freiTEXT | Peter Sipos

wenn ich verschlafe

wenn ich meine socken angezogen habe, dann laufe ich immer zum arzt, in den socken die straße hinab und stehe dann vor der praxis und klingel mindestens dreimal, schnell nacheinander, mit dem finger fest gegen die klingel gedrückt und der arzt (er arbeitet ganz alleine in der praxis) ruft aus dem fenster herab: „wieso kommen sie erst jetzt zu mir? ich habe sie schon lange erwartet?“ und ich rufe dann zum fenster hinauf (das der arzt aber gerade schon schließt): „ich habe verschlafen, tut mir leid.“

         beim eintreten zögere ich für eine sekunde, damit ich meine entscheidungen nicht übereile und laufe dann die treppen hinauf, zwei, drei stufen auf einmal, obwohl eigentlich auch ein aufzug vorhanden wäre, und oben hämmere ich gegen die tür des arztes, auf der tür steht: „dr. kewesch“ und außerdem die öffnungszeiten (rund um die uhr) und wenn der arzt dann nicht innerhalb der nächsten zwölf sekunden öffnet, dann stampfe ich mit den füßen auf den kleinen willkommensteppich vor der tür, bis der arzt endlich öffnet und ich ihn anschreien kann: „sie idiot haben mir ihre telefonnummer immer noch nicht gegeben, wie soll ich dann bescheid sagen, dass ich später komme?“ aber der arzt gibt mir seine telefonnummer trotzdem nicht, ich glaube weil er angst davor hat, dass ich ihn einmal im urlaub anrufen werde, um zu erfahren, wo ich ihn auffinden kann, für den fall, für den notfall.

         „ziehen sie bitte ihre dreckigen socken aus“, sagt der arzt, ich nenne ihn in diesem fall: „notarzt“. das macht aber nichts zur sache, weil herr dr. kewesch im selben fall zwei messer aus der schublade zückt (das eine messer für meine niere und das andere um die öffnung in meinem bauch wenigstens ein stück weit offen zu halten). „bitte“, sage ich meistens wenn es so weit kommt, „ich möchte meine socken heute ausnahmsweise einmal anbehalten dürfen.“ aber der notarzt, herr dr. kewesch, brüllt in mein ohr: „sie sind zu spät heute, ich darf jetzt alles entscheiden!“ wir lachen und schütteln unsere hände, als wären wir zwei freunde, es geht jedoch beim händeschütteln immer nur darum, dass der notarzt meinen puls messen kann (das kann er eigentlich nie so richtig, weil ich meine hand nach ein paar sekunden aus seinem griff reiße).

         ich halte für einen moment die luft an, weil es dann schon so weit gekommen ist, dass dr. kewesch mich operieren will und weil er kein einziges mal bisher schmerzmittel zur verfügung hatte, muss ich mich selbst in narkose bringen, das funktioniert nur gut, falls ich die luft lange genug anhalte, bis ich atemnot bekomme, ich frage oft nach einer plastiktüte, die ich mir über den kopf ziehen kann, aber selbst das hat herr dr. kewesch selten für mich parat. die luft geht mir schnell aus, ich blicke in den letzten sekunden vor meiner ohnmacht in eine der verschmutzten ecken, dort liegt ein sandwich von mir, das ich letzte woche nach der operation in die ecke geworfen habe, ich möchte fragen: „darf ich von diesem sandwich ein letztes mal beißen?“

doch dann ist es zu spät, weil alles wird schwarz vor meinen augen und mir wird sehr schwindelig und ich bräuchte etwas luft, nur ein bisschen luft, ein letztes mal atmen bitte, herr dr. kewesch, herr notarzt, lassen sie mich atmen, ich hasse es wenn ich nicht atmen kann und ich wache auf, als die operation schon lange vorbei ist, mindestens zwei stunden später und ich liege eine weile da und summe leise vor mich hin, wie ich es zu tun pflege, wenn ich sehr große schmerzen habe, mit halb offenem mund und der arzt setzt sich an sein cello und versucht mein summen zu begleiten, um mich zusätzlich zu versorgen, dafür muss ich normalerweise einen aufpreis bezahlen aber vielleicht gewährt er mir diesmal alles umsonst, er hat jetzt schließlich meine niere.

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Peter Sipos

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Träumen georgische Fische manchmal auf Deutsch? Gibt es im Ukrainischen ein Äquivalent zum deutschen Wort ‚Entfremdung‘? In welchem Film spielte Nicole Kidman den Geist, der dachte, er sei ein Lebender, und wie lautet der Titel nochmal im Kroatischen? Unsere Rubrik Babel ist nicht nur ein Sammelsurium der vielen, uns zuflatternden Sprachen, sie ist auch der Punkt, an dem sich Fragen sammeln, die zu stellen wir uns in einer anderen Sprache nie zugetraut hätten. So gesehen bieten wir auch keine Antworten. Allein die Literatur ist unser Anliegen, und dass diese uns manchmal mehr fragend zurücklässt, soll uns hier als Anreiz dienen, mehr Fisch zu sein als Geist in Menschengestalt.

  • Lesyk Panasiuk – ЕКСПОНАТ / Das Exponat (Unkrainisch)
  • Lesyk Panasiuk – ТІЛЬКИ Б СОН / Nur ein Traum (Ukrainisch)
  • Dino Pešut – Moja mama kao Penelope Cruz u onom filmu / Meine Mama als Penelope Cruz in diesem einen Film (Kroatisch)
  • Dino Pešut – Ja kao Nicole Kidman iz onog filma / Ich als Nicole Kidman in diesem einen Film (Kroatisch)
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  • Teona Komakhidze – მისი ღიმილი გადაიქცა ოქროს კარიბჭედ […] / sein Lächeln wurde zum goldenen Tor […] (Georgisch)
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„Idealismus zahlt keine Fixkosten“, stellt Lisa-Viktoria Niederberger in ihrer Streitschrift über die Rolle von Frauen im Literaturbetrieb fest. „Eine Aufforderung, Erwartungen zu hinterfragen, als Schreibende, als Publikum, als Veranstaltende.“, stellt uns Katherina Braschel vorab. Und Anna Ilin macht sich Gedanken zur Rolle der Frau in der Hausarbeit, bevor uns Julia Knaß in die Literaturmetropole Wolfsberg entführt.

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Schnee bei uns

Schon als ich dich kennenlernte, wusste ich, dass es niemals klappen wird zwischen uns. Wir leiden einfach beide zu viel. Wenn wir miteinander schlafen, dann sagst du oft, du fühlst dich wie eine Heldin, aber ich glaube du bist keine Heldin. Ich kann diese Sprüche nicht leiden und das solltest du wissen. Die Sonne scheint heute und es liegt Schnee auf unserem Grundstück, was eigentlich nicht sein kann, aber bei uns liegt immer Schnee. Wir sitzen im Garten und du willst nicht reden. Ich finde immer, dass du etwas mies drauf bist, wenn die Sonne scheint, aber du schließt nur die Augen und sagst, du wärst sonnenempfindlich, was nach meinem Empfinden nicht stimmt. Ziehen wir weg von hier, sage ich, ich kann diesen Schnee nicht mehr haben, ich sage das schon ewig. Ach, hör auf, sagst du, ich finde es schön hier, wir haben sogar Eiszapfen. Und ich bin genervt, weil du das immer machst: mich ablenken, wenn ich melancholisch werde. Das ist nicht wahr, sagst du dann und ich erkläre dir: Hör zu, Mell, du musst endlich aufhören, mir zu sagen, wer ich sein darf, du sprichst so selten gut zu mir. Und nach einer Weile frage ich: Hast du Hunger? Es ist anders, wenn ich esse, weil ich brauche Essen, damit ich nicht friere. Ich kaue den Salat und sage: wir müssen etwas ändern. Als ich dann aufgegessen habe, sitzen wir am Küchentisch und wir sind weiterhin nicht verheiratet. Es geht zu Ende mit uns, das weiß ich schon lange. Was soll man schon tun, frage ich. Du nickst, wie vorgestern auch schon. Ein verwachsenes Ehepaar wäre auch nicht schön, sage ich, weil ich vermute, dass du dasselbe denkst. Wir sind kein Ehepaar, sagst du. Ich finde, das war jetzt taktlos, sowas Eindeutiges zu sagen. Es ist kalt, sagst du, es war schon immer kalt in diesem Haus. Wieso bist du schon wieder so gereizt, frage ich indem ich dich über den Tisch hinweg streichle, mit der flachen Hand. Wir lachen heute schon gar nicht. Hallo, ich gehe jetzt, sage ich, weil du mich nur dann in Frieden lässt, wenn ich Quatsch rede. Das Lügen ist meine Spezialität, sage ich. Das Lügen ist nicht deine Spezialität, sagst du, wenn schon ist das Lügen deine Allergie. Und es ist endlich etwas dabei in deinen Worten, etwas das mitklingt, wie wenn eine Brise auch noch riecht, das heißt gut riecht, egal. Komm gehen wir jetzt endlich nach Hause, könnte ich dir befehlen aber wir sind ja noch Kinder, wir sind noch Kinder im Herzen, da brauchen wir keine Kinder kriegen. Es ist alles so chaotisch mit dir, hätte ich sagen können, als wir uns kennenlernten, damals, als wir hier einzogen. Aber stattdessen habe ich nur Unsinn geredet und meine Lippen gespitzt, wie auch heute. Spitze Lippen machen mich scharf, sagtest du einmal und ich weiß nicht warum, aber dieser Satz blieb immer in meinem Kopf. Eine Liebe ist das nicht. Wir blinzeln. Mell, rufe ich und du schaust kurz zur Decke hinauf, Mell, wir müssen gehen jetzt, unser Flugzeug startet. Ich verlasse dich, sagst du dann. Ich bin kein richtiger Mensch, ich mache alles schlimmer, ich habe keine Ambitionen und wenn ich hinfalle, dann bleibe ich liegen, weil von alleine aufstehen werde ich sicher nicht. Mell, lass uns gehen, Mensch, wenn wir den Flug verpassen, dann bleiben wir hier, was machen wir dann? Du schaust mit zusammengezogenen Augenbrauen auf meinen Brustkorb. Wenn du nur in meine Augen schauen würdest, dann könnte ich dich überzeugen, mit mir zu fliegen. Aber wir bleiben im Haus, das eigentlich schon immer nur ein Nebenhaus war. Das Nebenhaus von irgendeiner Fabrik oder so. Vielleicht kommt der Schnee von da. Wenn alles so bleibt, sage ich, dann ist es aus zwischen uns. Du machst die Tür zum Garten auf, also packe ich meinen Koffer. Dann schaust du mir dabei zu, weil du mich bestimmt vermissen wirst. Ich habe jetzt gepackt, sage ich und drehe mich zu dir um. Rauchen wir eine, fragst du und ich fühle mich, als hätte ich eine Scheidung hinter mir. Zumindest hasst du mich nicht. Draußen blickst du mir noch hinterher, dann nimmst du einen Kieselstein aus dem Schnee und wirfst ihn in die Ferne.

 

Peter Sipos

 

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