freiTEXT | Andreas Reichelsdorfer

Zwecks der öffentlichen Wirkung (1965)

Während der Anwalt versuchte, sich in der Zelle mit dem zum Tode Verurteilten zu verständigen, patrouillierte vor den Gittern die Selbstmordwache. Der Vollzug war für nächsten Donnerstag angesetzt.

Andreas Reichelsdorfer

Andreas ist Teil von Zweifel zwischen Zwieback, der 20. Ausgabe der Zeitschrift mosaik.

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freiTEXT | Maik Gerecke

Schriftstellernöte

Für mein Romanprojekt, in dem es um einen Swinger-Club geht, betrat ich die Höhle des Löwen, setzte mich mit einer Freundin in die U8 und fuhr zur Heinrich-Heine-Straße, um im berühmt-berüchtigten KitKatClub Berlin Input zu finden.

Und ich bekam, was ich wollte.

Schon als wir der Tür nur näher kamen, steigerte sich die Aufregung merklich. Wir zitterten etwas und ich hatte das Gefühl, meine Atmung unter Kontrolle halten zu müssen. Neben uns stiegen drei Kerle in Tutus und engen Strumpfhosen lachend aus einem Taxi und es war klar, wohin sie in diesem Aufzug wollten. Meine Begleitung packte mich sofort am Arm und beteuerte, wir müssten uns beeilen, um noch vor »denen da« die Türsteher zu passieren. Denn im Vergleich zu ihnen wirkten unsere Aufzüge äußerst langweilig. Vorallem meiner.

An der Tür wurden wir kurz aber eindringlich gemustert und ich sah die Skepsis in den Augen des Türstehers aufflammen. Er zuckte mit den Schultern, seufzte, schaute dann zu seiner Kollegin und sagte: »Mach du dit ma.«

Die erste Hürde war genommen, beim Bezahlen wurde es jedoch kritisch. Ich trug eine lange schwarze Hose, ein schwarzes T-Shirt und ein offenes schwarzes Hemd darüber. Die Frau an der Kasse musterte mich ungläubig und sagte: »Haste vor, dich noch umzuziehen, oder wie?« Ihr Blick verharrte auf meinem Körper. »Also so … nää, so jeht dit nich.« Und ich sagte nur: »Ähm …« und dann erst Mal nichts mehr.

»Naja«, mischte sich meine Begleiterin schulterzuckend ein, »er ist halt Schriftsteller« und verzierte ihre Aussage mit einer Was-willste-machen-Geste. Sie wolle einfach mal mit mir tanzen gehen, erklärte sie weiter, und setzte dann ein bittendes, zuckersüßes Gesicht auf. Passend zu ihrer pinken Strumpfhose.

»Na, dassa Schriftsteller is, is ja schon ma jut, aber kanna nich wenigstens dit T-Shirt ausziehen?«

Die Verhandlungen begannen. Witzigerweise erledigten die beiden Frauen den Bärenanteil der Gespräche. Ich war wieder acht Jahre alt, fühlte mich klein und als beobachtete ich Mütter, wie sie in der dritten Person über mich redeten.

Man versicherte mir, es habe nichts mit mir zu tun, ich könne sein, wie ich wolle, aussehen, wie ich wolle, aber eben nicht hier. Und nicht so! Das sei zu sportlich. Aber wenn ich, nun ja, das T-Shirt ausziehen würde und mit – zumindest halb – aufgeknöpftem Hemd rumliefe, dann, ja, ihretwegen. Und auch wenn die Angestellten des Clubs die gewohnte Strenge des Berliners aufwiesen, erfuhr ich sie als ungewöhnlich freundlich. Regelrecht einladend. Für Berliner Verhältnisse.

Ich musste mich also umziehen.

Aber wo tut man das hier doch gleich? Wo sind die Umkleidekabinen? Ich suchte vergeblich. Das Umziehen erledigt man direkt an der Tür, gegenüber von der Kasse, da aber noch kaum jemand anwesend war, bekam ich davon nichts mit. Also ging ich wie ein verschüchtertes Pastorentöchterchen aufs Herren-Klo, an ein paar nackten, mit Lederriemen behangenen Kerlen vorbei, verkroch mich in einer Kabine und zog mich um. In dem merkwürdigen Bewusstsein, einen Fehler zu begehen. Danach wurde ich erneut der Frau an der Kasse präsentiert, die mich jetzt freundlich anlächelte, mir dann auf die etwas behaarte, bleiche Brust starrte und sagte: »Na siehste! Das ist doch schon echt sexy!«

 

Ich war in keiner besonders guten körperlichen Verfassung an diesem Tag, da ich den Abend zuvor bereits ziemlich über die Strenge geschlagen hatte. Ausgerechnet heute hatte ich einen dieser Tage, an denen man schwört: Heute kein Tropfen Alkohol.

Wir gingen als erstes ein wenig durch den Laden, schauten uns alles an. Den Pool-Bereich, die Chill-out-Area, die verschiedenen Floors, Ecken und Ebenen. Es war noch früh und der Laden relativ leer. Die ersten nackten Kerle streunten bereits durch den Club oder saßen herum. Ich sah einen älteren Herren mit Lederoberteil, dessen bestes Stück von einem Metallring gehalten wurde, erste weibliche Brüste flogen durch mein Blickfeld und auch ein paar männliche. Ein Kerl in teurem Anzug und Krawatte fernöstlicher Herkunft, der mich an das Wort »Businesstrip« denken lies, inspizierte interessiert aber verhalten die Räumlichkeiten, kletterte dann irgendwann hoch auf das Podest mit den Poles darauf und begann zu tanzen. Vornehmlich mit den Hüften.

Dann kamen die Lederanzüge, die Hundeleinen, Ketten, Strapse, die hier von beiden Geschlechtern getragen werden, genau so wie die Netzhemden, Netzstrumpfhosen oder Stringtangas.

Ich brauchte Alkohol.

Die Reize wurden zunehmend reichhaltiger und ich dachte mir, ein guter alter Aufenthalt an der Bar würde mir eine kleine Auszeit verschaffen. Dort angekommen stellte ich fest, dass die Bedienungen nackt waren. Sowohl oben, als auch unten. Und aus einem inneren Impuls, Anstand walten zu lassen, bemühte ich mich reflexartig, meine visuelle Neugier zu unterdrücken. Nicht direkt hinzusehen. So richtig hatte ich das Prinzip dieses Laden noch immer nicht begriffen.

 

Drei Bier später ist der Laden auf einmal rappelvoll. Die Leute tummeln sich auf den Tanzflächen. Penisse, Vaginas, Brüste soweit das Auge reicht. Ich sehe Menschen in Ganzkörper-Bärenkostümen, Männer, die sich permanent am Glied herumfummeln. Mir verlangt es nach Bier – immer mehr Bier – und meine Knie werden schwach. Es ist, als geschehe ganz langsam etwas mit meinem Körper, das man nur auf einen Drogenkonsum zurückführen kann. Jeder Raum ist von einer bis ins Unendliche gesteigerten Scheißegal-Einstellung erfüllt, dass man glauben möchte, man befände sich in einer Parallelwelt. Plötzlich erkennst du Grenzen – in dir und der restlichen Welt –, weil sie auf einmal nicht mehr da sind. Du bist frei auf eine Art und Weise, wie du diesen Begriff noch nie zuvor verstanden hast. Ein Gefühl, glaube ich, nachdem man leicht süchtig werden kann.

Der Laden füllt sich.

Dieser Ort, er lockt dich mit süßen, nie gekannten Möglichkeiten zwischenmenschlicher Interaktion immer tiefer in sein Innerstes. Nackte Arschbacken berühren dich, eine Brustwarze streift deinen Oberarm, auf einem Podest tanzt ein alter, dünner Kerl in Strapse und Nylons mit einer zappelnden Erektion, lächelt zufrieden dabei. So zufrieden, wie es nur irgend geht. Ich lache, freue mich für ihn.

Ach, was soll's. Drauf geschissen. Also los, noch'n Bier geholt, Begleiterin geschnappt und ab in die Menge. Mein Taktgefühl wird zunehmend physiologisch ausgelebt und auf einmal ist das alles hier gar nicht mehr so schlimm. Menschen ziehen sich aus, klatschen sich auf die Hintern, peitschen sich, betreiben BDSM und ich denke: Ja. Warum denn auch nicht?

Ich rauche, rauche, rauche. Trinke, trinke, trinke. Tanze synchron dazu. Die ersten lüsternen Blicke von attraktiven, leicht bekleideten Frauen grienen mich an. Ganz offen und unverhohlen. Das ist ungewöhnlich in dieser Stadt, auch wenn ihr Ruf etwas anderes verspricht. So direkt werde ich normalerweise nicht beäugt, muss in der Regel viel mehr arbeiten für einen einfachen Flirt. Ist dies hier – dieser Ort – vielleicht das wirkliche Berlin, von dem jenseits seiner Grenzen so viel gesprochen wird?

Meine Hemmschwelle sinkt und sinkt. Sinkt immer weiter. Der Drang, zu der langbeinigen Blondine da drüben rüberzugehen, aus einem Lächeln die Berührung namenloser Zungen und Körperteile werden zu lassen, steigt. Aber dann suchen mich Gedanken aus der Welt da draußen wieder heim. Zweifel, Bedenken, Ängste. Was, wenn dies? Was, wenn das? Krankheiten, trickbetrügende Prostituierte, unerkannte Transsexuelle.

Ich lasse sie links liegen, nur so zur Sicherheit, aber da kommt schon die nächste, lächelt mir zu. Von etwas weiter weg. Größere Brüste, süßes Gesicht, breitere Hüften, dunkle Haare. Nicht schlecht, nicht schlecht, denke ich mir.

Warum, weiß ich nicht, aber ich erinnere mich an früher. Wieder bin ich ein kleines Kind, denke an die Besuche beim Fleischer mit meiner Mutter und wie die Frau hinter der Theke mir immer eine »Gesichtsmortadella« schenkte. So nannte ich sie. Ich denke an den Anblick des Fleisches hinter dem Glas und wie nur sie, die Fleischfrau, die Macht hatte, mir eine dieser Genüsse zu gewähren.

Aber dann, kurz bevor ich mich zu vergessen beginne, werde ich von meiner Begleiterin beiseite genommen, die mich wieder an die beruflichen Gründe erinnert, aus denen ich überhaupt erst hier her gekommen bin. Sie zeigt auf etwas, hat ein Gesicht, das sagt: »Schau mal, dort!« Denn hinter uns geht der Abend gerade in die nächste Phase über.

Das Gang-Bang-Armageddon beginnt.

 

Das KitKat verschluckt dich, definiert Normalität für dich neu. Man kann nicht leugnen, dass du an kaum einem Ort so sehr akzeptiert wirst, wie hier. Ob du alt, dick, kahl oder vollbusig bist, ob du männlichen, weiblichen, dritten, vierten oder welchen Geschlechtes auch immer bist – all das spielt hier wirklich keine so große Rolle. Ein Gefühl, dass mir keine political correctness dieser Welt je verschafft hat. Denn die gewöhnliche Werteskala ist schlicht außer kraft gesetzt. Es herrscht ein so ungewöhnliches Höchstmaß an Akzeptanz, Offenheit und Neugier. Die Menschen haben sich in der Sexualisierung des sozialen Miteinanders vereinigt. Und die Welt da draußen, sie wird in so weite Ferne getragen, wie es kein Zug, Flugzeug oder Raumschiff je bewerkstelligen könnte. Sie ist ansteckend, diese Atmosphäre. Es ist, als kämst du in die Hölle und würdest feststellen, dass die Schauergeschichten über sie sittlich befangene Verunglimpfungen waren. Keine objektiven Schilderungen.

In einer Ecke sehe ich jetzt die hübsche junge Frau liegen, die am Beginn des Abends auf der Tanzfläche noch ihren BH auszog, ein wenig tanzte und ihn dann wieder anzog. Ich dachte, es sei ihr dann doch zu viel gewesen, aber jetzt liegt sie da. Die Beine mit den Highheels daran in die Höhe gestreckt und um sie herum tummelt sich eine Horde Männer. Auf ihr liegt etwas, das aus meinem Winkel nur ein sich auf und ab bewegender Hintern mit zwei Oberschenkeln unten dran ist. Der nächste in der Reihe ist ein Kerl im Arztkostüm. Sein Vorgänger ist fertig und er klettert in die Ausgangsposition. Versenkt sein Glied.

Ein Dutzend Männer hämmert vor meinen Augen diese zierliche Frau – dieses Mädchen – durch und ich bin überrascht, dass es mich nicht so sehr schockt, wie erwartet. Mich wundert nur, dass ich kein Kondom am Penis des Arztes gesehen habe bevor er sich an ihr verging.

Ich schaue mich weiter um. Über uns auf der Hochebene hängen zwei Frauen über dem Geländer, hinter ihnen Männerschlagen, rechts und links Hände an ihren Brüsten. Die Frauen schreien lustvoll und mit geschlossenen Augen, aber weil die Musik so laut ist, hörst du es nicht. Siehst es nur. Mir ist, als schaute ich einen Porno mit einem VR-Helm und statt mich zu verkriechen, mich zu genieren, bemerke ich auf einmal Aktivitäten in meiner Hose und die Neugier in meinem Bauch kitzeln. Ganz so, als sei ich allein Zuhaus'.

Überall um mich herum wird gevögelt. Neben mir, hinter mir, über mir. Ich bin Schriftsteller denke ich mir. Stülpe mir diese Berufsbezeichnung über wie ein schützendes Tuch und mache mir mentale Notizen. Dabei interessieren mich die vögelnden Gruppen mehr als die vögelnden Paare. Die Erfahrenen Clubgänger, mutmaße ich, spüren es wahrscheinlich schon nahezu präkognitiv sich ankündigen, wenn eine Frau ihr Okay zu einem solchen Intermezzo aussendet. Gieren sehnsüchtig nach Gang-Bang-Gelegenheiten. Trauben aus gierigen, ungeduldigen Männern entstehen und die Frauen liegen dort wie eine Bienenköniginnen, entscheiden über Ja und Nein. Erleben einen beinahe religiösen Trance-Zustand des vollkommenen Kontrollverlustes.

Und nachdem ich mich von all diesen Eindrücken habe verprügeln lassen, nachdem mein Geschlechtsteil sich gegen mich verschworen hat, nachdem die Welt dort draußen nur noch eine vage Erinnerung ist, sagt meine Begleiterin zu mir: »Ich glaub', ich hab genug für heute.«

 

Wir verlassen den Club. Die Welt, die ich jetzt betrete, ist nicht mehr dieselbe. Die Straßen sehen »merkwürdig« aus, obwohl es genau die gleichen sind, wie vor ein paar Stunden noch. Sie sind unwirklich geworden. Überhaupt sind Realität und Wirklichkeit nur noch zwei deformierte Gebilde.

Minuten später sitze ich in der U8 auf dem Weg nach Neukölln. Völlig fertig. Erschlagen. Körperlich, psychisch und geistig. Die Normalität, durch die ich alltäglich wandele, sie verstört mich auf einmal. Ist irgendwie nicht mehr »richtig«. Ich schaue nach links, schaue nach rechts, wundere mich, dass die Leute nicht einfach vögeln, wäre nicht überrascht, wenn sie es täten. Hier in der U8. Warum auch nicht? Ist doch egal. Was ist denn unser soziales Miteinander, außer eine komplexe Systematik aus Grenzen und Privilegien, die Handlungen und Möglichkeiten in eine Ordnung bringt? Grenzen, die wir selbst – als Menschen – gezogen haben, um uns in ihnen zu bewegen, und die wir auch selbst problemlos übertreten können wie den weißen Streifen auf einer Fahrbahn.

Etwas aus dem KitKatClub muss mir gefolgt sein, sich an mich geheftet haben. Wie ein finsterer Dämon. Mir ist, als könnte ich in dieser Welt hier draußen nur noch mit großer Anstrengung funktionieren. Ich habe gesehen, was sein kann, habe erlebt, dass diese Welt hier nicht so sein muss, wie sie ist.

Die Erfahrungen, die ich machen, die Bilder und Eindrücke, die ich sammeln wollte – ich habe sie alle bekommen. Habe sogar feststellen dürfen, dass meine Fantasie in Bezug auf den geplanten Roman einiges davon vorweggenommen hat. Aber in die Menge der Erfahrungen hat sich eine Reihe unerwarteter Selbsterfahrungen eingeschlichen, die ich ohne den KitKatClub niemals hätte machen können. Dafür muss ich ihm und den Menschen darin danken. Ganz ernsthaft.

Und die letzte Erfahrung, die ich an diesem Abend machte, war eine, die ich bis jetzt noch nicht ganz verstehe. Es ist merkwürdig, da ich normalerweise ganz anders bin. Denn das letzte, was ich heute Nacht wollte, war, allein zu sein.

Maik Gerecke

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freiTEXT | Andreas Pargger

sandkörner unter den zehen ein / tänzelnder schritt aus dem bild / rauschen aus einem unsichtbaren / riss in der kulisse brandung meer / aus einer anderen / welt aus einer längst vergessenen zeit und / die augen zum himmel gerichtet die augen über- / gangslos chromgraue flächen wasser / horizont löst sich der nebel geht eine schneise / auf ein schwindel nichts schemendasein eine / schamanenwelt im marmor des sands / fußabdrücke und die immer- / gleichen windschleifen über den dünen über den / schaumkronen zeitlos eine körnung des lichts ein / grobwerden von luftpigmenten ein verblassen  ver- / blasen-werden von konturen ein zer- / fließen des nachmittags ins grelle

Andreas Pargger

Andreas ist Teil der 3. Babelsprech-Konferenz in Salzburg 2016

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freiTEXT 100

Alt ist er geworden, unser digitales Kind. Mit dieser Veröffentlichung wird er 100. Genau soviele freiTEXTe wurden seit September 2014 veröffentlicht, unterbrochen nur vom Advent-mosaik, manchmal - wie am Tag der Arbeit - ausgebaut.

Nach der ersten Saison haben wir die Texte in einem eBook versammelt. Seit heuer wird er durch den freiVERS ergänzt. Alles zusammen kommen wir auf knapp 150 literarische Veröffentlichungen pro Jahr auf mosaikzeitschrift.at - doch alles fing mit dem freiTEXT an.

Für heute haben wir aufgerufen, uns Texte zu schicken, die eben diese Hundert thematisieren sollen. Dieser Spezial-freiTEXT ist damit ein ganz besonderes mosaik - ergänzt mit Grafiken aus 26 Monaten von Sarah Oswald. So wie dieser hier, die den ersten freiTEXT von Thomas Mulitzer illustrierte:

 

freiTEXT_Illus-1

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100ml

Sie wollten sichergehen, dass es keinen Sinn machen würde es zu bereuen. Sie tranken gleichzeitig, sahen sich dabei in die Augen. „Alles wird gut werden“, sagte sie. Es schmeckte etwas bitter, als es seine Kehle hinunterlief. Ein wenig wie das Kokain, welches sie vor ein paar Jahren mitbrachte. Es würde nur ein paar Minuten dauern bis die Wirkung spürbar wäre. Er sah auf die Uhr, 1:40 Uhr. Es begann. Sein Blick fiel auf den Plattenspieler, der nicht weit von ihm auf dem Boden stand und Musik spielte, die er noch nie gehört hatte. Sie nahm seine Hand und legte sie in ihre, sagte: „Alles wird gut.“ Ihre Hand fühlte sich sanft an als würde sie einen Handschuh aus Watte tragen. Ein stärker werdendes Kribbeln zog sich von seinen Zehen hinauf über Beine und Torso und endete in seinen Haarspitzen, die er deutlich fühlen konnte. Er fasste sich an den Kopf, zog sich an den Haaren um es los zu werden. „Leg dich hin“, sagte sie, „kämpfe nicht dagegen an“. Alles wurde pelzig, seine Augen schlossen sich von alleine, nichts war mehr spürbar. Nur seine Gedanken waren bedrohlich klar. Er hörte den Regen, die Tropfen, die auf das Fenstersims schlugen und an der Scheibe kleben blieben. Der Klang der Musik legte sich über seinen Körper wie ein Leichentuch. Einzelne Töne strichen ihm durchs Haar, wie seine Mutter es immer getan hatte, wenn er krank gewesen war und fielen auf den Boden. Das Mondlicht quoll durch die Rippen der Jalousien und malte seinen Schatten an die Wand. Ein Stechen durchdrang seinen Brustkorb und beendete die Stille.

Fabian Lenthe

 

Verdampfen

neutro_Freitext 100

Sie hat vor, noch bevor sie zu Hause ankommen, anzusprechen, dass sein Verhalten seit ein paar Tagen schwer auszuhalten ist. Er kann nichts davon wissen, weil er die meiste Zeit damit beschäftigt ist, sich auf diesen Moment vorzubereiten. Es können nur zwei dafür ausgewählt werden, gemeinsam das Wasser, das sie eigentlich zum Überleben brauchen würden und das gerade noch fallen kann, bevor es verdampft...

Sie lässt sich gern beim Kochen über die Schulter schauen, nur beim Zerkleinern will sie sehen was die ersten Bläschen unten am Boden… Er trauert der Zeit nach, in der sie noch gemeinsam, was noch nicht von ihnen verlangt worden ist... Sie lässt sich nicht ungern Runterdrücken, aber der Spielleiter verlangt von ihnen, es zumindest für die Dauer dieser Szene zu vergessen. Sie bittet ihn um Hilfe, aber meistens gibt er den Teebeutel schon vor dem Abkühlen hinein.

Stehen sie zusammen, wo es so heiß werden kann, dass… Dazwischen ist es möglich zu trinken, aber lassen sie sich zu weit fallen, kippt die Stimmung. Wer als Erster mit einem Bein aus dem eigentlich zum Schutz angelegten Graben, für den Effekt, der bei der Annäherung nicht mehr vergessen werden kann… Er kann ihnen dabei zuschauen, wie sie noch vor dem Verdampfen an den Punkt kommen, an dem das Wasser, in dem sie stehen verdampft.

Es wird selten jemand älter als Hundert, aber so lange es dauert, wissen sie, dass auch während der unangenehmen Minuten… Das Auskochen der Instrumente beschleunigt das Gefühl, das wie gewünscht genau an dem Punkt aufkommt, wenn die Synchronklappe, noch bevor jemand etwas zu ihnen sagt… Die Lampe steht ihnen im Weg, wird aber dafür gebraucht ihre Gesichter glaubwürdig aussehen zu lassen.

.neutro

 

freiTEXT_Illus22-

Nach Ball

Mit dem Zug fuhr ich nach Zürich, mit dem Zug, über die Berge, durch die Wälder, Holzfäller hätte ich werden wollen, Holzfäller, was kann es wahrhaftigeres geben als durch den Wald zu gehen, Tag ein, Tag aus, Holzfäller, die Säge, das Beil auf der Schulter, doch ich saß im Zug nach Zürich, wollte nicht zum Menschen-schlachten an die Front, Franz war so begeistert, Holzfäller hätte ich werden sollen, in einem Bergwald, Ahorn, Fichte, nur die schönsten Tonhölzer, ich klopfte so gerne an die Stämme, das Ohr rieb an der Rinde, für Geigen, für Cellis, Ball hatte mich eingeladen nach Zürich, er sprach von einem Text, er wollte dort etwas vortragen, ich fuhr gerne in die Schweiz, nach Zürich, viel lieber als nach Frankreich, dort lagen sie in den Gräben, die Feinde, die Deutschen, die Franzosen, krochen sich in die Eingeweide. Lieber nach Zürich, dankbar war ich Ball für die Einladung, er sprach von einem Gedicht, er wollte ein Gedicht vortragen. Schlecht hatte ich ihn verstanden, die Leitung war ständig unterbrochen worden, Cabaret Voltaire, dort wollte er sein, lesen, der Zug durchfuhr immer wieder die Bergwälder, mein Ohr wollte an die Bäume, Holzfäller hätte ich werden wollen, nach Cremona hätte ich mein Holz geliefert, auch nach Mittenwald, nach Paris, mein Vater hat es nicht gewollt, zu schwach sei mein Herz, meine Hände zu zart für die Axt, gerne hätt´ich Säge und Axt geschultert. Ball kannte ich kaum, wir waren uns in Berlin begegnet, ihm gefielen meine Bilder, ein Gedicht wollt er vortragen, er sei neugierig auf mein Urteil, die Texte, die er mir am Telefon vorlas, klangen sonderbar. Fremd. Wie von einem Tier. Unheimlich. Franz Josef ist letzte Woche gestorben. Droben in Verdun fressen sie die Eingeweide. Lieber unheimliche Gedichte. Wie sonderbar friedlich es hier im Zug ist. Immer durch die Wälder. Tannen, Fichten, hier und da sieht man Ahorn. Für den Boden ist Ahorn gut. Die Decke muss unbedingt aus Fichte sein. Gleichmässig gewachsen. Keine Artillerie zu hören hier. Keine Salven aus Maschinengewehren. Will nicht fürs Vaterland sterben. Lieber nach Zürich, zu Ball, die Somme ist ein schöner Fluss, lieber zum verrückten Ball, mir gefallen seine Gedichte eigentlich gar nicht, einfach verrückt, der ganze Ball, einfach verrückt, aber der Stahlhelm passt mir nicht, lieber zum verrückten Ball, nach Zürich, Cabaret Voltaire, will keine Gasmaske tragen im Graben, die Handgranaten reißen einem die Arme und Beine weg, dann lieber nach Zürich, immer noch seh ich Bäume, Franz wollte unbedingt in den Krieg, ich hab ihn nicht verstanden, er ist immer auf dem Pferd geritten, zerfetzt hat es ihn, in Stücke gerissen, Meldereiter war er, ist schon ein paar Monate her, ich hab seine Bilder geliebt, aber er wollte unbedingt in den Krieg, der Ball ist nicht mein Freund, eigentlich hasse ich ihn, viel zu arrogant, vollkommen verrückt sind seine Gedichte. Aber er hat mich eingeladen. Ich bin froh. In Verdun werfen sie Gas aufeinander. Verbrennen sich. Durchlöchern sich. Lieber Ball. Seine verrückten Gedichte. Lieber Ball. Bäume hab ich schon länger keine mehr gesehen. Wir müssen gleich da sein, Ball wollte mich abholen, die Räder kreischen schon, die Bremsen, nur die Bremsen, keine Granaten, keine Soldaten, schrill dringt der Ton in meine Ohren, lieber wäre ich Holzfäller geworden. Ich hab den Franz geliebt. Ich seh schon Ball, er steh am Gleis, wie eitel, als wäre er ein Dichter. Pah, dass ich nicht lache.

Stefan Heyer

 

freiTEXT_Illus10-11

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Illusion

Er schlief auf der Parkbank ein. Die feuchte Kälte drang in seinen Kragen und fühlte sich gehässig lachend an. Er spürte es nicht mehr.

Heute war ein guter Tag gewesen, sein Freund Franz hatte einen äußerst spendablen Passanten erwischt, von dessen Geldgabe sie sich eine Flasche Rum holen konnten. So etwas passierte meist nur in der Vorweinachtszeit.

Am nächsten Morgen wachte er auf, die Sonne schien. Es war selten, dass sich gute Tage wiederholten. Gute Tage waren eine Illusion, die kaum wahr wurde. Er hatte sich gestern in weiser Voraussicht ein bisschen vom Rum in den Flachmann gegossen, bevor sie auf die unglaubliche Spende und ihr damit verbundenes Rauschglück angestoßen hatten. So war zumindest schon einmal der Morgen gerettet.

Er streckte sich und blinzelte in die Sonne. Gottseidank kein Regen mehr. Er spürte, wie die Sonne seinen feuchten Parka trocknete, bald würde ihm nicht mehr kalt sein. Nachdem er seinen Rucksack gepackt und seine Schlafutensilien hinter dem Strauch versteckt hatte, machte er sich auf den Weg zu Mitzi.

Mitzi war eine gute Seele. Sie führte eine Imbissbude und schenkte den Obdachlosen in der Gegend morgens Kaffee. Eine dünne Filterkaffeebrühe, die er über alles liebte. Den Rest vom Rum würde er sich in den Kaffee leeren. Was für ein Freudentag.

Als er so dahinschlich, durch die hektisch ins Büro eilenden Menschen, entdeckte er etwas am Boden. Eines haben sie nämlich den anderen voraus, die Sandler: Den Blick auf die Dinge, die am Abgrund liegen. Manch achtlos Weggeworfenes, manchmal Verlorenes, was für uns nur Müll ist, ist ein goldleuchtender Schatz in ihrer Wahrnehmung. Heute fand Ferdl allerdings etwas, dass wirklich jemand verloren haben musste.

An Hunderter.

Er staunte. Es gab lange keine Wiederholungen mehr. Schnell blickte er um sich, und in einer sicheren Sekunde steckte er den Geldschein in seine Jackentasche. Er ging zu Mitzi, trank seinen Kaffee mit Rum und plauderte heiter mit ihr über das Wetter, insgeheim wissend, dass es für ihn in naher Zukunft wirklich gut laufen könnte.

„Heit bist owa guad drauf, wos ned de Sun ois ausmocht“ sagte sie erstaunt.

Er bedankte sich für den Kaffee und ging zurück zu seiner Bank. Er sah sich um, niemand kam des Weges. Zeit, um seinen Schatz genauer zu betrachten. Es war tatsächlich ein Hundert-Euro-Schein. Was sollte er damit machen?

Er könnte endlich seinem Enkel etwas kaufen, eine Carrera Bahn vielleicht! Auch wenn sie ihm die Türe nicht öffneten, er könnte sie davor legen und vielleicht würde er einen Blick durchs Fenster erhaschen, wenn der Kleine sie zum ersten Mal sah.

Oder er könnte mit Franz eine ordentliche Sauftour machen, und das sogar in einem Lokal! Dazu würden sie sich ein Vier-Gänge-Menü gönnen. Dann bräuchte er aber vorher noch neues Gewand. Ein neuer Parka, das wäre auch was! Oder ein neuer Schlafsack, das wäre wohl das sinnvollste. Ja, das ist vernünftig, nun, wo es doch immer kälter werden würde. Er wird zur Feier des Tages eine Flasche Rum für sich und Franz kaufen und dann geht er sich einen neuen Schlafsack holen, vielleicht sogar so einen wasserfesten.

„Fronz kim, i lod di auf a Flascherl ei, du wirst ned glaum, wos ma heit passiert is…

Sie gingen lachen in den Supermarkt und suchten sich voller Vorfreude eine gute, mittelteure Flasche Rum aus.

„I ruaf iaz de Polizei, der is gföscht.“

Kälte. Regen. Kaffee ohne Rum.

Doris Leeb

 

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unendliches²

es geht ums laufen, um den grund und den weg dorthin. den weg, der bislang gelaufen ist. zwischen gefalteten gleichungen, die einen nicht weiterbringen, weil man sie erst entfalten muss, und einen zum stehenbleiben zwingen, wo stehenzubleiben keine option ist, wo der weg das ziel ist und nicht ins ziel. wo man sich wohlfühlen soll, obwohl es kein wohlfühlen gibt.

wenn ich an die tage denke, wo mir der lauf sinnlos erschien, weil die trägheit einem glauben machen will, es sei der richtige weg, auf dem liegen und gehen gleich sind, wo man am rücken liegend vorwärtsgeht, statt aufwärts oder eben gar nicht vorankommt.

stand ich da, kreuzungsgleich, in der mitte liegend, mit ausgestreckten armen und rannte, ohne zu steigen. da war ich. und da war sie.

in der seitenstraße, durch einen hochhäuserblock getrennt, aneinander denkend, wo der gedanke doch vorbeigeht. lagen wir gen himmel gerichtet, ohne jemals gemeinsam in den siebten zu gelangen, rannten wir gemeinsam fort, um uns im laufe zu verlieren, weil die ziellinie erreicht war, noch bevor wir dem ziel auf den grund gegangen waren.

wollte ich auf-grund, dessen faltete ich wolken zu steinstraßen, um neue wege zu gehen. gen himmel, richtung ab-grund.

doch ich rannte nicht, ich flog, im fliegenden fall: gravitation!, um wieder am anfang zu landen, wo es ent-stand. ent-stehend gegangen bin, weil ich immer am suchen war, doch nie an dieser stelle fündig wurde. war sie immer noch da, auf der straße zwischen „für immer“ und „verfluchten neuanfängen“ von „kann es nicht für immer so sein“ zu „jeder moment vergeht“.

kamen wir zum letzten, wo man sich zuwinkt und umarmt, wo man wieder gemeinsam zum stehen kommt, wo gehen erst danach sinn macht, weil der letzte moment in einer zeitschleife steht, um immer gleich zu verlaufen. waren wir für hunderte momente gefangen, um danach von einander getrennte wege zu gehen.

wo nur einer einen lauf hat. wo man sich fragt, ob laufen sinnvoll ist, oder der sinn im stehen liegt, wo man weiterläuft, auch wenn es nicht läuft, um wieder zum erliegen zu kommen, an der kreuzung, mit den ausgestreckten armen und dem blick gen himmel, zweier gedanken aneinander, die wieder vergehen. wo man wieder laufen will, weil stehenbleiben keine option ist, obwohl man einen stand hat. geht man weiter, geht man und läuft auf grund, auf dem weg ins ungewisse zwischen entfalteten gleichungen und ziellinien, über die man fliegt, weil man steigt, um wieder zu fallen, denn angekommen - ist man erst am grund.

Raoul Eisele

 

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1100100

Da sitze ich hier und picke die Erbsen und Linsen auseinander. Die Erbsen nach links und die Linsen nach rechts. Oder andersherum. Dazwischen ein Haufen Dreck. Die Erbsen sind gut, die Linsen auch. Aber nicht alle. Was mache ich mit den halben Erbsen?

Wenn ich meine Arbeit schnell mache, dann ist es leicht: Linsen und Erbsen hier, und den Dreck dorthin. Die Guten ins Töpfchen, und die schlechten … Wenn ich nur ganz flüchtig schaue, kann ich leicht entscheiden, welche gut sind und welche schlecht.

Zum Schluß liegen viele halbe Erbsen und viele Linsenkrümel im Abfallhaufen. Vielleicht nehme ich die größeren davon und lege sie auf einen vierten Haufen. Muß ich noch einmal zwischen Linsen und Erbsen unterscheiden? Die Weizenkörner im Dreckhaufen habe ich vorher ignoriert, weil ich nur Linsen und Erbsen sortieren sollte. Leinsamen sind auch dabei, und Mohn. Wieviele Haufen benötige ich, und wird sich die Arbeit lohnen – oder sollte ich alles den Tauben zum Fraß vorwerfen …

Annett Groh

 

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Scheinwelt

Es heißt, ich sei ichbezogen. Dabei existiert kein Ich. Ich bin Einhundert, ich bin viele.

Zugegeben, die Welt dreht sich um mich. Von alldem bekomme ich aber nichts mit, ich bleibe im Dunkel. Mit anderen Scheinen bin ich gebündelt in Tresoren, gestapelt in Registrierkassen und gequetscht in Brieftaschen.

„Geben und geben lassen“, gab mir die Maschine, die mich gedruckt hat, mit auf meinen Gebensweg. Ich bringe mich immer voll ein, ich kann nicht anders. Ich bin Einhundert. Nicht mehr, nicht weniger. Aber das eigentliche Ausgeben, das wahre Hingeben und das tatsächliche Vergeben, das übernehmen helfende Hände. Erneut holen mich Finger aus meiner Verwahrung. Von den eingecremten Hautrillen bleiben ölige Abdrücke und eine Duftnote an mir haften. Die jungen Finger legen mich in eine zerfurchte Handfläche, die mich sogleich zwischen die Flügel einer Geburtstagskarte gleiten lässt. Ich soll nicht zerknittern, wieder einmal bin ich ein Geschenk.

Die Zeit vergeht. Schließlich öffnen flinke Finger die Karte, eine schlichte Melodie ertönt. Ich bin ein Preis, der im kleinen Rahmen verliehen und gierig angenommen wird. Dabei sind Geburtstage pervers. Ich bin Einhundert, wir sind viele. Wir sind da, um Leistung zu feiern. Auf der Welt zu sein, ist keine Leistung. Ich kann nur eine Gefahrenzulage sein, ein Jahr überlebt zu haben. Der Lohn ist das Leben an sich.

Die kleine Hand schiebt mich in eine Geldbörse aus Polyester. Auf ihr sind Superhelden abgebildet, darunter der Befehl „Assemble“. Den Gefallen kann ich dem Kind nicht tun, denn lange bleibe ich nicht. Der Klettverschluss der Börse wird aufgerissen, spitze Finger mit Dreck unter den Nägeln zerren mich in den orangen Laternenschein der Nacht. Die Pranke schleudert die Superhelden ins Nichts. Unsymmetrisch zusammengefaltet lande ich in einer Hosentasche. Fasern reiben sich an mir. Ich kriege Falten. Das Dasein als Beute ist hart, aber nicht ohne seine Reize. Um mich zu bekommen, hat sich jemand angestrengt, hat Hand- und Schlagqualität bewiesen. So dreht sich die Welt.

Ein stahlharter Griff zieht mich aus der Jeans hervor. Eingeklemmt in der Faust färbt Schmutz auf mich ab. Das ist die Geldklammer des Kleinkriminellen. Ich sehe eine andere Hand auf mich zukommen: Zuerst denke ich an eine Begrüßung, doch ich erkenne– es ist ein Geiselaustausch. In einem nahtlosen Übergang wechsle ich den Besitzer. Ein Säckchen, gefüllt mit graubraunem Pulver, schiebt sich an mir vorbei.

Ich werde zu anderen Einhundertern transportiert, alle zusammengerollt und von einem Gummiband umwunden. Ich geselle mich zu ihnen. Ich bin Einhundert von Hundert. Aber ich bin nicht naiv: Wir sind kein Baum, der mit jedem neuen Schein Ring um Ring organisch wächst. Wir sind ein Bündel schmieriger Wäsche, das in die Reinigung muss. So kommen wir in einen strahlenden Salon. Die grünen Teppiche sehen aus, als wären die Böden mit fälschungssicheren Mustern von Geldscheinen ausgelegt worden - Ornamente aus sich überlappenden und ineinander verwickelten Linienzügen. Auf den Waschautomaten blinken die Worte „Glück“ und „Gold“. Wir werden durch einen goldenen Bogen gereicht und gegen Jetons eingetauscht. Nur sie haben in diesem Glitzer-Wunderland einen Wert, während wir in der Welt draußen alles zählen. Irgendwo ist doch jeder von uns in seiner Zahlungsfunktion behindert.

Mein Spielgeld-Zwilling kehrt zurück, er wird gegen kleinere und saubere Scheine eingetauscht. Es dauert, bis ich ausgezahlt werde – in eine Hand, die vor Aufregung zittert. Ich sehe den grünen Boden unter mir, mit den ungleichmäßigen, geschlossenen Ellipsen darauf. Die Hand trägt mich mehrere Stockwerke höher. Angekommen in einem Zimmer werde ich weitergereicht. Finger mit grellrot lackierten Nägeln stecken mich ein. Zuerst denke ich, in eine Brieftasche geschoben zu werden. Doch spüre ich auf der einen Seite Leder und auf der anderen Seite Haut. Diese Körperstelle ist mir fremd. Ich kenne nur Hände. All die Bakterien, die von dort kommen und sich im Laufe der Zeit auf mir angesammelt haben, lernen so endlich Neuland kennen. Der Untergrund beginnt zu beben. Tropfen um Tropfen bildet sich ein Fluss aus Schweiß, auf dem die Bakterien besser übersetzen können. Die Feuchtigkeit optimiert aber auch die Überlebensbedingungen auf mir. Es ist ein Milieu, in dem Keime sich wohlfühlen.

Das Naturschauspiel dauert nicht lange. Meine Weiterreise ist eine altbekannte: Ich gelange erneut zur goldenen Durchreiche, an der ich wieder gegen falsches Geld gewechselt werde. Alles wiederholt sich: Zuerst warte ich, dann zahlt man mich aus, ich werde verjubelt, komme an den Ursprung zurück und warte wieder. Ich drehe mich wie in der Trommel einer Waschmaschine. Doch jeder Waschgang hat ein Ende.

Schließlich werde ich vom Tauschposten mit anderen Scheinen in einen Tresor-Raum verbracht und zusammengepackt. Wir sind lebendig eingeschweißt in Sarkophage aus Plastik. Ich bin Einhundert von Eintausend. Das Massengrab ist voll. Dann fallen die Grabräuber ein. Alles an ihnen ist schwarz: Die Skimasken, aus deren Schlitzen ihre Augen starren. Die Handschuhe, mit denen sie unsere Stapel greifen. Die Taschen, in welche sie uns werfen. Der Transport ist holprig. Wir werden hin- und hergeworfen. Zuerst kracht es in der Ferne – es sind Schüsse, die näher kommen. Unsere Tasche wird getroffen. Ich und andere werden ins Freie geschleudert, hinauf bis in die Himmelswolken, die sich aus dem Rauch von abgefeuerten Waffen gebildet haben. Brennend und zerfetzt rotiere ich durch die Luft. Unter mir ein Feuerwerk, das zu unseren Ehren veranstaltet wird. Ich schwebe gegen den Boden hin und setze auf einer roten Landebahn auf. Ich sauge mich voll mit Blut.

Ich bin verkrüppelte Einhundert. Die Finger, die mich einsammeln, sind von künstlicher Haut überzogen. Sie tüten mich ein – wie in Quarantäne, so als hätte ich mich mit einer Krankheit infiziert. Ich werde weggebracht und auf einem Regal abgelegt - gemeinsam mit den Waffen und den Masken. Eines Tages werde ich geholt und als einzelner Schein in einem Koffer verstaut. Alleine in einem Geldkoffer zu sein, ist ein seltsames Gefühl. Eine Hand nimmt mich heraus und hält mich in dramatischer Weise vor viele Gesichter. Von Beweiskraft ist die Rede. Wenn ich ein Beweis sein sollte, dann weiß ich nicht, wofür: Was der Mensch mit Geld macht, oder, was Geld mit dem Menschen macht. Vielleicht bin ich auch selbst Angeklagter. Ich bin ein zerstörter Geldschein. Damit bin ich meinen Wert los.

Nach dem Theater komme ich zurück in das Regal. Gelegentlich flackern Leuchtstoffröhren auf. Um mich herum werden alle geholt. Sie haben noch einen Nutzen, die Waffen und die Masken können eingesetzt werden. Im Gegensatz zu mir, einem Stück bedruckter Baumwolle, das nur noch vernichtet werden kann, damit ein neuer Schein mit meinem Wert ausgegeben wird. Tatsächlich holen sie auch mich und legen mich auf eine durchsichtige Platte. Ich warte auf die Säure als meine Todesstrafe. Sie kommt nicht. Ich warte auf das Feuer, weil mir die Schuld an allem gegeben wird. Statt Flammen legt sich eine zweite Kunststoffplatte über mich. Zwischen den Platten eingeschlossen werde ich auf ein Podest gehoben, welches in einer Vitrine verschlossen wird. Zeigefinger kommen nahe an die Vitrine und Hände pressen sich gegen meine Zellenwand: Es ist wieder ein Gefängnis, aber ein transparentes. Draußen erkenne ich ein Banner: „Geldmuseum - Ausstellungseröffnung“. In Dauerwiederholung beginnt ein Lautsprecher unter meiner Vitrine einen Song zu spielen - ein Rap mit dem Titel „Scheinwelt“.

Die Begeisterung der Museumsbesucher begreife ich zuerst nicht. Ich sehe mich in der Spiegelung der Vitrine - löchrig, verbrannt und verkrustet von Blut. Wirtschaftlich bin ich nur noch ein reiner Schein. Ich war Einhundert. Doch ich verstehe, dass Geld immer zwei Seiten hat, die wirtschaftliche und die magische. Denn durch meinen Gebensweg bin ich nun mehr wert als Einhundert. Die Hände, die mir nahekommen, wollen mich an sich nehmen, doch ich bin unerschwinglich geworden. Die leeren Hände können nur eines tun. Also klatschen sie.

Markus Grundtner

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freiTEXT | Paul Fehm

Misslinge.

Man schweigt vielleicht erst, wenn man sich in den Sand schmiegt, man rührt dann nicht mehr die Zunge, wenn sie zu lange nichts geschmeckt hat als den eigenen Hunger; das lässt sich leicht sagen, mit kleinen Modulationen und verschiedenen Akzenten wiederholen, ob es einen Unterschied macht, es bleibt misslich und wie in den Wind gesprochen.

So lange waren wir schon keine Menschen mehr, als ich meinen Liebling aus den Leichen gezogen hatte, waren wir für alle Zeit etwas anderes geworden und laufen rückwärts seitdem, den Berg von Leibern immer im Blick, als vereinigten sie sich, einmal aus den Augen gelassen, und verfolgten uns mit Riesenschritten gen Westen, der fliehenden Sonne entgegen; wie um nicht einen neuen Tag zu erleben, zerreißt die Sonne uns jeden Morgen über dem Grabhügel die Augen.

Wer einen Raum betritt, der macht den Bückling, wer sich aber verbeugt, meine Damen und Herren, hat die Füße im Rücken, ein Kommen, ein Gehen, ein Stoßen, ein Treiben, der Däumling, der den Finger hebt oder senkt, der über Tod und Leben fabuliert, geht ganz in der Masse auf; am Anfang aber war der Aufseher, der sich auf die Schulter klopft, der die Ströme dirigiert und auf Geheiß hin noch die blutige See teilt.

Selbst die Erde war bald angewidert von uns, wir stanken, wir nährten den allgemeinen Ekel, wo immer wir entlangkamen, der Mensch kein Mensch; auf dem Schiff gingen uns zuerst die Vokale aus, die Konsonanten rauschten dann übers Meer weg, salzverklebte Blicke warfen wir einander zu, als gäbe es Rettung, wo nur das Wasser herrschte und der Wind uns noch die Würde des Gestanks entriss.

Sollen sie sich doch einrollen wie der Engerling, vom Erdboden verschwinden, die sollen den Ball flach, den Kopf unten halten, die Sonne scheint in den Kleingärten immer noch am schönsten, der Maschendraht, die Fahne, Gleise; Unkraut und Ungeziefer weichen, im Notfall dem Frühling mit Beton einen Riegel vorschieben, da ist kein Durchkommen, sollen sie doch hingehen, wo ewig Sommer ist.

Willkommen, jeder an seine Stelle an der Wand, jeder stirbt den eigenen Tod; es ist zu wenig Platz auf der Welt für die himmelhohen Hoffnungen, ihr Ort aber ist das Meer, das Land ohne Morgen; jemand zu sein, musst du dir leisten können, wo ein Blick den Wert taxiert: Nimm die Hand und die Realität beißt dir gleich den Finger ab, mehr kann man wirklich nicht verlangen.

Die Unruhe der kreißenden Erde ließ Findlinge zurück, man schaffte sie rasch weg an den Rand der Straßen, wie Denkmäler, Eindringlinge aus der Urzeit, die an nichts erinnern, aus der Welt ließen sie sich nicht bringen, man verrückte sie unter allerlei Plänen; Fremdlinge blieben sie, undurchdringlich dem Blick, gewaltige Steine des Anstoßes, überflüssig zwar, aber dekorativ.

Gib mir einen sicheren Hafen, die Statur mit der Hand vor den Augen soll die schwankenden Wellen bewachen; schauen wir nach vorne auf die Füße, wenn wir laufen in Reihe mit den Häftlingen, die Kugel auf den Schultern; wir bleiben immer jung, sagen uns die Slogans, vielleicht gibt es ein Recht auf Leben, Pflicht und Privileg aber nicht, sagen die Ungeschorenen.

Paul Fehm

zuerst erschienen auf paulfehm.wordpress.com

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freiTEXT | Vasillis Varvaridis

ó

es ist unerhört, schön und schrecklich, denn:

1hörner gibt es.

kein- und zweigehörntes ist gemeinhin bekannt, akzeptiert und in einen gewachsenen kreislauf der dinge eingebunden. wir verdrängen [1hörner]. bloß der anschein ihrer existenz verdunkelt den ist-zustandshorizont mit unfassbaren angstwolken: 1 ist nicht wie zwei teilbar, und doch größer als null, wo es ohnehin nichts zu teilen gäbe.

nun ist es ja so, dass das besitzenwollen dominiert. da kommt’s dann halt zu problemen. das resultat ist oft unbefriedigend, weil dann alles durch die schneidezahnmühle kommt und zum kollektiven verdauungsversagen führt.

1hörner werden in so einer antrainierten verzehrwelt zu einer besonderen delikatesse. trotzdem entwickeln nicht viele appetit auf diese fabelwesen oder machen gar jagd darauf. warum nur?

eh klar, [die meisten] glauben nicht oder nur ein bisschen an 1hörner. sie meinen daher, dass so etwas traumhaftes ohnehin nichts sei. sie dümpeln alltagsköstig durch ihr leben und sterben dann langsam an akzeptierter unterforderung und diabetes typ 2. oder der tod überrascht sie sonntags in tragischen unfällen mit minderwertigen rollatoren aus dem aldi-sortiment. mitleid, das möchte man mit denen haben, aber die können dann ja gar nix damit anfangen. die entwickeln dann doch nur mitleidenschaft.

traurig, aber wahr.

[die wenigen], die dann doch bewusst jagd auf 1hörner machen, sind vielleicht gefährlicher:

alleine, listvergessen und ellbogig in der fortbewegung.  sie jagen im dunkel des tages und in den wolkenlosen sternstunden bei halb- oder vollmondschein.

um nicht gestört zu werden – wenn der ellbogen mal nicht auszureichen droht – müssen die wenigen bei den meisten überzeugungsarbeit leisten. „Es gibt keine Einhörner.“, sagen sie dann in verständnisbuhlenden, öligen baritonstimmen und bemühen sich dabei vernunftschwanger zu gebären.

dass müssen die wenigen tun. sie wissen ja, dass sie der überzahl der nichtgläubiger nicht gewachsen sind, und wollen ihre plätze als aufdentischhauer nicht verlieren. das ist: einmal [bumm!] auf den tisch machen und die masse springen lassen. diese wenigen fürchten sich sehr um ihre hochgezüchteten gesichtsmuskeln, weil sie wissen: 1hörner sind nicht nur real, sondern etwas sehr besonderes.

wenn so einer dann mal ein 1horn erjagt, tötet er es nicht wie ein gnädiger jäger (an dieser stelle sollte wieder ins gedächtnis gerufen werden, dass die bestimmung des jagens ja das töten ist). nein, diese jäger sind mehr als bloße jäger. die wahre tortur für das 1horn beginnt dann erst nach der gewaltvollen übernahme . wie das dann konkret ausschaut?

 

entweder 1/

stallhaltung mit regelmäßigen besuchen von nach sensationsgier geifenden helikopterkindern bei unzureichender entmistung. ja, 1hörner machen auch mist! die regenbogenfarbige scheisse steht ihnen in der koppel dann bis zu den knöcheln und die heli-kids glauben dann fest: „wow, das ist freiheit.“

 

oder 2/

die meisten glauben - wie bereits gesagt - ein bisschen an 1hörner. so blind sind die - selbst bei fortgeschrittener diabetes typ 2 -  ja auch nicht!  auch dass wissen die sadojäger. und darum gibt es den zirkus. da führen die baritonstimmen dann stolz die 1hörner vor. die lang anhaltende dressur für das zirkusbusiness bricht jedoch mit der natur, der ésrpit d’1horn verloren. das 1horn entwickelt eine derbe eitelkeit, denkt dass es eben nur ein sehr, sehr schönes pferd ist.

all das wird nur gemacht, damit sich ein 1hornjäger toll vorkommen kann, wenn die meisten dann so rumklatschen im dunkelrotlichtdurchflutenden zelt. sobald sie aus dem zirkusloch raus sind und die neuesten rollator-angebote von aldi zu vergleichen beginnen, vergessen sie die möglichkeit einer 1hornexistenz wieder. „nein, das war nicht wirklich ein 1horn!”, denken dann die meisten. warum? da ist nichts 1horniges mehr dran an dem zirkus1horn. jeder alte gaul auf einer atomar verseuchten weide wirkt natürlicher und strahlt zumindest irgendwas aus.

 

oder schlimmstens 3/die dunkelziffertat

da werden dann 1hörner unterirdisch versteckt. die jagdzunft will ja, dass niemand zu sehr an 1hörner glaubt. es ist auch nicht so ergeilend wie im zirkus, wo sich einige wenige damit brünften, den meisten zeigen zu können dass man ein 1horn gefangen, gebrochen und dressiert hat. nein, 3 ist am schlimmsten für ein 1horn: kellerhaltung und sodomie mit dem jäger.

in den dunklen, in ihrer zahl kaum erfassten kellern zeugen diese ellbogenfaschos gewaltvoll kinder mit 1hörnern. die daraus resultierenden zentauren können nicht – wie ihre in der natur vorkommenden artgenossen – der menschheit hilfreich zur seite stehen und beispielsweise etwa intervenieren, wenn sich zwei kinder um ein matchboxauto streiten.

das ist sehr traurig.
das ganze verlorene potential.

was ist da noch licht?

eins, zwei oder drei.
so eine scheisse

ist

jäger

ei!

 

wegen dieser unnötigen dauerbehetzung kam es schon zu traurigen zwischenfällen mit noch sehr natürlichen 1hörnern in der freien wildbahn. die lokalmedien verschweigen die zahlreichen übergriffe, wenn diese armen wunderwesen wieder mal über nichtsahnende wanderer herfallen herrscht stille. wenn alles krieg ist, gehen 1hörner zum angriff über. warum hören und sehen wir nichts davon?  aufgespießte herzen und eingeweide machen sich nie gut in den schlagzeilen. dabei ist den 1hörnern das eine horn evolutionsbedingt nur dafür gewachsen, damit sie sich gemütlich an ihrem allerwertesten 1hornpopo kratzen und das leben genießen können. wer kennt das nicht?

reiz.
reaktion.
stillung.
besser.

das ist alles kein zauberr und das leben ist an sich sehr einfach. 1hörner könnten uns daran erinnern, weil sie furchtbar kuschelig sind und gut zuhören können. ihre ratschläge sind weise, jedoch meist zu schwer verständlich. 1hörner sind wie alle schönen dinge: sie gehören sich selbst und sind erst dadurch für alle da. und darum plädiere ich: „artgerecht ist nur die freiheit.“
die muss aber heute organisiert werden, sonst ist es keine freiheit zur entfaltung.
das ist nämlich die beste.

für diese weltanschauung – und das privileg künftig täglich vierblättrige kleeblätter zu kauen – werde ich als kommunistischer veganer zu jeder waffe der welt greifen.

P.S.: In Wirklichkeit gibt es Einhörner nicht.

Vasillis Varvaridis

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Ausschreibung: freiTEXT x 100

Der freiTEXT wird 100!

Am 11. November veröffentlichen wir den hundertsten freiTEXT. Seit wir vor etwas mehr als zwei Jahren damit begonnen haben, verorgten wir euch fast wöchentlich mit neuester Prosa von über 90 verschiedenen Autor*innen.

Jetzt geht es Schlag auf Schlag und schon ist der hundertste freiTEXT da. Wir suchen Texte zum Thema

  • hundert
  • C
  • 1100100
  • 2²x5²
  • Summe der ersten neun Primzahlen
  • Bereich zwischen 99 und 101
  • Fermium
  • ...

Und wir suchen diese Texte bis zum So, 6.11. 12:00

Einsendungen von Prosatexten an: schreib@mosaikzeitschrift.at

 

Alles klar? Wenn nicht: >> FAQ << oder Mail

 

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freiTEXT | Rochus Gratzfeld

Strandbad

der dicke pöbelt herum. in Österreich, ja in Österreich, in seinem Österreich, da sei alles besser. und seine frau hat schon lange verlernt, zu denken. stimmt zu oder schweigt nichtzustimmend zustimmend. würde sie denken, müsste sie ihm wider-sprechen. würde sie ihm widersprechen, bekäme die dumme fotze eins auf die goschen. so kann ER weiterpöbeln. impotent in hirn und hoden. aber Österreicher. bier können sie hier auch nicht daher noch eine halbe gösser und rot im gesicht und pöbelt weiter. witze, die keine sind und ein unverhohlen offener blick auf badebrüste da waren die girls damals in thailand egal erinnerungen ohne substanz auf der skipiste eines substanzlosen lebens die achtung vor sich selbst und anderen verloren und der alte milliardär, ja, der hats zu was gebracht. ist eben alles käuflich. auch die moral und eben Österreich. der kioskstrandbad bietet haxe mit erdäpfelsalat dazu eine halbe gösser pauschal 1200 forinth. der kopf wird roter noch und tarnt die braune gesinnung. ich bin geneigt, die rettung zu rufen, doch wen soll die retten? gehe statt dessen ins lauwarmeerfrischendewasser. schaue in die luft, wo die hitze die wolken wieder einmal verbrannt hat und sehe dinge, die der dicke noch nie gesehen hat und nie sehen wird. dafür hadert er mit den hungarogelsen. gäbe es in österreich NICHT hätten wir längst aber die sind ja zu blöd. schmatzt. fett rinnt die backen herunter bier tropft aufs hemd noch eine halbe und scheiss drauf.

Rochus Gratzfeld

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freiTEXT | Martina Onyegbula

Die Frau

Dann sah sie, wie die Worte sich immer dunkler färbten und zäh aus seinem Mund tropften, sein Blick eisig, starr auf sie gerichtet. Sie fröstelte. Sie schlang ihre Weste fest um ihren Körper und verschränkte ihre Arme, um sich zu wärmen. Sie sah ihn an. Jetzt war sie etwas tiefer in sich gesunken, und konnte mit eigenartiger Gleichgültigkeit seine immer düster werdende fern gerückte Gestalt beobachten. Im Raum waren jetzt nur ihre Augen. Wenn sie sie schließt, das wusste sie, dann wäre sie ganz verschwunden für ihn. Das fand sie seltsam beglückend, fast meinte sie zu lächeln. Doch ihr Lachen ist doch schon lange geheim und sollte ihm verborgen bleiben. Sie erinnerte sich daran dass da, wo sie jetzt war, er sie ohnedies nicht sehen konnte. Nur ihre Augen auf ihn gerichtet und ihre Gestalt, wie sie ihm aus seiner Erinnerung vertraut, immer noch zu sein schien. Es ist lange her, dass er es wagte, in ihre Augen zu blicken, denn es gefiel ihm schon lange nicht was er dort sah und was er empfand, wenn er ihr dort begegnete. In diesem Abgrund. Es machte ihn immer wütend. Weil er verstand, auf eine nicht in Worte zu fassende Weise, dass er sie dort niemals erreichen konnte. Das sie immer unbeherrschbar bleiben wird und unfassbar, mit so vielen Gesichtern. Und er erschrocken vor langer Zeit beschloss, nie wieder an diese tiefgelegenen Orte zu blicken. Er verachtete sie für diese Freiheit, weil sie ihn damit beunruhigte und ihn zu einer panischen Erregung bringen konnte, wenn sie sich so weit aus seiner Moral herauswagte und ihn mitreißen wollte. Nein, er wollte keine unberechenbare Weite und wilde Stille, in der alles möglich ist. Er hielt sich an seine sorgfältig zurechtgelegten Träume vom Leben und sie sollte ihm das nicht kaputt machen, mit ihren Blicken und schwarzen Eingängen zu gefährlichen Beunruhigungen.

So blickte er stets nur bis an die Grenze ihrer Augenlinse, vermied es, dass ihre Pupillen sich trafen, denn das schien im riskant. Er klammerte sich an die ungefährliche Landschaft der Iris. Dort verweilte er als flüchtiger Gast, manches Mal suchend und selten als Eroberer in einem fremden Land.

Es wurde immer kälter. Sie bemerkte eine dünne Schicht Eis, die sich um ihn herum gebildet hatte. Eine langsam wachsende, alles verschlingende Kälte, die in ihrer strahlenden Reinheit einen krassen Gegensatz zu den dunkeltrüben Worten bildete, die zähe Lacken zu seinen Füßen bildeten. Die Eisdecke, die stetig in alle Richtungen sich verbreitete, schön in ihrer klaren Schlichtheit,  hatte schon das Sofa erreicht, die bestickten Kissen, die achtlos am Boden verstreute Zeitung, den Schrank, kroch schon unaufhaltsam die Wände hoch, überzog alles mit starrer Kühle.

Er sprach weiter. Sie wusste es, obwohl sie seine Stimme nicht hören konnte. Nur ein an und abschwellendes dumpfes Dröhnen aus seinem worteformenden Mund. Aber wenn sie sich zu sehr darauf konzentrierte, dann war wieder diese erdrückende Beklemmung da, die sie vergessen lies zu atmen. Ihr Herz klopfte jetzt etwas lauter. Sie dachte wieder an ihre Augen und das sie sie einfach schließen konnte. Sie atmete tief und da war wieder diese ruhige Gleichgültigkeit, die sie so wohlig empfand. Sie stand fest am Boden ihres Innersten. Sie lies ihren Atmen strömten, doch nur bis an die Grenzen ihres Körpers, nicht hinaus durch die Poren. Dann würde sie der im eisig kalten Raum aufsteigende warme Hauch verraten. So blickte sie atemlos still hinaus zu ihm.

Am kleinen alten Holztisch in der Mitte des Raumes, blank glänzend von einer Schicht Eis bedeckt, hatten sich mittlerweile am Rand tropfend gefrorenen Eiszapfen gebildet. Schön, einem märchenhaften Tuch gleich, mit handgefertigten Quasten. Ein Gedanke an zärtliches Verlangen und einer weiten Sehnsucht mit umschlungenen Küssen heftete sich an diese Eisgebilde. Haben sie die ersten eisigen Fasern dieses handgewebten Tuches, jetzt spiegelnd glatt mit einer Borte Eiszapfen, von ihrer ersten Begegnung mitgebracht? Die vage Erinnerung blieb mit ihrer Frage in der Mitte des Tisches kleben und wurde augenblicklich zu einer kleinen merkwürdig geformten Eisskulptur. Sein Mund war nun bewegungslos. Die Lippen aufeinander gepresst.

Jetzt hatte das Eis ihre nackten Füße erreicht. Ein Schauer durchlief ihren Körper. Ein leises Zittern blieb und fortan bewegte sie sich, fast unmerklich sachte schwingend, im Rhythmus dieses fröstelnden Zitterns. Er war näher an sie herangetreten. Sein Blick war immer noch eisig. Doch jetzt verdunkelten keine zähen Tropfen seinen Mund. Er stand einfach da. Sie machte einen Schritt zurück. Ein Knirschen. Das Eis brach. Tiefe Sprünge durchzogen den Boden und sie machte einen weiteren Schritt rückwärts, hin zur Türe. Alles Eis schien zu zerspringen. Das Klirren war ohrenbetäubend laut und doch hell klingend schön. Die dunklen Schatten um ihn verblassten. Ein scharfer Schmerz durchfuhr sie. Sie schloss die Augen, doch nun war sie nicht mehr tief in sich versunken, wo alles wohlig warm und sicher war. Die Töne der zerspringenden Eiskruste hatten sie hervorgelockt. Sie klangen wie ein Versprechen, das sie schon oft gehört hatte. Wie konnte sie so unvorsichtig sein. Doch diesmal hatte sie Glück gehabt. Er hatte es nicht bemerkt. Er ging wortlos aus dem Raum. Er sah fast wieder aus wie der Mann, der sie einst angeblickt hatte.

Sie sah hinab zu ihren Füssen und ein feines Rinnsal Blut erinnerte sie an den kurz zuvor so scharf gefühlten Schmerz. Jetzt blieb ein sanftes Pochen. Langsam löste sich ihre innere Verdichtung und sie verbreitete sich weit hinein in ihren Körper und lies ihren Atmen wieder herausströmen durch alle Poren und richtete Ihren Blick wieder weit hinaus.

Er war zurückgekommen. Sie konnte seine Worte wieder hören. Es waren keine dunklen Flecken, nur seine Stimme. Ruhig, wie er sie immer erklingen lies nach solchen eisigen Ausbrüchen. Und sie war wieder ganz zurückgekehrt in den Raum und sah in an, mit dem Teil ihrer Selbst, der noch für ihn bestimmt war.

Martina Onyegbula

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freiTEXT | Ernest Perfahl

Die Übriggebliebenen

Es war Abend und die Familie hatte sich um den üppig gedeckten Esstisch versammelt. Es fehlte ihnen an nichts. Wenn alles glatt lief, dann wäre dies das letzte Mahl, das sie zusammen einnehmen. Denn morgen wird die Welt untergehen, da waren sie sich alle einige, die Großmutter sowie der Jüngste.

Anfänglich hatten sie noch versucht, andere Menschen davon zu überzeugen, dass es diesmal tatsächlich soweit sei, doch es war ihnen gleichgültig gewesen. Seit der letzten Prophezeiung einige Jahre zuvor dachten sie, sie wären immun gegen eine sol-che Gefahr. Ein wenig vermisste die Familie den medialen Rummel, den Austausch, das Spekulieren mit den Nachbaren. Aber das alles war nebensächlich. Bald würde es vorbei sein. Gemeinsam nahmen sie nun Abschied. Bis spät in die Nacht blieben sie auf und stopften sich die Mägen voll, lebten so, als würde es keinen Morgen geben, bis einer nach dem anderen bei Tisch einschlief. Die Großmutter mit dem Kopf rück-wärts und mit offenem Mund. Die Mutter neben dem Vater mit dem Kopf an dessen Schulter. Der Sohn hatte den Teller nach vorne geschoben und lag nun mit dem Kopf auf dem Tisch.

Beinahe zeitgleich erwachten sie am Morgen. Fassungslos starrten sie sich in die Augen. Wieder eine Pleite, dachten sie, ihre Gesichter voller Enttäuschung. Sie sagten kein Wort. Dann sprang die Mutter auf und lief zur Eingangstür. Sie riss sie auf. Ihre Kinn-lade klappte nach unten und ihre Zunge überragte leicht die untere Zahnreihe. Ihre Augäpfel quollen aus den Höhlen und ihre Pupillen weiteten sich. Verdutzt stand sie da. Ohne sich umzudrehen, winkte sie die anderen zu sich.

Sie erblickten eine Ruinenlandschaft. Die Gebäude waren in sich zusammen-gefallen. Die Erde war geziert von nackten leblosen Körpern. Sie waren übrig geblie-ben. Sie waren vergessen worden.

Fluchend wandte sich der Vater ab und durchkämmte die Wohnung.

Die Farbe der Gemälde war verblasst, der Fernseher flimmerte, der Radioapparat rauschte, die Konturen der Letter in den Büchern waren aufgebrochen und die Druckerschwärze hatte die Seiten schwarz verfärbt.

Die Übergebliebenen, sie warteten, sie warteten darauf, dass auch sie endlich erlöst werden würden.

Ernest Perfahl

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