freiTEXT | Andreas Reichelsdorfer

Soundtrack of urban happiness makes my mind split open

Das Lied A Horse With No Name der Gruppe America ertönt aus den Lautsprechern [1]. In einer Rezension auf einer informativen Musikseite bezeichnet ein Autor die Band als Neil Young - halt: Neil Young ähnlich. Get your facts straight, buddy. Und leite einen Text über die dunklen Straßen der Stadt (oder das Glück und das Unglück) nicht mit einem Song ein, der außerordentlich bekannt ist, der ein One-Hit-Wonder ist, den jeder kennt und von dem jeder denkt, dass er von Neil Young ist. Denkt denn keiner, dass er von Neil Young ist? Behauptung (kühn wie belanglos): Etwa fünf Prozent der Menschheit ist der Name Neil Young ein Begriff. Den Song A Horse With No Name andererseits werden vermutlich weit mehr Personen erkennen, als Personen, die Neil Young kennen. Und so wird alles ausgehebelt, mein Freund. Don’t fear the reaper. Ein One-Hit-Wonder sondergleichen und noch dazu ein schmachtendes Gitarrensolo [2], das im Radio abgeschnitten wird, sofern es noch ein Radio gibt. Die Fernseher wurden nämlich schon abgestellt. In einer Zeitung (Print) standen Statistiken über Romeo und Julia, doch welche Personen wurden denn überhaupt ausgewählt für diese Umfrage? Cirka tausend. Schön. Das sagt sich leicht, wenn man bedenkt, dass ein Querschnitt mitunter treffende Aussagen vermeidet, und Metallsolos das Konservativste sind, was die Rockmusik jemals hervorgebracht hat. Sie ruinieren die Lieder. Doch danach geht alles wieder seinen gewohnten Gang: Vers, Chorus, Kaffee in der Pause, Zigarette, am Ende auch noch arbeiten und Geld erwirtschaften, zum Teil für sich selbst. Dann wird gehortet, allerdings wird oft mehr gehortet, als angegeben wird, und unter den Matratzen der Verstorbenen werden immer wieder Bündel gefunden, die meist von Maklern eingesteckt werden, in seltenen und klar zu befürwortenden Fällen aber an die Erben weitergereicht werden, die sich damit vielleicht nicht gerade ein Haus am See, doch aber Essen, Trinken, Liebe und Sex leisten können. Das muss gut sein. Wenn du von Bob Dylan stiehlst, dann stiehl richtig: Der Mann in dir stiehlt [3]. Aber masturbiert er? Eingeschlossen in vier Wänden, manchmal beobachtet von draußen, von draußen betrachtet so gesagt sehr witzig, im Kopf im Großen und Ganzen: Pressen, Schnaufen und nach draußen Drücken, dann: Leere im Papier. Reinigung kann so nicht aussehen, aber das Piano und vor allem die Stimme (die Stimme!) können Balsam auf deine Flügel geben, wenn du es zulässt, wenn du es zulässt, und dann flieg Vogel, flieg!, in die Nacht hinein. Der Tag hat schon zu viel kaputt gemacht. Sagen wir es so: Wir müssen auch einmal versuchen, zu leben, und dabei kann man nicht umher, die Realität ein wenig seinen eigenen Vorstellungen anzupassen - um nach draußen zu gelangen, auch: auszubrechen (schwülstig, schon, doch ebenso weich wie hart wie zart - hart aber herzlich). Wenn du schon zitieren musst, lieber Kollege, sagte der Dozent, dann zitier richtig. Mir aber blieb dieser Song verschlossen und ich konnte keinen Zugang finden, obwohl ich ihn doch kannte, weil er auf einem Soundtrack zu finden war [4]. Dabei wurde auch hier einiges an Gefühlen hineingelegt. Das war herzzerreißend, im zweiten wahrsten Sinne des Wortes. Und doch fand es bei einem Großteil (ca. 98%) keinerlei Beachtung. Kam nicht an, kam nicht durch, verpflanzte sich in andere Gegenden und erreichte immerhin Elvis Costello, der die Brille abnahm, kühl sang wie er es doch tut, und am Ende Tanzen. Was bleibt am Ende anderes übrig als Tanzen? Nun, vermutlich gäbe es da noch ein paar Dinge, sagte der Dozent, und stampfte seinen Laptop ein (zu den andern Dingen), um im Hinterzimmer, in dem zwei Nackte sehnsüchtig warteten, zu verschwinden. Dort kamen wir. Dort kamen wir an, und wir bespürten unsere Häute, und es war ein wundervolles Gefühl. Dabei lernten wir noch viel zu wenig. Was wir behielten, brachte uns nur ein Stückweit weiter, nicht mehr. Die Stimme, die Opernstimme, Alt, klingt so gefühlvoll, doch sie kann uns nicht erreichen, nicht heute. Wir betrachteten den Zustand, der uns alle umgibt: Nicht leicht zu urteilen, mein Freund! Schwerer als erwartet, nicht? Ich sag dir was: Ich bau dir ein Schiff – das dauert, grob überschlagen, zwei Monate, sage ich einmal -, setz dich ein und schick dich los, auf die Weltmeere. Ja, ich weiß, was du sagen wirst: Europa ist zu. Europa ist geschlossen und du kannst nicht an die Meere gelangen. Und dann kommt aus dem Nichts ein Italiener und er sagt: Spanien liegt am Meer; Belgien liegt am Meer; Montenegro liegt am Meer. Usf. Damit wurde die Theorie, an der du Monate lang gefeilt hast, ausgehebelt. Und so heißt es also: von Neuem beginnen. Schwer zu schätzen, dein Alter, schon klar, aber: Sämtliche Uhren in deiner Wohnung gehen anders, keine stimmt mit der andern überein (geschweige denn Atom!), und dann stöhnen sie es aus den Boxen [5]. Sie stöhnen nur und das klingt sehr lüstern. Wir müssten die Liebe finden! – So, stopp jetzt mal: Schmeiß nicht mehrere Themen zusammen, wo stöhnen sie? Im Schiff. Was soll das heißen, im Schiff? Sie segeln, sie stöhnen. Das muss dir doch klar sein! Sie segeln, berühren sich, und versuchen, ein Stück weiterzukommen. Gut, damit kann ich leben. Das klingt sehr vielversprechend. Das klingt wie das Glück, das mir verblieb [6]. Es baut sich sanft auf und bleibt lange Zeit im Verborgenen, aber wenn ich nur einen Ton höre, an einem für Außenstehende ganz willkürlichen Moment, bricht es aus mir heraus. Ich weine dann sogar. Ich kann weinen. Ich habe, wenn ich zurückblicke, viele Jahre nicht geweint, auch, wie ich mir einredete, weil niemand gestorben war. Aber ich habe nicht einmal auf der Beerdigung meiner besten Freundin geweint. Du warst also verschlossen. Ja. Aber seit geraumer Zeit weine ich mindestens einmal am Tag. Aus Verzweiflung. Und aus Glück. Das klingt ja sehr schön, aber lass uns erst einmal in das Hotel einchecken, die Rezeption schließt schon um neun Uhr. Neun Uhr Nachtzeit, aber wir haben doch noch nicht einmal halb sieben. Allerdings traue ich dieser Uhr nicht! Die da um mein Handgelenk hängt. Armbänder werden überall gefunden, an allen Enden der Welt. Lass uns uns nicht verschließen, sondern lass uns offen da liegen, auch wenn du dir wehtust. Warum nicht Techno? Warum nicht einmal Techno, Elektro? Warum nicht einmal die Seele wegsperren, und seelenlos so tun, als hätte man eine Seele? Lüge, Manni, kleine Lüge. Abgesehen davon: zu sehr fünfziger Jahre. Darf ich bitte Ihren Ausweis sehen? Das kostet Sie zweivierzig, Arbeitergebühr. Gerne zahle ich diese zwei vierzig, sie springen nur so aus meiner Tasche auf den Tresen, drehen sich eine Weile um sich selbst, kommen an und verschwinden klingelnd. Mein Fleisch fühlt sich wie dein Fleisch an, wenn du mich so berührst, wenn du mich so berührst, wenn unsere Körper sich so spüren wie in dieser Hitze, dann kann ich unsere zwei Seelen nicht mehr unterscheiden, weil sie verschmolzen sind, weil sie sich in einem Körper befinden. Sex und Liebe, Manni, Sex und Liebe. Aber du kostest zu viel! Du bist zu schön! Deine grauen Augen haben es mir angetan, das kann ich nicht verheimlichen, und nachts denke ich an deine Brustwarzen. Ich schwitze nachts und der Bohrer hat mich bis dreizehn Uhr heute Mittag durchgetragen. Ich kann dir sagen, so viel geträumt habe ich noch niemals zuvor in meinem Leben! Wir sollten den Soundtrack ändern und in eine andere Welt übertragen. Sagen wir: Welt X. Die „neue Welt“, die „Welt im Standard“, die „Gedankenwelt“, oder auch: „Offene Welt, aber auf klein, und nur oberflächlich“. Sie scheinen sich zu oft zu heucheln, das kann und muss klar gesagt werden. Ihre Heuchelei zerstört dann das Individuum, aber die Allgemeinheit kann weiterleben. Weil die Festplatte viel zu voll ist. Kein Speicherplatz mehr, keine Chance. Kauf dir eine neue. Die formidabelste aller Lügen: Martin sagte, Schreiben macht frei. Dabei macht er sein Geld bei einem kostenlosen Tagesblatt und berichtet größtenteils über Kurzparkzonen und Abschiebungen. Jeder wird glücklich sein. In den Vereinigten Staaten von Amerika gab es eine Zeit, in der jeder glücklich war, sagen wir es so: Suburban happiness makes my mind split open [7]. Der Tod ist schlimm, aber ich kannte ihn nicht. Ich focht zu sehr mit ihm, sodass ich ihn alsbald vergaß. In meinen Träumen kam er manchmal mit mir, aber wir haben gelernt, dass Träume Realität sein müssen, es jedoch nicht schaffen, weil sie in den eigenen vier Wänden stattfinden und nebenan immer die Wohnung umgebaut wird, sogar um zwei Uhr nachts. Gedämpfte Gestalten tragen dann Betten durch den Hausflur, und der Aufzug fährt raufundrunter, raufundrunter. Vibration. Ich habe aber Unrecht. Ich erfahre es nicht, ich habe es nur in einer Zeitung gelesen, die von einem gewissen William verlegt wird, der sich mittlerweile auf den Balearen zur Ruhe gesetzt hat und nicht einmal einen Netzanschluss geschweige denn -telefon besitzt. Er ist bereits ausgetreten. Somit bleiben nur zwei Möglichkeiten: raus, oder: runter. Das Lied bevorzugt raus. Ich bevorzuge die klare Seite. Welche Seite, wenn ich fragen darf, bevorzugen Sie auf Ihrer Seite?

[1] [“A Horse With No Name”, America (1972)] https://www.youtube.com/watch?v=Tm4BrZjY_Sg
[2] [“Don’t Fear The Reaper”, Blue Öyster Cult (1976)] - [Solo ab ca. Min. 2:29] https://www.youtube.com/watch?v=ClQcUyhoxTg
[3] [“The Man in Me”, Bob Dylan (1970] https://www.youtube.com/watch?v=s10ldVRHRSw
[4] [“Her Eyes Are a Blue Million Miles”, Captain Beefheart (1972)] https://www.youtube.com/watch?v=MRlWbzdmJQA
[5] [“Walking Song”, Meredith Monk (1997)] https://www.youtube.com/watch?v=P8r4eHM8Zlk
[6] [„Glück Das Mir Verblieb“ (aus der Oper Die Tote Stadt), Komposition: Erich Wolfgang Korngold, Interpretation: Ilona Steingruber/Anton Dermota & The Austrian State Radio Orchestra (1949)] https://www.youtube.com/watch?v=kql0A190SUk
[7] [“I Heard Her Call My Name”, The Velvet Underground (1967)] https://www.youtube.com/watch?v=EeuvZOEOaGw

Andreas Reichelsdorfer

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freiTEXT | Alisha Gamisch

Kurz davor

Ich hab mich mal umgeguckt, ich glaube, wir sitzen am Rande einer Eingebung und bleiben da sitzen. Es ist extrem wichtig, dass wir weiterkommen, das weiss ich schon, aber es fühlt sich an, als ob wir sitzen, die ganze Zeit sitzen, dass da nichts passiert. Das hab ich mich gestern auch schon gefragt, wie wir hier alle sitzen können und doch auf nichts kommen. Der Versammlungsraum ist echt schön, haben sie diesmal gut ausgesucht, ganz alt und so, ich finde auch diese Bauxästhetik richtig schön, alles ein bisschen heruntergekommen, da klingt es drin wie frisches Heu. Nur die Luft ist nicht gut, mittlerweile richtig stickig hier drin. Ich drehe mich mal eben unauffällig auf die Seite und schaue, was meine Nachbarin, ich glaube sie heißt Amil, da macht. Sie schaut total aufmerksam und bewegt sich keinen Milimeter, ich glaube, sie blinzelt nicht mal. Sie hat so ein perfektes, nicht zu schickes Hemd an, das gleichzeitig intellektuell wirkt, so was imponiert mir immer, weil ich Kleidung selbst nie so drapiert bekomme, dass ich ausstrahle, wie ich nach außen wirken möchte. Amil sitzt da auf jeden Fall ziemlich selbstsicher in ihrem Hemd, das bestimmt genau das ausdrückt, was sie ausdrücken will und ich glaube, sie hat sich jedes Wort gemerkt, das gesagt wurde, sie hat ihren einen schlanken Fuß lässig auf ihrem anderen Knie abgelegt, zumindest sieht es lässig aus, und schreibt jetzt was in ihr Notitzbuch. Ich hab gar nichts mitbekommen. Die Sprecherin hat etwas von Aktionsbündnis geredet, das hab ich aus dem Augenwinkel gehört, aber ich weiss überhaupt nicht mit welchen Leuten oder hat sie vielleicht eine verbündete Gruppierung gefunden?  Ich versuche zu lesen, was auf Amils Notizblock steht, ist aber viel zu klein. Neben mir, auf der anderen Seite sitzt Lenn, sie kann gar nicht mehr, glaube ich, ganz anders als Amil ist die. Sie hat ganz dunkle Augenringe die sind fast so tief wie der Graben, der sich zwischen mir und meinen Freundxn aufgetan hat seit ich hier beigetreten bin. Ich weiss, dass das hier anonym sein soll, dass das ganz geheim ist, aber meine Freundx haben trotzdem was gemerkt, ich glaube, sie wissen nicht ganz was genau hier läuft, aber sie sind auf jeden Fall nah dran. Lenn reibt sich die Augen und legt ihren Kopf nach hinten auf die Lehne ab, ihre Augen sind zu, ich stubse sie kurz an, damit sie aufwacht, aber nichts geschieht, ich glaube sie schnarcht leise. Okay, wir sitzen einfach schon zu lange hier. Ich melde mich jetzt. Die Sprecherin nickt mir zu. Ich frage, Wex ist für eine Pause? Die Runde sieht mich erstaunt an. Ich kann an ihren Gesichtern ablesen, dass ich nicht die einzige bin, die sich das schon lange wünscht. Aber Markus, eine vom Kommitee, räuspert sich kurz und lässt die Runde ruhig werden. Wir sind gerade doch bei so einem wichtigen Punkt, sagt sie, ich habe das Gefühl, dass wir kurz vor einer Lösung sind. Wenn wir jetzt in die Pause gehen, dann war alles umsonst. Ricky, die wie Markus zum Kommitee gehört, nickt zustimmend. Dann nicken noch ein paar andere. Ich hab schon sowas geahnt, aber es ärgert mich trotzdem, dass auf mich hier nie gehört wird. Sollen wir abstimmen? fragt Ricky in meine Richtung, aber ich schüttele den Kopf. Ist schon gut. Dann schlafen eben alle hier ein und können ihre Gedanken nicht sammeln und wir bleiben noch die ganze Nacht wach, wenn die meinen. Aber ich sage nichts, ich habe hier eh schon so einen Status, dass ich zu  wenig engagiert bin. Da sagt Amil auf einmal ziemlich laut in die Runde: Also ich finde, dass sie recht hat, wir kommen so zu nichts, die letzten zwei Stunden drehen wir uns im Kreis, sind kurz davor, und dann drehen wir uns wieder im Kreis. Meiner Meinung nach sollten wir einen Locationwechsel in Erwägung ziehen, das kann sich positiv auf das Denkvermögen auswirken. Stille - ich bin richtig erschrocken - alle schaun auf mich und Amil. Und zwischen uns hin und her. Na gut, also ist doch mal jemand auf meiner Seite. Ricky sagt was, die Köpfe drehn sich dominoartig einer nach dem anderen von uns weg, zu ihr hin. Ricky sagt, dass es okay ist. Dass wir nach draußen gehen, dort machen wir zwar keine Pause, aber weiter und zwar im Stehen. Das hilft uns bestimmt auf die Sprünge. Ich schaue Amil an, die gar nicht in meine Richtung schaut, aber ich bin richtig froh, dass ich eine Pause vorgeschlagen habe, und alle sich nicht getraut haben mir zuzustimmen, nur Amil. Ich schüttele Lenn so lange bis sie aufwacht. Alle sind etwas unbeholfen auf den Beinen, nicht nur Lenn. Wir gehen nach einander raus unter so einen Sternenhimmel, den haben wir alle nicht erwartet, jede starrt total perplex nach oben und guckt die Sterne an, ich rieche, wie sie da oben milliardenfach strahlen. Die Luft ist klar schneidend, ich meine, das hätten wir erwarten können. Aber was wir auch nicht gemerkt haben ist, dass wir uns in unseren Kreis positioniert haben, ich sehe das erst, als ich meine Nase von den Sternen wegreissen kann. Jede steht so, dass sie genau zwischen denen steht, neben denen sie auch gesessen hat. Die Sprecherin ist plötzlich sofort wieder am Reden, ich finde das passt jetzt gar nicht zu dem Moment. Da denke ich nochmal dran wie wir so an der Eingebung gesessen haben und wie das da drinnen war und die kalte Luft strömt durch mich durch. Und da hab ichs, da hab ich plötzlich den Rand übersprungen, ich weiss es jetzt. Das ist vielleicht ein tolles Gefühl, dass ich als erste da drauf gekommen bin. Ich sage es jetzt gleich den Anderen. Noch kurz auskosten. Gleich sag ichs. Ich habs! ruft da Markus mit ihrer tiefen Stimme gegenüber von mir. Ich habs auch! ruft Lenn. Ich auch! ruft Ricky ungläubig. Da rufen es alle nacheinander. Ich finde das extrem ungerecht. Amil sagt nichts, wie ich, guckt mich kurz an und schaut dann wieder hoch zu den Sternen.

Alisha Gamish

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freiTEXT | Katrin Theiner

Buchstabierte Blumen

Vielleicht könnte ich ihre Welt besser verstehen, wenn ich in ihren Schuhen laufen würde.  

Aber ich lasse sie schlafen. Durch die getönten Scheiben sah alles, was nichts mit uns zu tun hatte, nutzlos aus. Verlassene Fabrikhallen, übersonnte Weiden, breitschultrige Wassertürme und dahingekleckerte Häuser. Spargelfelder schmissen sich vor uns hin, Wolkenschwärme malten fliehende Schatten auf zu große Felder. Wir fuhren die Strecke zum vierten Mal. Tim und ich. Zweimal hin, zweimal zurück. Vorbei an dem Bahnübergang mit den gelben Schranken, daneben die verhüllten Tennisplätze, gleich das Rapsfeld mit den Gülletanks, die spitz zum Himmel zeigten. Der Zug glitt zu leise über die Schienen. Mir fehlte etwas. Das Rumpeln, die Geräusche, das Knacken von Lautsprechern. Irgendwas Echtes, am besten was zum Anfassen oder Riechen. Vielleicht etwas, das in der Hand schmolz, sich auflöste, einen klebrigen Film auf der Haut hinterließ. Etwas, das zu mir gehörte, wie Nowitzki zu den Mavericks. Etwas, das mir das Gefühl geben konnte, noch in meinem Körper zu stecken, diesem Ding, das ich immer für zu Peter Parker gehalten hatte – vor dem Spinnenbiss. Aber jetzt nicht mehr. Jetzt roch alles nach ihr. Und über ihren Duft hatte ich mein Lakers-Trikot gezogen, die Nr. 24. Das hielt ich für das mindeste, auch wenn es das alte Trikot meines Vaters war, das er mir dagelassen hatte, an dem Tag, als er ausgezogen war. „Mach was draus“, hatte er gesagt und mich angeschaut, als warte er auf eine Entschuldigung für die letzten vierzehn Jahre.

Ich fasste ins Feucht meiner Achselhöhlen, tastete schnell über die drahtigen Haare und roch kurz an meinen Fingern, die ein stechenden Geruch verströmten. Tim schlief und ich schaute weg von der flirrenden Welt vor dem Fenster, die aussah, als bräuchte sie eine Mittagspause, suchte und blickte umher, ob ich heute Morgen auf der Hinfahrt nicht vielleicht etwas im Zug verloren hatte, das mir, während ich es wiederfand, sagen konnte, wer ich denn war, jetzt, wo ich mit ihr geschlafen hatte. Irgendein Ding, das mir den Schwindel nahm, diesen Strudel, der mich vom Boden ansaugte, mich zerkaute und mich wahllos zusammengesetzt in diesen Zug zurück nach Berlin fallen ließ, die Arme am Rücken befestigt, die Füße nach hinten zeigend, die Haare zerrauft und voller Kletten, den Magen überschäumend und das Grinsen nicht nachlassen wollend.

Etwas, das mich mit Echtheit wusch, wie die stumpfgewordene Ringe meiner Eltern, die zwischen unnützen Gegenständen in einer asiatischen Schale im Bad meiner Mutter lagen, an der getrocknete Zahnpasta klebte. Ein Déjà-vu wäre gut. Dieses Gefühl von Vorahnung und Erlebtem, das mich erst an ein früheres Leben und dann doch nur an die Szene aus einem der Filme meines Vaters erinnerte, die ich heimlich schaute, wenn er Frühdienst hatte. Ich brauchte was, das diesem Tag Konturen gab, mein verrutschtes Weltbild zurück hinter Glas brachte, in sein mattes Passepartout schob und mir versicherte, dass es wirklich passiert war. Mit ihr. Und mir.

Tim lehnte mit dem Kopf am Fenster. Die rechte Gesichtshälfte endete glatt an der Scheibe, die um den Mund beschlug. Die dünnen Arme lagen ruhig im Schoß, der in lange, dürre Beine überging. Sie sahen wie abgeknickte, zerkratzte Leuchtröhren aus, drängten unter einem kurzen Schottenrock hervor und endeten zusammengekreuzt zwischen Sitzbank und Mülleimer in orangenen Air Max. An der Sohle klebte matschiger Rittersporn. Sie liebt mich, sie liebt mich nicht. Auf Tims ärmellosem Hemd lösten sich sehr kleine Schokoladenstückchen auf und sanken zwischen die maisgelben Streifen in den Stoff. der ragte in orangenen Buchstaben aus der Öffnung einer aufgenähten Brusttasche heraus und ich fühlte mich irgendwie angesprochen, aber es waren nur drei Buchstaben auf einem angefangenen Schokoriegel.

Eine Woche vorher war meine Klasse mit Herrn Dallos zur Bundesgartenschau gefahren und eine Woche vorher war Tim neu in meine Klasse gekommen. Eine Woche vorher waren wir den schiefgetretenen Sohlen unseres fetten Lehrers durch den Bahnhof von Brandenburg an der Havel gefolgt, durch beige, Bild-Zeitung haltende Truppen mit Blumenkohlhelmen und vorbei an touristischen Fragebeantwortern in BuGa-Uniform. „Ich bin der King“, sagte Marc mit Terminator-Stimme, fasste sich an die Eier und spuckte sein grünes Kaugummi gegen ein zerkratztes Schild mit der Aufschrift „Die Wiege der Mark Brandenburg“. Tim blieb in der Nähe von Herrn Dallos, war neu, ein Fremdkörper abseits der Klasse und sorgte für Getuschel. „Der Name...und die Frisur. Die Schuhe“, sagte Rahel, zeigte auf die großen, schwarzen Martens an Tims Füßen, zog und zerrte an ihrem Shirt und schob ihre BH-Bügel bühnenreif zurück unter ihre dicken Brüste. Wir aßen Bifi, fragten uns alle, warum es ausgerechnet die Bundesgartenschau sein musste, zu der wir einen Ausflug machten und liefen über die Jahrtausendbrücke, auf der uns Herr Dallos zu einem Gruppenfoto für die Flur-Collage zusammentrieb. Tim hatte sich durch die Menge geschoben, stand hinter mir, ich konnte die dünnen Unterarme an meinem Rucksack spüren. „Zu den Nachtschattengewächsen da lang“, schrie Rahel, leckte sich die Lippen und blitzte in Tims Richtung. „Herr Dallos, wächst hier auch Hanf?“, fragte Miro und guckte irgendwie Heisenberg. Tim blickte nicht auf, kratzte schwarzen Lack von den Fingernägeln und hörte Herrn Dallos zu, der seinen Lageplan im Uhrzeigersinn drehte, die Augen verkniff und „Orchideenschau, Aussichtsturm, Orchideenschau, Aussichtsturm“ zu sich selbst sagte. Dann wühlte er mit seiner Zunge durch den Mund und klemmte sie kurz zwischen die durchsichtigen Kanten seiner feucht glänzenden Schneidezähne.

Vor uns lagen Havelwiesen, bepfadete Gräserstreifen, Beete, Stauden, Blütenteppiche und dunkelgrüne Heckenblöcke.

Dazwischen Info-Türme, Langnese-Stände und Sprenganlagen, die Wasserschleifen in arroganten Bögen hoch warfen. In der Kühle der Luft lag die Erwartung an volle Wege, beige besetzte Bänke und überfüllte Papierkörbe, an denen Wespenschwärme um Eispapier jagen. „Herr-er Dallos-los, sie-ie haben-en da was a-am Kinn-inn“, schrien Rahel und Mell zeitversetzt und nahmen die Shining-Zwillingshaltung ein. Herr Dallos fasste sich an seinen grauschwarzen Vollbart, der seine dicken Wangen optisch aufquollen ließ. „Am Anderen“, kreischten die beiden synchron in die Menge, rannten und schubsten sich gekrümmt in ein Tulpenbeet in Zwischentönen und griffen sich dabei fest zwischen die Beine. Unser Lehrer sah aus, als würde er zu seinem Depardieu-Schnitt den passenden Blick suchen und rief: „Wir treffen uns in zwei Stunden an Aussichtsturm C. Keiner verlässt die Wege, keiner reißt Blumen ab und niemand geht alleine.“ Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, schob den Lageplan zwischen den rechten Träger seines Rucksacks und biss in eine Nektarine, dass ihm gelber Saft zwischen seine fetten Finger lief. Ich hatte bemerkt, dass Tim mich beobachtete und ich beobachtete Tim, um zu schauen, ob sich unsere Blicke wirklich jedes Mal trafen, wenn ich schaute oder ob es auch Momente gab, an denen sie ins Leere liefen. Ich war unsicher und weil sich unsere Augen an diesem Tag fünf- bis zehnmal begegnet waren, bekam ich feuchte Hände und übte ein schüchternes Lächeln ein. Die Anderen bemerkten das nicht. Sie waren vorgelaufen, als sie ein garagengroßes, aus

Stiefmütterchen geformtes Quitscheentchen entdeckt hatten, das sich an verformten Buchsbaum schmiegte. „Ich gehe zum Muschihaus“, sagte Tim mit leiser Stimme zu mir und schob sich schwarzgefärbte Haarsträhnen hinter die Ohren. „Kommste mit?“

„Muschihaus?“

„Orchideen.“

Schweigend setzten wir uns in Bewegung, liefen über kunstvoll gewundene Wege aus butterweichen Sportplatztartan vorbei an vollgepflanzten Booten, Gerüstwäldern voll hochgetriebener Schlingpflanzen, Pflanzenfrachten in Kübeln, bis wir einen Miniaturweinberg sahen, hinter dem sich das Orchideenhaus versteckte. In der Ferne hatten sich Rahel, Mell, Miro und ein paar andere auf einer nicht zu betretenden Wiese niedergelassen. Die Mädchen hatten ihre Jacken ausgezogen, rollten sich in Tops einen kaum vorhandenen Abhang hinab und bewarfen sich mit abgerissenem Gras. Tim sah meinen Blick, sah mich an, fragte: „Willst du zu denen?“, wickelte ein Überraschungsei aus rosaweißer Folie und hielt mir ein Stück braunweiße Schokohülle hin. „Ne, gar nicht“, sagte ich, blickte zu Boden, nahm das halbe Ei in die Hand und fühlte die weiche, angeschmolzene Stelle, an der Tims Finger die Schokolade angefasst hatten. „Kann nicht ohne“, sagte Tim und schob sich die andere Hälfte in den Mund. „Ohne was?“, fragte ich. „Zucker“, sagte Tim kauend und lief vor. „Und das?“, fragte ich, lief auch los und zeigte auf das gelbe Plastikei in Tims Hand.

Wir gingen vorbei an einem Schild, das uns in den Duftgarten locken wollte und betraten das Orchideenhaus, eine aus Backsteinen errichtete Halle mit feuchter Luft und Kirchenatmosphäre. Ich wartete auf das Einsetzen von Orgelmusik, flüsterte Tim “Ch’muss ma“ zu und kassierte dafür ein synchrones „Schschsch…“ von einem Rentnerpaar, das an einem Schild mit der Aufschrift „Brassia Rex“ herumfingerte. Wir gingen raus, ich lief durch kniehohes Kraut, steuerte eine überschaubare Tannenschonung an und pinkelte auf den mit braunen Nadeln bedeckten Boden. An meinen Fingern fühlte ich den stumpfen Schmelz der Schokolade, die ich noch schmecken konnte, wenn ich mit der Zunge im Mund umherfuhr. Ich griff nach meiner Hose, dem Gürtel und spürte, dass Tim hinter mir stand, „Lass“ sagte und mit der Hand in meine Boxershorts fasste. Ich schwitze, blickte nach unten, sah einen schwarzen Schuh zwischen meinen Jordans, sah ein Tattoo auf dem dünnen Arm, Buchstaben, die sich in rythmischen Bewegungen am Gummi meiner Boxershorts rieben und nicht preisgaben, was sie bedeuteten.

se rose se rose se rose se a rose se rose e rose se a rose

Ich spürte Tims Stirn an meiner Schulter. Atem, der süß in meine Kapuze drang, ich schmeckte die Schokolade an meinen Zähnen und stemmte mich gegen die kräftigen Griffe zwischen meinen Beinen. Der Geruch von Waldmeister schob sich durch das Gebüsch, irgendwo surrte ein Rasenmäher, ich biss keuchend in meine Faust und kam in Tims Hand.

Schweigend zog ich meine Hose an, meine Jacke aus, breitete sie auf den waldigen Boden und bot Tim einen Platz darauf an, nachdem ich ein paar hochgewachsene Kletten mit lila Blüten zur Seite gedrückt hatte. Schweigend setzten wir uns und mein Blick fiel auf Tims Arm, von dem sich die Buchstaben My soul is a rose leicht hochnarbten. „Was heißt das?“, fragte ich und fasste vorsichtig auf die geschwärzte Haut. „Das, was da steht“, sagte Tim, lehnte sich gegen meine Schulter und sagte für den Rest des Tages nichts mehr.

In der nächsten Woche kam Tim nicht zur Schule. Die Sommersonne trug den Geruch von trocknenden Pfützen über den Schulhof und ich schleppte mich durch die Tage, dachte an Tim, an den Ausflug, konnte keinen Pass mehr werfen und Kemal rief:

„Was bist’n Du für’n Forward, Chris!“

Donnerstag der Zettel in meiner Tasche. Morgen, sieben Uhr am Bahnhof.

Der nächste Tag war einer der Tage, an denen es beim Aufstehen zu heiß war. Ich zog mein gelbweißes Lakers-Trikot an. Mit passender Hose. Ich fror, sah Jesse Pinkman beim Cornflakes essen zu, aß auch Cornflakes und schrieb meiner Mutter einen Zettel.

Wortlos stellten wir uns auf dem Gleis nebeneinander. Wortlos stiegen wir in die Regionalbahn, die ihren Zielort Brandenburg an der Havel angeberisch auf kleinen Displays verkündete. Ich sah Tim fragend an. Tim zuckte mit den Schultern, biss in einen Kinderriegel, wickelte den Rest zurück in die Folie und ließ ihn in einer Tasche verschwinden. Wir sahen schweigend aus dem Fenster. Ich schwitzte, bekam meine normale Stimme nicht hin, schwitzte noch mehr, roch kurz an mir. Deo. Wir stiegen aus dem Zug, liefen durch den leeren Bahnhof, über die leere Jahrtausendbrücke, im Anlauf auf die umgärtnerten Tartanbahnen in Richtung Tannenschonung am Orchideenhaus. Ich bildete mir ein, genau die sichtgeschützte Stelle zu sehen, an der wir eine Woche zuvor gesessen hatten und genau da, zwischen den gebogenen Kletten und dem herübergesamten Mohn, breitete Tim einen dünnen Sommermantel aus Jeans aus, auf den wir uns setzen. In der Hand das gelbe Plastikei. „Du darfst“, sagte Tim, ließ sich nach hinten fallen und schloss die Augen. Ich ploppte das Ei in zwei Hälften und zog eine in Papier gewickelte Elfe heraus, die ich kurz ansah und in meiner Hosentasche verschwinden ließ. Ich schaute Tim an, sah auf die kleine Beule, die die Karos des Schottenrocks verbog und schämte mich. Für die Gedanken der Mädchen, das Räuspern von Herrn Dallos, wenn er „Tim“ sagte, die Ignoranz und die Blicke der Jungs und meine Blicke, die anders gemeint, aber von denen der Anderen nicht zu unterscheiden waren. Ich schämte mich für meine Scham und dafür, dass ich die NBA-Mindestgröße und zwei Haustürschlüssel für ein schwieriges Leben gehalten hatte. Meine Handgelenke, auf die ich mich gestützt hatte, taten auf einmal verdammt weh und dann bekam ich von dem gurgelnden Geräusch des Brunnens vor dem Orchideenhaus, Blasendruck, aber ich traute mich erst pinkeln zu gehen, als ich glaubte, Tim sei eingeschlafen. War sie aber nicht.

Als Tim neu in unsere Klasse gekommen war, war sie ohne Zweifel das schönste Mädchen, das ich jemals gesehen hatte und jetzt lag sie zwischen Brandeburger Klee und Brennesseln in meinem Arm. „Ch‘such mir bald nen neuen Namen aus“, flüsterte sie und küsste in die weiche Stelle oberhalb meines Jochbeins.

„Penny oder so.“  „Mary Jane“, sagte ich.

„Gisèle.“

„Bloß nicht. Morgan?“

Meine Haut kratzte, meine Knie hatten Grasflecken, Halme steckten im Nylon meiner Shorts und langsam schwand der Schweißgeruch an meinen Fingerkuppen. Ich wartete auf Durchsagen, auf den Schaffner. Wartete auf die kleinen Löcher, die er in meine Fahrkarte knipste. Oder darauf, dass er jemanden beim Schwarzfahren erwischte, zufrieden den Quittungsblock zücken würde, mit willismäßigen Lachfalten um den Mund. Ich wartete, dass irgendetwas passierte, das man jemandem erzählen könnte, der nicht dabei gewesen war. Ich würde es nicht erzählen, wollte es mir selber erzählen, mit Worten, die uns umrahmten, Tim und mich und unseren Tag. Ich wartete auf das Gefühl, das man hat, wenn man ein Rätsel gelöst hat. Wie Mel Gibson, als ihm klar wurde, dass seine Frau alle vor den Aliens retten wollte. Ich blickte mich um, suchte und wartete darauf, das Negativ dieses einen Tages zu finden, das Negativ als Vorstufe zum fertigen Bild, das ich mir in meinem Kopf zu machen versuchte. Ein Bild von mir. Von ihr. Von dem Ganzen. Ich las Schilder mit Strichmännchen, die vormachten, wie man sich zu verhalten hatte, las das Poster einer Sprachschule, schaute nach Handlungsanweisungen, die mir zeigten, was in meinem Leben jetzt zu machen war. Was war als nächstes dran? Ich wartete darauf, dass uns jemand sah. Tim und mich, zusammen in diesem Zug nach Berlin. Jemand, der direkt blickte, dass wir nicht zwei Fremde waren, die zufällig beieinander saßen, wie noch auf dem Klassenfoto auf der Jahrtausendbrücke. Ich dachte an Bruce Wilis, wie er sich als Schakal neue Identitäten schaffte, dachte an Mädchennamen, betrachtete Tim, schaute auf ihre Füße, dachte an ihre Berührungen, sah, wie die Neonlichter des Tunnels die schmalen Konturen ihres Gesichts streichelten.

Vielleicht könnte ich ihre Welt besser verstehen, wenn ich in ihren Schuhen laufen würde.  

Ich nannte sie Sandra, Lili, Skyler und wünschte, die Glastür zur ersten Klasse würde sich öffnen und meine gesamte Schulklasse würde genau jetzt an uns vorbei durch den Zug laufen. Miro, Rahel, Mell und die Anderen. Ich wünschte, mein Vater und meine Mutter würden durch den Zug laufen. Herr Dallos, Trainer Leuk, die namenlosen Nachbarn, Saul Goodman.

Ich wünschte, sie alle würden uns sehen. Tim und mich.

Als der Zug in Potsdam hielt, wachte Tim auf. Sie sah mich an, leckte sich um den Mund, dass mich ein feuchter Spuckefilm anglänzte, sagte „Betty.“ Ich musste lachen, sagte: „Sarah J.“ Sie sagte: „Mary-Kate“, schob ihren tätowierten Arm in ihren Rucksack, zog eine Familienpackung Toffifee heraus, riss die Folie ab und steckte sich gleich zwei Stück in den Mund. Ich sah auf die offene Packung, auf das Bild mit den drapierten Karamelltöpfchen und der braunen Schrift. Ich fasste in meine Hosentasche, tastete nach dem spitzen Hut, dem Zauberstab, dem lila Gewandt und hielt Tim die Plastikfigur vor die Nase.

„Fee.“

Katrin Theiner

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freiTEXT | Sabine Roidl

Krokodile in Florida

Als ich ein kleines Mädchen war hatte ich Angst vor der Atombombe und dass Papa seine Arbeit verliert.

Die Eltern sind zu Besuch. Sie haben Kuchen und Brennholz mitgebracht. Papa schichtet das Holz draußen auf, zwischendurch zieht er ein Taschentuch aus der Hosentasche, Mama legt ihm nach dem Bügeln immer eines hinein, so gefaltet, dass die gestickten Initialen obenauf liegen. Papa wischt den Schweiß von der Stirn, stopft das Tuch wieder in die Hosentasche.

Mama sagt, bis die Kinder da sind, können wir schon mal Kaffee kochen und ob es in diesem Haus nicht einmal ein Tischtuch gibt. Dann steht der Kuchen auf dem Tisch und Papa kommt wieder herein: Sag deinem Mann, er soll das Holz hacken. Hock dich, sagt Mama. Wir setzen uns, sie erzählen vom Urlaub in Florida.

War er morgens von der Schicht gekommen, wartete ich, bis die Bier-
flaschen in der Küche klimperten. Ein Zischen, Gluckern ... aaah; dann lief ich zu ihm. Zu kalt, nur im Nachthemd, brummte er, machte den Backofen an und den Deckel auf. Er zog den Küchenstuhl davor und hob mich hoch. Meine Füße in seiner riesigen Hand, die klammen Zehen bohrten in seine Handfläche. Bis Mutter hereintrabte: Was hier schon wieder los ist, ob wir Maulaffen feilhalten und was solln  das mit dem Backofen. Kostet Strom nix mehr oder was?

Mama sagt, dass in Miami Wasser und Luft immer die gleiche Temperatur haben. Ist es an einem Tag 24 Grad warm, so gilt das auch für das Meer. Papa meint, das könne wohl nicht ganz stimmen, wenn es nämlich im Hochsommer mal über 40 Grad habe, und das wäre nicht selten, würde das Meer wohl kaum so heiß werden.

Vom Meer weg führen Kanäle, erzählt er, richtige Schiffstraßen, wie in Venedig, bloß viel breiter, die parken ihre Yachten direkt vor ihren Häusern. Was heißt Häuser, Schlösser sind das. Und Unsereins steht davor und kommt sich blöd vor, weil man immer geglaubt hat, man hätte im Leben auch was geschaffen, aber doch nicht so etwas und nicht in einem Land, wo das Wasser so warm ist wie die Luft. Wer hätte gedacht, dass es so etwas überhaupt gibt.

Zum Putzen reicht mir unser Schloss auch, sagt Mama, und außerdem sieht man da drüben überall nur Schwarze arbeiten. Im Hotel, an der Tankstelle, da wird schnell klar, wer bei denen die Arbeit macht ... Genau, fällt Papa ihr ins Wort, nicht so wie bei uns, wo die Kanacken den ganzen Tag nur herumlungern. Bist du still jetzt, Mama boxt ihn auf den Oberarm, die Röte schießt ihr ins Gesicht. Er meint das nicht so, Kind. Es ist nur ... der Flug war so lang ... und dieses Englische ... wir mussten so auf der Hut sein, dass wir bei der Reiseleiterin bleiben. Wir hätten ja alleine nicht einmal nach dem Weg fragen können. Genau, sagt Papa, und die Sitze im Flugzeug waren so eng, mir tut jetzt noch alles weh. Papa hebt die Kaffeetasse an, er greift sie mit der ganzen Hand, sein Finger passt nicht durch den Henkel.

Unter der Haut schimmert es schwarz: das sind winzige Teilchen der Schlacke, die er in den Hochofen schaufelte. Sie war heiß, hat sich wie eine Tätowierung in die Haut gebrannt. Das lässt sich nicht mehr auswaschen; nicht aus den Händen, nicht aus dem Mund. Alle halbe Stunde fauchte und zischte es am Hochofen und der Schlot stieß eine Flamme aus: eine Charge blasen nannte Papa das und er sagte immer zu mir, solange es das noch auf der Maxhütte gäbe, müsste ich mir um nichts Sorgen machen. Wenn er auf Schicht ging und ich schon im Bett lag, lauschte ich den ruhigen Atemzügen meiner Brüder und wartete mit dem Einschlafen bis die nächste Charge den Himmel vor dem Fenster gelbviolett erhellte.

Es war so schön in Florida, mein Kind, die Strände wie Puderzucker. Und das Licht! Wie aus Diamanten glitzert das Meer in der Sonne, jeden Tag wieder. Papa nickt und trommelt den Rhythmus eines Liedes mit den Fingern auf den Tisch. Ja, schön wars. Aber doch so weit weg von zu Hause ... genug erlebt, würde ich sagen und nächstes Jahr läuft mein Reisepass eh ab ... ach, übrigens, Krokodile haben wir auch gesehen, die sind da recht häufig ... Alligatoren, verbessert Mama. Ach so? Dann eben Alligatoren. Ganz schön große Viecher. Aber Angst hatten wir nicht.

Nein, keine Angst, sagt Mama und legt ihre neben Papas Hand.

Sabine Roidl

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freiTEXT | Dominik Ritter

Mittagshitze, 25 Cent

Die Straßen erwachten wieder und die Häuser und die Schatten waren nicht mehr so hart, länger und alles regte sich im verändernden Licht und auch der Busbahnhof erwachte aus der staubigen Mittagshitze und die Menschen warteten an den Stationen, traten von einem Bein auf das andere und als ihre Busse kamen ließen sie die Leute aussteigen, stiegen dann selber ein und die Busse fuhren ab und andere Menschen kamen und warteten und fuhren schließlich wieder ab.

Dann tauchte der alte Mann auf. Er trug zwei ausgebeulte Plastiktüten in der linken Hand, einen Gummihandschuh an seiner rechten. Er sammelte Pfandflaschen. Und er ging über den Busbahnhof, vorbei an den Leuten, die wartend dort standen und ihn kaum wahrnahmen und nur auf die Displays glotzten, zu einem Mülleimer. Er schaute leicht vorgebeugt hinein, griff dann in den Mülleimer, suchte, zog sie schließlich wieder raus. Und ging zum nächsten Mülleimer.

Es passt nicht, ging es dem jungen Mann durch den Kopf. Er sieht nicht aus wie ein Pfandflaschensammler. Der junge Mann stand an einer Station und hatte den alten Mann beobachtet wie er im Mülleimer kramte und irgendetwas hatte ihn stutzig gemacht. Er sieht aus wie ein Opa, der im Sessel sitz und Geschichten erzählt. Der junge Mann schaute zu, wie er jetzt zum nächsten Eimer ging.

Der alte Mann trug einfache, saubere Kleidung und seine Schuhe waren poliert. Er war rasiert und sogar seine Augenbrauen waren gestutzt. In seinem Gesicht lag das Alter und in seinen Bewegungen und an seinen Händen und Unterarmen und an seinem Hals waren braune Flecken.

Der Alte hatte den Mülleimer durchsucht und ging zum nächsten, wo der junge Mann stand. Er durchsuchte den Müll und der junge Mann kramte aus seiner Tasche eine Flasche heraus, nahm den letzten Schluck.

„Hier, bitte.“

Er war zum Mülleimer getreten und reichte dem Alten die Flasche. Der schaute auf. Sein Blick blieb einen Moment an den Augen des jungen Mannes hängen.

„Danke.“

Er nahm die Flasche und ließ sie in die Tüte fallen, wendete sich wieder dem Mülleimer zu. Der junge Mann blieb.

„Wissen Sie, ich habe studiert. Zweites Staatsexamen.“ Der Alte schaute nicht auf, suchte weiter. Er hatte den Blick gespürt. „Hab‘ mein Leben lang gearbeitet, Kinder großgezogen, Steuern bezahlt.“

Er sprach bedacht, wählte seine Worte. Dann sagte er leiser: „Hab‘ meinen Kindern was bieten können. War nicht viel, aber schön.“ Seine Stimme klang matt, traurig.

„Und jetzt . . .“ Er schaute auf, dem jungen Mann direkt in die Augen.

„Das tut mir Leid für Sie.“

Der Alte hielt den Blick.

„Mir tut es auch leid.“

Ein Bus fuhr vor. Der junge Mann blickte weg, zum Bus.

„Entschuldigen Sie bitte. Ich muss los.“

„Danke für die Flasche.“ sagte der Alte sanft. Der junge Mann schluckte.

Dann wandte er sich ab und stieg ein.

Der alte Mann schaute sich um, ging dann zum nächsten Mülleimer dort drüben.

Während er hineinschaute, kramte, dann eine Flasche hervor zog, fuhr ein weiterer Bus vor und eine Gruppe von Jungen stieg aus. Sie kamen aus der Schule. Sie waren laut, schubsten und der Alte schaute sich nach dem Geschrei um, blickte die Jungen an, kniff die Augen zusammen. Er erkannte einen der Jungen und lächelte.

Dieser Junge ging mit den anderen und sie kamen in die Richtung des alten Mannes, dann trafen sich die Blicke der zwei. Der Alte wollte schon den Namen seines Enkels rufen, hielt dann inne. Der Junge war kurz stehen geblieben, war für einen Moment unsicher, ignorierte dann den Blick des alten Mannes, indem er auf den Boden sah. Danach schaute er sich vergewissernd zu seinen Kumpels um, aber keiner hatte etwas bemerkt. Die Gruppe ging weiter, aber der Junge war still, während die anderen weiter fröhlich lärmten.

Der Großvater stand da. Verlassen. Er rührte sich nicht. Keinen Schritt.

Er schaute seinem Enkel nach. Und weinte lautlos.

Dann murmelte er etwas, aber niemand hörte es. Er ging über den Bahnhof zum nächsten Mülleimer. Die Tüten trug er nicht mehr, schleifte sie hinter her.

Die Gruppe war schon fast am Ende des Busbahnhofs, als der Junge sich nach seinem Großvater umdrehte, um ihm einen Blick zuzuwerfen. Der Junge sah ihn, aber ihre Blicke trafen sich nicht, da der Blick des Großvaters auf den Boden gerichtet war.

Dominik Ritter

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freiTEXT | Esther Nowy

Erwin und Erna

Sein Nacken verkrampfte sich, als Erna wieder zu meckern begann. Wenn du früher aufgestanden wärst, dann wären wir früher im Supermarkt und müssten dann nicht so lange an der Kasse warten. Erwin verdrehte die Augen und ging schneller. Aber du musstest gestern ja wieder ewig diesen Müll im Fernsehen anschauen und ich kann dann nicht einschlafen. Erwin atmete tief aus, nahm einen Einkaufswagen und betrat den Supermarkt. Die frischen Semmeln dufteten und er griff nach einer Zehnerpackung. Immer nur Weißbrot, Weißbrot, Weißbrot... Du weißt aber schon, dass du dann wieder ewig am Thron sitzen wirst? Daneben liegt doch ein wunderbares Vollkornbrot, nimm das! Erwin reagierte nicht, er dirigierte seinen Einkaufswagen weiter Richtung Obst- und Gemüseabteilung, um eilig daran vorbei zu fahren. Das kann jetzt aber nicht dein Ernst sein, jammerte Erna. Nicht einmal ein Apfel? Wenigstens eine Banane? Erwin ignorierte sie und fand sein Ziel in der Getränkeabteilung. Der Wodka ist billig, dachte er, und sofort fiel im Erna ins Wort: Alkohol macht Birne hohl! Ist das mein Körper oder deiner, dachte er grantig, dann legte er zwei Flaschen von dem Schnaps in seinen Wagen. Ich bekomme immer so Kopfweh von deinem Fusel, beklagte sich Erna. Erwin stöhnte laut auf und legte eine Flasche Eierlikör neben die beiden Wodkaflaschen. Hier hast du deine Vitamine, Erna. Sie war sprachlos. Das passierte nicht oft, seit Erna vor einem Jahr von uns gegangen ist.

Erna und Erwin waren 58 Jahre lang miteinander verheiratet. Nach dieser langen Zeit konnten es sich beide nicht mehr vorstellen ohne einander zu sein. Als bei Erna Krebs diagnostiziert wurde, gab es für Erwin keine Diskussion. Sie sollte für immer bei ihm sein. Er verabschiedete sich von seiner Frau an ihrem Krankenbett. Bis später, rief sie ihm nach. Einige Stunden später wachte Erwin mit einem gewaltigen Brummschädel auf. So schmerzhaft hatte er sich das nicht vorgestellt. Erwin, wach auf, wach auf, rief Erna aufgeregt. Das Leben geht weiter!

Ernas Leben ging tatsächlich weiter, aber Erwin kam es inzwischen so vor, als wäre seines vorbei gewesen, als es sich Erna in ihm gemütlich gemacht hatte. Früher hatte er sich nicht vorstellen können, ohne sie zu sein. Jetzt wünschte er sich nichts sehnlicher. Nie war er allein, niemals. Egal, ob er auf der Toilette saß und den Playboy las oder unter der Dusche seine natürlichen Bedürfnisse befriedigen wollte. Noch anstrengender waren die ständigen Besuche ihrer Freundinnen und Verwandten bei denen Erwin das Sprachrohr für Erna spielen musste. Erna war immer präsent und sie hatte immer was zu sagen. Sie tat ihm nicht ein einziges mal den Gefallen, so zu tun, als ob sie gerade nicht da wäre. Erwin hatte genug, er musste Erna zum Schweigen bringen und wenn es das letzte wäre, was er täte.

Esther Nowy

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freiTEXT | Miku Sophie Kühmel

Gehwegplatte

Ein erstaunlich dunkler Samstag Nachmittag im Juli. In der Vorstadt ist die Luft dick und die steingrauen Wolken hängen tief. Ich trage lustlos zwei Einkaufstaschen, die, nur mit Luft gefüllt, schon zu schwer sind. Die Gehwegplatten liegen lose da, manchmal knirschen zwei verärgert, wenn ich sie mit einem Schritt in den alten Sand darunter und an den Kanten gegeneinander drücke. Im Garten meines Vaters lagen genau diese Platten auch, in so großen Abständen, dass sie für mich immer ein Hüpfspiel bildeten, auch noch, als ich kurz vor den Abschlussprüfungen stand. Wenn ein Regenguss uns in den Sommerferien überraschte, fluchte meine Mutter immer, das sei nicht barrierefrei für kurze Beine wie ihre, wenn sie daneben trat und im Matsch landete. Wir anderen lachten dann laut, mein Vater zog sie auf die Füße und mit zusammengekniffenen Augen und eingezogenem Kopf retteten wir Grillwürstchen, Auflauf, Eis und Kuchen in die muffige Gartenhütte, schlidderten mit nassen nackten Füßen auf der billigen Linol-Auslegeware, in deren schmutziges Schachbrettmuster die Mäuse und Käfer Jahr um Jahr neue Muster fraßen.

Wenn das Wetter gut war und die Gehwegplatten fast von wildem Klee überwuchert, machte ich mir den größten Spaß daraus, eine nach der anderen mit spitzen Fingern für einen Augenblick anzuheben, mit dem Ohr ganz flach auf dem Boden daneben. Zuzusehen, wie erschrocken Raupen davon larvten in das Dschungeldickicht des Rasens und Ameisen ihr Hab und Gut schnell in die hunderte winzige Löchlein verschleppten. Das Licht warf in dieser unterirdischen Steppenlandschaft, kam es einmal bis dorthin, erstaunlich lange Schatten. Mein Vater musste jedoch immer nur kurz ein Räuspern von sich geben, irgendwoher, schräg hinter den Rosenbüschen, aus dem Kartoffelloch, von der Krone des Apfelbaums oder dem Ufer des kleinen Teiches aus. Schon legte ich die Platte wieder vorsichtig zurück, darauf bedacht, dass jede der Kanten eins zu eins mit den schwarzen Quadraten schloss, dass die Platte sich im Gras zurecht gelegen hatte. Und immer die schöne Gewissheit, dass darunter Leben war. Ich war lange nicht mehr im Garten meiner Eltern. Vermutlich ist mittlerweile alles überwuchert, aber selbst wenn man die Betonplatten nicht mehr sehen kann wüsste ich genau: sie sind noch da.

Auf dem Rückweg vom Supermarkt kaum eine Menschenseele. Ein Dackel, der niemandem zu gehören scheint. In einem Auto, das auf der anderen Straßenseite parkt, streitet sich stumm und wild gestikulierend ein junges Paar. Irgendwoher schreit ein Kind. In der Ferne donnert es. Die Luft ist noch feuchter geworden, der Dreck klebt an meinen Händen, als ich mich hinhocke, gucke, ob keiner guckt, versuche, eine der Platten vorsichtig anzuheben.

Miku Sophie Kühmel

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freiTEXT | Steffen Roye

Bob Dylan im Beinbereich

Das letzte Mal bin ich Autoscooter gefahren, da war ich zwölf oder vierzehn. Dann war die Kindheit vorbei, und nur in Hollywoodfilmen fahren auch die Erwachsenen gelegentlich damit, begleitet von einem gitarrenlastigen Soundtrack, und es sind die Pausen dieser Filme, ein Ausatmen im Einatmen, und sie lachen dann und rammen sich absichtlich und haben Spaß wie die Kleinen, und was sich neckt, das liebt sich.

Ich muss daran denken, weil ich mich in den Kreisverkehr eingefädelt habe und seither um das Denkmal fahre, wie Geier um ihre Beute kreisen, nur dass ich nicht weiß, was mir Beute sein sollte. Ich drehe Runde um Runde und überlege, wohin ich aus dem Kreisverkehr herausfahre: zu den Eltern, die es schon immer gewusst haben; oder zu Robert, der allerdings gerade mit seiner Freundin zusammengezogen ist; oder zu Heidi, die in der Kantine schon oft ihre mütterliche Hilfe angeboten hat.

Die Autos kreisen auf ihren Bahnen. Obwohl es auf Mitternacht geht, ist einiges los. Von rechts kommen weitere Autos hinzu, bremsen ab und stürzen sich kaltschnäuzig in den Strudel, und dann werden Blinker gesetzt, und sie lassen sich an einer anderen Stelle wieder aus dem Strudel fallen, und wie das alles funktioniert und ineinandergreift, dieses Treffen und Kreiseln, das erinnert mich an meine Kindheit und den Autoscooter auf dem Rummel, nur dass man es hier vermeidet, einander zu rammen, weil das Spiel sonst vorbei ist, wo es früher umso beherzter weiterging.

Ich stelle das Radio an. Irgendein Quotenhit – weg. Nachrichten, immer fünf Minuten früher, auch um diese Zeit – fort. Eine Bigband – das muss dieser Sender sein, der den ganzen Tag das Beste aus den Vierzigern und Fünfzigern spielt und lange vor der Musik aufhört, bei der die anderen anfangen. Duke Ellington fordert gerade: Take The A-Train. Und während die Lichter um mich kreisen und rechts ein Auto an mir vorbeizieht und im Innenring ein Motorrad bedrohlich schräg in der Kurve liegt, finde ich, dass zu einer nächtlichen Fahrt durch meine Stadt nichts besser passt als diese ollen Swingkamellen.

Und ich sehe in die beladenen und von den Straßenlaternen ausgeleuchteten Autos, und die Musik im Radio schiebt etwas zusammen, ein Mosaik, plötzlich erscheint alles klar und doch wie durch eine ungeputzte Brille, und es wundert mich nicht, dass vor mir und neben mir alle Fahrer exakt den Ellington-Rhythmus auf Lenkräder und Fahrertüren trommeln.

Es erscheint alles klar und es wundert mich nicht seit dem kleinen Stau vor fünfzehn oder zwanzig Minuten, beim ehemaligen Luxor-Filmpalast, wo die Stadt, wenn man sich aus den Außenbezirken einsaugen lässt, erstmals etwas Konzentriertes hat mit der breiten und zugleich in die Bausubstanz hineingequetschten Straße, mit den mäandernden Straßenbahnschienen und den Mietskasernen aus der Gründerzeit und den Ampelkreuzungen und dem umgitterten Park und den drei Tankstellen und der verfallenen Brauerei auf der rechten Seite, an deren Stelle seit fünf Jahren ein Baumarkt entstehen soll. Vorn hatte es offensichtlich einen Unfall gegeben: Blaulicht flickerte und schlug an die Fassaden wie auf Kinoleinwände. Auf dem Fußweg standen Leute, ein paar trugen Overalls in Signalfarben, aber sie schienen es nicht eilig zu haben. Der bisher locker fließende Verkehr verengte sich im Reißverschlussverfahren auf eine Spur. Diszipliniert ließ der eine dem anderen die Vorfahrt: wie das alles funktioniert und ineinandergreift. Rechts neben mir zog langsam ein Saab vorbei, und ich schaute unwillkürlich hinein. Ein Mann hielt das Lenkrad mit der Linken fest umklammert, den Blick geradeaus. Auf seinem Beifahrersitz stand, von den Straßenlaternen leidlich angestrahlt, ein ficus benjaminii, der seine Zweige immer wieder nach dem Fahrer ausstreckte, als wollte er ihn necken, doch der Fahrer starrte geradeaus und wischte die widerborstigen Zweige gleichmütig beiseite. Und dann entdeckte ich auf seinem Rücksitz, ungleichmäßig angeleuchtet, Umzugskartons und etwas, das aussah wie ein Vogelkäfig, und ein Stapel Bücher lehnte an der Scheibe.

Der Saab zog an mir vorbei, ich aber musste bremsen und kurz halten. Dass die eigentlich behinderte Spur wieder einmal die schnellere war! Wie in einem Fernsehgerät wurde ein Passat eingeblendet, eine Frau saß darin, auf ihrem Beifahrersitz erkannte ich (als Silhouette) einen Grammophontrichter, und auf dem Rücksitz, der langsam in mein Blickfeld kam, war eine Art Garderobenständer platziert und ein undefinierbarer Berg, vielleicht Wäsche, obenauf etwas, das wie ein Paar Ski aussah und in den einsehbaren Kofferraum hineinragte, in dem außerdem eine Kommode verstaut war.

Jetzt schaute ich gezielt. Mein Vordermann hielt den Arm aus dem Fenster und klopfte einen Rhythmus auf die Fahrertür, und im Kofferraum erkannte ich die Umrisse eines Kontrabasses und einer Staffelei und eines Fahrrades.

Langsam fädelte ich mein Auto durch das Nadelöhr und zog an einem Polizei-BMW vorbei und an zwei Fahrzeugen, die ein bisschen Blechschaden verursacht hatten. Fast fuhr ich meinem Vordermann auf die Stoßstange, weil ich mich zu sehr auf die Unfallwagen konzentrierte und auf den Globus und den Katzenkorb, die auf einem der Autodächer abgestellt waren, und auf den Pudel, der auf einem der Fahrersitze stand und die vorbeifahrenden Autos ankläffte, und auf all den schemenhaft sichtbaren Hausrat, der die Hinterachsen der Unfallwagen nach unten drückte, als wären sie zu dieser Stunde noch unterwegs zu irgendeinem Flohmarkt.

Der Katzenkorb auf dem Autodach brachte mir in Erinnerung, dass auch ich einen ähnlichen Eindruck auf jene machen musste, die Zeit fanden, in meinen Wagen hineinzuspähen. Meine Yuccapalme stand auf dem Rücksitz und wippte wie ein Wackeldackel, und sie teilte sich den Platz mit einem Seesack voller Hosen und Hemden und T-Shirts und Unterwäsche und Socken und Sportsachen, und den Kofferraum füllte neben anderem mein Lieblingssessel, eine Bücherkiste und die geerbte Standuhr, auf dem Beifahrersitz stand meine Stereoanlage, und davor, im Beinbereich, hatte ich meinen Laptop und meine Schallplattensammlung deponiert, Bob Dylan und Bruce Springsteen hat man eben als Vinyl, genau wie einiges von dem gitarrenlastigen Material, das in Hollywoodfilmen Szenen untermalt, in denen Erwachsene beispielsweise mit dem Autoscooter fahren, und es sind die Pausen dieser Filme, ein Ausatmen im Einatmen, und sie lachen dann, die Erwachsenen, und rammen sich absichtlich und haben Spaß wie die Kleinen, und was sich neckt, das liebt sich.

Merkwürdig, dass die drei Jahre mit Maria in einem einzigen Auto Platz haben. Einem Auto, das ich schon fuhr, als wir uns damals im Fitnessstudio kennenlernten. Und eigentlich kam das alles nicht überraschend, immerhin konnte ich einen geordneten Rückzug antreten, obwohl ich im ersten Moment auf alles gefasst war. Dabei hatte ich Maria mehrmals gewarnt, dass mir irgendwann der Kragen platzen würde, wenn ihre verdammte Katze meinen Lieblingssessel weiter als Kratzbaum, dieses Mistvieh!

Nun also fahre ich um das Denkmal, wie Geier um ihre Beute kreisen, nur dass ich nicht weiß, was mir Beute sein sollte. Ich drehe Runde um Runde und überlege, wohin ich aus dem Kreisverkehr fahre. Wie das hier alles funktioniert und ineinandergreift, das erinnert mich an meine Kindheit und den Autoscooter auf dem Rummel, nur dass man es hier vermeidet, einander zu rammen, weil das Spiel sonst vorbei ist, wo es früher umso beherzter weiterging. Und nur in Hollywoodfilmen fahren auch die Erwachsenen gelegentlich damit, und es sind die Pausen, und was sich neckt … Und ich sehe in Autos voller Koffer, Grünpflanzen, Möbel, Kartons, Vogelkäfige, Grammophone, Fahrräder, Instrumente und Schallplattensammlungen, und die Musik im Radio schiebt etwas zusammen, ein Mosaik, ein Puzzle, und es wundert mich nicht, dass vor mir und neben mir alle Fahrer auf Lenkräder oder Fahrertüren exakt den Rhythmus von Take The A-Train trommeln, das inzwischen beim Finale angekommen ist. Und das abgelöst wird durch Judy Garland, die leichthin das Verkehrsmittel wechselt: Fly Me To The Moon. Und die Fahrer ziehen an mir vorbei mit melancholischem Blick, und mit manchen kreise ich drei oder fünf Runden, bevor sie sich zum Ausfall entschließen, und manche wissen offenbar sofort, wo sie diese Nacht unterkommen können.

Steffen Roye

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freiTEXT | Hey, Palsson!

Salzeis

„Heppa, Heppa, Hepal! So morsche Pfoten und wo hast du deine richtigen Handschuhe gelassen?“ Und ich lache, denn für die Beiden könnte es doch nicht besser gehen. Die alte Lochsocke pufft sich über links und an der anderen hängen deine Kleinstfinger. Ganz schön heiß hier! Gestern im Straßenglück die flitzende Bekanntschaft mit offenen Armen geschnappt und spendiert, dass sich die Flammen fetzten.
Mein Trinkgeld hattest du unter den Tisch geschlagen, weil dein Stolz brüllte. Und danach, das übliche Dankbare mit den Gläsern und auf Matratzen. Der abscheuliche Rauschmorgen geht mir davon, als du mich durch die Tür fragst: „Ist es okay, wenn ich in deine Dusche pinkel?“

Hey, Palsson!

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freiTEXT | Merle Müller-Knapp

Märtyrer

Hallo, ich bin Dirk. Ich bin eine Made. Ich rette deinen Knochen, dein Bein, vielleicht rette ich sogar dein Leben.

Geboren wurde ich in einem Labor. Inakzeptabel, denkst du jetzt vielleicht, Hygiene-Desaster oder Fahrlässigkeit. Zeit für einen Facebook-Post? Nein, tatsächlich steht mein Leben im Zentrum des eben genannten Labors.

Ich bin keine Otto-Normalmade, meine Heimat liegt fern von Biotonne oder Kothaufen. Ich bin Produkt bewusster Anzucht. Das Ei, dem ich mich entwand, lag auf dem Boden einer Plastikschale und tatsächlich war es ein Mensch, der mein Ei dort neben vielen anderen Eiern arrangierte.

Jetzt bin ich einen Tag alt und wurde soeben verpackt. Zusammen mit Barcode, Mindesthaltbarkeitsdatum und einigen hundert anderer Maden bin ich auf dem Weg zu dir. Mein Etikett stellt klar: ich bin steril, sowohl was meine Keimflora als auch meine Fortpflanzungsfähigkeit angeht.

Wäre ich eine Otto-Normalmade, ich würde mir vermutlich grade ordentlich den Bauch vollschlagen. Kompost oder Tierkadaver, wer weiß. Stattdessen hungere ich. Ich warte auf dich.

Wäre ich eine Otto-Normalmade, nach 20 Tagen würde ich mich verpuppen. Ich würde die Nährstoffe meiner vorangegangenen Fressorgie in Flügel und große Augen wandeln. Dann würde ich meinen Kokon durchbrechen und ich wäre eine Fliege, eine große Fliege. Lärmend würde ich durch dein Zimmer schnellen und meinen Leib mit Maximalgeschwindigkeit gegen das Fensterglas werfen. Vielleicht würde ich dabei bewusstlos werden.

Ich bin aber keine Otto-Normalmade. Ich bin eine Biomade. Das bedeutet: erst helfe ich dir und dann muss ich sterben. Fliegen werde ich nie.

Du brauchst meine Hilfe, weil dein Körper versagt. Du hast deine Haut verletzt, irgendwo und irgendwie, vermutlich schon vor einiger Zeit, und weil dein Immunsystem an seinen Aufgaben scheitert, brauchst du mich.

Deine verletzte Haut hat sich zur Bedrohung gewandelt. Deine ehemalige verletzte Haut, sollte ich vermutlich sagen, denn da wo alles vielleicht ganz undramatisch begann, klafft jetzt ein Loch. Wundheilungsstörung und Infektion als Stichwörter für meinen Einsatz.

Wenn ich bei dir ankomme, bin ich sehr hungrig. Ich sabbere viel. Sabbern gehört zu meinen Essgewohnheiten. Tatsächlich beginnt mein Verdauungsprozess nämlich schon vor meinem Mund. In meinem Speichel lösen sich tote Zellen und Dreck. Das ist gut so, denn beides findet sich vermutlich in deiner Wunde. In meinem Speichel lösen sich auch Bakterien, sogar solche, die deine Ärzte seit Monaten erfolglos zu bekämpfen versuchen. Den Glibber aus meinem eigenen Speichel und den darin gelösten Dingen esse ich dann. Ich räume deine Wunde auf.

Die Ärzte haben dich vielleicht gewarnt. Du könntest meine Anwesenheit als Kribbeln spüren, ganz selten wird mein Vorhandensein dir auch Schmerzen bereiten. Sehen musst du mich aber immerhin nicht. Das könnte dich nämlich stressen und Stress ist schlecht für die Wundheilung.

Nachdem man mich in deiner Wunde abgesetzt hat, werde ich verpackt. Hinter weißer Watte und beruhigend breiten Pflasterstreifen vollbringe ich mein Werk. Erst drei Tage später holt man mich hervor. Zu diesem Zeitpunkt bin ich vermutlich mächtig dick. Deine Wunde wird mein Fest gewesen sein.

Deine Wunde wird auch mein Ende sein. Wenn ich deine toten Zellen, deine Bakterien, deine Fäulnis gegessen habe, habe ich nicht nur mein Aufgabenspektrum als Biomade erfüllt, nein, ich gelte dann auch als kontaminiert. Deine ehemaligen Schadstoffe in meinem Bauch bedeuten meinen Tod.

Hätte ich Augen, ich würde in Richtung Fenster blicken. Oder wenigstens in die Neonröhren am Krankenhaus-Filament. Ein letzter Moment im Licht, die Melodramatik reizt mich. Ich habe aber keine Augen und so sterbe ich in Dunkelheit. Der Arzt wird mich vermutlich in einen Bottich mit hochprozentigem Alkohol werfen. Dort löse ich mich auf.

Ich glaube nicht, dass mein Tod mit körperlichen Schmerzen einhergehen wird, meine Nervenzellen sind nämlich kaum vorhanden. Nichtsdestotrotz, du lieber Mensch: ich sterbe für dich. Ich werde niemals fliegen können, niemals sehen können, niemals zwei haarige Beine aneinander reiben können.

Also bitte ich dich um Sinnhaftigkeit für meinen Tod.

Hör auf zu rauchen, geh regelmäßig zur Fußpflege oder besorg dir einen ambulanten Krankendienst. Kümmer dich um dich selbst. Diese eine ekelhafte Wunde soll deine letzte sein.

Ich wünsche dir alles Gute und ich wünsche mir ein nächstes Leben als Otto-Normalmade.

Merle Müller-Knapp

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