13 | Simone Scharbert

Nachts III

und stocken einen satz nach dem anderen stecken im
neonguss der straßenlampen haben seltsame größen für einen
moment und werden so ein nervöses wechselspiel aus konkav
und konvex lachen uns angst zu im dünnlicht der röhren

führen wir unsere silhouetten an leinen und staunen über ihr
stilles miteinander und ob sie einander kennen fragen wir uns
während wir schulter an schulter gehen klappen unsere
schatten wie tintenbilder auf mittig geknicktes papier

unser brustbein die achse im jetzt lehnen wir schulter an
schulter die mauer im rücken und sehen unsere schatten
verblassen die nacht während neonröhren flimmern und wir
nur einen augenblick lang fenster und türen geöffnet halten

Simone Scharbert

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen.


11 | Matthias Engels

Mann vor Winter

Ein Mann steht vor seinem Winter.
Er steigt aus dem Schlaf und geht ins Haus.
Aus den Briefen fischt er einen heraus. Er ist von ihm. Ein alter Plan steckt darin und er stellt fest, er kann ihn nicht mehr lesen.
Er fragt seinen Schatten, aber der ist das Stillstehen leid und winkt ihm wortlos zum Abschied. Ein Mann sieht eine Wand an, sieht aus dem Dunkel. Vor dem Haus steht eine Hoffnung. Man sieht es nicht, aber eine Ahnung frisst an ihr, ganz langsam, von unter der Rinde.
Ein Mann sieht in einen alten Spiegel, aber der Junge darin ist verschwunden. Ein Mann setzt sich zu seinen Zweifeln. Sie rücken auf und machen Platz. Er blättert in Bildern, merkt, dass er nicht darin vorkommt und schaltet sie ab.
Er isst noch etwas von seiner Gewohnheit, trinkt den Tag aus, rückt die Ängste in den Regalen zurecht. Er tastet nach seinem Gesicht, daß er unter das Kissen gelegt hat, in der Hoffnung, sich so vielleicht diesen Morgen daran zu erinnern. Er horcht auf das Rauschen. Die Maschine verrichtet ihre sinnlose Arbeit. Er achtet nicht weiter darauf, schneidet sich die Wünsche, kämmt seine Gedanken streng, legt eine Vorsicht auf und schlüpft in eine Erscheinung.
In der Bahn schwitzen links und rechts Geheimnisse, deren Geruch er schwer ertragen kann, dampft Dummheit, drängen Hormone zum Botenstoff, dösen Dramen träge vor sich hin.
Auf der Arbeit konfrontiert man ihn mit Leben, mit lauter MENSCH. Er erträgt es und denkt dabei an sein Spiel.
Er sucht überall einen Horizont, eine Null-Linie ohne Ausschlag, eine millimetergenaue Eichung; ertappt sich, wie er mit der Schuhspitze Krater scharrt in die Grasnarbe des Parks, auf der Suche nach Kabeln und Kupferrohren. Mit dem Finger versucht er Löcher zu bohren in brüchige blaue Stellen am Himmel, er vermutet dahinter ein Drahtgeflecht.
Er kauft ein Tuch. Den Zweck kann er der Verkäuferin nicht nennen, er braucht es weder für Tisch, noch Hals, noch Bett und es fällt ihm schwer, sich zu besinnen:
Was war noch Tisch, was Hals, was Bett? Die Verkäuferin kassiert seine Würde und legt sie in die Kasse.
Er braucht das Tuch für die Nacht. Ob die Welt schläft wie der schwatzhafte Vogel, wenn es sich schwärzt um sie herum?
Ein Mann schüttelt den Kopf. Immer schwirrt ihm das Staunen genau ins Auge! Er nimmt seine Maske ab, wischt es fort und setzt sie wieder auf. Ein Mann fährt heim. Unterwegs sieht er flackernde Vergnügen und wie Feuerwerkskörper verglühende Versprechen. Er steigt aus, seine Haltung lässt er im Wagen. Unter seinen Schuhen splittern die Minuten wie Murmeln.
Am Zaun lehnt sein Schatten und friert. Im Nachbarhaus wohnen Wort, Hunger und Armut und werfen Blicke von hinter den Vorhängen. Sicher hat er Morgen wieder eine Häme an die Hauswand geschmiert.
Ein Mann steht vor seinem Winter. Er kommt ins Schwitzen und nimmt den Mut ab, entledigt sich seines Gewissens. Er liest ein paar Minuten auf und rollt sie hinüber zum Zaun. Er war nie gut darin und der unbekannte Junge am Zaun schmunzelt.
Ein Mann atmet einen Abend. Von drinnen rufen die Dinge, rufen die Bilder, ruft die Angst. Er hört die Hast laut klingeln.
Ein Mann steht am Zaun und streckt die Spitze der Zunge heraus, ganz langsam und nicht sehr weit. Ein Mann schmeckt seine Zeit, sie schmeckt salzig und leicht nach Eisen.
Ein Mann steht im Winter und fühlt, wie sein Bedauern taut. Er hat den Haufen Verzicht unter dem Baum im Herbst nicht aufgekehrt, täglich fiel Blatt auf Blatt. Er wollte die Wut nicht wecken, die darunter schläft wie ein kleiner Nager.
Er fühlt wieder sein Gesicht und versucht einen Ausdruck. Im Zimmer spürt er seine Hände und denkt:
Eine Tat wäre ein Gedanke.
In der Besteckschublade findet er einige kleine Möglichkeiten, zusammen mit Büroklammern, Reißnägeln und Schlüsseln, für die es kein Schloss mehr gibt.
Ein Mann findet einen Faden und den kläglichen Stummel eines Stifts. Er sieht kleine Partikel Graphit in kleinen Scharten eines Gewebes aus Fasern zurückbleiben und ein Staunen schwirrt wieder direkt in seine Augen. Er lässt es dort und freut sich am Prinzip der Reibung.
Reibung erzeugt Wärme, sagt sein Schatten und schaut ihm interessiert über die Schulter.
Ein Mann denkt einen Weg, ein Mann denkt einen Wald.
In einer Ecke spinnt etwas einen Faden. Ein Mann schreibt sein Leben. Das Papier bleibt winterweiss, aber die Reibung der Schreibhand erwärmt es langsam.
Ein Mann setzt zögernd Zeichen auf ein fragwürdiges und irgendwann zerfallendes poröses Material und irgendwo tief unten, im staubigen Bauch eines dunklen Möbels, antwortet etwas mit leisem Pochen, was der Mann jetzt noch nicht hören kann.

Matthias Engels

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09 | Simone Lettner

Ein kleiner Adventspaziergang

Gestern Abend ging ich spät noch spazieren. Ich ging unbedachten Schrittes meines Weges, in wirre Gedanken versponnen, das dumpfe Tönen der Autobahn vernehmend. Ich fühlte keinen Weihnachtsfrieden in mir. Die nächtliche Stille war nicht friedlich, sondern bedrohlich. Die Kälte kroch in mich, und ich hieß sie willkommen.

Ich kam bei meinem Spaziergang zum Gemeindehaus. An dessen Wand waren ein paar Worte gemalt: „Zünde ein Licht an“ stand da zu lesen. Ich ging daran vorbei, und noch während die hellen Worte vor meinem geistigen Auge aufflammten, schaltete der automatische Bewegungsmelder vor der Eingangstür des Gebäudes eine oberhalb angebrachte Neonlampe ein.

Da überkam mich als mit zusammengekniffenen Augen hilflos Blinzelnde der Gedanke, wie überflüssig es in der heutigen Welt scheint, als Mensch selber ein Licht anzuzünden, wenn doch überall automatische Bewegungsmelder sind. Und auch andere künstliche, scharfe Lichter begleiten uns schließlich stets, Werbeplaketten, Firmenzüge, Leuchtaufschriften, Weihnachtsketten und Warnleuchten. Ganze Gebäudekomplexe sind nachts ausgeleuchtet. Nicht einmal abstellen kann man diese Lichter. Sie verfolgen einen, und sie lassen einen nicht in Frieden.

Wir befinden uns in einer Welt der Zwangsbeleuchtung, vielleicht auch der Zwangsverblendung. Manches Mal möchte ich gerne auf das Licht verzichten, zöge es vor, mich im stillen Dunkeln einzuhüllen – doch dann kommt man an einem automatischen Bewegungsmelder vorbei, und der taucht einen gnadenlos ins grelle Helle.

Das Künstliche an diesem Licht ist verklärend. Es überblendet jeden natürlichen, ehrlichen, aufrichtigen, unscheinbaren Lichtfunken, der noch am dunklen Horizont zu schimmern vermag.

Diese Lichter, über die man keine Verfügung hat – die sich von selbst einschalten und leuchten, ohne dass man sie ausschalten könnte, sind mir unangenehm, wie würde ich denn noch selbst ein Licht anzünden, wenn mich stets so grelles Industrielicht umgibt?

Was  bedeuten heute vier Kerzen auf einem Kranz?

Was bedeutet heute ein aufrichtiges Licht, das aus mir kommt, aus meinem Inneren, das Wärme erzeugt und Geborgenheit, und nicht Kälte und Ausgesetztheit wie die Neonlampe? Welchen Wert hat es und welcher Anstrengung bedarf es? – Vermutlich einer größeren als ich bisher je gefühlt habe.

Das künstliche Licht mit seiner selbstverständlichen Vorhandenheit soll uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass wahres Leuchten ein Geschenk ist – das grelle Fabrikprodukt soll uns nicht blind machen für die viel kleineren, viel ehrlicheren Lichtstrahlen mit viel wesentlicherer Wirkung, die Menschlichkeit verkünden. Wir brauchen nicht so sehr Städte, die die ganze Nacht auf elektrische Art zum hellen Tag erstrahlen lassen – wir brauchen viel eher Meere an Herzen, die mit menschlicher Wärme das hereingebrochene Eis zum Schmelzen bringen, durch die Dunkelheit strahlen und ein Zeichen setzen.

Simone Lettner 

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05 | Luka Leben

Alle Jahre wieder

Die Welt dreht sich vom aufzeichnenden Auge unbemerkt, wie die Felgen eines Sportwagens am Großbildfernseher. Je mehr Zeit man sich nimmt, um zu schauen, umso mehr fällt auf, dass sich nichts tut. Und doch ist irgendwann wieder ein Jahr vorbei und noch eines und die Lichterketten ranken sich an den Geschäften und Boutiquen empor wie die Rosen des Dornröschenschlosses seit Jahrhunderten Abend um Abend in den Gutenachtgeschichten der westlichen Kultur, nur dass dahinter nicht die unendliche Ruhe des (Winter)schlafs einkehrt, sondern ein alptraumhafter Mahlstrom an Geschäftigkeit.

Das hübsch anzusehende Überwuchern kann man auch in zeitgerafften Dokumentationen des Zerfallsprozesses beispielsweise eines Weihnachts-Apfels beobachten: Der Schimmel sprießt und zuckt tänzerisch mit seinen feinsten Härchen, manchmal springt etwas ganz unerwartet hervor und erweckt im Betrachter ein süßes Erschrecken und insgesamt sammelt sich alles zur samtenen Geborgenheit eines Pelzes, wie von einem kleinen wichen Tier, man möchte schon die Wärme eines pochenden Herzschlags darin vermuten, aber bald! – zeigt sich das verfaulte schwarze Fleisch im Inneren, dass immer mehr verkümmert und schließlich gottseidank verschwindet!

Auch in den Geschäften tummelt sich das überschäumende Leben: Die Augen der ausgezehrten, burnout-gefährdeten Beamten, Betriebswirte und Babysitter glänzen im Fieber der Selbstüberwindung – sie spüren weder Hitze noch Kälte, keinen Durst und nicht die schmerzenden Füße – alle Körperfunktionen fallen dem übermächtigen Treiben des Gehirns, dass nur noch seiner Fixierung auf ein Ziel folgt, zum Opfer: Weihnachten! Rauschende Feste, Gemütlichkeit, Beisammensein, Intimität, Besinnung – all dies muss durch größte Entäußerung und Disziplin vorbereitet werden! Es liegt in der Natur der Sache, dass die Erleichterung des Einbruchs nur auf die äußerste Belastung folgt:

Wenn man mit Schultern, die verspannt sind, wie die eines Langzeit-Gefängnisinsassen im höchsten Sicherheitstrakt, nach der Bescherung im Bett liegt und zum ersten Mal bemerkt, dass man Schmerzen hat und, wenn man dann den geliebten Partner bittet, den Schmerz durch zärtliches Betasten zu lindern und dieser murrend reklamiert, dass man überhaupt die ganze Zeit schon so angespannt sei und damit allen die Freude verderbe und, wenn man daraufhin in Tränen und Rotz ausbricht und all den Glühwein und die Gänsesuppe aus sich heraus weint, und wenn man dann den Partner aus den verbliebenen Leibeskräften anbrüllt und sieht, wie er aufrichtig erschrickt, wie in ihm das staunende Kind wieder zum Vorschein kommt, und man in sich einen Funken Zärtlichkeit diesem Kind, das er einmal gewesen sein muss, gegenüber aufkeimen spürt, dann, ja dann ist Weihnachten.

Luka Leben 

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freiTEXT | Katharina Korbach

Minuten bis Sieben

Es gibt nichts mehr zu tun, außer dem Regen dabei zuzusehen, wie er vor ihr auf das Pflaster prasselt, ausufert, zu Pfützen wird. Über dem Platz hängt der Himmel in einem Grau, das gerade dabei ist, schwarz zu werden. Ein paar Frauen in dunklen Regenjacken laufen vorbei, unterhalten sich leise, lachen. Vielleicht Touristen, denkt sie. Sie wartet darauf, dass es sieben wird und sie den Wagen abschließen kann.

In der letzten halben Stunde kommt immer noch jemand. Sie stellt sich das gerne vor, wie dieser jemand vorher in seinem Büro vor dem Bildschirm sitzt. Gleich hab ich Feierabend, denkt er und sein Magen knurrt. Wenn ich mich beeile schaff ich es sogar noch, mir an dem Stand am Platz eine Wurst zu holen. Die Leute, die zu ihr kommen, haben keinen Appetit, haben nicht einfach Lust auf einen schnellen Imbiss oder einen Snack. Die Leute, die zu ihr kommen, haben Hunger. Weil sie den ganzen Tag noch keine freie Minute zum Essen hatten. Weil es niemanden gibt, der zuhause für sie gekocht hat. Für diese Leute steht sie gerne in der Kälte.

"Ist noch Eintopf da?" Wie Perlen liegen die Tropfen auf der Hutkrempe des Mannes, die Brust hebt und senkt sich schnell, als wäre er gerannt. Sie nickt. "Mit oder ohne Wursteinlage?", fragt sie. "Mit, bitte." Der Mann zieht ein Handy aus der Tasche, hält es sich direkt vors Gesicht und beginnt, darauf herumzutippen, während sie die Schöpfkelle in den Topf taucht, dann eine Plastikschale bis zum Rand füllt. "Bitte sehr", sagt sie und streckt dem Mann die dampfende Schale entgegen. Ihr fällt auf, was für schöne Zähne er hat, absolut gerade, absolut weiß. Und silberne Strähnen, die ihm in die Stirn fallen. Es gibt sie also doch noch, die schönen Männer, denkt sie. Selbst hier. Selbst an so einem Abend, an dem man nicht mal einen Hund vor die Tür jagt, wie Jürgen gesagt hätte. "Ich lege die 3,50 hier hin", sagt der Mann und erst jetzt sieht sie die Münzen auf der Ablage. Sie greift danach. "Ja. Danke. Lassen Sie es sich schmecken", spult sie ab. Das sagt sie zu jedem, nicht nur zu den schönen Männern. Sie ärgert sich über sich selbst. Die Uhr schlägt zweimal. Eine halbe Stunde noch.

Sie schaltet den Grill aus, darauf das Fleisch, das sie nicht verkauft hat. Viel ist es nicht mehr, einmal Rind, zweimal Schwein. Heute Morgen hat Marcel sie gefragt, was eigentlich mit den Würsten passiert, die übrigbleiben. Sie hat es nicht geschafft, ihm die Wahrheit zu sagen. "Die verschenk ich meistens", hat sie gesagt. Sie hätte ihm alles erzählen können, er hätte genickt. Meistens isst sie die Würste selbst. Heute nimmt sie die Zange und lässt sie in eine Plastiktüte fallen, eine nach der anderen. Verschnürt sie, so fest es geht. Nein, heute nicht. Nicht, solange noch ein schöner Mann bei ihr an der Theke steht und seinen Eintopf löffelt.

Sie putzt den Rost, kippt die Asche aus dem Grill hinter den Wagen, wischt mit dem Lappen über die Ablage. Der schöne Mann schaut ihr dabei zu oder vielleicht starrt er auch einfach ins Leere. "Wiedersehen", sagt er irgendwann. Lässt klappernd seinen Plastiklöffel in die Schale fallen. "Einen schönen Abend wünsche ich." Einen schönen Abend. Sie versucht, sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal so etwas wie einen schönen Abend hatte. Ihr Kopf bleibt leer. "Ebenso", sagt sie, aber da ist der schöne Mann schon weg. Ein schwarzer Rücken, den der Regen verschluckt. Einen schönen Abend. Sie denkt an ihre Wohnung. An das Treppenhaus, in dem es genauso kalt ist wie draußen. An die Stufen, die sie sich hochschleppt bis zur Wohnungstür. In der Manteltasche nach dem Schlüssel kramt. Jeden Abend muss sie eine gute Stunde mit dem Auto aus der Stadt rausfahren, durch das Industriegebiet, dann hinter der Tankstelle rechts ab, in eine Querstraße. In die Gasse, in der ihre Wohnung liegt, kommt sie mit dem Wagen nicht rein. Rechts von der Eingangstür stapelt sich der Müll in großen grünen und gelben Säcken. Am Ende des Monats wird sie manchmal von dem Gestank geweckt, aber das nimmt sie in Kauf. Sie hätte jede Wohnung genommen. Jede Wohnung ohne Jürgen.

Der Platz ist leer und, obwohl es erst zehn vor sieben ist, löscht sie das Licht. Als letztes nimmt sie die Schürze ab und fühlt sich sofort unwohl. Neben der Baustelle am Rathaus parken ein paar Taxen. Als sie aus dem Wagen steigt, kurbelt einer der Fahrer die Scheibe herunter. Guck nicht so blöd, denkt sie, hebt die Klappe an der Seite des Fahrzeugs aus den Angeln, schließt ab.

In der Spiegelung der Windschutzscheibe sieht sie ihr Gesicht. Rote Backen von der Kälte, die Haare dicht am Kopf und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Keine schöne Frau, denkt sie. Steckt die Hände zwischen die Oberschenkel, bis sie so warm sind, dass sie losfahren kann. Eine Frau wie ich verdient keinen schönen Mann.

Jürgen ist nicht schön gewesen. Seine Beine waren ein bisschen zu kurz. Sein Haar am Hinterkopf schon ganz dünn. Sie kann sich noch an den Tag erinnern, an dem sie den Wagen gekauft haben. Sie haben ihn am Autohaus abgeholt und sind damit direkt auf den Platz gefahren. Jürgen hat das Radio aufgedreht, dann Pinsel und den Eimer mit der Farbe aus dem Kofferraum geholt. Zusammen haben sie "Monis Imbiss" in grün auf die Seitenklappe geschrieben. "Moni, das klingt doch gleich ganz anders als Mona", hat Jürgen gesagt. "Irgendwie sympathischer." Beim Malen lag seine Hand auf ihrer. Ein bisschen wie Hochzeitstorte anschneiden, dachte sie damals.

Sie nimmt sich vor, neue Farbe zu kaufen. Das "i" in ein "a" zu ändern. Sie ist jetzt wieder Mona. Ganz kurz ist sie euphorisch. Mona, ja. Ein neuer Anfang. Dann sieht sie ihr rundes, grinsendes Gesicht in der Scheibe und senkt sofort den Blick. Die Moni, die war eine schöne Frau, denkt sie. Bevor sie und Jürgen den Wagen gekauft haben, ist sie noch putzen gegangen, in der Grundschule direkt an der

Ausfahrt zur Autobahn. Meistens nachmittags, an den Wochenenden auch schon mal den ganzen Tag. Mit ihrem Besen ist sie in Rekordtempo durch die Turnhalle gefegt, durch die Klassenzimmer und Flure, um früher gehen und den Abend mit Jürgen verbringen zu können. Meistens hat sie sogar noch genug Luft gehabt, um dabei zu pfeifen. Putzen hält fit.

Sie dreht den Schlüssel im Zündschloss und fährt auf die Straße, ohne den Blinker zu setzen. Hustet ein paarmal und spürt ein Kratzen im Hals. Kein Wunder bei der Kälte. Sie könnte sich Tee kochen, wenn sie zuhause ist, denkt sie. Macht sie ja sowieso nicht. Sie wird sich mit einem Buch aufs Sofa setzen, es nach ein paar Minuten wieder weglegen und den Fernseher einschalten. Der wird Bilder in den Raum werfen, die die Welt kurz ein bisschen bunter machen. Die sie kurz von der Kälte ablenken, von ihren ungewaschenen Blusen über der Stuhllehne, von den braunen Bananen im Obstkorb. Sie wird den Ton abschalten und versuchen, an irgendetwas Schönes zu denken. An den schönen Mann vielleicht. Ein schöner Mann kann einen über die Stunden retten, wenn man Glück hat. Selbst, wenn man doch genau weiß, dass man nie so einen haben wird.

Jürgen war kein schöner Mann. Er hat die Würste in die Brötchen gepackt, eine Serviette drum. Hat dabei gelächelt, sodass man seine schiefen Zähne sehen konnte. Braun an den Zahnhälsen. Es sagt viel über einen Menschen aus, wie man seine Zähne pflegt, denkt sie. Aber eine schöne Stimme hatte er. Sie kann sie jetzt hören. Ganz klar, als würde er in dem Moment neben ihr sitzen. Ketchup und Mayo sind da drüben. Darf es für die Dame vielleicht noch eine Extrawurst sein?

Sie tritt aufs Gas, obwohl sie schon sieht, wie die Ampel vor ihr auf Rot springt. Jemand hupt und sie fühlt sich gut. Im Feierabendverkehr über rote Ampeln fahren. Ein kleiner Rest Nervenkitzel, der ihr noch bleibt. Sie reißt das Lenkrad herum und biegt in die Querstraße. Hätte gerne, dass die Reifen dabei quietschen, aber natürlich tun sie das nicht. Sie findet einen Parkplatz, bleibt noch eine Weile sitzen und guckt zu, wie der Regen in großen, harten Tropfen auf die Windschutzscheibe trifft. Dann öffnet sie die Fahrertür. Atmet frische, klare Luft. Geht die paar Meter zu ihrer Wohnung und hört entfernt den Verkehr auf der Schnellstraße. Was der schöne Mann wohl gerade macht, fragt sie sich. Wahrscheinlich sitzt er mit einer schönen Frau in irgendeinem italienischen Restaurant und trinkt Rotwein. Deshalb musste er sich so beeilen. So ein schöner Mann, denkt sie, bevor sie die Haustür aufschließt. So ein schöner Mann, der mir Bier kauft, und sich abends neben mir die Zähne putzt. Dann steht sie im Treppenhaus.

Katharina Korbach

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freiTEXT | Christina Gumpinger

Ich holte meine Stiefel aus dem untersten Regal. Band sie zu und zog meine Jacke an. Nahm den Schlüssel vom Brett und schloss die Tür hinter mir. Draußen war es kälter als erwartet. Ich schloss die Jacke bis oben hin und vergrub mein Kinn darin. Ich ging Richtung Straße und bog auf den Weg hinab zu den öffentlichen Toiletten, vorbei daran, hin zum Kreisverkehr und vorbei an den Müllcontainern, bis ich endlich auf der langen Geraden war. Meine Füße waren bereits in dem Automatismus gefangen, der sie immer fort, der Straße entlang, trug. Ich fühlte bereits die Kälte, die leicht an meinen Wangen streichelte. Ich zog die Haube noch etwas tiefer ins Gesicht und legte das rechte und linke Haarbüschel schützend um meine Ohren und den Hals. Meine Füße trugen mich immer weiter fort. Sie trugen mich auch ohne mein Zutun. Meine Willenskraft und die Kontrolle über meinen Körper erschlafften langsam. Dieser war nun fest eingebunden in einen regelmäßigen Rhythmus. In eine Bewegung, die so natürlich war, dass sie mir nichts abverlangte. Sie trug mich vorbei an Landschaften, die ich seit Jahren kannte, die mir aber doch immer wieder neu erschienen. Ein Land, das brach lag, ungeschützt. Wie ich, dachte ich. Risse durchzogen die Erde und halb geschmolzene Schneehaufen hatten zu vereisen begonnen. Trotz der Sonne war es kalt. Noch immer Winter, nicht schon Frühling, wie manch einer sagte. Das Gras neben mir, verbraucht, bräunliches Grün. Ungeschützt gegen Wind und Wetter. Nur wenige Häuser durchbrachen diese Leere.

Wenn man es von oben betrachten würde, ob es dann aussehe wie eine Landkarte meines Herzen? Ein, zwei, drei Lichter in einer weiten Fläche. Täler, Berge, Hänge, Abhänge, auslaufende Straßen, Schotter und Erdhügel. Inmitten ein, zwei Lichter, die leicht flackerten. Schwach und kümmerlich.

Verstümmelt sah sie aus die Landschaft. Obwohl man hier am Land, wohl freier von menschlichem Einfluss war. Verstümmelt war sie jedoch trotzdem. Wenn nicht vom Menschen, dann von Wind und Wetter. Dem Regen, der alles unter Wasser setzte. Langsam und langsam, bis sich Pfützen bildeten, die irgendwann zu kleinen Seen wurden, in denen das Gras leise ertrank. Der Schnee, der alles zudeckte, es bewahrte. Das Eis, das die Erde entzweibrach, von Rissen durchzogen, aufgesprungen an scharfen Kanten. Die Sonne, die es trocknete und die scharfen Kanten zu Waffen brannte, die das Gras erwachen lies, bis kein Tropfen mehr zu sehen war.

Christina Gumpinger

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freiTEXT 2014-15 als eBook

freiTEXT14-15

Ein Jahr freiTEXT ist vergangen - es wird Zeit für die große Nachlese. Die Anthologie mit allen Texten aus 52 Wochen freiTEXT ist ab sofort als kostenloser eBook-Download erhältlich.

mit Texten von Thomas Mulitzer, Tobias Roth, Andrea Weiss, Sabine F., Magdalena Ecker, Claudia Kraml, Eva Löchli, Andreas Haider, Madlin Kupko, Dijana Dreznjak, Ingeborg Kraschl, Fabian Bönte, Simone Scharbert, Renate Katzer, Jacqueline Krenka, Karin Seidner, Nico Feiden, Sabine Roidl, Sven Heuchert, Veronika Aschenbrenner, Sarah Krennbauer, Philipp Feman, Matthias Engels, Clemens Schittko, Eva Wimmer, Gerhard Steinlechner, Matthias Dietrich, Christine Gnahn, Eva Weissensteiner, Marie Gamillscheg, Satie Gaia, Lina Mairinger, Jonis Hartmann, Philipp Böhm, Lütfiye Güzel, Kerstin Fischer, André Patten, Katrin Theiner, Daniel Ableev, Marina Büttner und Martin Piekar.


freiTEXT | Markus Streichardt

Im Plastozän

 „Vor wie vielen Tagen bin ich gestrandet?“ Er lacht gequält und schüttelt gleichzeitig den Kopf. „Gestrandet, dass mir ausgerechnet dieses Wort einfällt. Absurd. Wäre ich doch an einen Strand gespült worden!“, flucht er durch die Zähne. „Die Überlebenschance wäre nicht geringer, aber das Ende gewiss erträglicher gewesen. Auf einer einsamen dafür paradiesisch schönen Insel, wie man sie sich gemeinhin vorstellt. Feiner weißer Sandstrand und 20m hohe schattenspende Kokosnusspalmen. Aber hier nichts dergleichen. Immerhin ist es bewölkt.“

Die Crewmitglieder schrien wild durcheinander und gaben Anweisungen auf Spanisch. Eine Sprache, die er kaum verstand. Jemand drückte ihm ein mechanisches Mini-Anemometer in die Hand, als wäre er ein Kind, das ein Spielzeug zur Beruhigung brauchte. Und es wirkte tatsächlich. Er starrte weniger verängstigt als fasziniert auf das immer schneller rotierende Flügelrad. Die digitale Anzeige sprang hin und her, von 47 auf 51 Knoten und zurück. Er wusste, dass 20 Knoten ca. 37 km/h entsprechen und begann umzurechnen.

Als das Anemometer 60 Knoten maß, glaubte er, jeden Moment davon zu fliegen. Stattdessen rutschte ihm der Windmesser aus der Hand und über den Boden Richtung Bug. Er stand mit einer Selbstverständlichkeit auf, als wolle er einen alten Schulfreund, der soeben zur Tür her reinkam, freudig begrüßen. Er machte keine zwei Schritte, da wurde das Boot von einer Welle emporgehoben, er verlor das Gleichgewicht, prallte mit dem Rücken gegen den Mast und fiel beim nächsten Wellenschlag kopfüber die Reling.

Als er wieder zu sich kam, lag er zusammengekauert auf einem beigefarbenen Kühlschrank. Die Kühl-Gefrier-Kombination maß genau 180 Zentimeter und entsprach seiner Körpergröße.

Er versuchte sich zu verorten, seine Position zu bestimmen, indem er verzweifelt den Kopf in alle Himmelsrichtungen drehte, ohne irgendein Fixpunkt festmachen zu können. Das Unterfangen war schier hoffnungslos allein wegen seiner Kurzsichtigkeit. Hinzukam, dass er ständig die vom Salzwasser geröteten Augen zusammenkniff. So trieb er für Stunden dahin.

„Ich hätte eher erwartet, von modernen Piraten gekidnappt zu werden.“ Er stellte sich vor, wie er den Millionenbetrag mit einem schwarzen Edding auf ein Blatt Papier schreibt, um dann vor laufender Kamera die deutsche Regierung anzuflehen, den Lösegeldforderungen nachzukommen. „Zwei oder wenigstens eine Million halte ich für angemessen.“ Er lachte.

Es zeigten sich schemenhafte Umrisse einer Art Bergspitze, zumindest ragte etwas Großes aus dem Wasser. Obwohl die Strömung ihn auf direktem Wege dorthin spülte, legte er sich auf den Bauch und begann hektisch zu paddeln. Er kam nur unwesentlich schneller vorwärts und war alsbald erschöpft. Er erschrak und fiel beinahe ins Wasser, als er sich mit der linken Hand in den Plastikringen eines Sixpacks verhedderte. Er befreite sich davon und hielt die Ringe ungläubig vor die Augen. Dann schleuderte er sie plötzlich mit einer ungeheuren Wut zurück ins Wasser. Er bemerkte nun erst, wie viel Plastikmüll um ihn herumschwamm. Neben unzähligen Plastikringen, die einstmals Bier- und Coca-Cola-Dosen zusammenhielten, tummelten sich gepresste Plastikflaschen, löchrige Plastiktüten und Plastikeimer, Kabeltrommeln sowie Zahnbürsten, Einwegrasierer und CD-Hüllen. Er zog angewidert die Hände und Füße aus dem Wasser und rieb sie trocken, als müsse er sich vor einer gefährlichen Krankheit schützen.

Der sich vor ihm auftürmende Berg war zwar eine Insel, glich jedoch vielmehr einer gigantischen Müllhalde inmitten des Nordpazifischen Ozeans. Der Strand war als solcher kaum zu erkennen, er wurde über-, geradezu verdeckt von Abermillionen kleinen und großen überwiegend aschfahlen Plastikstücken mit wenigen bunten Einsprengseln, die in der Sonne matt glänzten. Haushaltsgeräte in allen erdenklichen Größen und Formen ragten wie Pfeiler heraus. Der Kühlschrank, auf dem er saß, reihte sich perfekt ein.

Er wusste nicht, was er tun sollte. Er fingerte an der Schwimmweste, stellte die Lampe an und aus, dann stand er auf und ging an Land. Der Untergrund knirschte und quietschte unter jedem Schritt, als würde er über den Linoleumboden einer Sporthalle laufen.

Auf seinen Streifzügen kartografiert er die Insel. Er kommt auf eine Größe von knapp zehn Quadratkilometern. Im nördlichen Teil gibt es einzig ein paar abgestorbene Plamen, wobei zwei Baumstämme glücklicherweise dicht genug beieinanderstehen, an denen er eine löchrige Zeltplane aufgespannt hat. Sein Lager.

Karge Felsklippen begrenzen den Osten und den Süden und werden hin und wieder von Eissturmvögeln angeflogen. Wenn er dort verbeikommt, versucht er sie durch gezielte Steinschläge zu töten. Die Versuche scheitern jedes Mal kläglich. Der Hunger rumort in ihm, aber er ist noch nicht stark genug, um seinen Ekel vor den an kaputten Leuchtstoffröhren klebenden Rankenfußkrebsen zu überwinden. „Das Abnehmen tut mir gut, ich verfüge über genügend Fettreserven“, redet er sich ein, während er seinen salzverkrusteten Bauch streichelt.

Er ist vor allem durstig, die ganze Zeit. Er trinkt Regenwasser, das sich in Pfützen und Kanistern gesammelt hat. „Immerhin ist es bewölkt, ansonsten wäre ich vermutlich schon verdurstet oder geröstet.“

Im Westen der Insel, wo er an Land ging, konzentriert sich der Großteil des Plastikmülls, der dann vom Wind und Überschwemmungen weiter ins Innere getragen wird.

Er findet Gummihandschuhe und Gummistiefel, von denen er sich das jeweils beste Paar anzieht.

Er findet Plastikboxen mit verrubbelten Etiketten in englischer und spanischer Sprache sowie mit chinesischen und japanischen Schriftzeichen.

Er findet zerbeulte Schwimmbecken voll mit Kinderspielzeug, da drunter Elektroautos ohne Fernbedienung, Powerrangers, von denen manchen ein Arm oder der Kopf fehlt, sowie Giraffen, Elefanten, Büffel, Krokodile, Flamingos, Zebras und weitere Plastiktiere, die in Summe die Artenvielfalt des Berliner Zoos abbilden könnte.

Er findet abgelaufene Kreditkarten, Club-Karten und Bibliotheksausweise. Er kombiniert sie miteinander und bezahlt damit imaginierte Ware oder leiht Bücher aus. Er erfindet Dialoge und alberne Buchtitel wie Der alte Mann und das Plastikmeer oder Der Vierunddreißigjährige, der ohne Schweizer Taschenmesser an Board ging und verschwand. Er lacht.

Er findet ausgetragene Turnschuhe, Tetrapacks, Blechdosen, Styroporreste, mit denen er sein Lager auslegt, Reusen, an Bojen und Seilen saugende Muscheln, Lichtschalterabdeckungen, Kosmetikdöschen und –fläschchen, uralt Röhrenbildfernseher, aber auch das Gehäuse eines modernen Ultra-HD-Fernsehers. „Es ist nicht lange her“, erinnert er sich, „da stand ich selbst noch vor solch einem Modell bei Media-Markt und war äußerst verzückt von der Bildschärfe und dem Detailreichtum.“

Er findet Tausende von Handyhüllen, aber kaum Handys.

Er findet so vieles, nur einen Gefährten nicht. Keinen Freitag.

Er würde gern ein Tagebuch führen und Zeugnis ablegen. „Nur ist Papier leider Mangelware.“ Er lacht. Er lacht viel, seit er hier festsitzt.

„Warum habe ich bloß die Bootstour gebucht?“, fragt er sich immer wieder, obwohl er die Antwort weiß. Nach vier Tagen paradiesischer Eintönigkeit – bestehend aus Schnorcheln und Strandmassagen - war er auf der Suche nach etwas Abenteuer gewesen. Da kam ihm das Angebot plus 15% Rabatt für Hotelgäste gerade recht. Er unterschrieb ohne zu zögern die Verzichtserklärung.

Nachts beginnen Müll und Meer zu leuchten. Planktonorganismen steigen auf und blinken hellblau, sobald sie ausgerechnet mit dem Plastikschrott in Berührung kommen. Überall in den kleinen Buchten blitzt es permanent. Obwohl das Licht kalt ist, gibt es ihm ein Gefühl von Sicherheit. „Und das Schauspiel ist es vielleicht wert gewesen.“ Ohne das es näher zu bestimmen.

„Ich bin noch nicht tot“, murmelt er vor sich hin. Er erinnert sich an das letzte Personalgespräch. Sein Vorgesetzter hatte ihn zunächst für die geflissentliche Arbeit gelobt, um dann mehr Engagement zu fordern. Er kritisierte ihn dafür zu kritisch zu sein. Und die Personalleiterin ermunterte ihn, die strukturellen Veränderungen, die die Firma auf allen Ebenen erfasse, positiv anzunehmen und produktiv zu verwerten. Er schreit trotzig: „Ich bin am Leben.“ Er hält auch diese Aussage für verbesserungswürdig. Er schreit so laut, dass sich die Stimme überschlägt: „ichlebeichleeebeichleeeeeeeebe.“ Sein Vorgesetzter würde diese Einstellung bestimmt begrüßen und stolz auf ihn sein. Er lacht und kann nicht mehr aufhören vor Lachen.

Er entscheidet, dass er seit drei Tagen hier festsitzt. Und die Insel eine Müllhalde ist. Eine Müllhalde, die regelmäßig von Müllmännern angesteuert wird. „Es sind bestimmt ehemalige Fischer“, behauptet er mit voller Überzeugung, „die vom Fang nicht mehr ihre Familien ernähren können und nun Müll vom Festland aufs weite Meer hinaus transportieren. Sie werden bald kommen, vielleicht schon morgen, und mich dann retten. In Deutschland kommt die Müllabfuhr ja auch einmal die Woche.“

Markus Streichardt

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freiTEXT | Alke Stachler

auf offenem feld rührt der tag dich, berührt dich wie mit dem kleinen zeh wasser, sodass deine oberfläche durchquert ist von ringen. dieses ist ein dünner ort, fahrige birken, blattgold über allem, moment an moment gefädelt wie schmuck, hier tastet sich etwas. das sonst weit voneinander, das sonst wie pole sich. und du: geh ganz bis zum ende der zweige, der halme, der knappsten stellen, setz noch einen schritt. einen mehr, als würde die luft dich, außer du zweifelst. und zweige: wie die sonne einreißt, oder nein, die sonne rinnt, rinnt wie durch finger, zwischen fingern von etwas größerem hindurch, und schwärzerem. geh weiter und du kommst an eine stelle, die dich, die es, die was mit dir macht

Alke Stachler

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freiTEXT | Karsten Redmann

Die Flucht

Mai 1972 - Ostharz, innerdeutsche Grenze, Staatsgebiet der DDR.

Seit zwei Tagen regnet es, ununterbrochen regnet es. Gassner muss an Bindfäden denken, die in der Luft hängen. An unzählige Bindfäden, Striche und Vertikalen. Regenwasser dringt durch die Kronen der Eichen, Buchen und Tannen, ergießt sich, wie an unsichtbaren Fäden, auf den mit Moos bewachsenen Waldboden, auf Ameisenvölker, braune und schwarze Käfer, und auf Gassner selbst, der an einen Baum gelehnt sitzt, Wasser in den Schuhen, sein Hemd völlig durchnässt. Die Brille setzt er nicht ab. An Schlaf ist nicht zu denken. An Gassners Rücken fließt geräuschlos Regenwasser ab. Am Boden bilden sich dunkelgrüne Pfützen, Tannennadeln darin, vereinzelt auch kleinere Spinnen und Fliegen - Kleintiere, die mit dem Tod ringen. Es riecht nach Moos und Flechten. Der Regen prasselt unentwegt. Wenn er doch nur aufstehen könnte und loslaufen, dann würde er vom Punkt zur Linie werden. Doch Gassner läuft nicht los, weil er nicht weiß, wohin, weil er keine Kraft mehr hat, sich verlaufen hat, in diesem regennassen deutschen Wald. Aber du musst, Gassner, weil du es willst. Du hast keine andere Wahl. Vergiss die Bindfäden in der Luft, den Wolkenbruch. Verdränge den Regen, die Kälte, den Schlaf. Im Grunde bist du allein, ja, aber es ist gut, hier und jetzt allein zu sein. Und später? Später kannst du schlafen, tagelang schlafen. Träumen wirst du dann, endlich wieder träumen. Von drüben? Nein, nicht von drüben, denn wenn du auf der anderen Seite angelangt bist, hast du ja dein Ziel erreicht. Und die kleine Öffnung in der Wolkendecke, auf Caspar-David-Friedrichs Bild, vom Mönch am Meer, wäre damit mehr als ein reines Versprechen deines Vaters gewesen – ein Ausweg nämlich, ein gelungener Fluchtversuch.

Aber halt, war da nicht ein Geräusch? Eine kurze Bewegung? Ein Knacken von Ästen? Dort hinter dem Baum?

Vor vier Tagen war Gassner mit 10.000 DDR-Mark in 50er und 100er Scheinen, seiner Geburtsurkunde, seinen Schulzeugnissen und dem Gesellenbrief, alles fein säuberlich in einer wasserdichten Plastiktasche verstaut, in einen Bus gestiegen, hatte den Bauernhof, die schon alt gewordene Mutter und den Bruder verlassen, und dabei versucht, möglichst unauffällig auszusehen - bei seinem ersten Fluchtversuch. Sein Plan schien aufzugehen: Der alte Fahrer des Omnibusses hatte seine Sonnenbrille nicht einmal abgesetzt, hatte nur Gassners Fahrkarte entgegen genommen und sie am perforierten Kartenrand abgerissen, so, wie es allgemein üblich war. Auch während der Fahrt in die nächstgelegene Stadt hatte der Fahrer nur selten in den Rückspiegel geblickt, was gut war, denn so ging es weiter, Kilometer für Kilometer. Die Mitreisenden waren so unauffällig wie Gassner selbst - darunter eine dickliche Frau, um die 30, mit kurzen Haaren, einem blassen Gesicht und einem Säugling auf dem Arm. Sie hatte ihren roten Wollpullover nach oben gezogen, so dass man ihre rechte Brust und den Kopf ihres Kindes sehen konnte. Unentwegt starrte die Frau auf die flaumigen schwarzen Haare ihres Säuglings und strich mit ihren dicken Fingern über Kopfhaut und Haar. Ihr gegenüber saß ein junger Mann, so um die 20, in einem hellen Cordanzug, Zigarette im Mund, ein altes, zerlesenes Buch in der Hand. Sein Blick wanderte hellwach über die Zeilen. Gassner fragte sich für einen Moment, was der Mann da las. Den blauen Einband kannte er nicht. Die Schrift darauf wurde von der Hand des Mannes verdeckt. Die hochgepriesenen Amerikaner, deren Bücher ihm sein Vater früher über Umwege besorgt hatte, kamen Gassner in den Sinn: Hemingway und Faulkner. Und während er an den alten Mann und das Meer und all die anderen Geschichten dachte, streifte sein Blick über das dichte Grün der riesigen Alleebäume – da tauchte plötzlich dieses Tier auf. Es hockte in einer der hellgrünen Baumkronen und blickte zur Seite. Ein Wisch, schon vorbei. Konnte das wirklich sein, hatte Gassner sich gefragt und sich erst wieder beruhigt, als er kurz darauf einen Wanderzirkus auf einer Wiese entdeckte. In der Mitte stand das große Zirkuszelt, am Rand des Lagers bunte Wohnwagen aus Holz, Tiere in Käfigen und vor den Käfigen jonglierende Artisten, Bälle und Keulen in der Luft. An einem kleinen Zelt flatterten bunte Fahnen im Wind. Er hatte sich also nicht getäuscht, sicher war es ein Affe gewesen. Ein Schimpanse auf der Flucht. Einer, der sich aus dem Staub machen wollte, einer der die haarigen Beine in die Hand genommen hatte, um diesem ganzen Zirkus hier zu entkommen. Sehr viel später, im Wald umher irrend, den Grenzzaun suchend, hatte sich Gassner gefragt, wie weit so ein Schimpanse, ganz auf sich allein gestellt, überhaupt käme. Denn es hatte angefangen zu regnen, und Gassner hatte sich vorgestellt, wie der Affe durch den Regen und über die Felder lief, halb springend, halb taumelnd. Auf den Zirkus folgten: ein Dorf mit Brunnen, ein Zweites ohne, dann ein Drittes, und nach einer halben Stunde Fahrt hatte der Bus schließlich angehalten, Gassner war ausgestiegen, hatte in die helle Mittagssonne geblinzelt, sich nach allen Seiten umgeschaut, seine Tasche genommen und sich auf eine der Holzbänke gesetzt. Hier wäre er also Besucher dieser Kleinstadt, nicht mehr und nicht weniger. Nur daran müsse er sich halten, an nichts anderes. Ganze fünf Mal sollte Gassner umsteigen, so der Plan: vom Bus in einen weiteren Bus, von einem Zug in den nächsten und so weiter. Bei den geplanten Kurzaufenthalten in den Dörfern und Städten wollte er sichergehen, dass ihm niemand folgte.

Moment. War da etwas? Ja, ein Geräusch. Er hat es gehört - da hinten. Jetzt kann er es sehen, verschwommen, wie durch Fäden hindurch, ein orangener Fleck auf seiner Brille, springt über Baumstümpfe und verliert sich im Unterholz. Wahrscheinlich ein Tier, schon vorbei, keine Gefahr. Durchatmen... Wind kommt jetzt auf. Am Himmel ziehen Wolken westwärts. Zwischen den Baumwipfeln entdeckt Gassner helle Flächen Licht, hier und da auch eine Vorstellung von Blau. Diese kleinen, blauen Flächen dehnen sich langsam aus. Hat es wirklich aufgehört zu regnen? Es fehlt ein Geräusch, ihm fehlt ein Geräusch - der Regen als Kulisse. Die Fäden sind weg. Jemand hat sie abgeschnitten. Gassner setzt die Brille ab, streicht mit einem Tuch über die Gläser, schaut sich um und setzt sich in Bewegung, ein federnder Gang. Die Sonne weist ihm den Weg. Nach einiger Zeit kommt es ihm vor, als würde sich der Wald um ihn herum verändern, als stünden die Bäume nicht mehr so dicht beisammen, als lichte sich der Wald, oben und auch an den Seiten. Gassner greift in die Tasche seiner nassen Hose und bricht ein Stück Schokolade, steckt es in den Mund und bewegt es mit der Zunge hin und her. Quer über ihm steht die Sonne, sie blendet.

Auch ich sehe sie jetzt und schreibe es auf. Die Sonne blendet. Mit meiner Hand schütze ich meine Augen und folge Gassners Schritten. Er sagt: „Los jetzt!“ Und: „Wir müssen weiter. Sofort!“ Wir?, möchte ich ihn fragen, und schütteln möchte ich ihn dabei, aber vielleicht ist es besser so, wahrscheinlich braucht er mich jetzt. Also folge ich seinen Anweisungen, folge ihm. Schließlich müssen wir weiter, er und ich. „Nicht so schnell!“, rufe ich, denn mir geht die Puste aus. Aber er läuft weiter, den Blick stur nach vorne gerichtet. Ich komme kaum hinterher. Wieder muss ich stehenbleiben und nach ihm rufen. Schnell ermahnt er mich, leise zu sein. „Wir wollen doch nicht riskieren geschnappt zu werden“, mahnt er. Zwischen den Bäumen weiten sich die Lücken - Lichtungen tun sich auf. Gassners Schritte werden verhaltener, vorsichtiger, er bleibt stehen, kniet sich hin, hört in den Wald hinein. Ein Geräusch? Nichts bewegt sich, nur die Wolken – ihre Schatten ziehen über uns hinweg. Vor uns öffnet sich eine Schneise, daran angrenzend ein hoher Zaun mit Stacheldraht. Plötzlich ein Wagen, kommt von rechts heran, immer näher, das Motorengeräusch schwillt an. Dann Stille, der Wagen vorbei. Gassner schnappt nach Luft. Hat er die ganze Zeit die Luft angehalten? „Endlich“, sagt er und es soll wohl beruhigend klingen. Ich sehe, wie Gassner die Umgebung genau beobachtet, sein Blick wandert vom Wachturm über die Wiese, den Zaun entlang. Erneut putzt Gassner seine Brille, doch die Schlieren bleiben. „Der Turm ist das Problem“, sagt er, nimmt ein letztes Stück Schokolade aus der Tasche und kaut darauf herum. „Wir dürfen kein Risiko eingehen“, sagt er und ich gebe ihm zu verstehen, dass ich seine Ansicht teile, dass es besser wäre, eine weniger einsehbare Stelle zu finden. Er nickt, ich nicke, wortlos folge ich ihm. Als er Sekunden später über eine Baumwurzel springt, knickt er ein, hält sich den Fuß. „Verdammter Mist“, sage ich. Ich gehe in die Hocke um mir den Fuß genauer anzusehen. „Das erste Mal“, sagt er, „meine erste Verletzung.“ „Und jetzt?“, frage ich. „Was willst du tun?“ „Ach, das krieg´ ich schon hin“, sagt er, „hast du Schokolade dabei?“ „Keine Schokolade, aber schau mal in deiner Tasche nach“, sage ich. Erstaunt fischt er ein Päckchen Traubenzucker heraus. „Das ist ja West-Ware“, sagt er und schaut mich fragend an. „Ein Geschenk“, sage ich. Er steht auf. In seinem Gesicht lese ich Schmerz. „Soll ich dir helfen?“, frage ich. „Nein, das schaffe ich schon!“, sagt er. Er nimmt ein gelbes Tuch aus seiner Tasche, legt es auf den Waldboden und drückt es gegen das feuchte Moos. Dann bindet er es fest um seinen Fuß. „So“, sagt er, „das müsste gehen.“

Wie lange hatte er darauf gewartet, diesen Wald zu betreten, diesen einen Schritt weiter zu gehen als die meisten anderen. Viel weiter als sein Vater war er gekommen; sein Vater, den sie eineinhalb Jahre zuvor inhaftiert hatten und dessen Tod der Staat vermeldete, als handele es sich um eine bloße Randnotiz. Sie sagten, dass es seinem Vater in den letzten Wochen sehr schlecht gegangen wäre. Er hätte jedwede Hilfe verweigert. Den Staat träfe keine Schuld. Ob es einen Abschiedsbrief gäbe, hatte Gassner einen der Verantwortlichen gefragt. Und der hatte ihm eine Skizze in die Hand gedrückt, auf der recht wenig zu erkennen war, nur Striche und Linien. „Das hier“, hatte er gesagt und ihm das Stück Papier ausgehändigt, „ist alles was wir von ihrem Vater haben.“ Auf den ersten Blick war wenig zu erkennen und Gassner brauchte eine Weile, um den stilisierten Mönch, den Himmel und das angedeutete Meer zu erkennen. Und er erinnerte sich, wie ihm sein Vater, in der alten Wohnung in Berlin, das Bild des Mönchs am Meer in einem Kunstband gezeigt hatte. Wie er ihm alles über das kleine Bild erzählt hatte, um dann mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand über eine helle Stelle in der Wolkendecke zu kreisen und zu sagen: „Siehst du das, mein Sohn? Siehst du das Aufklaren? Hier, direkt über dem Kopf der Figur?“, und er kreiste wieder um die Stelle, „ siehst du, hier öffnet sich der Himmel.“ Damals hatte Gassner die Anspielungen seines Vaters nicht verstanden, nicht gewusst, was er ihm damit sagen wollte. Und vielleicht war es auch besser so gewesen.

Wir kauern auf dem Boden und sondieren die Lage. Gassners Blick wirkt verschlossen. „Was ist?“, frage ich. „Ich habe Angst“, sagt er. Ich sage: „Ich weiß“, und lege meine Hand auf seine Schulter. „Warum tust du das alles?“, fragt er. „Eigentlich machst du doch alles selbst“, sage ich. „Außerdem folge ich dir, weil ich mich für dich und deine Geschichte interessiere.“ Er lächelt. „Das ist schön“, sagt er. „Aber was ist, wenn ich im Zaun hängenbleibe? Oder sie mich vom Zaun schießen? Oder eine Mine hochgeht?“ „Warte mal“, sage ich und zeige mit dem Finger auf die andere Seite, Richtung Westen. Und während Gassner meinem Fingerzeig folgt, taucht ein niederländischer Reisebus mit Grenztouristen auf. „Das sieht doch ganz nach einer guten Chance aus“, sage ich. „Los. Lauf los. Jetzt.“ Erst humpelt er, dann rennt er, noch 200 Meter, 100 Meter, 50, dann der Zaun. Gassner ist schnell. Seine rechte Hand greift in den Draht und zieht sich hoch. Im Bus sehe ich ein Blitzlichtgewitter. Gesichter kleben an den Fenstern, Münder sprechen aufgeregt miteinander. Die Oranier-Route führt hier, 1972, an der deutsch-deutschen Grenze vorbei. Für die Touristen aus den Niederlanden ist der Grenzzaun seit Jahren ein willkommener Anlass Fotos zu schießen, und einer wie Gassner, jetzt und hier, das ideale Motiv: ein Mensch auf der Flucht. Gassner ist jetzt hinter dem ersten Zaun. Ich sehe wie er sich zu mir umschaut. „Lauf!“, rufe ich. „Lauf um dein Leben!“ Ein zehn Meter breites Minenfeld. Gassner steht davor. Der Bus hält an, die Rücklichter leuchten. Er läuft über das Feld, läuft sehr schnell. Er fällt nicht, fliegt nicht in die Luft. Dann der zweite Zaun. Wieder zuerst die Hände, die Füße, ich muss an das Tuch an seinem Fuß denken, das gelbe Tuch. Ich sehe den gelben Knoten wie er am Draht entlang schrammt. Gassner lässt sich fallen, sein Körper bleibt liegen. Jetzt erst schaut er zum Bus, stützt sich auf, schaut zurück, ein Lächeln. Humpelnd verschwindet er im westdeutschen Wald. Ich stehe auf und bemerke erst jetzt, dass sich Stimmen nähern. Ein Hund hechelt. Zwei Grenzer mit Schäferhund laufen an mir vorbei. Plötzlich bellt der Hund. Ich bleibe stehen und sehe, wie sie den Hund von der Leine lassen. Blitzschnell rennt dieser über die Wiese, bremst am Zaun, überschlägt sich fast. Das Bellen hört nicht auf. Dann betreten die Grenzer die Wiese, pfeifen den Hund zurück und stecken sich Zigaretten an. Rauch steigt auf und verliert sich über der Schneise. „Sieh mal“, sagt einer der beiden und hebt einen weißen viereckigen Gegenstand vom Boden auf, etwa so groß wie eine Briefmarke.

„Sieht komisch aus“, ergänzt er.

„Das ist doch Traubenzucker!“, sagt der Zweite, steckt sich das Stück in den Mund und blinzelt in die gelbe Sonne.

Karsten Redmann

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