freiTEXT | Vera Hohleiter

Chungking Blues

Der Regen prasselte an die Scheibe des winzigen Fensters. Es war das einzige im Raum und so klein, dass kaum Tageslicht hereinkam. Marie hatte die Deckenbeleuchtung eingeschaltet, obwohl es erst früher Nachmittag war, denn das Halbdunkel des Zimmers deprimierte sie. Sie ging drei Schritte vom Fenster zum Bett und dann noch einmal zwei Schritte bis zur Duschecke, die eine Art Miniaturbadezimmer darstellte. Hinter der Faltwand aus Kunststoff befand sich eine Toilette, ein winziges Waschbecken und eine Handbrause. Wenn man auf der Toilette saß, stieß man mit den Knien gegen die Faltwand. Wenn man duschte, wurde die Toilette nass. Für die Duschecke zahlte Marie 50 Hongkong-Dollar extra, aber das war es ihr wert. Von Gemeinschaftsduschen hatte sie genug nach ihrer sechsmonatigen Rucksackreise durch Australien und Südostasien.

Wie ein gefangenes Tier drehte sie sich im Kreis und lief auf und ab in ihrem winzigen Zimmer im Sunflower Hotel. Es nannte sich zwar Hotel, doch eigentlich war es eher eine Pension. Durch die papierdünne Wand hörte Marie, dass Rosie, die Zimmerwirtin, nebenan eine koreanische Seifenoper ansah, in der sich eine Männerstimme und eine Frauenstimme ganz fürchterlich auf Koreanisch stritten. Rosie thronte den ganzen Tag auf dem Bett eines der Deluxe-Zimmer direkt am Eingang des Sunflower Hotels, manchmal alleine, manchmal in Begleitung ihres rund zwanzig Jahre jüngeren Ehemannes, einem Chinesen Anfang 30, den Rosie als Fernando aus Macau vorgestellt hatte. Da auch Rosies Zimmer so klein war, dass kaum andere Möbelstücke hineinpassten, saßen Rosie und Fernando auf dem Bett, tranken grünen Tee oder aßen gebratene Reisgerichte aus Pappschachteln, die aus einem der Schnellrestaurants in den unteren Stockwerken der Chungking Mansions stammten.

Der Fernseher in Rosies Zimmer lief vom frühen Morgen bis gegen Mitternacht, außer an Abenden, an denen Rosie und Fernando Tango tanzen gingen. Meist flimmerten koreanische Serien mit kantonesischen Untertiteln über den Bildschirm. Marie fragte sich, ob Rosie anhand dieser Dauerberieselung Koreanisch lernte – was ihr allerdings eher unnötig erschien, denn koreanische Touristen verirrten sich wohl kaum in das Sunflower Hotel. Sie übernachteten wahrscheinlich eher im schicken Peninsula Hotel am Hafen. Rosies Klientel bestand ausschließlich aus westlichen Backpackern, die aus allen Ecken Europas und Nordamerikas nach Hongkong gekommen waren. Amüsiert schien Rosie diese jungen Leute zu beobachten, als seien sie Figuren in einer ihrer Lieblingsserien. Sie kannte alle Gäste beim Namen und behandelte sie wie alte Freunde – nur eben wie Freunde, die für ihren Aufenthalt zahlten.

Marie sah auf die Uhr. Es war beinahe drei Uhr nachmittags. Um diese Uhrzeit hätte sie bereits am Victoria Peak sein können oder hätte durch die Straßen von Wan Chai schlendern oder mit der Fähre nach Macau fahren können – hätte ihr der Taifun nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht.

„Warum willst du überhaupt nach draußen?“ hatte Rosie gefragt, als Marie sich am Vormittag auf die Straße gewagt hatte, aber bereits nach wenigen Minuten völlig durchnässt zurückgekehrt war. „Die Chungking Mansions sind wie eine Stadt für sich. Du kannst hier drinnen ganze Tage verbringen, ohne dich zu langweilen.“

Daraufhin war Marie durch die 17 Stockwerke und die fünf Blöcke der Chungking Mansions gewandert. Sie hatte sich die Auslagen gefälschter Designerhandtaschen, bunter Satin-Cheongsams, farbenfroher Saris und wild-gemusterter afrikanischer Gewänder angesehen, ebenso wie das Angebot an billiger modischer Kleidung westlichen Stils. In einem indischen Restaurant in der 7. Etage hatte sie schließlich ein üppiges Mittagessen aus Aloo Gobi mit Reis zu sich genommen. Rosie hatte recht: die Chungking Mansions waren eine Welt für sich, aber nachdem Marie bereits fünf Stunden lang durch die schmuddeligen Gänge des Gebäudes gelaufen, mit den Aufzügen hoch- und wieder runtergefahren war, mehrmals den Kauf von gefälschten Markenuhren und Drogen aller Art abgelehnt hatte, war sie erschöpft in ihr Zimmer zurückgekehrt. Sie hatte gehofft, der Regen würde irgendwann nachlassen, aber der Taifun fegte mit nicht nachlassender Kraft über die Stadt.

Wirklich entspannen konnte sich Marie in ihrem Zimmer nicht. Die lautstarken koreanischen Fernsehauseinandersetzungen von der anderen Seite der Wand hallten durch den kleinen Raum. Ohne das Bild waren die herausgebrüllten Dialoge alles andere als interessant, sondern klangen eher unfreiwillig komisch. Ab und an wurden die Seifenopern von kantonesischen Werbespots unterbrochen oder Marie konnte Rosies und Fernandos Stimmen hören, aber nicht verstehen, worüber sie sich unterhielten.

Marie setzte sich auf ihr Bett und schaltete das winzige Fernsehgerät in ihrem Zimmer ein. Die bewegten Bilder der koreanischen Seifenoper, die Rosie und Fernando ansahen, erschienen auf ihrem Bildschirm, sodass auf einmal Bild und Ton zusammenpassten. Da Marie ohnehin nichts von der Handlung verstand, schaltete sie weiter. Sie klickte sich durch Dauerwerbesendungen, Nachrichtenprogramme und Kung-Fu-Filme. Auf einem englischsprachigen Sender blieb sie bei einer britischen Serie hängen, die in den 1920er Jahren auf dem Landsitz einer Adelsfamilie spielte. Die Damen trugen zu ihren glamourösen Abendkleidern aufwändige Hocksteckfrisuren mit Wasserwellen und diamantbesetzte Accessoires im Haar. Missmutig betrachtete Marie ihr eigenes Spiegelbild in dem kleinen Spiegel, der am Kopfende ihres Bettes hing. Sie strich über ihr strubbeliges Haar, das sie in Australien aus praktischen Gründen kurz geschnitten hatte. Je länger sie in den Spiegel sah, desto mehr zweifelte sie daran, dass diese Frisur für sie vorteilhaft war. Ihr Blick wanderte herunter und auf einmal war sie auch mit ihrem ausgeleierten T-Shirt und ihrer knöchellangen Cargohose unzufrieden. Doch ihre gesamte Reisegarderobe bestand aus alten ausgewaschenen T-Shirts und zwei unförmigen Hosen, die sie abwechselnd trug. Eigentlich hätte sie den gesamten Inhalt ihres Trekking-Rucksacks wegwerfen können. Die gammeligen Kleidungsstücke hätten nicht einmal die afrikanischen Altkleiderhändler aus dem 6. Stock mehr interessiert.

Nicht nur ihre Garderobe machte ihr schlechte Laune: das schäbige Zimmer, der Regen, ihre eigene Planlosigkeit… Sie hatte keine Ahnung, ob sie noch monatelang so weiterreisen und hier und da Gelegenheitsjob annehmen wollte, um die Reisekasse aufzubessern – oder ob sie einfach nach Hause fliegen sollte. Eigentlich wollte sie die Küste hinauf reisen, danach eine Weile in Peking bleiben und irgendwann, wenn sie genügend Fahrgeld zusammengespart hatte, sich mit der Transsibirischen Eisenbahn auf den Weg nach Moskau machen. Plötzlich schien ihr diese Idee völlig abwegig. War es nicht langsam an der Zeit für die Heimreise? War es nicht an der Zeit, sich einen richtigen Job zu suchen und erwachsen zu werden?

Marie stellte sich vor, wie es wohl war, nicht ständig umherzuziehen, sondern an einem Ort zu leben – in einem schönen Haus mit Geschirr, das zusammenpasste und schwerem Silberbesteck, in einem Haus, in dem Musik spielte und nicht Lärm von nebenan die Geräuschkulisse bildete, in einem Haus, in dem die Dielen knarrten, wenn der Hund durch den Korridor rannte. In ihrem Tagtraum war es Frühling oder Frühsommer, schon recht warm, denn die Terrassentür stand offen. Der Hund stürmte in den Garten und versuchte, einen Schmetterling zu fangen. Aus der Ferne war ein leichtes Vogelzwitschern zu hören und ein Kirschbaum im Garten stand in voller Blüte. Marie fragte sich, woher diese Bilder auf einmal kamen. Häuser mit Garten und Hunde, die Schmetterlinge jagten, hatten sie bisher nie interessiert.

Im Fernsehen tranken die Damen Tee aus zierlichen Porzellantässchen und rührten mit verschnörkelten Silberlöffelchen darin herum, bis sich der Zucker aufgelöst hatte. Für einen Augenblick überlegte sich Marie, ob sie - wenn der Regen nachließ - zum berühmten Fünf-Uhr-Tee ins Peninsula Hotel gehen sollte, um sich ein wenig aufzuheitern. Marie stellte sich vor, wie sie selbst, ähnlich wie die Damen im Fernsehen, aus einer Tasse aus hauchdünnem Porzellan Tee trinken und winzige Gebäckstücke oder akkurat geschnittene Sandwiches essen würde. Dann fiel ihr ein, dass der Nachmittagstee im Peninsula teurer war als eine Übernachtung im Sunflower Hotel und dass man sie, schlampig gekleidet wie sie war, vermutlich sowieso nicht hineinlassen würde.

Mürrisch schaltete sie den Fernseher aus. Die einzigen Geräusche, die sie jetzt noch hören konnte, waren der Regen, der immer noch mit unverminderter Intensität an die Fensterscheibe trommelte, und die koreanischen Dialogfetzen aus Rosies Zimmer. Im Kopf rechnete Marie ihr Reisebudget durch. Es reichte noch für ein paar Tage in Hongkong und für eine Zugfahrkarte nach Xiamen, wo es – nach Angaben einer niederländischen Rucksacktouristin, mit der sie sich im Flugzeug unterhalten hatte – ganz einfach sein sollte, in einer Nachhilfeschule einen Job als Sprachlehrerin zu finden. Marie überlegte sich, ob sie zurück ins Erdgeschoss der Chungking Mansions gehen und sich mit ein paar Sommerkleidern aus billigen bunten Synthetikstoffen neu einkleiden sollte. Vielleicht würde sie sich dann besser fühlen. Sie zählte die Hongkong-Dollar in ihrer Reisekasse.
Plötzlich verstummte das Fernsehgerät auf der anderen Seite der Wand und Rosie rief: „Marie, möchtest du vielleicht eine Tasse Tee?“

Vera Hohleiter

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freiTEXT | Stefan Heyer

Innere und äußere Mongolei

Die U-Bahnhöfe mied Karl zumeist. Lieber raus aus dem Mief, raus aus der Stadt, zumindest zum Wannsee. Oder gleich bis zur Ostsee. In seinen Träumen fuhr er über weite Steppen. Wurde zum Mongolen. Über die unendliche Weite. Tagelang keine Seele zu sehen. War in Berlin schwierig. Berlin war voll. Auch voller Touristen. Immer wieder ein Rucksack im Genick. Lärm machten sie auch noch. Wollte das Dorf in der Großstadt. Nah zur Arbeit. Cooles Ambiente. Lässige Altbauwohnung. Renoviert. Man war ja älter geworden. Man war ja längst kein Punk mehr. Ohrringe längst rausgemacht. Wohnte in Mitte. Nicht weit zur Politik. War jetzt Beamter geworden. War einfach sicherer. Er musste ja auch an die Zukunft denken. Nomade sein in der Mongolei. Wenn er nachts schlaflos lag. Die Fenster offen. Vom Innenhof die kühle Luft reinkam. In einer Jurte leben. Umherziehen. Unter freiem Himmel schlafen. Morgens ging er immer ins Ministerium. Lässiger Anzug. War nur eine kleine Nummer. Manchmal durfte er für den Chef Reden schreiben. Neulich hatte er sich einen Bart wachsen lassen. Über die Feiertage angefangen. Nein, nicht wie Dschingis Kahn. Für einen Hipster-Bart war er zu kurz. Und zu licht. Sein Chef hatte seltsam geschaut. Ein paar Tage später hatte er ihn abrasiert. Seine Freundin mochte ihn auch nicht. Wenn er nicht einschlafen konnte, lag er oft lang auf dem Bett und träumte. Oder setzte sich auf den Balkon. Sternenhimmel. Als wäre er in der Steppe. Um ihn herum Yaks. Der Wind erzählte von der Steppe. Morgen würde ein anstrengender Tag werden. Manchmal traf man Mongolen in Berlin.

Stefan Heyer

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freiTEXT | Robin Krick

Das Geständnis

Seit die Dienstvorschriften geändert wurden, dürfen wir die Hauptverdächtigen nicht mehr aufs Revier holen, um ihnen durch Schläge und Anbrüllen das Geständnis zu entringen. Unser Dienstherr ist neuerdings der Ansicht, dass es schädlich sei, die Verdächtigen zu beeinflussen. Der Wahrheit – so drückte er sich aus – müsse Gelegenheit verschafft werden, ganz von selbst durch den Mund des Delinquenten ans Licht zu kommen. Meine Arbeit beschränkt sich jetzt darauf, bloß dazusitzen, abzuwarten und im entscheidenden Moment alles zu notieren. Inzwischen bin ich täglich in der ganzen Stadt zu Hausbesuchen unterwegs, wobei mich das Unterwegssein an sich nicht stört, vor allem, wenn ich an die trübsinnigen Stunden im Büro denke. Dennoch steige ich nur widerwillig in den Dienstwagen. Ich erfahre erst jetzt wieder bei meinem neuesten Fall, wie nutzlos meine Arbeit doch geworden ist: Drei Stunden lang saß ich dem Delinquenten mit dem Notizblock in der Hand auf dem Sofa gegenüber und alles, was er von sich gab, waren schwache Seufzer, ein dumpfes Schluchzen und ein gelegentliches Hochziehen der Nase.  Dann hatte er auch noch begonnen, sich mit dieser Orange zu beschäftigen. Wohl eine halbe Stunde lang musste ich mitansehen, wie er sinnlos und selbstvergessen daran herumschabte, ohne auch nur die Schale vom Fleisch zu lösen. Peinlich war es, zu beobachten, wie er sich dabei mit dem Handrücken immer wieder über den offenen Mund fuhr, um den Speichel abzuwischen. Es geschah wohl aus einem kurzen Moment der Schwäche heraus, dass ich mich plötzlich über den Couchtisch beugte und ihm den Dienstausweis drohend vors Gesicht hielt. Es fehlte nicht viel, und ich hätte ihn auch noch beim Kragen gepackt, aber dann dachte ich wieder daran, dass ich mir ja vorgenommen hatte, mich unbedingt und so streng wie nur eben möglich an die neuen Vorschriften zu halten, um so dem Dienstherrn endlich ihren Unsinn zu offenzulegen. Ich ging ans Fenster und streckte den Kopf hinaus in die Dämmerung. Von der Stadt her drang ein dumpfes Trommeln und Wummern durch die Luft. Unten auf dem Gehsteig sah ich einen Mann in Tarnkleidung gehen. Er hatte sich das Gesicht schwarz angemalt und stach mit einem langen Messer auf die Mülltonnen am Straßenrand ein. Potthoff, mein Assistent, drängte sich zu mir ans Fenster und flüsterte mir irgendetwas Unverständliches zu. Zu allem Übel hatten sie mir den nervösen Potthoff an die Seite gestellt. Ich hatte gleich gewusst, dass es ihm niemals möglich wäre, sich auch nur zum Schein an die Vorschriften zu halten, daher hatte ich ihn angewiesen, während des Verhörs bei der Wohnungstür zu warten und meinen Mantel bereitzuhalten. Ausgerechnet in diesem  Augenblick musste er die Nerven verlieren. Er wollte gar nicht mehr aufhören, an meinem Ärmel zu zupfen, und als ich ihn beiseite stieß, wagte er es auch noch, sich zu widersetzen. Um ihn nur irgendwie abzulenken, machte ich ihn auf den Mann unten auf der Straße aufmerksam, der womöglich ein Mörder war, aber Potthoff fasste es ganz falsch auf, dass ich mit dem Finger hinaus auf die Straße deutete, und dann geschah es, dass der dumme Potthoff einfach aus dem Fenster sprang. Hoffentlich ist ihm nichts passiert.

Robin Krick

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freiTEXT | Slata Roschal

Ich dachte, dass ich die Stadt verschlingen werde, sie austrinken werde, all ihre Geschäfte, riesige Werbeplakate, endlose, ineinander verwickelte Straßen, das Wirrwarr bunter Gesichter, das Chaos von Babylon, aber sie war es, die Stadt, die mich verschlang. Ich reiste mit einer Tasche an und kehrte mit dreien zurück, ich wollte auf dem Bahnhof Unterwäsche, Pralinendosen, Sushi kaufen, und trug stattdessen sieben antiquarische Bücher und reduzierte Schokolade zweiter Wahl davon. Am ersten Tag nahm ich zwei Kopfschmerztabletten und überlebte bis zum Abend, am zweiten Tag brach ich auf der Straße samt meiner Taschen zusammen und übergab mich. Dann lag ich auf dem Bett eines Bekannten, der mich aufnahm, wälzte mich hin und her und überlegte, was ich falsch gemacht haben könnte, warum mein Körper die Stadt nicht annahm, meine Blutgefäße, meine Schläfen, mein Magen, meine zitternden Hände, sie protestierten gegen die Stadt. Die Stadt war nicht für Menschen wie mich geschaffen, sie war von Menschen gemacht, die kräftige Mägen, starke Hände und breite Schädel hatten, ich war ein Fremder, ein Ausstädter, eine kurzsichtige verwirrte Person vor dem Anzeigentableau der Bahnhofshalle. Ich freute mich zunächst auf die Stadt, wie Rotkäppchen auf ihre Großmutter, ein kleiner Ausflug, eine willkommene Abwechslung, aber der Weg wird lang und immer länger und anstelle der Großmutter liegt ein böser Wolf im Bett und Rotkäppchen läuft wieder zurück nach Hause. Der Wolf ist spannend, eine willkommene Abwechslung, mit ihm könnte man so viel Spannendes machen, sich zu ihm ins Bett legen, den Wein öffnen, seinen Geschichten vom Leben im Wald lauschen, aber Rotkäppchen und der Wolf, das kann nicht gut gehen. So stehe ich auf dem Bürgersteig einer kilometerlangen Straße, stelle mich mit dem Gesicht zur Wand eines Wohnhauses und übergebe mich. Eine phantastische Stadt, die altmodischen Vitrinen, antiquarische Läden, alternative Cafes, vegane Pizzas, türkische Obstläden, vietnamesische Schneidereien, verhüllte Frauen, ich möchte ihnen hinterherrennen und in ihr Gesicht schauen, so schöne Gesichter, so schöne Augen, diese schwarze Ungewissheit über ihren Hüften, sie laufen ihren Männern hinterher, ich laufe ihnen hinterher und verirre mich endgültig, was will ich von ihnen, wo bin ich, wohin will ich. Ich übergebe mich mit dem Gesicht zur Wand, die Stadt wirkt eigentümlich, kaum habe ich sie erfasst, presst sie mich aus und schlägt meinen Kopf gegen die Haustür. Mir ist schlecht, sage ich, mir ist übel, ich kann hier nicht schlafen, ich habe zwei Tage nicht geschlafen, wie soll ich weiterleben, wenn ich nicht schlafen kann, hier möchte ich begraben werden, genau hier, neben dieser Ampel.

Slata Roschal

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freiTEXT | Maria Hengge

Geflüstertes Paar

„Treffen wir uns an der Ecke?“ bittet er sie und da stehen sie im Regen unter der Laterne mit Wackelkontakt. Sie leuchten auf und sind wieder im Dunkeln. „Du meine“ flüstert er und wischt sich einen Tropfen von der Nase. Sie nimmt seine Hand: „Lass uns irgendwo reingehen.“ - „Nein, nein!“ Er versteckt seine Hände tief in die Manteltaschen. Im Licht sucht sie seine Augen. Er senkt den Blick. Im Dunkeln umarmt sie ihn. Er löst sich von ihr. Sein Atem schwer. „Was ist denn los?“ - „Nichts, nichts.“ Er raschelt in seinen Manteltaschen. Ihr frieren die Zehen. Sie stehen in einer Pfütze. „Komm, wir gehen ins Trockene.“ Er rührt sich nicht. Eine fremde Stimme murmelt aus ihm: “Wir geben das Haus auf!“ - `Und ich bin schuld` fährt ihr durch den Sinn und setzt sich in ihr Gesicht. Er sucht ihre Wange: “Nein. Das hat mit Dir nichts zu tun.“ Das Licht erlischt. Raschelnd taucht er seine Hände in seine Taschen. „Was hast du da?“ Sein Atem stockt. „Sag mir doch!“ Schwer wiegt er seinen Kopf und seine Augen fliehen „Du meiner!“ flüstert sie und umschlingt ihn zum Kuss. Lange stehen sie so. Aus seinem Mantel zieht sie Briefe heraus. „Sie hat sie gefunden.“ murmelt es aus ihm. Im Dunkeln wird ihr Atem ganz still. „Du musst Geduld haben“ fleht er, doch seine frierende Hand weckt eine Flut in ihr und schwemmt ihn fort. Eine ganze Weile kniet sie in der Pfütze und wäscht Papier. „Hallo“ ruft eine Stimme über ihr. „Hal-lo“ ahmt sie nach und wendet sich müde einem jungen Mann zu. Er reicht ihr die Hand. „Zaza“ stellt er sich vor und seine Geste macht sie lachen. Sie will sich lösen, doch er nennt sie „Sonze“ und zieht sie zu sich heran. `Russisch wie meine Seele` fällt ihr ein. Sie setzen sich auf eine Bank im Park, der längst verlassen ist und blicken auf die schwarzen Bäume. Der Zeit verloren erinnert sie sich an eine Reise. Zazas lange Beine fliegen über den Abgrund. Im Treppenhaus riecht es nach Kirche und er trägt sie hoch bis in ihr Bett. „Du meine“ hört sie ein Echo letzter Nacht. „Komm“ flüstert sie und als Zaza kommt, klingelt ihr Telefon. Nein. Sie ruht an einer anderen Brust. Schwach schlägt sein Herz und ihre Arme knicken um den jungen Mann. Er reißt sie nicht an sich in stürmischer ja flehender Umarmung: „Meine, du meine, verlass mich nie!“ Sein fremder Geruch treibt sie an den Rand ihres Bettes. Morgens birgt Zaza seine Augen hinter einer Sonnenbrille und sucht jemand zu sein, der finster blicken muss. „Peng-peng!“ schießt sie ihn ab. Seine Lippen flüchten über ihre und seine Schritte klatschen im Treppenhaus wie Ohrfeigen. Sie schließt die Tür, das Telefon schweigt und die Buchstaben schwimmen in der Pfütze.

Maria Hengge

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freiTEXT | Sara Hauser

Der Springer

Ein Mann zog sich einen Spezialanzug an, stieg in einen Heißluftballon und fuhr damit in den Himmel hinauf bis er die Erde nur noch als kleine Kugel sehen konnte.

Dann bekam er Heimweh und sprang aus dem Korb.

Er verfehlte die Erde nur knapp.

Sara Hauser

bereits erschienen in ]trash[pool Nr.6 

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freiTEXT | Peter Berg

Spieglein, Spieglein

Weshalb ich jenes Foto gelöscht habe, wollte mein Freund Christian wissen, eines der Bilder von unserem letzten Auftritt. Und ich wusste nicht so Recht, was ich darauf antworten sollte. Außer dass, mit zunehmendem Alter, sich der Sinn für Ästhetik weiterentwickelt. Anderenfalls nämlich müsste ich zugeben, dass ich wohl immer hässlicher werde.

Erst neulich habe ich mein Spiegelbild dabei ertappt, wie es näher und näher rückte, so als würde es mich kaum erkennen, als würde es sich wünschen, wir hätten nicht viel gemeinsam. Diese Falten, und diese Augenringe! Und Peter? Wieso hast du eigentlich so eine große Nase? Na weil… Damit ich besser… Nee, keine Ahnung. Ich bin olfaktorisch blind!

„Quatsch,“ sagte mein Freund Christian, „du bist überhaupt nicht hässlich. Jedenfalls nicht direkt. Du bist nur eitel!“

Ich hoffe, er hat Recht. Ich hoffe, ich bin niemand, den nicht mal eine Mutter lieben kann. Der Vorteil der Eitelkeit ist jedoch: Man sucht die Fehler nicht bei anderen.

Deshalb dachte ich vor einiger Zeit, es läge vor allem an meiner Figur. Da mein Sinn für Ästhetik mir jedoch den Kauf einer Jogginghose verbietet, hatte ich stattdessen eine Personenwaage gekauft. Extra große Ziffern und ausgelegt für 180 Kilo. Das sollte genügen, selbst in schweren Zeiten, meint man doch. Allerdings: Die Waage erzielte kaum einen Effekt, ich wurde nicht dünner. Nicht, bis ich die Hauslatschen weg ließ, …nur wenig erniedrigend. Später dann Sweatshirt, Hose, Unterwäsche.

Als ich dann noch zu diskutieren begann, jedes Mal, wenn ich nackt vom Klo kam, vielleicht war es auch schon mehr so eine Art Wimmern: „Komm schon, wenigstens eine Kommastelle!“, habe ich die Waage zurückgegeben.

Man merkt es wahrscheinlich kaum, doch einer der Nachteile der Eitelkeit ist ein leichter Hang zum Selbstmitleid. Ich glaube aber inzwischen auch nicht mehr, dass die Figur eine so große Rolle spielt. Ich meine: Vielleicht ist es ja weniger das Gewicht als das Gesicht. Nur um ganz sicher zu gehen, hatte ich vor einiger Zeit begonnen, mir einen Bart stehen zu lassen. Manche Frauen lieben das, habe ich gehört. Mutter offenbar nicht. Sie erschrak und wollte ihren Sohn nicht einmal umarmen. Wo meine Mutter jedoch nur Faulheit vermutet, fürchtete Vater eine Art Sinneswandel. Ob ich zum Islam konvertiert sei, wollte er wissen. Nun ja, wenigstens die Katze verhielt sich wie immer und fauchte mich an.

Tiere allerdings haben es in dieser Beziehung auch sehr einfach, denn egal ob sie nun pummelig sind oder ein wenig zerzaust: Sie sind eigentlich immer niedlich. Und auch fotogen! Zumindest, wenn es nach meinem Freund Christian geht, dessen Urlaubsbilder stets auch eine kleine Kollektion plattgefahrener Vögel enthalten.

Und ich bin überzeugt, dass Tiere ahnen, wie sie wirken. Vielleicht sind sie nicht unbedingt eitel, sie mögen sich aber selbst, so viel steht fest. Mein fetter Wellensittich etwa, zu albern: Sobald man ihm einen Spiegel vorhielt, begann er zu tänzeln und irgendwelchen Kauderwelsch zu brabbeln.

Beneidenswert, wenn man so unbefangen sein kann, wenn man keinen Sinn für Ästhetik zu haben braucht. Gelegentlich aber hat man selbst auch solche Tage. Das sind jene, an denen man sich zufällig in den Schaufensterscheiben bemerkt, und man sagt zu sich selbst: „He, siehst aber gut aus heute! Die Hose macht doch nicht so fett.“

Dabei wird man vielleicht auch ein wenig übermütig und probiert mal eine neue Gangart aus. Zu albern! Denn hinter einem dieser Schaufenster, an denen man gerade vorbei schlurft, ist ein Café. Gäste hören plötzlich auf, an ihren Getränken zu nippen: War das nicht eben Peter Berg? Sah aus als würde tänzeln und irgendwelchen Kauderwelsch brabbeln.

Wie auch immer. Mein Freund Christian hatte schon am nächsten Tag ein neues Foto hochgeladen. Eines, das mich mit einer pochenden Ader am Hals zeigt, mit Falten auf der Stirn und mit Augenringen. Aber Leute mochten es. Und vielleicht hat er Recht. Vielleicht bin ich ja nur eitel. Damit gleichwohl bin ich nicht allein.

Denn was passierte, als ich die Waage zurück bringen wollte? Zunächst nicht viel: „Umtausch ausgeschlossen!“ Aber die sei kaputt, behauptete ich vor den skeptischen Augen der Verkäuferin.

„Blödsinn.“

„Hier bitte,“ sagte ich, „testen Sie!“

Als dann die extra großen Ziffern zu leuchten und ihre beiden Kolleginnen zu kichern begannen, erhielt ich mein Geld zurück.

„Sie haben völlig Recht, die ist offenbar kaputt!“

Peter Berg

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freiTEXT | Roman Wallat

Nancy

Ich tippele auf dem Bürgersteig herum. Allein die Tatsache, von ihr abgeholt zu werden, versetzt mich in Neugierde. Wir wollen zu dritt irgendwohin, mit noch anderen Leuten was machen. Abends `n Bierchen, vielleicht an den See. Ich kenne ihre Freundin.

Sie kommt vorbeigerauscht in diesem roten, alten Volvo. Ich sehe ihr Gesicht, edel, sehr edel, öffne die Autotür und springe hinten in den Wagen hinein. Sie fährt los, und ich weiß nicht, vielleicht haben wir keinen Redestoff, keinen Ansatz, vielleicht ist es aber auch etwas anderes, etwas komplett Entgegengesetztes, wir sind nur ein paar Straßenzüge unterwegs, ein paar vergilbte Häuser, da kommt sie auf die Idee, die Kassette in den Player zurückzudrücken, und ehe ich so richtig schnalle, was hier gerade abgeht, kommt mir von vorn brettlaut Nirvana entgegengedröhnt. Das macht mich nervös. Das elektrisiert mich! Bisher hatte ich diese Dame unter French-Pop abgelegt. Ich meine, ich kenne sie... - vom Sehen!

Ich kurbele das Seitenfenster herunter. Ein Windzug, das Grün der Sommerbäume, Sonne und Schatten im Wechselspiel, ein paar bunt-berockte Mädels auf ihrem Weg ins Kino. Die Luft ist noch warm, es wird wohl keinen Regen mehr geben. Ich blicke nach vorn - und sehe ihre Beine von der Seite. Edel verpackt in eine grüne Lederhose, sehr coole Beine, dazu dieser killende Gesang von Cobain, der sowieso der totale Hammer ist, immer mehr mein Spaß-Bruder...

Ein neuer Song von diesen drei Strand-Typen aus Seattle, diesen natural born Marokkanern, diesen Song-Anarchisten und plötzlich verwischt alles, die Welt vibriert, draußen ist es heiß, brüllend heiß, das ist für sich gut, es gibt auch nichts mehr zu erreichen, alles quasi in cosmischer balance, die junge Dame da vorn ist vielleicht außer Reichweite, aber das ist alles egal, totally equality, ich habe Lust, mir jetzt sofort ein Bierchen zu köpfen oder auf dem Rücksitz herumzuhüpfen wie ein Verrückter - scheiße, ich komme mir vor wie ein willkommener Außenstehender. Und blicke mal wieder nach vorn. Schwarze Haare, blasse, lange Wangen, geschwungener roter Mund. Eine Französin. Und was macht sie? Sie summt mit den Jungs mit. Elegant, dunkel, schön und sexy. Ich werde wieder unruhiger.

Wir kommen an einer Ampel vorbei, sie fragt mich, ob mir die Musik gefällt, ich sage ja, klar. Ihr Haarspray liegt in der Luft. Wir kurven weiter durch den Sommerabend. Dann kommen wir zu der Wohnung unserer Freundin.

Das war's dann erst mal.

Roman Wallat

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freiTEXT | Jörn Birkholz

Mit den Augen meines Bruders

Seine Wohnung roch wie immer muffelig. Ich ging, oder kämpfte mich durch die Zimmer. Überall lagen Sachen herum, zumeist Bücher, Zeitschriften oder Papier, dazwischen Geschirr mit eingetrockneten Essensresten. Knapp zwanzig Jahre hatte er hier gehaust. In dieser kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung im fünften Stock eines Sozialbaus. Ich hatte ihn schon lange nicht mehr besucht, die Kinder auch nicht. Er hatte seine Nichten bestimmt seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. So hatte er nicht mal mehr mitbekommen was für verwöhnte, gelangweilte und Smartphone abhängige Teenager sie inzwischen geworden waren. Und trotzdem konnten sie mich jederzeit um den Finger wickeln. Ein Vater kann eben nicht aus seiner Haut. Es war alles Monikas Schuld; irgendjemandem muss man ja schließlich die Schuld geben. Monika wollte nicht mehr, dass er uns besuchte, und ihn besuchen wollte sie schon gar nicht. Sie war nie besonders gut mit meinem Bruder zurechtgekommen, besonders nicht in den letzten Jahren, in denen er sich immer mehr zurückgezogen hatte. Die Grillparty vor sechs Jahren – das letzte Mal, als er bei uns gewesen war – wäre beinahe in einer Katastrophe geendet. Nicht nur, dass er beim Feuermachen beinahe die Terrasse abgefackelt hätte, er hatte die Mädchen später auch noch erfolgreich zum Weintrinken animiert, und dabei waren die beiden damals gerade mal sechs Jahre alt gewesen. Zoé übergab sich die ganze Nacht über, und wir (hauptsächlich Monika!) hatten sogar überlegt, den Notarzt zu rufen.

Dein Bruder betritt unser Haus nie mehr, schrie Monika außer sich. Ich musste es ihr versprechen, was nicht so schwierig war, denn Moritz verlangte es nicht danach wiederzukommen. Er fand meine Töchter gewöhnlich, und Monika hielt er für kalt und begrenzt. Er brauchte es mir nicht mal zu sagen. Ich sah’s an seinem Blick. Der Blick sagte alles, und er verletzte mich. Dieser Blick verletzte mich deshalb so sehr, weil ich wusste, dass Moritz nicht ganz falsch lag. Und leider lag er sehr selten falsch. Außer in seinem eigenen Leben. Für mich war es immer ein Rätsel geblieben, wieso er aus seinem Potential nichts gemacht hatte, außer dieser dämlichen Schreiberei, die ihm in knapp dreißig Jahren wahrscheinlich weniger als tausend Euro eingebracht hatte.

Werd doch Journalist, wenn’s mit deinen Texten nicht so richtig läuft, schlug ich ihm einmal vor.

Er lachte bloß und sah mich mitleidig an, obwohl doch eigentlich ich ihn so hätte anschauen sollen.

Was bringen dir deine vier Buchveröffentlichungen, wenn die Dinger kaum ein Mensch liest, provozierte ich ihn weiter. Wie zum Teufel willst du davon leben?

Wieder lächelte er bloß nachsichtig und entgegnete, und das in keineswegs herablassendem Ton:

Bruder, es würde mich ehrlich freuen, wenn du leben würdest, und wenn’s nur mal einen Tag lang wäre.

Seine Überheblichkeit – die gar keine Überheblichkeit war, was ich aber erst kürzlich begriffen hatte – machte mich rasend.

Dann leb doch wie ein Penner, bellte ich weiter, inmitten all deiner Bücher und Zeitschriften, wenn dich das glücklich macht, bitte, aber lass uns  in Frieden.

Um ehrlich zu sein, ließ er uns in Frieden. Nie hätte er uns belästigt, oder um irgendwas gebeten, er kam zurecht, wenn es sein musste, aß er eben mal zwei Tage kaum etwas. Ständig stand er im Konflikt mit dem Jobcenter, das ihm in stumpfer Regelmäßigkeit Maßnahmen wie Pizzakurier, Straßenkehrer oder Zeitungsausträger aufzwingen wollte, worauf mein Bruder seinem Fallmanager jedes Mal ins Gesicht lachte, oder ihn mit Eichmann verglich, was ihm, neben den Sanktionen, auch noch eine Strafanzeige wegen Beleidigung eingebracht hatte.

Ich musste mir eingestehen, dass ich meinen Bruder gar nicht aus Schuldgefühl besuchte, sondern nur darum, weil es mir damals unangenehm war, einen jüngeren Bruder zu haben (ich war ein Jahr älter als er), der wie ein Aussteiger oder Penner lebte. Schließlich wohnten wir in einer Kleinstadt, jeder kannte jeden. Monika hatte sich mehrfach wütend bei mir beschwert, dass sie beim Einkaufen oder beim Friseur darauf angesprochen worden war, dass mein Bruder mal wieder betrunken singend durch die Einkaufspassage oder über den Marktplatz getorkelt war. Dabei war er kein Alkoholiker, er trank wahrscheinlich sogar deutlich weniger als jedes durchschnittliche Mitglied im Schützenverein. Nur wenn, dann lebte er es aus, und die Menschen, die ihn dabei beobachteten scherten ihn einen Dreck. Gelegentlich musste ich ihn auch bei der Polizei abholen, wenn sie ihn mal wieder irgendwo aufgelesen hatten. Widerstandslos hatte er sich dann immer abführen lassen, und brav die Nacht in der Ausnüchterungszelle verbracht. Monika war jedes Mal vollkommen außer sich gewesen, und verbat mir zukünftig ihn da raus zu holen, was ich natürlich doch wieder tat und was dann meist einen heftigen Streit mit ihr nach sich zog. Aber was sollte ich machen, er war schließlich mein Bruder. Im Stillen bewunderte ich ihn, obwohl ich niemals so hätte leben können. Schon gar nicht ohne Frau, auch wenn ich letztendlich nur so ein schlichtes Exemplar wie Monika ergattert hatte. Er hatte ja immerhin ein paar Jahre seine Sophie gehabt – wenigstens das. Die beiden waren unzertrennlich gewesen und das nicht mal auf unangenehme Weise. Bis sie schließlich einer Hirnhautentzündung erlag - aufgrund eines lächerlichen Zeckenbisses! Danach waren Frauen für ihn kein Thema mehr gewesen. Aber auch Monika hatte ihre guten Seiten; sie mochte Sex, wenn auch heutzutage nicht mehr so stark, wie, bevor die Kinder kamen. Aber Sex ist ja nun einmal das zentrale Bindeglied einer Ehe, da wird mir keiner was anderes erzählen. Und derjenige, der das tut, belügt sich selbst. Mir war schon damals klar geworden, dass ich das, was Moritz und Sophie miteinander verband - diese Art von Intensität - mit Monika niemals würde erreichen können. Aber was soll’s, und was lohnt es sich darüber nachzugrübeln; Sophie war jetzt bereits seit neun oder sogar zehn Jahren unter der Erde, und Monika erfreute sich noch immer bester Gesundheit. Selbiges galt für ihre Hirnhaut, denn Zeckenbisse hatte sie in den letzten Jahren unzählige gehabt. Kein Wunder, so viel wie sie immer in unserem Garten herumwuselte.

Schreibst du eigentlich auch Lyrik hatte ich ihn einmal gefragt.

Bist du wahnsinnig, so tief würd ich niemals sinken, hatte er lachend geantwortet.

Mir war es im Grunde ganz gleich, was er schrieb. Auch Monika hatte sich nie für die schriftstellerischen Ergüsse meines Bruders interessiert. Dazu war ich mir sicher, dass sie sie abgelehnt hätte, obgleich ich zugeben muss, dass auch ich mir nicht sicher war, ob sie mir gefielen. Sie waren mitunter sehr derb, wenn auch teilweise witzig und oft mit feinen Beobachtungen gespickt, aber was versteh ich schon von Literatur.

Zu glauben, Literatur zu verstehen oder eben nicht, ist lächerlich, sagte er einmal. Jeder glaubt sie ohnehin nur aus seiner eigenen begrenzten Glasblase heraus zu begreifen. Müßig sich darüber den Kopf zu zerbrechen, also lass es am besten.

Ich ließ es. Und auf meine Frage wie viele Exemplare er von seinen Romanen verkauft hatte, entgegnete er auch immer nur dasselbe.

Keine Ahnung, frag meinen Verlag.

Das war unser Running Gag, wenn ich ihn besuchte und das fragte. Sein Verlag war vor einigen Jahren in Konkurs gegangen. Sie hatten ihn sogar um die letzten fälligen Tantiemen beschissen, aber Moritz war das vollkommen egal. Geschriebene Bücher gehörten für ihn ohnehin zur Vergangenheit, genau wie das Frühstück, über das sich am Abend auch kein Mensch mehr Gedanken macht. Selbiges galt für den Abverkauf seiner Bücher. Es war ihm Scheißegal. Ich konnte es manchmal selbst kaum glauben. In seiner Wohnung lagen auch dutzende, mitunter total verstaubte Literaturzeitschriften herum - mit so hochtrabenden Namen wie „Perspektive“, „Am Erker“, „Akzente“, „Das gefrorene Meer“, oder „Sinn und Form“ in denen er mal etwas veröffentlicht hatte. Nachdem ich erfahren hatte, dass fast keine davon ihren Autoren auch nur einen Cent bezahlt, und man lediglich ein oder zwei dämliche Freiexemplare bekommt, hätte ich die Teile am liebsten in den Müll geworfen.

Mach doch, wenn du willst, hatte mein Bruder mich immer wieder ermuntert, aber dafür war ich dann doch zu faul.

Es gibt sowieso zu viele Zeitschriften, fügte er noch hinzu, genau, wie es zu viele Autoren, Banker, Anwälte und dämliche Politiker gibt, und die meisten davon sind genauso nutzlos und überflüssig wie ich es bin.

Warum machst du es dann?

Ich wüsste nicht was ich sonst machen sollte, antwortete er trocken, es schirmt mich ab gegen den Schwachsinn und die Borniertheit da draußen.

 

Gott ist das staubig hier, dachte ich, als ich weiter durch seine Wohnung latschte. Abermals nahm ich mir willkürlich einen seiner Texte zur Hand, die überall in der Wohnung verstreut herumlagen. Einige handschriftlich, einige am Computer geschrieben. Die Handschriftlichen konnte ich kaum entziffern, und die in den Computer gehämmerten erschlossen sich mir nicht immer. Vielleicht waren es unvollendete Entwürfe, aber womöglich war ich jetzt einfach nicht in der Stimmung seine Arbeiten zu lesen.

Mein Bruder fehlte mir, obwohl ich ihn vor dem Unfall seit knapp einem Jahr nicht mehr gesehen hatte. Es hatte mir immer genügt zu wissen, dass er da war. Was mach ich bloß mit seinem ganzen Kram? Seinen Verlag gab es ja nicht mehr, wem sollte ich es dann schicken, einem anderen Verlag, und wenn ja, welchem? Oder es vielleicht doch alles in ein paar Kartons stopfen und erstmal bei uns im Keller lagern - Monika würde sich freuen - oder einfach alles wegschmeißen. Dieser Idiot! Konnte er nicht besser aufpassen, wenn er über die Straße latscht. Heißt es nicht, Betrunkene und Kinder haben einen Schutzengel. Im Grunde war Moritz doch sogar beides, aber wo zum Teufel war sein verdammter Schutzpatron gewesen, der ihn sicher hätte auf die andere Straßenseite bringen müssen. War wohl nix. Man konnte ihn nicht mal mehr identifizieren, nachdem der Laster über ihn gebrettert war. Nur noch ein Haufen Autorenmatsch war übrig. In diesem Zustand konnte er Sophie im Himmel wohl kaum unter die Augen treten. Sie würde sich mächtig erschrecken. Was denke ich hier eigentlich für einen Unsinn? Verdammt mein Bruder fehlt mir.

Ich schlenderte weiter durch die Wohnung. Gott, ist die Luft hier staubig, meine Nasennebenhöhlen drehten schon durch. Ich holte mein Taschentuch raus. Scheiße, heute ist Mittwoch. Zoé muss ja zur Nachhilfe. Morgen ist die Klassenarbeit. Wenn ich sie da zu spät hinbringe, macht Monika mir wieder die Hölle heiß. Was soll’s, sonst findet sie einen anderen Grund, Gründe findet sie ja immer. Ich will noch ein bisschen hierbleiben, auch wenn die stickige Luft hier kaum auszuhalten ist. Vielleicht sollte ich endlich mal ein Fenster aufmachen. Egal, ich muss sowieso gleich los, bin eh schon viel zu spät. Er fehlt mir, der verdammte Mistkerl, und doch hätte ich niemals mit ihm tauschen wollen, oder vielleicht doch - vielleicht wenigstens mal für einen Tag.

Jörn Birkholz

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Ostergeschichte

In allen Farben präsentierten sich die Schokoladenostereier in dem winzigen Schaufenster des Ladens von Dona Maria: blau, rosa, rot, weiß, lila, grün, gelb, nur nicht schwarz. Die schönsten waren so riesig, dass das kleine dunkelhäutige Mädchen sie nicht in einer Hand halten konnte. Die kleinen Eier aber waren so groß wie das Hühnerei, das sie morgens noch ganz warm aus dem Stall geholt hatte. Es schmeckte gut, vor allem als Spiegelei mit einem Dotter, der so glänzte wie die Mittagssonne.

Das kleine Mädchen lachte das große in Gelb eingepackte Ei im Schaufenster an, wo sie auf dem Rückweg von der Schule vorbeikam. Morgens um sieben, wenn sie zur Schule ging, waren die Ostereier hinter einem Rollladen versteckt. Wenn der Unterricht beendet war, rannte das Mädchen aus der Schule, damit sie mehr Zeit hatte, ihr Osterei zu betrachten, bevor das Geschäft zur Mittagspause schloss. Die alte Ladenbesitzerin mit dem strengen Gesicht fragte nicht, ob das Mädchen etwas wollte. Von draußen konnte niemand die Eier stehlen, denn sie standen hinter einem Glasfenster, so dass nur Dona Maria sie mit ihrer großen Hand erreichen konnte. Das Mädchen ging weiter. Die Mutter wartete auf sie, um ihr ein Spiegelei zu braten.

„Hast du wieder vor dem Schaufenster gestanden?“ Das Mädchen ließ sich auf den Küchenstuhl fallen und nickte. Die Mutter stellte einen Teller vor sie auf den Tisch. Der Dampf von Reis und schwarzen Bohnen stieg ihr ins Gesicht. Die Pfanne mit dem heißen Fett stand auf dem Herd. Die Mutter nahm ein Ei aus einem Korb der wie ein Huhn geformt war. Da rief das Mädchen: „Nein, Mama! Bitte nicht!“ „Was? Willst du heute kein Spiegelei?“ „Doch, aber ich könnte stattdessen jeden Tag ein Ei verkaufen. Es sind noch drei Wochen bis Ostern.“ „Ja, aber mit dem Geld könntest du gerade einmal ein Ei so groß wie eine Kirsche kaufen.“ Die Mutter hielt das Ei in der Hand. „Wem willst du es denn verkaufen?“ Das Mädchen ließ den Kopf sinken.

Am folgenden Tag holte das Mädchen ein Ei aus dem Stall, wickelte es sorgfältig in Brotpapier und nahm es in ihrem Ranzen mit zur Schule. Als es zur Pause schellte, wartete sie, bis ihre Mittschüler fort waren. Dann ging sie zum Lehrertisch und blieb stehen. Die Lehrerin saß dort und schrieb konzentriert im Klassenbuch. Nachdem sie das Buch geschlossen hatte, berührte das Mädchen die linke Hand der Frau, legte das ausgepackte Ei hinein und blieb wortlos stehen. „Ah! Meine Liebe!“, sagte die Lehrerin und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Eilig lief das Mädchen hinaus. So geschah es jeden Tag in der Pause. Das Mädchen blieb sitzen und wartete, bis alle Mitschüler den Raum verlassen hatten, holte ein Ei aus ihrem Ranzen, ging zum Lehrertisch, blieb stehen und hielt es der Lehrerin wortlos hin.

Am Mittwoch vor Ostern bekam die Lehrerin das letzte Ei. Wie immer bedankte sie sich mit einem Kuss auf die Wange, und das Mädchen verschwand still in die Pause.

Nach der Schule blieb sie wieder am Ostereierfenster stehen. Es standen nur noch ganz wenige Eier dort, aber ihr gelbes Schokoladenei glänzte wie die Sonne.

„Hast du schon das Geld für dein Osterei?“ „Nein, Mama. Meine Lehrerin hat mir noch nichts bezahlt.“ Sanft klopfte ihr die Mutter auf die Brust. Aus dem Teller stieg der Dampf von Reis und schwarzen Bohnen dem Mädchen ins Gesicht. Sie aß schweigend.

Am Ostersonntag Morgen, als das Mädchen die Küche betrat, stand ein großes eiförmiges Gebilde, glänzend wie die Sonne, auf dem Tisch. Die Ananasblätter schauten aus der Verpackung heraus.

Am ersten Schultag nach Ostern, als die Kinder in die Pause gingen, blieb das Mädchen sitzen. Die Lehrerin schrieb etwas ins Klassenbuch. Dann holte sie unter ihrem Tisch eine große Papiertüte hervor, lief zu dem Mädchen und überreichte sie ihr. Das Mädchen musste aufstehen, um das Köpfchen in die Tüte stecken zu können. Sie entnahm ihr ein in Gelb eingepacktes Schokoladenei.  Es war so groß wie eine Ananas.

Elvira Santos

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