freiVERS | Slata Roschal

Мой голос слаб
И первой не подам руки.
На улицу я выхожу, как на расстрел.
Беги, мой мальчик, миленький, беги,
Пока луну, повесив, не сожгли,
Пока витрины, ставни глаз и лба, сильны
И не посмеют нас еще заметить.
Из пены вышли, в пене и помрем.
А кто-то вены вздумал в ванне поминать,
То в глаз, то нежно, в нос и в рот
Стук конный, неперченый ямб слагать.

 

Ich habe eine schwache Stimme
Und geb als Erste nicht die Hand.
Wie zur Erschießung geh ich auf die Straße.
Mein lieber Junge, lauf doch, lauf,
bevor der Mond gehängt ist und verbrannt,
bevor Vitrinen, unsrer Stirn und Augen Läden
noch stark sind und man es nicht wagt, uns zu bemerken.
Aus Schaum gekommen, enden wir im Schaum.
Und jemand kam im Bad drauf, seine Venen zu gedenken,
ins Auge mal, mal zärtlich, in die Nase, in den Mund
ein Hufgeklapper, ungewürzten Jambus zu verfassen.

Slata Roschal

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freiTEXT | Steffen Roye

Bob Dylan im Beinbereich

Das letzte Mal bin ich Autoscooter gefahren, da war ich zwölf oder vierzehn. Dann war die Kindheit vorbei, und nur in Hollywoodfilmen fahren auch die Erwachsenen gelegentlich damit, begleitet von einem gitarrenlastigen Soundtrack, und es sind die Pausen dieser Filme, ein Ausatmen im Einatmen, und sie lachen dann und rammen sich absichtlich und haben Spaß wie die Kleinen, und was sich neckt, das liebt sich.

Ich muss daran denken, weil ich mich in den Kreisverkehr eingefädelt habe und seither um das Denkmal fahre, wie Geier um ihre Beute kreisen, nur dass ich nicht weiß, was mir Beute sein sollte. Ich drehe Runde um Runde und überlege, wohin ich aus dem Kreisverkehr herausfahre: zu den Eltern, die es schon immer gewusst haben; oder zu Robert, der allerdings gerade mit seiner Freundin zusammengezogen ist; oder zu Heidi, die in der Kantine schon oft ihre mütterliche Hilfe angeboten hat.

Die Autos kreisen auf ihren Bahnen. Obwohl es auf Mitternacht geht, ist einiges los. Von rechts kommen weitere Autos hinzu, bremsen ab und stürzen sich kaltschnäuzig in den Strudel, und dann werden Blinker gesetzt, und sie lassen sich an einer anderen Stelle wieder aus dem Strudel fallen, und wie das alles funktioniert und ineinandergreift, dieses Treffen und Kreiseln, das erinnert mich an meine Kindheit und den Autoscooter auf dem Rummel, nur dass man es hier vermeidet, einander zu rammen, weil das Spiel sonst vorbei ist, wo es früher umso beherzter weiterging.

Ich stelle das Radio an. Irgendein Quotenhit – weg. Nachrichten, immer fünf Minuten früher, auch um diese Zeit – fort. Eine Bigband – das muss dieser Sender sein, der den ganzen Tag das Beste aus den Vierzigern und Fünfzigern spielt und lange vor der Musik aufhört, bei der die anderen anfangen. Duke Ellington fordert gerade: Take The A-Train. Und während die Lichter um mich kreisen und rechts ein Auto an mir vorbeizieht und im Innenring ein Motorrad bedrohlich schräg in der Kurve liegt, finde ich, dass zu einer nächtlichen Fahrt durch meine Stadt nichts besser passt als diese ollen Swingkamellen.

Und ich sehe in die beladenen und von den Straßenlaternen ausgeleuchteten Autos, und die Musik im Radio schiebt etwas zusammen, ein Mosaik, plötzlich erscheint alles klar und doch wie durch eine ungeputzte Brille, und es wundert mich nicht, dass vor mir und neben mir alle Fahrer exakt den Ellington-Rhythmus auf Lenkräder und Fahrertüren trommeln.

Es erscheint alles klar und es wundert mich nicht seit dem kleinen Stau vor fünfzehn oder zwanzig Minuten, beim ehemaligen Luxor-Filmpalast, wo die Stadt, wenn man sich aus den Außenbezirken einsaugen lässt, erstmals etwas Konzentriertes hat mit der breiten und zugleich in die Bausubstanz hineingequetschten Straße, mit den mäandernden Straßenbahnschienen und den Mietskasernen aus der Gründerzeit und den Ampelkreuzungen und dem umgitterten Park und den drei Tankstellen und der verfallenen Brauerei auf der rechten Seite, an deren Stelle seit fünf Jahren ein Baumarkt entstehen soll. Vorn hatte es offensichtlich einen Unfall gegeben: Blaulicht flickerte und schlug an die Fassaden wie auf Kinoleinwände. Auf dem Fußweg standen Leute, ein paar trugen Overalls in Signalfarben, aber sie schienen es nicht eilig zu haben. Der bisher locker fließende Verkehr verengte sich im Reißverschlussverfahren auf eine Spur. Diszipliniert ließ der eine dem anderen die Vorfahrt: wie das alles funktioniert und ineinandergreift. Rechts neben mir zog langsam ein Saab vorbei, und ich schaute unwillkürlich hinein. Ein Mann hielt das Lenkrad mit der Linken fest umklammert, den Blick geradeaus. Auf seinem Beifahrersitz stand, von den Straßenlaternen leidlich angestrahlt, ein ficus benjaminii, der seine Zweige immer wieder nach dem Fahrer ausstreckte, als wollte er ihn necken, doch der Fahrer starrte geradeaus und wischte die widerborstigen Zweige gleichmütig beiseite. Und dann entdeckte ich auf seinem Rücksitz, ungleichmäßig angeleuchtet, Umzugskartons und etwas, das aussah wie ein Vogelkäfig, und ein Stapel Bücher lehnte an der Scheibe.

Der Saab zog an mir vorbei, ich aber musste bremsen und kurz halten. Dass die eigentlich behinderte Spur wieder einmal die schnellere war! Wie in einem Fernsehgerät wurde ein Passat eingeblendet, eine Frau saß darin, auf ihrem Beifahrersitz erkannte ich (als Silhouette) einen Grammophontrichter, und auf dem Rücksitz, der langsam in mein Blickfeld kam, war eine Art Garderobenständer platziert und ein undefinierbarer Berg, vielleicht Wäsche, obenauf etwas, das wie ein Paar Ski aussah und in den einsehbaren Kofferraum hineinragte, in dem außerdem eine Kommode verstaut war.

Jetzt schaute ich gezielt. Mein Vordermann hielt den Arm aus dem Fenster und klopfte einen Rhythmus auf die Fahrertür, und im Kofferraum erkannte ich die Umrisse eines Kontrabasses und einer Staffelei und eines Fahrrades.

Langsam fädelte ich mein Auto durch das Nadelöhr und zog an einem Polizei-BMW vorbei und an zwei Fahrzeugen, die ein bisschen Blechschaden verursacht hatten. Fast fuhr ich meinem Vordermann auf die Stoßstange, weil ich mich zu sehr auf die Unfallwagen konzentrierte und auf den Globus und den Katzenkorb, die auf einem der Autodächer abgestellt waren, und auf den Pudel, der auf einem der Fahrersitze stand und die vorbeifahrenden Autos ankläffte, und auf all den schemenhaft sichtbaren Hausrat, der die Hinterachsen der Unfallwagen nach unten drückte, als wären sie zu dieser Stunde noch unterwegs zu irgendeinem Flohmarkt.

Der Katzenkorb auf dem Autodach brachte mir in Erinnerung, dass auch ich einen ähnlichen Eindruck auf jene machen musste, die Zeit fanden, in meinen Wagen hineinzuspähen. Meine Yuccapalme stand auf dem Rücksitz und wippte wie ein Wackeldackel, und sie teilte sich den Platz mit einem Seesack voller Hosen und Hemden und T-Shirts und Unterwäsche und Socken und Sportsachen, und den Kofferraum füllte neben anderem mein Lieblingssessel, eine Bücherkiste und die geerbte Standuhr, auf dem Beifahrersitz stand meine Stereoanlage, und davor, im Beinbereich, hatte ich meinen Laptop und meine Schallplattensammlung deponiert, Bob Dylan und Bruce Springsteen hat man eben als Vinyl, genau wie einiges von dem gitarrenlastigen Material, das in Hollywoodfilmen Szenen untermalt, in denen Erwachsene beispielsweise mit dem Autoscooter fahren, und es sind die Pausen dieser Filme, ein Ausatmen im Einatmen, und sie lachen dann, die Erwachsenen, und rammen sich absichtlich und haben Spaß wie die Kleinen, und was sich neckt, das liebt sich.

Merkwürdig, dass die drei Jahre mit Maria in einem einzigen Auto Platz haben. Einem Auto, das ich schon fuhr, als wir uns damals im Fitnessstudio kennenlernten. Und eigentlich kam das alles nicht überraschend, immerhin konnte ich einen geordneten Rückzug antreten, obwohl ich im ersten Moment auf alles gefasst war. Dabei hatte ich Maria mehrmals gewarnt, dass mir irgendwann der Kragen platzen würde, wenn ihre verdammte Katze meinen Lieblingssessel weiter als Kratzbaum, dieses Mistvieh!

Nun also fahre ich um das Denkmal, wie Geier um ihre Beute kreisen, nur dass ich nicht weiß, was mir Beute sein sollte. Ich drehe Runde um Runde und überlege, wohin ich aus dem Kreisverkehr fahre. Wie das hier alles funktioniert und ineinandergreift, das erinnert mich an meine Kindheit und den Autoscooter auf dem Rummel, nur dass man es hier vermeidet, einander zu rammen, weil das Spiel sonst vorbei ist, wo es früher umso beherzter weiterging. Und nur in Hollywoodfilmen fahren auch die Erwachsenen gelegentlich damit, und es sind die Pausen, und was sich neckt … Und ich sehe in Autos voller Koffer, Grünpflanzen, Möbel, Kartons, Vogelkäfige, Grammophone, Fahrräder, Instrumente und Schallplattensammlungen, und die Musik im Radio schiebt etwas zusammen, ein Mosaik, ein Puzzle, und es wundert mich nicht, dass vor mir und neben mir alle Fahrer auf Lenkräder oder Fahrertüren exakt den Rhythmus von Take The A-Train trommeln, das inzwischen beim Finale angekommen ist. Und das abgelöst wird durch Judy Garland, die leichthin das Verkehrsmittel wechselt: Fly Me To The Moon. Und die Fahrer ziehen an mir vorbei mit melancholischem Blick, und mit manchen kreise ich drei oder fünf Runden, bevor sie sich zum Ausfall entschließen, und manche wissen offenbar sofort, wo sie diese Nacht unterkommen können.

Steffen Roye

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freiTEXT | Hey, Palsson!

Salzeis

„Heppa, Heppa, Hepal! So morsche Pfoten und wo hast du deine richtigen Handschuhe gelassen?“ Und ich lache, denn für die Beiden könnte es doch nicht besser gehen. Die alte Lochsocke pufft sich über links und an der anderen hängen deine Kleinstfinger. Ganz schön heiß hier! Gestern im Straßenglück die flitzende Bekanntschaft mit offenen Armen geschnappt und spendiert, dass sich die Flammen fetzten.
Mein Trinkgeld hattest du unter den Tisch geschlagen, weil dein Stolz brüllte. Und danach, das übliche Dankbare mit den Gläsern und auf Matratzen. Der abscheuliche Rauschmorgen geht mir davon, als du mich durch die Tür fragst: „Ist es okay, wenn ich in deine Dusche pinkel?“

Hey, Palsson!

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freiTEXT | Merle Müller-Knapp

Märtyrer

Hallo, ich bin Dirk. Ich bin eine Made. Ich rette deinen Knochen, dein Bein, vielleicht rette ich sogar dein Leben.

Geboren wurde ich in einem Labor. Inakzeptabel, denkst du jetzt vielleicht, Hygiene-Desaster oder Fahrlässigkeit. Zeit für einen Facebook-Post? Nein, tatsächlich steht mein Leben im Zentrum des eben genannten Labors.

Ich bin keine Otto-Normalmade, meine Heimat liegt fern von Biotonne oder Kothaufen. Ich bin Produkt bewusster Anzucht. Das Ei, dem ich mich entwand, lag auf dem Boden einer Plastikschale und tatsächlich war es ein Mensch, der mein Ei dort neben vielen anderen Eiern arrangierte.

Jetzt bin ich einen Tag alt und wurde soeben verpackt. Zusammen mit Barcode, Mindesthaltbarkeitsdatum und einigen hundert anderer Maden bin ich auf dem Weg zu dir. Mein Etikett stellt klar: ich bin steril, sowohl was meine Keimflora als auch meine Fortpflanzungsfähigkeit angeht.

Wäre ich eine Otto-Normalmade, ich würde mir vermutlich grade ordentlich den Bauch vollschlagen. Kompost oder Tierkadaver, wer weiß. Stattdessen hungere ich. Ich warte auf dich.

Wäre ich eine Otto-Normalmade, nach 20 Tagen würde ich mich verpuppen. Ich würde die Nährstoffe meiner vorangegangenen Fressorgie in Flügel und große Augen wandeln. Dann würde ich meinen Kokon durchbrechen und ich wäre eine Fliege, eine große Fliege. Lärmend würde ich durch dein Zimmer schnellen und meinen Leib mit Maximalgeschwindigkeit gegen das Fensterglas werfen. Vielleicht würde ich dabei bewusstlos werden.

Ich bin aber keine Otto-Normalmade. Ich bin eine Biomade. Das bedeutet: erst helfe ich dir und dann muss ich sterben. Fliegen werde ich nie.

Du brauchst meine Hilfe, weil dein Körper versagt. Du hast deine Haut verletzt, irgendwo und irgendwie, vermutlich schon vor einiger Zeit, und weil dein Immunsystem an seinen Aufgaben scheitert, brauchst du mich.

Deine verletzte Haut hat sich zur Bedrohung gewandelt. Deine ehemalige verletzte Haut, sollte ich vermutlich sagen, denn da wo alles vielleicht ganz undramatisch begann, klafft jetzt ein Loch. Wundheilungsstörung und Infektion als Stichwörter für meinen Einsatz.

Wenn ich bei dir ankomme, bin ich sehr hungrig. Ich sabbere viel. Sabbern gehört zu meinen Essgewohnheiten. Tatsächlich beginnt mein Verdauungsprozess nämlich schon vor meinem Mund. In meinem Speichel lösen sich tote Zellen und Dreck. Das ist gut so, denn beides findet sich vermutlich in deiner Wunde. In meinem Speichel lösen sich auch Bakterien, sogar solche, die deine Ärzte seit Monaten erfolglos zu bekämpfen versuchen. Den Glibber aus meinem eigenen Speichel und den darin gelösten Dingen esse ich dann. Ich räume deine Wunde auf.

Die Ärzte haben dich vielleicht gewarnt. Du könntest meine Anwesenheit als Kribbeln spüren, ganz selten wird mein Vorhandensein dir auch Schmerzen bereiten. Sehen musst du mich aber immerhin nicht. Das könnte dich nämlich stressen und Stress ist schlecht für die Wundheilung.

Nachdem man mich in deiner Wunde abgesetzt hat, werde ich verpackt. Hinter weißer Watte und beruhigend breiten Pflasterstreifen vollbringe ich mein Werk. Erst drei Tage später holt man mich hervor. Zu diesem Zeitpunkt bin ich vermutlich mächtig dick. Deine Wunde wird mein Fest gewesen sein.

Deine Wunde wird auch mein Ende sein. Wenn ich deine toten Zellen, deine Bakterien, deine Fäulnis gegessen habe, habe ich nicht nur mein Aufgabenspektrum als Biomade erfüllt, nein, ich gelte dann auch als kontaminiert. Deine ehemaligen Schadstoffe in meinem Bauch bedeuten meinen Tod.

Hätte ich Augen, ich würde in Richtung Fenster blicken. Oder wenigstens in die Neonröhren am Krankenhaus-Filament. Ein letzter Moment im Licht, die Melodramatik reizt mich. Ich habe aber keine Augen und so sterbe ich in Dunkelheit. Der Arzt wird mich vermutlich in einen Bottich mit hochprozentigem Alkohol werfen. Dort löse ich mich auf.

Ich glaube nicht, dass mein Tod mit körperlichen Schmerzen einhergehen wird, meine Nervenzellen sind nämlich kaum vorhanden. Nichtsdestotrotz, du lieber Mensch: ich sterbe für dich. Ich werde niemals fliegen können, niemals sehen können, niemals zwei haarige Beine aneinander reiben können.

Also bitte ich dich um Sinnhaftigkeit für meinen Tod.

Hör auf zu rauchen, geh regelmäßig zur Fußpflege oder besorg dir einen ambulanten Krankendienst. Kümmer dich um dich selbst. Diese eine ekelhafte Wunde soll deine letzte sein.

Ich wünsche dir alles Gute und ich wünsche mir ein nächstes Leben als Otto-Normalmade.

Merle Müller-Knapp

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freiTEXT | Marlene Schulz

Die Wand

Mona wusste noch nicht genau, wie sie die einzelnen Teile aufhängen sollte. Sie hatte ein Stück von einer Wand für ihre Geschichte im Ausstellungsraum zur Verfügung gestellt bekommen, vier Meter breit und hoch bis zur Decke, die sie bereits kakaobraun gestrichen hatte. In die Mitte hatte sie einen großen weißen Bilderrahmen gehängt, der leer war.

Aus goldfarbener Pappe hatte sie Moderationskarten in unterschiedlicher Größe geschnitten, die sie jetzt mit einem weißen Stift beschriftete.

Zuerst: Karl, einundsiebzig, fährt im Sommer mit dem Feinrippunterhemd auf dem Moped und bringt Eric zur Schule.

Danach: Eric, sieben Jahre alt, nur noch wenige Tage bis zu seinem achten Geburtstag.

Dann: Erics Klamotten und die Sachen in seinem Schulranzen riechen nach Mottenkugeln. Ihhh, sagen die anderen Kinder.

Mona verteilte die Karten auf der Wand, befestigte jede mit einem Klebestreifen.

Jetzt schrieb sie: Karl macht Rechenaufgaben mit Eric, wenn er welche auf hat.

Dann: Eric muss nachts Windeln tragen, da er sonst ins Bett macht.

Noch eine neue Karte: Eric schläft mit im Ehebett seiner Großeltern Gisela und Karl.

Mona pinnte die neuen Karten auf die Wand, stellte zwei, die bereits hingen, noch einmal um.

Dann beschriftete sie weiter den zurechtgeschnittenen Karton: Gisela, neunundsechzig, hat Wasser in den Beinen, kann kaum noch laufen.

Danach: Gisela lernt mit Eric Sachen für die Schule auswendig. Manchmal singt sie mit ihm ein Lied.

Und: Eric ist Giselas ein und alles, hier kann sie wiedergutmachen, was mit Silvia schief gelaufen ist.

Die goldenen Karten machten sich gut auf der kakaobraunen Wand.

Weiter: Silvia ist gerade wieder in der Klinik auf Entzug und wird sich dort Hals über Kopf verlieben. Dieses Mal ist es der Richtige wird sie wieder mal schwören.

Dann kommt: Silvia wohnt nur ab und zu im Haus der Eltern. Mit ihren beiden Söhnen Eric und Marcel kann sie nichts anfangen.

Die nächste Karte: Marcel ist zehn Jahre älter als Eric, siebzehn, wohnt unterm Dach, hat sich dort eine Muckibude eingerichtet und macht gerade eine Ausbildung zum Fitnesskaufmann.

Bevor sie die neuen Pappen an die Wand klebte, beschriftete Mona noch eine weitere: Marcel bringt ab und zu ein Mädchen mit nach Hause. Sie kommen ihm aber meist schnell abhanden.

Und noch eine: Eric hat keine Freunde.

Mona heftete die Karten an die Wand, hängte um, manche weiter nach unten, andere mehr nach rechts und oben, eine ganz links.

Jetzt schrieb sie weiter, dieses Mal eine größere Pappe: Die Lehrerin aus der Schule sagt, es ist nicht gut, dass Eric im Ehebett der Großeltern schläft.

Dann: Das Bauamt hat Gisela und Karl Geld für das kleine Haus geboten, in dem sie wohnen und das ihnen gehört.

Neue Karte: Inzwischen hat sich eine Neubausiedlung um sie herum gebildet. Ganz viele gleiche Häuser mit unterschiedlich farbigen Eingangstüren.

Danach: Karl und Gisela haben das Kaufangebot des Bauamtes ausgeschlagen.

Und zuletzt: Einmal in der Woche spielt Marcel mit seinem Bruder Fußball auf dem Bolzplatz. Manchmal hat Marcel keine Zeit.

Mona hängte die restlichen Karten an die Wand, sortierte nochmal neu, schaute sich die Sätze von etwas weiter weg an, prüfte, bis alle den richtigen Platz hatten.

Dem Bilderrahmen gegenüber platzierte sie eine Sofortbildkamera auf einem Stativ mit einer Anleitung für den Selbstauslöser. Dann legte sie eine Rolle Klebeband zum Abreißen auf den Boden und stellte eine zweite Schachtel mit weißen Stiften dazu, nahm einen davon heraus und schrieb direkt auf die Wand, unter den Rahmen:

Machen Sie ein Foto von sich, hängen Sie Ihr Bild in den Rahmen und schreiben Sie etwas zu dieser Kartengeschichte hinzu, direkt auf die Wand. Nur zu!

Marlene Schulz

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freiTEXT | Pascal Andernacht

Wiener Episoden, Erste

Montag, 7. Jänner, welches Jahr? Das weiß ich nicht. Wird schon eines geben. Seh nach. Stört mich nicht. Montag Morgen, zu früh zum Denken, die Glieder sind schlaff, und der Spiegel im Bad beschlagen. Das kalte Wasser ins Gesicht, Traum. Traumwelt. Wo bin ich hier? Ich weiß es, aber ich will es nicht. Sie sitzt draußen. Ich steh hier.

Mittwoch. Ich habe das Bad verlassen. Was soll ich denken? Die Tür fiel ins Schloss. Es war nicht sie. Es war ihre Freundin. Ich reiß sie auf und eile hinaus. Es ist heiß. Die Sonne hinter den Wolken. Grauer Schleier. Aber heiß. Nebenan teeren sie die Straße. Aber die Hitze verfolgt mich. Die U-Bahn ist nur einige Blöcke entfernt. Ich habe keine Lust den Bus zu nehmen, also laufe ich.

Mittwoch, etwas später. Hastig würge ich die Spinattasche hinunter. Der Kakao schmeckt ausgezeichnet. Wische die Krümel von meinem Shirt. Könnte schwören, ich hätte keine Schuhe an. Aber da sind sie. Ich bewege die Zehen. Muss albern kichern. Man sieht mich an. Die Türen schließen sich und wir fahren los. Noch ein bisschen. Gegenüber, da liest sie ein Buch. Irgendwas Englisches. Ich langweile mich. Draußen ist es dunkel. Und nur das Innere spiegelt sich hell in den Scheiben. Ich am dunkelsten.

Donnerstag. Sie liest wieder. So gelangweilt. Ich schau genauer hin. Fear. Zweig. Warum nicht auf Deutsch, denke ich. Minimalistisch.

Freitag. Die Ausschweifungen zehren an mir. Er findet kein Halt. Amok. Zweig. Flut überflutet den Tunnel. Und ich denke: Herrliches Licht.

Samstag. Sie steigt aus. Ich bin allein. Der Zug nicht.

14 Uhr 35. Station. Machen wir mal einen Halt. Das Bein müde auf dem Parkett. Tänzel mal hinauf. Die Treppe rollt und rollt. Und wieder Licht. Wieder heiß. Es brennt. Das Haar fackelts ab. Und ich bin kahl. Gedankenwelt.

19 Uhr 20. Der Schlüssel steckt im Schloss und ich dreh ihn um. Wunder mich noch, wie er dahinkam. Sie sitzt da und schaut aus dem Fenster. "Hallo." "Hallo" kommts zurück. Ich geh in mein Zimmer und leg mich aufs Bett. Sie kommt dazu.

Montag. 13. Jänner. Ein anderes Jahr. Es ist aus. Die Wunde klafft am Finger. Und wieder in der Bahn. Kein Zweig mehr. Dafür Deutsch. Der Baum ist kahl. In meinem Kopf rauscht "Junge Römer".

Wenig später: Kontrolle. Hab den Schein vergessen. Muss hinaus. 100er wird fällig. A paar Zerquetschte. Ich zuck die Schulter. "Hab' ich net." "Hab ich doch." Weiß noch nicht. Die Rechnung ist da. Was scherts mich? Werden wir sehen. Die Wohnung kalt und leer. Das Bett. Ein Stuhl. Der Fernseher auf dem Pappkarton. Darin die Alben. Darin die Bücher. Die paar. Und nebenan hört man sie singen.

Mittwoch: Wie vor einem Jahr. Die Tür fällt ins Schloss. Oder ist es schon länger her? Diesmal bin ichs. Vielleicht wirds auch erst bald geschehen.

Donnerstag: Zeitlos. Was ist Zeit? Ich geh und ich fall und ich steh und die Zeit geht irgendwie weiter, aber ich denke nur ich lächle und wenn ich aufhör zu denken, was dann?

Sonntag: Mutter geht immer in die Kirch. Sollte ich wohl auch mal. Meint sie. Schließlich sei das nicht abträglich. Und ein Muss. Aber muss ich denn mit ihr? Ich lass es mir auf der Zunge zergehen und dabei schmilzt mein Kopf. Und dann greif ich sie und zerr sie hinaus. Ne Backpfeife tuts auch. Sie weint. Arme Mama, denke ich mir, wird bald nichts mehr mit der Kirch. Ich sags ihr ins Telefon. Sie weint.

Dienstag. 21. Jänner. Man könnt meinen, das Leben wär zu fabelhaft, um den Moment zu kosten. Denkste. Ich strecke die Zunge raus und koste den Regen. Denke, wie lecker diese Schlammpfütz doch sein müsst, da, zu ihren Füßen. Ich schau an ihr auf und denk mir, hübsche Latern.

Mittwoch. Auf dem Weg zum Schauspielhaus. Denk mir, was gäbs schon zu sehen. Vielleicht gibts ja was. Könnt auch in der Oper stehen. Aufm Programm! Staat oder Volk? Ist doch egal. Was machts schon, ob's Staat oder Volk? Auf den billigen Plätz'. Aber die Schlange ist lang. Und auf die Bühne will ich nicht. Also Schauspielhaus. Dort seh' ich sie wieder. Liest mal wieder. Die Krone baumelt am Baum. Ich hab gezahlt, sag ich laut, man schaut mich an, und ich nehm mir eine.

Donnerstag. Ich schmeiß sie fort. Nichts Gescheits. Dies und das. Und jenes. Jenes interessiert mich besonders. Normalerweise. Ich lese es und schneid es mir aus. Dann hängts im Bad. Am Spiegel. Der sonst immer beschlagen ist. Seltsam. Duschen ohne Ende. 'S Bad wird niemals sauber.

Freitag: Maria-Magdalena. Die Überschrift. Das Bild. Ich küss das Bild und ich küss den Text. Schmeckt nach Tinte. Ich schau mich an, seh aber keinen Fleck. Könnt ja abgebrochen sein, denk ich mir, und man hats mich bedruckt. Aber nein. Verschmitztes Lächeln. Verschwitzt. Weiß und weiß. Was kann ich schon seh'n?

Samstag: Heuer! Heute solls sein! Ich geh hin. Ich klopf. Sie macht auf. Ich klopf auf den Tisch. "Gut siehst aus! Gut hörst dich an." "Danke." Sie sagts nicht, aber ich sehs ihr an. Das rote Cover. Blutüberlaufen. Blutunterströmt. Hübsch. Ich denke an Banana. Greif mir eine. Alles Banane. Essen, Schlingen, weg damit. Leere Schale. Nun ist alles gelb. Die Sonne strahlt in den Kern. Kernforschung. Was betreib ich hier? Sie sitzt da und schaut mich an und auch ich sitz da und schau mich an. Nein. Stopp. Schau sie an. Und ich sage: "Gratulation." "Danke dir."

Sonntag: Jetzt. Als hät' ich Sünden zu bereuen. Sind mir die liebsten. Ich sprech mit dem Pfaffen, ich habe ihn kaum erkannt. Alt ist er geworden. "Gott tut ihnen nicht gut.", sage ich. "Ich weiß.", erwidert er. "Aber steht ihnen gut." "Ihnen auch." Wir lachen, schütteln Hände. "Grüß mir Frau Mama. War schon lange nicht mehr hier." Wir sitzen in einer Bar und bechern eimerweise. Eimer mit Chips und Flips und Knabbereien. Der Whiskey sitzt tief. Der Äppler auch. "Ein Saft wär mir lieber gewesen." "Vergiss den Saft."

Montag, 27. Jänner. Heuer gehts weiter. Ich steig nicht aus. Verfolg sie nicht. Weiter. Ihre Füß' über die Schwelle. Ich seh auf das Schild und geschwind eil' ich hinterher. "Drei-Fünfzig." Ich zahl. Es ist nicht viel. War ja nicht weit. Die Koffer hat sie in der Hand. Die Tasche. Passt viel rein. Würd' gern wissen was. Hab das Gesicht nicht vergessen. Besonders nachts. Wenn ich's vom Bett aus sah. War schön. Schön anzusehen. Das Fenster offen. Die Jalousien auch. Und dann haucht sie einem die Nacht um die Ohren. Stolz stolzer stolziert sie die Ringstraß' entlang. Wohin des Weges, meine Holde? Deine? Sie lacht und entreißt mir das Gepäck. Immer brav zu Fuß. Nimm mich noch einmal in den Arm. Schlingt sich um mich. Wehrlos. Das bin ich. Ich stoß sie weg. Und sage: "Wiederhol es gern." Kuss. Wange. Verflogen.

Mittwoch, 28. Jänner. Gähn. Müd. Dunkel. Immer im Kreis. Auf und ab den Ring. Vielleicht find ich die Hinterlassenschaften. Drecks Köter. Scheiße. Klebts an mir wie sonst auch immer. Jetzt regts mich auf. Die Bahn zischt vorbei. Und das Rad, das klingelt. Und das Radio tönt herüber. Und in meinem Kopf rauscht der Verkehr.

Donnerstag, 29. Jänner. Ganz vergessen.

Sonntag, 1. Jänner. Neujahr. Ich lieg krank im Bett. Kopf schmerzt. Die Flasche neben mir. Ich küsse sie. Aber sie ist tot. Na, nicht tot, aber so leblos. Sie schläft. Und ich habe ihren Rausch geschlafen. Ausgeschlafen. Zieh die Decke weg, und merke, sie liegt gar nicht mehr da. Im Bad rauscht das Wasser.

Sonntag, 2. Jänner. Ich hab mich ausgesperrt. Sie ausgesperrt. Wer ist jetzt der Klügere? Es ist dunkel. Die Rollos sind unten. Und was ich sehe, ist das Licht des Weckers. Und das Licht von der Steckleiste. Könnt sie umlegen. Dann geht auch der Router aus.

Mittwoch. Zeit später. Es ist still. Ich hör sie nicht. Ich seh sie nicht. Ich riech sie nicht. Ich schließ die Augen, schleich ich aus dem Haus. Schleich ich zurück, tu ichs auch. Manchmal geh ich darum herum. Manchmal hinten rein. Das freut sie sehr. Dann sieht sie mich auch. Aber nur erhascht und erahnt. Nichts Essentielles. Ekstase. Mutter ruft an. Sie lästert. Das tut sie gern.

Dienstag: 25. Jänner. Liebes Fräulein. Hab ich zu ihr gesagt. Ich hab ihr wieder was abgenommen. Hab gezahlt. Ehrlich. Hab ich zu ihr gesagt. Dank' schee auch. Torkel heim. Leucht mir den Weg. Doch sie geht aus. Wohin, frag ich sie. Doch sie sagt nur: Nichts. Sie weiß es nicht. Kann sein. Weiß nicht, wann sie wieder kommt.

Mittwoch: Die Ungeduld wächst. Wohin? Das weiß ich auch nicht. Kalt ist's. Es schneit. Die Heizung tot. Ich auch. Kopf leer. Im Bett. Schau aus dem Fenster. Drüben weiß ich -

Freitag: Lange Nacht. Die Bahn ist voll. Die Fliege schlaff. Und der Frack - bekleckert. Teure Sache. Für nichts zu schade. Aber bereuen tu ichs doch. Hät' nicht so lange bleiben sollen. Wär ich auch nicht gegen die Stang' gelaufen. Tut noch immer weh. Das Brett vorm Kopf.

Sonntag: Stelldichein mit Klaus und den anderen. Sie funkelt mir zum Abschied zu. Oder war es ein Willkommen? Wie dem auch sei, hab sie gehalten. Rosiger Körper, rosige Haut. Und so kalt. Ich bin direkt in Flammen aufgegangen.

Spät am Abend: -

Sonntag, spät in der Nacht: Es ist eigentlich schon Montag.

Montag: Das Buch lag da. Confusion. Habs in der "3". Liegen lassen.

Pascal Andernacht

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freiTEXT | S. H. Schild

Der Werkeks

Langsam verblasste die Sonne hinter der zackigen, schwarzen Silhouette der Bergkette. Letzte orange Strahlen klammerten sich an das Massiv, drängten sich dahinter hervor, um noch einige Sekunden länger ihre Wärme in das Tal hinab zu werfen. Die Dunkelheit rückte näher heran, legte sich schwer auf das Licht und überschattete es bis es nichts weiter war als ein Glanz in der Ferne. Für einen kurzen Moment spiegelte es sich noch in den Schneekuppen des Gipfels, sodass die Bergkette feuerrot in der Schwärze des Nachthimmels aufflammte. Dann verschwamm die Dunkelheit, zog sich über sie und nahm jegliche Form aus der Welt.

Stein schlug auf Stein.

Immer wieder schnalzte das harte, zischende Geräusch auf. Funken stoben, erhellten für den Bruchteil einer Sekunde die Schwärze und spiegelte sich in drei Augenpaaren, die sich um das Lager versammelt hatten. Ihr kalter, weißer Atem hing in kleinen Wolken zwischen ihnen. Dima rieb sich die bloßen Hände und schreckte hoch, als ein Ast hinter ihm knackte. Sein Atem stockte, die Funken bissen sich in das Holz und ein schwacher Schein erhellte plötzlich seine Sicht. Kahlgefressene Bäume drangen aus der Dunkelheit hervor. Eine dicke, weiße Schneedecke verlor sich zwischen den Stämmen, ihre ebenmäßige, reine Oberfläche durch einzelne Spuren zerstört. Die Flammen wurden stärker, ließen das Holz flackern und warfen zuckende Schemen über die glänzenden Schneekristalle.

Wieder knackte es. Dimas Kopf fuhr herum. Eine Gänsehaut rannte über seinen Rücken, die nichts mit der Kälte zu tun hatte, die in seinen Kleidern saß. Immer schneller stoben die Wolken seines Atems durch die eisige Luft und vernebelten seinen Blick.

„Wir sind hier sicher, Dima“, hob sich Viktors tiefe Stimme über das Knacken des Feuers. Jost bewegte sich und seine Kleidung raschelte leise neben ihm.

„Die Wälder hier sind sicher“, kam auch seine grummelnde Zustimmung. „Wir haben nichts zu befürchten.“

Dima riss seinen Blick aus der gähnenden Dunkelheit los, die sich um sie erstreckte und stellte den Kragen seines Mantels auf, als könnte er sich dadurch vor den Gefahren schützen, die dort hinter ihm lauerten. Er umschlang mit den Armen seine Knie, zog sie fest an sich heran und starrte in die tanzenden Flammen, deren Wärme bereits die Kälte in seiner Nase wegschmolz.

Schneeflocken fielen durch die nackten Baumkronen zu ihnen herab, bedeckten sie, dämpften ihre Geräusche und hüllten sie in ihrer Stille ein. Wie Statuen verharrten sie am Feuer, starrten in die hellen Flammen und verloren sich in den Bildern, die sie dort sahen. Er bemerkte die klare, blau leuchtende Scheibe nicht, die über ihnen am Himmel erschien. Nackte Äste durchzogen die kalte Oberfläche wie schwarze Adern.

Irgendwo schrie eine Eule.

Nicht nur einmal knackte ein Ast jenseits der Dunkelheit.

Dima verkroch sich immer tiefer in die Weiten seines Mantels und ignorierte den Drang, sich umdrehen zu müssen. Die Welle der Kälte rollte über ihn hinweg, schwappte über seinen Rücken, umklammerte seinen Hals und kämpfte gegen die Wärme. Mit beinahe unmerklichen Bewegungen robbte er weiter an die Flammen heran. Das Feuer leckte gefährlich nahe an seinen Beinen, doch er spürte die Wärme nicht.

Erst als er das raschelnde Geräusch von Papier neben sich hörte, erwachte Dima aus seiner Starre und blickte mit suchenden Augen auf. Viktor kramte in seiner Tasche, produzierte ein braunes Päckchen daraus hervor und öffnete es mit steifen Fingern. Als er Dimas Blick bemerkte, schenkte er ihm ein leichtes Lächeln und bot ihm das Päckchen mit einer auffordernden, stillen Bewegung an. Dima reagierte verspätet, erwiderte schnell das Lächeln, doch er machte keine Anstalten, das Päckchen an sich zu nehmen. Stattdessen griff er selbst in die Tiefen seines Mantels, stieß auf die glatte, kalte Oberfläche der Box darin und zog sie hervor.

Viktors Lächeln verschwand. Seine Lippen formten eine harte Linie. Ein Schatten huschte über sein Gesicht und sein Blick flackerte alarmiert zu Jost.

„Was ist das?“, fragte er mit seiner tiefen Stimme, mit erzwungener Ruhe. Er hatte das Päckchen achtlos in den Schnee fallen lassen. Jost richtete sich ruhig auf, drehte sich um und ließ seinen dunklen Blick durch den Wald schweifen.

Plötzlich verunsichert, drehte Dima die Box in seinen Händen, strich mit seinen Fingern unschlüssig darüber. Er brach den Blickkontakt ab, besah sich die Box in seinen Händen noch einmal genauer, als würde erst in diesem Moment in ihm der Gedanke nach ihrer Sinnhaftigkeit aufkommen.

„Sind das –“, stockte Viktor und noch einmal flackerte etwas in seinem Blick. „Sind das –“, brach er noch einmal ab. Seine Zunge zuckte über die Lippen als er sichtlich mit dem Wort rang. „Sind das… Kekse?“

Josts Kopf schnellte bei dem Wort zu ihnen und eine plötzliche Nervosität ergriff Besitz von ihm. Immer schneller wandte er sich um, doch eine Bewegung ließ ihn für einige Sekunden innehalten. Mit dem Kopf im Nacken starrte er in den Himmel hinauf und blankes Entsetzen ergoss sich über sein Gesicht, als er dem kalten Schein des Mondes entgegenblickte.

Mit einem Satz war er auf den Beinen, begann auf das Feuer einzutreten und mit wilden Bewegungen Schnee darauf zu schaufeln. Im gleichen Moment sprang auch Viktor auf, packte seine Tasche und bückte sich noch einmal, um mit fahrigem Arm das Päckchen an sich zu reißen.

Dima schreckte vor den beiden zurück, spürte ihre Panik, die blanke Angst. Schnell stieß er sich vom Boden ab, stolperte einige Schritte durch den Schnee, klammerte sich an der Box fest. Mit weit aufgerissenen Augen warf nun auch er einen Blick zum Mond.

Etwas Leises knirschte hinter ihnen.

Eine schmerzhafte Gänsehaut rann seinen Rücken hinab, als er an seinen Ursprung dachte.

„Was ist los?“, keuchte er mit leiser, gehetzter Stimme. Jost schaufelte eine letzte Handvoll Schnee auf das Lager, erstickte die kleinen Flammen und somit auch das Licht. Plötzliche Dunkelheit brach über sie herein.

„Was ist los?“, fragte Dima noch einmal, dieses Mal panischer. Langsam fiel der blaue Schein des Mondes zu ihnen herab, erhellte die weißen, kahlen Baumstämme und die glitzernde Schneedecke.

Als hätte ihn Viktor erst jetzt bemerkt, starrte er ihn an, machte einen Satz auf ihn zu und griff mit wildem Blick nach der Box in seinen Händen. Dima wehrte sich nicht, ganz im Gegenteil drückte er ihm den Behälter beinahe schon entgegen. Ohne einen weiteren Augenblick zu verschwenden, riss Viktor den Deckel ab und sog scharf die Luft ein, als ihm der köstliche Duft von Erdnüssen und Schokolade entgegenschlug.

„Erdnüsse und Schokolade“, verpackte er seine Geruchswahrnehmung in Wörter.

Hinter ihnen knackte es wieder. Etwas Schweres zog sich über den Schnee, der unter der Last knirschend zusammensackte.

Jost hatte es auch gehört, denn er drehte sich blitzschnell um die eigene Achse. Sein Atem ging keuchend schnell. Ein hoher, verzweifelter Laut brach sich aus seiner Kehle los.

„Sie kommen“, hauchte er und begann auf der Stelle zu springen. „Wir müssen los!“

„Was ist passiert?“, wagte Dima noch einmal den Versuch, doch das Knirschen kam immer näher. Viktor warf die Box mit einer kräftigen Bewegung in die Dunkelheit des Waldes, packte aus dem Schwung heraus noch Dimas Hand und zerrte ihn mit sich, als er zu laufen begann. „Was ist los?!“

„Wer nimmt Kekse in den Wald mit?!“, kreischte Jost neben ihnen, seine zu hohe Stimme mit Panik verfremdet. „Man nimmt keine Kekse mit in den Wald!“

Ein tiefes Knacken vor ihnen schnitt ihnen den Weg ab. Schlitternd kamen sie zum Stehen. Ihr keuchender Atem hing wie Rauchschwaden in der Luft. Jost drehte sich im Kreis, visierte immer wieder eine neue Richtung an, schreckte im gleichen Moment jedoch wieder davor zurück, als er ein weiteres Knirschen hörte.

„Verdammt, verdammt, verdammt“, drang die Verzweiflung zwischen Atemzügen aus ihm hervor. „Wer nimmt Kekse mit in den Wald?!“

Grelle Augenpaare öffneten sich in der Schwärze zwischen den Bäumen. Das Knirschen nahm zu, der Schnee arbeitete unter der Last. Mit jeder weiteren Sekunde näherten sich die Geräusche, schlossen sie in sich ein. Die Dunkelheit griff nach ihnen, verschlang Jost und riss ihn mit sich. Sein panischer Schrei wurde von einem lauten Knistern und Knacken verzehrt. Viktor jammerte auf, stieß Dima aus dem Weg und stürzte sich selbst in die Dunkelheit. Dima kam im Schnee zum Liegen, kroch auf allen Vieren durch die beißende Kälte.

Seine Hand prallte gegen etwas Hartes. Der Geruch von Erdnüssen wehte zu ihm heran, begleitet von einem tiefen Grollen. Etwas Kantiges traf seinen Arm und kam in einer Falte des Mantels zum Liegen. Er griff danach als er weiterrobbte, sich zwischen zwei duftenden, runden Körpern hindurchquetschte und gegen den Schnee trat bis er sich in vollem Lauf wiederfand. Als er seine Hand öffnete war sie braun von geschmolzener Schokolade.

Er hörte lange nicht auf, zu rennen.

Immer noch hallten die Schreie der anderen in seinem Kopf wieder.

Denn man nimmt keine Kekse mit in den Wald.

S. H. Schild

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freiTEXT | Lina Mairinger

eiserne Kälte

Begonnen hat es in der Medizin. Die Ärzte hatten zusammen mit den schlausten aller Schlausten eine große Entdeckung gemacht. Eine Entdeckung, die die Welt für immer verändern sollte, hieß es, eine Entdeckung, die den Menschen aus seinem ewigen Evolutionsverhalten stoßen würde und ihn zum Übersein befördern würde.

Ich weiß noch, anfangs flüsterten die Leute darüber, es waren ja bloß Gerüchte, man hatte noch keinen Beweis bekommen. Ich war damals noch ein Kind und durfte von all dem nichts wissen.

Einen Monat später war die Welt wieder wie gewohnt, das heimliche Geflüster hatte sich aufgehört und die Leute schienen wieder ihren gewöhnlichen Nachbarchaftstratsch zu verbreiten. Draußen regnete es in Strömen, mein kleiner Bruder, der schon seit seiner Geburt Asthma hatte, hatte sich zusätzlich eine Erkältung zugezogen, wodurch wir schon früher als normal Fernsehen durften. Meine Eltern setzten sich zu uns um Nachrichten zu schauen und diskutierten über unseren unfähigen Finanzminister, als sie plötzlich verstummten und wie erstarrt auf den Fernseher blickten. Die Nachrichtensprecherin sprach von einem medizinischen Wunder. Ich schaute nochmal zu meinen Eltern, die noch immer wie gebannt auf den Fernseher blickten. So schlimm kann es nicht sein, dachte ich, wenn etwas schlimmes ist schicken Sie uns immer weg. So war es zumindest als Opa starb.

Mit weit aufgerissen Augen folgten wir den Nachrichten und sahen das erste Mal das eiserne Herz.

Verblüffend nicht wahr, ein Herz aus Eisen etwas hartes, etwas kaltes, übernimmt die Funktion von einem der wichtigsten Muskeln in unserem Körper, dem Organ das uns warm hält. Die Regierung beschloss im Sommer darauf ein neues Gesetzt zu verabschieden, das KSP - Körperschutzprinzip, es sollte dazu dienen die Sterberate bei Säuglingen und Kindern zu verringern, indem man gesetzlich festlegt wie sich um einen Körper zu kümmern ist um ihn gesund zu halten, bei Regelverstößen wurde ersetzt.

Ich war damals gerade 11 geworden und kümmerte mich wenig um Gesetze und noch weniger um die, die die Regierung vorgab. Als es jedoch einige Jahre später an unserer Tür klopfte, änderte sich alles. Es waren 2 Herren in weiß, sie bräuchten meinen Bruder, er müsse mitkommen. Mein Vater erstarrte, meine Mutter brach in Tränen aus. Sie flehte die Männer an, sagte, sie hätte doch aufgepasst während der Schwangerschaft und dass es angeboren sei, doch die Herren blickten kalt an ihr vorbei, legten meinem Bruder Handschellen an und gingen ab.

Ein Jahr lang sah ich meinen Bruder nicht, als er eines Tages vor der Haustür stand, war mir klar, dass er nicht mehr er war. Er redete wenig und lachte kaum. Er sagte, es wäre schwer. Die neuen Lungen wären schwer, die seien kalt und schwer. Wenn die Luft draußen kalt ist und eisiger Wind weht spürt er es nicht. Wenn der warme Sommerduft durch die Straßen weht spürt er es nicht. Es ist nichts außer fremd, sagte er.

Aus meiner Schulklasse verschwanden ebenfalls die Schüler. Jene, die Brillen hatten oder einen Plattfuß und vor allem jene, die arm waren. Die Armen waren schlimm dran, denn wer arm ist kann sich keine teuren Lebensmittel und Behandlungen leisten um die Gesundheit zu unterstützen und auch für Sport haben sie weniger Zeit da sie viel arbeiten müssen.

Im Alter bekam ich Krebs. Ich wusste, dass ich es hatte und versteckte ihn lange vor den Ärzten. Mir war klar, dass mir nicht viel Zeit bleiben würde, ehe sie ihn finden würden. Geld war der beste Weg, ich suchte einen Arzt der unter den Reichen für seine Korruption bekannt war. Er solle mir die Befunde fälschen, bat ich. Es kostete viel, nicht gesund sein zu dürfen. Ich hatte extra keine Kinder bekommen, damit ich Ihnen den Schmerz nicht antun müsste. Meine Eltern hatten es psychisch nicht verkraftet was mit meinem Bruder passiert war. Sie wurden krank, seelisch krank, also wurden auch eines Tages sie von den weißen Herren weggeführt. Beschuldigt der Gesetzesmissachtung bezüglich der KSP. Die Leute nennen es die Seelenchirugie, ein Verfahren bei dem alles was einem ausgemacht hat, chirurgisch entfernt wird. Der Sitz der psychischen Erkrankung muss entfernt werden, so sagen es die Mediziner. Meine Eltern bekamen ein eisernes Gehirn um sie zu heilen.

Es schreckte mich nicht, natürlich war ich erschüttert, aber das war die neue Welt, der neue Mensch.

Lina Mairinger

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freiTEXT | blume (michael johann bauer)

Das Meer

Scheppernd wellen sich wabernde Wolken, der Himmel kreischt, nachtschwarze Herrlichkeit glüht zerfurcht in blitzendem Sekundenbrand und unter dem bedingt zuverlässigen Schutzdach einer semipermeablen Blätterhaube drängen sich zwei Ratlose aneinander, befühlen, vielleicht nervös, die konkrete Hysterie ihrer rasenden Herzen durch klebrig feuchten Stoff, und taumeln schweigend – stehend, lauernd – über lechzend züngelnde Abgründe einer traumatisierenden Flut unverhofft greller Eindrücke, hier, in der relativen Verlassenheit eines schroff gezeichneten, felsenüberwuchernden Waldes, fernab von ihrem Zuhause, dem sie entflohen sind, gierend nach Freiheit, nach Glück. Furchtsam wispern abgewetzte Stimmen wie geborstenes Glas, unnatürlich das Trommelfell scheuernd, ätzende und ätherisch flüchtige Spuren trauernder Tropfen kondensierender Schwallwellen in den sensiblen Gehörgängen der in unmittelbarer Reichweite Lauschenden – welche im Prinzip auf die direkt Involvierten reduzierbar sind – hinterlassend und vergehen, letztendlich, nachdem der jeweils angesprochene Rezipient die, in ihren Modulationen ruhenden Botschaften dechiffriert hat, im kühlen Nirgendwo einer wüst plätschernden Regenhöhle. „Wir haben das Richtige getan.“ „Wir hatten keine Wahl.“ „Die Unerträglichkeit des Alltags hat unsere Flucht unvermeidlich gemacht.“ „Wir dürfen keinen einzigen Schritt bereuen, nachdem der Weg zurück einem waghalsig idiotischen Sturz in ein Meer aus dornigen Augen gleichzusetzen ist.“ „Unsere Lungen keuchen in Atemnot, doch ist der Preis nicht hoch genug, um auch nur eine zaghafte Melodie tosender Reue durch das Gerippe unserer Entscheidungen galoppieren zu lassen, während wir, stumm betend, die Endlosigkeit lebendiger Schmerzen inhalieren.“ „Was ist schon die Bürde sengender Angst verglichen mit dem berauschenden Jubel lustig würgender Selbstständigkeit in den gewaltig pulsierenden Armen einer archaisch anmutenden Natur!“

Der Vorhang lüftet sich und eine sympathisch wärmende Morgensonne induziert, fröhlich strahlend, golden gelassen Zuversicht, beendet die Notwendigkeit, eine Maske verbaler Stärke über einen bitter stachelnden Kern aus sinnlos explodierenden Selbstzweifeln zu ziehen, beleuchtet das pittoreske Panorama einer bergig unterlegten, bildgewordenen Symphonie chronischer Veränderung und die beiden verharren, staunend, im köstlich lieblichen Widerhall eines heilig scheinenden Augenblicks. Erleichterung zaubert mit weit ausgebreitetem Gefieder schillernde Regenbogen sinnlicher Ekstase auf die jugendlich frischen Gesichter der sich angenehm Entspannenden, sodass schließlich, klirrend die finalen Ketten apathischen Erduldens zerspringen und sie sich, engumschlungen die Harmonie ihrer Zärtlichkeiten großzügig und gerne nicht bloß miteinander teilend, mit ungestümem Lächeln und seligem Lachen auf den magisch unschuldigen Lippen, aufmachen, die ihnen noch würzig fremde Schönheit einer sich tänzelnd vor ihnen entfaltenden Sommerlandschaft für sich zu gewinnen und diese, kunstfertig transformiert in einen süßlich flirrenden Reigen luftig schwebender Gemälde, in die empfänglichen Schalen ihrer zukünftigen Erinnerungen zu träufeln. Ausgelassenes Vogelgezwitscher und ein aus der geheimnisvollen Verborgenheit der mit Laub gefütterten Behausungen obskurer kleiner Tiere dringendes Rascheln begleitet den sanften Fluss ihrer Bewegungen akustisch, indes sie sich unaufhaltsam, ohne sich dieser verhältnismäßigen Tatsache bewusst zu sein, dem nahezu vollkommen von wild gedeihenden Ranken bedeckten Eingang eines teilweise verfallenen Steingartens, in dessen Zentrum eine einzigartige Herausforderung ihre baldige Ankunft erwartet, nähern.
Einst, als die Essenz absoluter Einheit alle Dinge durchdrang – eine fundamentale Gegebenheit, die, selbstverständlich, eine unveränderliche, jenseits von Raum und Zeit bestehende Konstante darstellt – und auch der Mensch, an sich, ihre sogar an der Oberfläche und in den verwinkeltsten Ausläufern der Materie erkennbare Omnipräsenz – mithilfe geistiger Leere – noch zu erfassen in der Lage war, lebte hier das erleuchtete Volk der Täler, welches keinen speziellen Namen für sich in Anspruch nehmen musste – kein Klammern an den Wahn einer von wirren Vorstellungen determinierten Identität –, um, ohne es wissen zu müssen, zu wissen, wer es war. Was aus ihm geworden ist, ist ohne Bedeutung, lediglich wenige sporadische, vom Lauf unzähliger Jahre entstellte Relikte eines gelegentlich erschaffenden Daseins bezeugen vage seinen Ruhm auf dem Gebiet bescheidener Weisheit ohne Zweck und ohne Ziel. Der Ort nimmt hierbei die Rolle einer beliebigen Hilfestellung ein, er ist unwesentlich, eine simple Zugangsoption, ein durch das Zusammentreffen gewisser gegenständlicher Umstände – Transkriptionen von Wahrheit in ein diskret anthropogenes Vokabular – zündender Funke, das vermeintlich erloschene Flammenmeer im Inneren der eigenen Verästelungen erneut zu entfachen – das Feuer vollendeter Klarheit spürbar zu machen –, das zu entdecken, was, immer und überall, ist.

Und schon ist sie überschritten, jene imaginäre Grenze, die sich, trotzig, zusammensetzt aus Glaube und Phantasie – und plötzlich ist alles – wie – verwandelt – in der verblendeten Welt der Perzeption. Ein filigran geschuppter Reptilienboden saugt lüstern an den nackten Füßen der sich in ihrer spontan einsetzenden Orientierungslosigkeit verwirrt Ergänzenden, wölbt sich manisch auf, erbricht dunkle Stöße panisch exkrementöser Lava exzentrisch fragwürdiger Konsistenz, höhnisch die Beine der zu wehrlosen Opfern Auserkorenen mit der dumpfen Widerwärtigkeit seines abstoßenden Auswurfs besudelnd – und steht still, ganz so, als wäre nichts geschehen, überlässt die Zwei, in ihrer Vereinigung, dem frivol verzerrten Labyrinth makabrer Assoziationen, eine dämonisch blinzelnde Furcht, die – einen lächerlich stupiden Vergleich aufs Papier schleudernd – weitaus tiefer sitzt als das, in manchen Situationen, schier übermächtige Beben fleischlicher Lust, aus dem eiskalten Refugium ihrer Epilepsie lockend. Zitterndes, hilflos winselndes Elend – kaum haben sie sich von der zynisch durch die heimlichsten Nischen ihrer Psyche echoenden Erschütterung des ersten Schocks erholt, zur Linderung die honiggleiche Idylle des anbrechenden Tages auf ihren zerrüttet gereizten Synapsen verteilt, zerfetzt der gnadenlose Dolch unvorhergesehener Ereignisse die trügerisch behagliche Leinwand harmlosen Schlenderns durch eine milchig satte Köstlichkeit friedlich summender Momente und reißt die empfindlichen Gemüter unserer leidlich unerfahrenen Protagonisten ins blechern schallende Verderben giftig schäumender Poren ominöser Unbeständigkeit. Ehe es ihnen gelingt, auch nur tendenziell zur Ruhe zu kommen und die unangenehm knisternden, ihre zarten Leiber grob malträtierenden Wogen schrecklich intensiver Stimulanzien zu verdauen, sind sie bereits angelangt, im Reich des mystischen Jaguars, der, wie ein behutsam funkelnder Opal, grollend flüsternd, zu ihnen spricht. „Der Pfad der Mysterien ähnelt einer blutroten Orchidee – verziert mit der opulenten Erhabenheit flüssigen Rubins geleitet er die Suchenden hinab in eine Schatzkammer bizarr flatternder Euphorie! Betörende Düfte verbreitend, erblüht ein Mosaik aus adoleszenten Rosen über den kristallenen Kelchen taubenetzter Schläfen! Hinter dem Schleier der Wahrnehmung, jedoch, in der stoisch prahlenden Kluft fremdartiger Unerreichbarkeit, stagniert spröde das Wort, wartet flehend darauf, vernichtet zu werden, den Marmor, den es zornig durchwurzelt hat, zu zersprengen, um in amorpher Vergänglichkeit seine Bestimmung zu erfüllen – und wir, wir lesen, gebannt, im Buch seiner ewigen Manifestationen, aufgewühlt erahnend, dass alles längst ist. Düster, wie Zimt, tobt ein eitriger Scharlachsturm durch die Nichtigkeit unserer Existenz und gebiert wundervoll obszöne Anomalien – möge das Ritual der Trennung und Melange beginnen!“ Nichts. Kein verträumt splitternder Laut tönt fruchtbar hinein in die klebrig exzessiven Ergüsse fanatisch zirkulierender Obsessionen, keine exorbitant wallende, phänomenal farbenprächtige, von aufrichtig stolzen Initiierten flott inszenierte Zeremonie befleckt die keusche Jungfräulichkeit des ins Aberwitzige abgleitenden Szenarios mit dem geradezu göttlichen Ejakulat einer alle Anwesenden aufheiternden Offenbarung - nein, ganz und gar nicht – stattdessen martert eine subtil quälende Atmosphäre schwül erdrückender Erwartung, die, langsam aber sicher, in peinigende Ungeduld umschlägt, die blank liegenden Nerven der partiell unfreiwillig Beteiligten, bis sich, zu guter Letzt, sichtlich verlegen, der Jaguar, wieder, zu Wort meldet. „Eventuell ...“ „Schluss mit dem Rechtfertigungsgejammer, wir gehen jetzt ans Meer!“ Gesagt, getan!

blume (michael johann bauer)

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freiTEXT | Claudia Wallner

Verschiedene Welten

Es war warm in der Stube. Die Mutter hatte ihre gepunktete Kochschürze umgebunden und fing langsam an das Abendmahl auf dem Gasherd zuzubereiten. Vater war draußen, um Holz zu hacken, während unser Hund „Schorsch“ vergnügt den Hühnern nachjagte und bellte. Ich war gerade mit Hausübungen beschäftigt, als meine Schwester mit einem Geschenk vor mir stand: „Alles Gute mein lieber Bruder! Ich weiß du hast erst morgen deinen Ehrentag, aber ich möchte dich heute schon beschenken!“ Ich war sehr erstaunt und öffnete das Päckchen neugierig. Es war ein Schlüssel. Meine große Schwester Anna hatte mir also ihr Moped vermacht! Ich war selig vor Freude. Endlich konnte ich überall in der Stadt hinfahren, welch‘ neu gewonnene Freiheit! Ich war glücklich und genoss die Atmosphäre der warmen Stube, eingehüllt von köstlichem Essensgeruch. Ich fühlte mich so wohl im Kreise meiner Lieben und lächelte zufrieden.
Abdul schlug das Buch zu. Um sich sah er nur Zerstörung, Armut und Tod. Er war hungrig und allein. Mithilfe des Lesens flüchtete er sich regelmäßig in Fantasiewelten, die ihn wenigstens kurzzeitig von diesem Elend ablenkten. Ein ausländischer Soldat hatte ihm dieses Buch geschenkt. Es gefiel ihm, aber komisch fand er nur, dass es auf einem anderen Planeten spielte.

Claudia Wallner

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