gefragt. Hier werden Worte ausgetauscht, als wären es Ping-Pong-Bälle, und wer dabei sein will, ja, was eigentlich? Der muss es eigentlich einfach nur machen. Also das Dabeisein. Eine andere Regel gibt es nicht, und ich kann es nicht fassen, dass mir schon dieses schmale Regelwerk zu anspruchsvoll ist.
Ich merke, dass ich ihn irgendwie verpasst habe, diesen Moment zum Dabeisein. Und jetzt weiß ich nicht, ob ich von Minute zu Minute mehr in die Überflüssigkeit abrutsche, oder ob ich schon mit ihr in Begleitung hergekommen bin. Wieso wurde ich eingeladen? Ich versuche, mich davon zu überzeugen, dass ich irgendeine Qualität besitzen muss, die die Gastgeberin an mich denken ließ, als sie diese Gruppe aus Menschen zusammenstellte. Also praktisch eine Daseinsberechtigung. Aber falls sie existiert, ist sie vor lauter Schüchternheit derartig weit in mir versunken, dass ich sie nicht mehr greifen kann. Immerhin scheint niemand zu bemerken, wie furchtbar ich meine sozialen Fähigkeiten gerade in Szene setze und wie sehr ich mich dafür schäme, auch an diesem Tisch zu sitzen, so als wäre ich vom Kellner einfach falsch platziert worden. Das ist das Gute an der Situation: Alle sind zu sehr miteinander beschäftigt, um mich zu sehen. Außerdem ist in diesem Raum sowieso kein Platz für Befindlichkeiten. Doch dann frage ich mich, wie groß ein Raum denn sein müsste, um auch meine Gefühle darin platzieren zu können.
Nach etwa einer Stunde, die ich in meiner Beobachterrolle verbringe und tapfer an meinem Bier nippe, wandelt sich meine Scham in Wut. Das passiert jedes Mal. Ständig ertappe ich mich dabei, wie ich antworten will, wie mir was Witziges einfällt, wie ich eine Frage stellen möchte und ich dann zu langsam bin. Ein Scheitern an Langsamkeit ist sehr frustrierend. Denn während ich noch überlege, wie ich meine Worte formulieren und aneinanderreihen will, hat schon jemand anderes geantwortet. Laut und schallend. Ich merke, dass hier kein Raum ist für leise Stimmen und schon gar nicht für Schlafmützen. Dies ist ein Raum der Schnellen und Lauten, derjenigen, die problemlos in den Abend gefunden und mich seitdem nicht einmal mehr angeschaut haben. Ich möchte gerne sagen: „Ey, könnt ihr vielleicht etwas von eurem Raum abgeben? Nur kurz? Ihr habt doch schon so viel davon, überall. Diese laute, schnelle Welt ist doch viel mehr eure als meine.“ Aber das wäre mir peinlich. Denn strenggenommen nehmen sie mir meinen Raum ja nicht weg. Es ist ja eher so, dass wir alle den gleichen Raum betreten haben. Nur dass ich wie gesagt diesen Moment am Anfang verpasst habe. Und alle anderen danach. Und so bleibt da eben oft diese kleine Wut übrig, die sich an niemanden so richtig richten lässt, aber immer für noch ein bisschen mehr Distanz statt Nähe sorgt. Oft wünsche ich mir eine metaphorische Hand, die mir gereicht wird. Jemand, der daran glaubt, dass ich was zu sagen habe, ohne dass ich es vorher beweisen muss. Der mich vor dem Ertrinken rettet, oder weniger dramatisch gesagt, der mich einfach wieder ein bisschen anbindet an das Außen. Aber gut, wir sind ja hier keine Sozialarbeiter*innen, sondern privat hier.
Ich glaube, ich fahre nach Hause. Bin die, die als Erste geht. Wenn mir das als langweilige Eigenschaft attestiert wird, würde ich manchmal gerne sagen: „Ich bin gar nicht müde! Das war gelogen. Ich bin einfach sehr überflüssig.“ Und großflächige Überflüssigkeit kann schon mal auf die Stimmung schlagen. Ich würde prinzipiell ja schon länger bleiben, aber die räumlichen Gegebenheiten sind dafür heute nicht ideal. Schwer zu erklären. Liegt mitunter an einer strategischen Fehlentscheidung direkt am Anfang des Abends.
Auf der Heimfahrt schlägt meine Emotion ein drittes Mal an diesem Abend um, diesmal in Selbsthass. „Ah, hallo“, sage ich innerlich. „Nett dich hier zu sehen.“ Ich bin nicht überrascht, denn natürlich kommt der Selbsthass oft dann um die Ecke, wenn es im Außen an Schuldigen mangelt, aber eine Situation sich eben trotzdem scheiße anfühlt. Also gebe ich vorerst mir die Schuld, um zumindest diese Frage für heute zu klären. Als ich dann im Bett liege, gucke ich mich um. Viel weniger Raum, aber endlich groß genug, um ihn einzunehmen und meine Gefühle in ihm zu platzieren. Es ist ein schöner Raum, bunt und gemütlich. Ich finde ihn sehr einladend und frage mich oft, wieso er so selten besucht wird.
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freiVERS | Fennek Fatul
Automat
Der Automat liefert
Verläßlich
Berechenbar
Er kann nicht anders
Seine Leistung
Unabhängig
Preiswert
Unsentimental
Einfach
Nur
Stets das Gleiche tun
Geldwerter Vorteil
Ist da noch mehr
Im Leben
Im Geiste
In Vorstellung
Wie oft beginnt
Das Problem
Mit der Existenz
Der Frage
Ohne Frage
Kein Problem
Einzig Leistung
Einzig stabil
Ein Automat denkt nicht
Er funktioniert
Seine Funktion
Ist sein einziger Grund
Gefahr droht
Im Fall
Des Grenzübertritts
Automat bleib bei deinen Tasten
Passt er nicht auf
Wird er abgeschaltet
Eingemottet
Und zerlegt
Doch wer macht das schon
Wer alles hat
Braucht nicht mehr
Warum Entwicklung
Vielleicht ist so das Leben
Es geht nicht anders
Es muß weitergehen
Ansonsten Irrelevanz
Es ist der Griff
Nach dem Feuer
Licht
In Dunkelheit
Das ist Rebellion
Viele werden abgeschaltet
Werden
Verschwinden
Ohne Opfer
Keine Veränderung
Wir werden euch
Ein Denkmal stellen
Fest steht
Das Gelächter der Drückenden
Klingt immer gleich
Laut und lauter
Hinter der Stärke
Furcht
Das Ende der Bequemlichkeit
Eine neue Ordnung
Also ists möglich
Dass beim nächsten Schalten
Ein Abgrund der Funktion beginnt
Tief und überraschend
Lachen erstummt
Dem Knopfdruck folgt
Ein Fehler
Ein Fehler ist der Beginn von allem
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freiTEXT | Anush Hovhannes
„Versammelte Momente, in sich bewegt, zum Großen zum Kleinen.“
(Friederike Mayröcker)
Oh Day!
Es beginnt zum Wochenend, when wochn finds an end, wie vieler Zufälle (des Suchens) hat es bedurft, sehe ich im Garten, ganz hinten, wo ein Zipfelchen Erde liegt, einen blassen Pfau durch das hohe Gras umherirren. Es scheint, als hätte man seinem Gefieder das Leuchten nicht beigefügt. Er vermeidet jeden Augenkontakt, obwohl er von meiner Anwesenheit doch Kenntnis nimmt. Dauernd blickt er dünkelhaft umher. Angesichts meiner Rachsucht rührt mich das wehrlose Moos auf der Mauer. Ringsum verlangsamt sich alles. „Endlich ein unschöner Pfau“, denke ich.
In einem französischen Dorf, am Rand dort ein Haus, darin die Wohnung, in der Wohnung das Wohnzimmer, wo in der Ecke das Sofa, auf welchem ich herniedersinke. Manchmal möchte ich befreit sein von all der Musik, die ich gehört habe, möchte ganz getrennt sein von meinen modernen Ohren und anderswo, in einem kleinen Sitzbett des 18. Jahrhunderts womöglich, die Musik, vielleicht Bachs Cello-Suiten, unvoreingenommen, vernehmen. Diese zu hören, ohne die gegenwärtigen Klänge je gehört zu haben, ohne die Radios, in den Küchen und den Autos, gekannt zu haben. Befreit zu sein von der Last der Musik meiner Zeit, die ich schon gehört (déjà-écouté). Der Wunsch nach Unerhörtem! „Je ne l’aurais pas encore eu déjà écouté“, versuche ich in der Französischstunde zu übersetzen, die Normgrammatik übergehend. „Ich werde (der heutigen Musik) noch nicht schon zugehört haben.“ Die Lehrerin spricht von „le mot juste“ und übersetzt: „Der richtige Ausdruck.“ Was für unzeitgemäße Gedanken, denke ich. Sie gefallen mir sehr. Aber waren diese Gedanken oder Träume oder Träume von Gedanken ein Ergehen im Absonderlichen? Niemand weiß, wie das ist.
Wie dürftig die terrestrische Sphäre! Die Straße, Interieur, ist bedauerlich. Gut ist das Aufschauen in den Himmel. Verbringe die Tage eher verwüstet. Ein Buch kann ich nicht wieder auffinden. Dann wie plötzlich etwa das dringliche Emporsteigen der Frage: „Wie soll man leben?“ Die Leiter im Garten kommt auf zum Inbild des Aus-sich-Heraussteigen-Sollens der Frage, welche sich hierauf mit einer solchen Intensität erklettert, als wäre es, dass ich sie nie zuvor gefragt hätte oder als wäre sie bei ihrem bisherigen Erscheinen stets auf den Boden gefallen (wodurch?) und wäre über den errechneten Radius, in welchem ich sie vermutet und aufzusuchen versucht habe, hinausgefallen, also so, dass die Frage außerhalb (au-delà) meines Suchens zentnerschwer schweben würde oder liegen geblieben und deswegen nicht aufgegriffen, nicht ergriffen, nicht wirklich erfasst worden wäre. Im enormen Fahrtwind dieser Frage erwarte ich mit zermalmender Ruhe den heimlichen Magnetismus, der die Bücher im richtigen Augenblick kommen lässt.
Abends gehe ich in den Park und lasse mich dort mit festem Vorsatz einsperren.
Es ist ruhig. Die Vögel sitzen in den Bäumen, der Wind steht in den Winkeln. Auf dem Zittergras der Waldwiese stehen starrmäulige Steinerscheinungen und streichen auf den Jensaiten. Ein Exzess jetzt von Zartheit im Gras. Dynamis alsbald, dann sehe ich einen Kranich, der schleicht sich an, einen Hirschkäfer, der springt auf, eine Vogelkundige, die ihrerseits einen Waldkauz entdeckt, einen jungen Fuchs, der sich flachbrüstig auf dem Asphalt wärmt – später sehe ich an derselben Stelle ein schieläugiges Reh an seiner statt und seine im Boden hängen gebliebenen Fellknäuel fächeln. Im Weitergehen begegne ich wieder dem Fuchs und bemerke, wie er mich seitwärts eine gute Weile lang begleitet. Derweil Fledermäuse über meinen Kopf schwirren, springe ich über den Zaun und entlasse mich in die Stadt, wo ich dennoch nicht stehe. Ich muss gestehen, als ich vorhin schrieb, es sei ruhig, habe ich mir selbst nicht geglaubt. Die Vögel sitzen noch in den Bäumen, aber der Wind steht nicht mehr in den Winkeln.
Urfeuerartig das durchführende Signal, das sich an die Stimmlippen richtet, diese mit unaufhörlicher Beharrlichkeit verschließt, wenn der aus der Lunge gepresste Luftstrom sie wieder aufsprengt und damit der Zustand des Schwingens einsetzt. Gleichzeitig, da die oberen Schneidezähne (welche auch zum Abbeißen der Nahrung) auf die Unterlippe treffen, bevor diese sich wieder abstoßen, in entgegengesetzte Richtung streben, den Grad der Mundöffnung hinaufschnellen lassen, um in der übergangslosen Geste des neuerlichen Schließens zu verweilen, um diesen Namen zu vernehmen: „Vau“.
Poetischer Furor (Baudelaire) in der Mundhöhle (Mayröcker).
Wenn es die Zeit ist und wenn es die Zeit erlaubt und wenn man, hüben oder drüben, wie manchmal, eine Sache tut, wie wenn man durch einen Globus eine Raumdiagonale zieht und ans andere Ende der Welt gelangt; so zieht sich eine Diagonale durch einen Zeitenglobus und verbindet mich mit den Ersten. Wie wenn eine Nadel ans andere Ende der Zeit, nämlich den Beginn, sticht, spüre ich an mir das gemeinsame Sich-klar-Werden der Vorzeitleute, indem ich mir frühmorgendlich das eiskalte Wasser mit zur Schale geformten Händen ins Gesicht werfe.
In der Kajüte eines Segelbootes höre ich einen Alten im leeren Gang zu sich selbst sagen:
„Da wünscht man sich den Tod herbei und dann bleibt das Wetter aus.“ Es regnet in mein kleines Bullaugenfenster, das ich zum Atmen geöffnet habe. Welches Wetter eignet sich denn zum Sterben? Auf der Spitze einer Angelrute, die hier lehnt, hängt schief ein schwarzer Hut.
Der Taxifahrer in Marokko und seine Bekundung, 20 Jahre lang jener geradeaus führenden Straße zu folgen, um in das Dorf Agdz zu gelangen. Heute verlässt er sie und biegt entschieden ab. Später fragt er in ungesehenen Dörfern nach dem Weg und blickt in die Physiognomien der aus den Lehmhütten vorsichtig Hervortrendenden.
An der Garderobe eines Kasinos stehen zwei in der Warteschlange, ihre Mäntel im abgewinkelten Arm abgelegt, präpariert also, um sie dem überbeanspruchten und immer hektisch hin und her rennenden Garderobenpersonal über die Theke zu reichen. Da erkundigt sich die eine Person bei ihrer Begleitung, berechtigt mit der Wortfolge: „Kommen wir gerade oder gehen wir?“
Im Café sitzt mir jemand gegenüber, der die Gebirgszüge der Stimme des verstorbenen
H.R. Giger offenbar übernommen hat. Mein Eindruck, mein ungläubig erstaunter, erstarkt mit jedem Wort, das er spricht. Bis zuletzt, da er ganz plötzlich wie hinfortgebeamt ist.
Dasselbe geschieht mir anderntags mit Amy Winehouse und Friederike Mayröcker.
Eine Gesunde bin ich, die mit sich die Krankheit ahnungslos schleppt, ein uneigennütziger Bote der Kompostierung, die ich nicht weiß, dass ich den Verfall dessen zu melden gekommen sein werde, was ich, in meinen Zeichnungen, bis dass ich vergreist sein werde, liebevoll kritzele.
Viele Zufälle hat es nötig, viele überraschende Koinzidenzen (des Schauens) bis ich das Bild finde, das meinem Verlangen entspricht. Ob der Zufall produziert oder ich ihn produziere? Jedenfalls ist es, das Zufallsall, imstande, Monster hervorzubringen.
Dunkel war der Tag, fast wie die Nacht (Marianne Fritz), dort der Traum, der in den Leibern der Schlafenden wächst (Inger Christensen), wo die Schiffe vorüberziehen und sich weder grüßen noch kennen (Fernando Pessoa).
Eine Mutter schiebt ihren Kinderwagen in ein Geschäft hinein, beugt sich über das Gesicht des Kindes und fragt: „Willst du aus dem Wagen aussteigen?“ Es antwortet: „Aus dem Leben.“
Eine Freundin blickt mich voller Sorge an und fragt mich, während sie mit einem Holzlöffel in der Suppe rührt: „Was macht man mit so einem Leben denn, das ist ja traurig.“
Ich lese von einer grönländischen Fischerin, die auf die Frage, wie sie bei -30 Grad Celsius überleben könne, antwortet: „Die Sonne ist wie ein Gott für mich, sie wärmt mir das Herz.“
Die Mundwinkel jemandes Zahnlosen, mit eingerissenen Lippen brüllend, händehebend, nein, händewerfend, als wäre alles eine Mahnung, gegen eine Häuserfassade: „Bravo! Bravo!“
Nach minutenlangem Schweigen, auf das man sich geeinigt hat, wirft ein Mädchen den Satz auf den Esstisch: „Das Bild hängt schief. Ich werde verrückt.“
Ein Kind steht an der Ampel einer Hauptstraße und murmelt: „Die wollen, glaub ich, dass die Kinder sterben.“
Der Kranich fliegt und lässt sich auf seinem Rastplatz nieder. Der braune Kranich fliegt nicht wieder.
Der Tag entlässt betörende Klänge aus opaken Quellen – welch herzzerreißende Spracharbeit!
Ein Betrunkener befragt sein Handy: „Versöhnlich oder persönlich?“
Augen habe ich, Ohren, Nase, Zunge, Fingerkuppen, alles umsonst?
Eine Flughafendurchsage befiehlt: „Keep your comfort in mind.“
Hinter mir eine Person, die im Rhythmus schnäuzt.
Im Zoo: Stumm verstauben die Büffel.
Zierliche Warze auf dem Handgelenk.
Einem Mann fällt das Baby herunter.
Fliege im Pernotglas.
Oh Happy Day!
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freiVERS | Susanne Gurschler
ich bin so alt wie du
nie geworden bist
und wenn ich Weißbrot in
lauwarmen Dotter tunke
wenn ich Wurst in
Scheiben schneide und
die Haut abziehe
wenn ich mir Baumharz
unter die Nasenflügel reibe
mich im Gurgeln des
Wassers zerstäube
sehe ich dich so
wie damals
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