Der junge Anwalt

In der Stadt hatte schon lange kein Prozess mehr stattgefunden; während die Stadt weiter und weiter angewachsen war, hatte man das Gericht darüber ganz vergessen und nie weiter ausgebaut. Es war noch ganz vom dörflichen Charakter geprägt, von der Gestaltung des Saales, der mehr einem Wirtshaus glich, bis zu der Kreidetafel hinter dem Richterstuhl, die die Punkte der beiden Seiten aufnahm, als wäre es ein Spiel. Für gewöhnlich wurden Streitfälle ausgelagert in die zweitgrößte Stadt im Kreis, wo man bei der Städteplanung weniger nachlässig gewesen war und zudem im Winter gut beheizte Bänke erwarten durfte; in dem nun vorliegenden Fall aber traten zwei einflussreiche Familien gegeneinander an, an denen sich die Nachbarstadt nicht die Finger verbrennen wollte. Es blieb also nur der alte Saal.
Angehörige beider Familien saßen zu beiden Seiten, prominent hervorgehoben ihre Oberhäupter, die als Ankläger und Angeklagte fungierten und neben ihren Anwälten leicht erhöht saßen. Auf den mittleren Bänken saßen unbeteiligte Zuschauer, hinter ihnen auf einer kleinen Tribüne die Geschworenen. Alles erhob sich, als der Richter mit seinen Dienern eintrat und vor der Tafel Platz nahm, die noch halb verblasste Reste von Prozessergebnissen aus alten Zeiten anzeigte. Man machte sich nicht die Mühe, eine gründliche Reinigung vorzunehmen – es hätte als ein Akt der Respektlosigkeit aufgefasst werden können –, und so nahmen zwei Gerichtsdiener, einer für jede Seite, statt eines Schwammes gleich ein Kreidestück in die Hand und gingen in Position. Der erste Prozesstag war noch ganz der Ausbreitung des Falles gewidmet gewesen, den Grundsätzlichkeiten, den unumstößlichen Tatsachen, der Vorstellung aller Beteiligten. Jetzt ging es an die Erörterung der Schuldfrage. Aus größtem Respekt wollte der Richter – er machte das gleich zu Anfang klar – so schnell wie möglich fertig werden, denn er fühlte sich verantwortlich für jede Minute, die dieser unwürdige Saal das Ansehen der Familien trübte. Da sich beide Parteien dasselbe vorwarfen, waren die Anwälte, die als Hauptakteure auftraten, sowohl Ankläger als auch Verteidiger. Beide hielten zum Auftakt eine feurige Rede, um diesen Umstand auch dem Letzten im Raum einzuschärfen, vor allem aber den Geschworenen, von denen alles abhing. Die ersten zeigten sich bereits sichtlich beeindruckt vom Redetalent der beiden Anwälte, was vom aufmerksamen Richter bemerkt wurde; das bedeutete die ersten Striche, einen für jede Partei; die Kreide knarzte wie auch die Zähne der Anwälte.
Anwalt A fackelte nicht lange und verkündete pompös, den Arm zum Seiteneingang ausstreckend: „Ich rufe den ersten Zeugen in den Zeugenstand!“ Es folgte das übliche Prozedere zum Einlass: Die Diener trugen einen zweckentfremdeten, vierteiligen Raumtrenner aus dicken Leinwänden mit Holzrahmen zum Eingang, ließen den Zeugen eintreten und klappten die Trennwand um ihn herum, sodass er wie in einer Box, die mit ihm mitgetragen wurde, sicher verwahrt und ungesehen zum Zeugenstand gelangte. Schon ging das Getuschel los, noch während des trägen Ganges. Handelte es sich um einen Mann? Zeuge, hatte der Anwalt gesagt. Verdächtig langsam kam die Kiste voran. Trug also die Person darin womöglich Stöckelschuhe? Aber man hörte nichts. Gefilzte? Gab das Tempo Aufschluss über eine mögliche Selbstunsicherheit? Wie viel Glaubwürdigkeit könnte man also dem Zeugen oder der Zeugin zugestehen? Vielleicht lag die Trägheit aber auch an der mangelnden Kraft oder Unbeholfenheit der Träger. Eine eindeutige Einschätzung war noch nicht möglich. Seinen vorherigen Fehler anscheinend bemerkend sagte Anwalt A nun korrigierend: „Möge die bezeugende Person bitte ihre Aussage machen.“ Der Richter sah von einem rückwirkenden tadelnden Kommentar ab und schaute stattdessen gespannt auf den Zeugenstand, der inzwischen ganz vom Sichtschutz umzäunt war. Man hörte das Kratzen einer Feder. War es ein zügiges, bestimmtes Kratzen? Ein beschwingtes Führen der Feder, das eine spontane authentische Aussage bedeutete – oder vielmehr ein unaufrichtiges Abstottern einer einstudierten, vielleicht eingeflüsterten Lüge? Höchste Konzentration herrschte in der Zuschauerschaft, die Geschworenen hielten sich nach vorne gebeugt in ihren Sitzen. Das Papier schlitterte unter der Trennwand hindurch, ein Diener preschte hervor, verursachte dadurch einen Windstoß, der es fast in die Menge blies – alle drehten sich weg und hielten einander die Augen zu, wie man es mit Kindern tut, um sie zu schützen, einige heulten auf. Der Diener bekam die Aussage rechtzeitig zu fassen, las sie und reichte sie mit einem vielsagenden Augenschwenk dem Richter. Dieser beeilte sich, sie ungelesen in einem bereitstehenden Schredder verschwinden zu lassen, ganz nach Protokoll, ohne auch nur einen halbsekündigen Blick darauf zu werfen; das Schriftbild allein hätte ja schon etwas Falsches aussagen können. Dann, noch während der Zeuge in der Kiste und der Zeuge der Aussage abtraten, machte er sich unter Stirnrunzeln daran, den Augenschwenk des Dieners zu interpretieren. Gleichzeitig war wieder ein allgemeines Geflüster zu vernehmen: Es wäre doch auf der Leinwand die Silhouette des Zeugen zu sehen gewesen, und sie hätte doch Bände gesprochen; nein, das sei nicht wahr, zu dick sei die Leinwand, und das mit Absicht, das Gegenteil zu behaupten wäre ja die Andeutung von Inkompetenz, eine Verunglimpfung des Gerichtes. Diesem gefährlichen Geflüster ausgesetzt befahl der Richter verantwortungsbewusst einem Diener, ihm die Ohren zuzuhalten. Sodann vollendete er seine Gedanken und warf ein Nicken in Richtung Familie A. Die Kreide knarzte an der Tafel, Familie A schlug sich jubelnd die Fäuste, wohingegen Familie B drohende Blicke auf den Richter warf; er aber reagierte mit einem entschuldigenden Fingerzeig auf die Seitentür, durch welche die zwei Zeugen bereits hinausgegangen waren und vor der bloß noch ausgedient die entfaltete Trennwand stand.
Anwalt B hatte keine Zeugen, die seiner Anklage oder Verteidigung dienlich hätten sein können. Dafür hatte er aber Indizien und sogar Beweise. Zuerst die Indizien. Eines nach dem anderen wurde hereingebracht. Es war ein sonderbarer und ganz und gar unschuldiger Anblick: Zahlreiche kleine Objekte, die auf Tabletts getragen und wie ein Menü auf dem großen zentralen Eichentisch präsentiert wurden, alle zwar von unterschiedlicher Größe, aber keines so groß, dass es nicht in zwei Handteller gepasst hätte – und jedes Indiz war abgedeckt mit einem weißen Tuch von so dichtem Material, dass es keine Rückschlüsse auf die genaue Form des darunter ruhenden Gegenstands erlaubte. Die schiere Anzahl war beeindruckend, es hatten bereits ein paar Eifrige zu zählen begonnen, da sagte Anwalt B mit erhobenem Zeigefinger: „Sechsundzwanzig Indizien, werte Damen und Herren Geschworenen.“ Die Zahl wanderte von Mund zu Mund. Ein Strich für Familie B. „Sechsundzwanzig Indizien“, fuhr er fort, davon mehr als ein halbes Dutzend, welche die Angeklagten unmittelbar belasten.“
Anwalt A warf ein: „Unmittelbar belasten? Euer Ehren, ich bitte zu fragen“ – der Richter winkte es durch – „was tun denn dann die übrigen?“
„Sie belasten die Angeklagten indirekt“, sagte Anwalt B.
„Will heißen?“
„Euer Ehren –“, wollte Anwalt B protestieren, aber da erkannte er an der Reaktion der aufgewiegelten Menge, dass sie eine Antwort brauchte. Er fasste sich, schritt zum Tisch und ordnete die Gegenstände, dass sich acht Stränge ergaben. „Acht der Indizien, nämlich diese hier vorne, belasten die Angeklagten unmittelbar. Die restlichen bekräftigen die Indizien.“
„Sind also Indizien für die Indizien?“
„Sie sind mehr als das, Herr Kollege.“
„Also Beweise?“
„Zu den Beweisen komme ich gleich.“
„Dann verstehe ich nicht, was Sie uns hier auftischen.“ Anwalt A war gut in Form. Er war ungefähr eine halbe Generation jünger als Anwalt B, aber das genügte schon, um mit einem ganz anderen Geist groß geworden zu sein.
Ruhig erklärte Anwalt B: „Ich versichere allen Anwesenden sowie dem ehrenvollen Richter, dass die achtzehn sekundären Indizien die acht primären Indizien hervorragend bekräftigen und bloß vorsorglich als Versicherung mit vorgebracht wurden, falls die primären entgegen aller Vernunft in Zweifel gezogen würden.“
Anwalt A trat an den Tisch heran und zog die Augenbrauen hoch. „Auf mich wirken sie nicht sehr beeindruckend.“ Sein Finger schwebte kreisend über eines der Objekte, ein überaus kleines, doch wagte er nicht, es probeweise zu berühren.
„Mit Verlaub, Sie können es nicht wissen“, sagte Anwalt B.
„Das stimmt“, sagte Anwalt A. „Alles, was wir haben, ist Ihr Wort. Aber haben Sie sich denn selbst von der angeblichen Schlagkraft dieser Indizien überzeugen können?“
„Diese Indizien“, schnaufte Anwalt B, „wurden im Vorfeld bestätigt und als solche hier akzeptiert. Wenn Sie also Zweifel daran aussprechen, kommt das einer Beleidigung des hohen Gerichts gleich.“
„Wenn die Aussagekraft Ihrer Indizien dem Gericht bereits bewusst ist, warum hielten Sie es dann eben für notwendig, diese dem Richter zu versichern?“
Darauf konnte sich der Richter kaum in seinem Sitz halten; der Diener deutete sein Stöhnen und verzeichnete einen weiteren Strich für Familie A. Wütend warf das Oberhaupt der Anderen die Arme in die Luft, fügte sich aber mit einem Augenrollen. Anwalt B, der in starkes Schwitzen geriet, sah sich um auf der Suche nach Zuversicht, fand aber nur die angespannten Gesichter der Geschworenen, geschmückt mit Zeigefingern, die über halbgeöffnete Lippen strichen. Wie zur Beschwichtigung ließ er seine flachen Hände auf und ab wippen, dabei befand er, dass es Zeit sei für die Beweise. Selbst seinen Kollegen schien dieser Ankündigung, dieser Begriff mit Respekt zu erfüllen, er hielt sich vorerst zurück. „Man bringe den ersten Beweis!“, rief Anwalt B aus voller Brust, und herein trug ein Diener eine weiße quadratische Box, deren Seitenlänge vielleicht drei Handrücken betrug. Vorsichtig stellte er sie auf dem Tisch ab, wobei er streng nach Regel peinlichst darauf bedacht war, in keiner Weise durch seine Körperspannung ihr Gewicht zu offenbaren. Natürlich wurde der Beweis eingehend gemustert, auch der Richter konnte sich dieser Versuchung nicht erwehren, vor allem aber die Zuschauer und die Geschworenen verzerrten ihre Hälse: Um wie viel größer mochte die Box sein als das größte Indiz? Bog sich die Tischplatte unter ihr vielleicht ein kleines bisschen? Wie weiß war das Weiß der Box, war es etwa getrübt, und hätte das ein verstecktes Anzeichen des unbekannten Verpackers sein können? Anwalt A presste die Lippen zusammen, als Anwalt B mit Genugtuung und auch Erleichterung die Wirkung des Beweises studierte und die nächsten Beweise auf den Plan rief. Einer nach dem anderen wurde hereingetragen von einer kleinen Karawane an Dienern, Box um Box, eine größer als die andere, und je größer die Beweise wurden, desto kleiner wurde der gegnerische Anwalt. Familie B zeigte sich überwältigt von dem absehbaren Sieg, die Kreide überschlug sich an der Tafel, und schon lehnten sich die ersten Geschworenen wie nach getaner Pflicht in ihren Bänken zurück – da geschah ein schwerwiegendes Missgeschick. Der letzte Diener hatte gerade die letzte und größte Box abgestellt und wendete den Oberkörper zum Abmarsch, da stieß er sie versehentlich mit dem Ellbogen an. Ganze drei Fingerbreit verrutschte die verräterische Box. Alles schnappte nach Luft; der Gerichtsdiener an der Tafel erstarrte mitten im Strich; die Geschworenen, die sich schon im Feierabend gewähnt hatten, sprangen unwillkürlich auf; selbst die Angehörigen der Familie A schlugen sich ungläubig die Hände vor den Mund.
Anwalt A warf mit triumphaler Vorahnung das Kinn in die Höhe und trat langsam wieder vor aus dem Hintergrund, die Hände hinter dem Rücken. „Man hätte fast einen Beweis erwartet“, sagte er mit einem theatralischen Kopfschütteln, „für den die Größe der Verpackung angemessen ist. Fast.“
„Sie wissen ja gar nicht um seine Größe“, beeilte sich Anwalt B festzustellen.
„Meinetwegen sei er so groß wie die Box“, sagte Anwalt A. „Dann muss er aber leicht wie Luft sein. Ich denke, ich spreche dem Gericht aus der Seele, wenn ich sage: Ich fühle mich ein wenig getäuscht.“ Aus dem Publikum kam noch unsichere, aber gefährlich aufschwappende Zustimmung.
„Was haben Größe und Gewicht mit der Kraft des Beweises zu tun?“, rief Anwalt B. „Worin sollte denn die Täuschung bestehen?“
„Oh, ich weiß nicht, Herr Kollege, aber der Großteil der Anwesenden hat anscheinend etwas anderes erwartet, als diese riesige Box herangeschafft wurde, und Sie können uns nicht weismachen, derartige Erwartungen nicht vorhersehen zu können. Da Sie also um den zu erwartenden Eindruck wussten, den die Box machen würde, haben Sie ihn gleichsam forciert.“
Fast legte Anwalt B, der sich hinter die Box stellte, seine Hand auf ihr ab, hielt sie aber gerade noch um eine Haaresbreite darüber in der Schwebe. Er wiederholte stur seine Frage nach der Relevanz für die Kraft des Beweises.
Darauf rief Anwalt A: „Weniger stand der Beweis in Frage als vielmehr Ihre Aufrichtigkeit, Herr Kollege. Was für eine Glaubwürdigkeit haben Ihre vorgebrachten Beweise und Indizien, wenn Sie keine haben? Was Ihre Frage angeht, haben Größe und Gewicht natürlich nichts mit der Kraft, wohl aber mit der Natur des Beweises zu tun. Da Sie so darauf herumritten, könnte man meinen, Sie wüssten etwas über seine Natur.“
„Sie, Herr Kollege, sind darauf herumgeritten! Und worin lag nun meine Täuschung? Ich habe niemanden getäuscht.“
„Über seine Natur haben Sie uns getäuscht!“
„Das habe ich nicht!“
„Und woher“ – Anwalt A sprang dem unglückseligen Kollegen jetzt fast ins Gesicht – „wissen Sie das?“
Es herrschte eine plötzliche Stille, dann wurde es ungestüm im Saal. Der Gerichtsdiener rechts an der Tafel trat über zu seinem Kollegen auf der linken Seite. Anwalt B öffnete den Mund, stammelte etwas, aber es hörte schon keiner mehr. Zu riskant war es, noch weiter diesem Mann zuzuhören, man hätte sich ja verdorben, und darum gab es mit einem Mal nicht ein einziges Paar Ohren mehr, das nicht von einem Paar Hände zugepresst wurde. Auch dem Richter waren erneut die Ohren bedeckt, als er den Hammer hoch in die Luft erhob und machtvoll sprach: „Der Anwalt soll kein Wort mehr sprechen, denn er ist befangen. Was sagen die Geschworenen?“
Die Geschworenen erhoben sich und bellten einhellig: „Schuldig.“
Den Hammer auf das Pult schlagend rief der Richter: „Ich verurteile den Angeklagten zur Reinigung und erkläre den Prozess für beendet.“
Somit wurden die Kreidestriche halbherzig weggewischt und vereinten sich mit den halb verblassten Ergebnissen vergangener Prozesse. Während man dem noch so jungen Anwalt A gratulierte, die Oberhäupter sich die Hände reichten und das Gericht sich langsam auflöste, wurde der arme Anwalt B, nachdem man ihm am Ausgang ein weißes Laken übergeworfen hatte, von allen Blicken geschützt abgeführt. Es hatte lange kein Prozess in diesem alten Haus stattgefunden, und es sah nicht danach aus, dass sich das ändern würde; darum packte der Richter nach dieser Ausnahme seine Sachen und kehrte zurück zu den höheren Gerichten.

 

Sean Keibel

 

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