freiTEXT | Sophie Sumburane

Und der Mann vor mir raucht

Ich sitze im Zug und der Mann vor mir raucht. Ich sehe nicht seine Haare, keine Hand oder die Farbe seiner Jacke, nur den grau blauen Rauch seiner Zigarette, der erst wie ein Faden, jetzt als Wolke in der Luft hängt.

Doch ich weiß, dass ich ihn liebe.

Ich liebe diesen Mann, weil er im Zug raucht, es ist verboten im Zug zu rauchen, er tut es trotzdem, ich könnte das nicht.

Ich kenne auch seine Stimme nicht, habe sie noch nie gehört, zwischen all den Stimmen im Zug. Seine könnte darunter sein. Ist es ganz sicher, ich suche mir die sonorste aus und ordne sie ihm zu, stelle mir vor, wie er zwischen den Zügen an seiner Zigarette ein paar Worte spricht, wieder zieht, die Kippe glüht, die Asche fällt. Es kümmert ihn nicht.

Wie sieht er wohl aus dieser Mann, den ich jetzt liebe, der vor mir sitzt im Zug und raucht? Ganz und gar nicht wie ich, da bin ich mir sicher. Instinktiv ziehe ich meine Bluse über dem Bauch glatt und streiche einen Krümel von der bügelgefalteten Hose. So eine Hose würde er nicht tragen, er trägt sicher eine Jeans mit Löchern. Ein Shirt mit Aufdruck, eine Sonnenbrille in den Kragen gehängt. Ich versuche, sein Bild gespiegelt im Fenster neben mir zu sehen, doch da ist nichts. Meine Jacke hängt im Weg, das ärgert mich. Doch ich will sie nicht wegnehmen, ihn nicht stören, nichts Falsches tun und lasse sie hängen. Vor meinem inneren Auge will kein Bild von seinem Gesicht entstehen, es ist mir jetzt auch egal, ganz egal.

Und der Mann vor mir raucht noch immer, im Zug. Niemand kommt, kein Schaffner, keine Schwangere, Mutter mit Kind, oder korrekter Anzugträger, um ihn zu bitten, die Zigarette auszumachen. Er raucht einfach weiter, meine Augen tränen und brennen, weil ich schon so lange nicht mehr gezwinkert habe. Ich will keine Millisekunde verpassen, vom Tanz des Rauches. Will sehen, wie er sich immer weiter an der Decke des Wagons verbreitet, an der Glaswand vor ihm hängen bleibt, um nur Augenblicke später die Ritzen der Tür zu finden und in das nächste Abteil zu wabern. Ich will sehen, wie der Rauch die Nasen der anderen Fahrgäste erreicht, sie reglos sitzen bleiben. Tatenlos. Vollkommen desinteressiert. Nur mein Interesse hat der Mann vor mir, den ich nicht sehen kann, geweckt. Jetzt schließe ich die Augen, denn endlich ist der Rauch auch nach hinten gezogen, hat meine Nase erreicht und ich stelle mir vor, dass der Mann vor mir genau so riecht. Ein Geruch, der so abstoßend ist, dass er mich anzieht, so schädlich, dass er mir gut tut. Ich stelle mir vor, wie er sich über seine Lehne nach hinten beugt, wie sein Gesicht voller Bart ist und das Lächeln der Lippen so kaum zu sehen.

Bärte finde ich furchtbar, sie kratzen beim Küssen, die Haare stehen wild durcheinander, selbst wenn sie gekämmt wurden. In Bärten bleiben Krümel hängen, oft den ganzen Tag, so läuft der Mann herum, mit Essen im Gesicht, merkt es nicht, fühlt sich toll, hip, Hipster und ist doch nur ein Mann mit Essen im Gesicht. Doch bei dem Mann vor mir finde ich den Bart plötzlich wunderschön. Er hat ganz sicher einen Bart, und wenn er sich zu mir umdreht und lächelt, wird er mich mit seiner sonoren Stimme fragen, ob ich auch mal ziehen möchte, ich werde schüchtern verneinen und er wird sich auch in mich verlieben.

Ich stelle mir auch das jetzt vor, wie sich seine Lippen bei der Frage bewegen, wie seine Augen feucht werden, als ich nein sage, wie er aufsteht und sich neben mich setzt. Ich stelle mir vor, wie er, mit der Zigarette zwischen Ring- und Zeigefinger neben mir sitzt und wir uns plötzlich küssen, ich seine Zunge schmecke, seinen Atem rieche, wie ich nicht genug von all dem kriegen kann. Ich stelle mir vor, wie der Mann, der im Zug vor mir sitzt und raucht, mit seiner Hand unter meine Bluse fährt, hier, mitten im Zug, wie keiner guckt, als wären wir gar nicht da, wie es mir aber auch total egal ist, ob einer guckt. Ich fühle, wie seine Hand an meinem Bauch hinauf wandert, wie sich seine Finger rau auf meiner Haut anfühlen, wie ich diese Situation liebe, in der ich bei jedem anderen Mann vor Scham im Boden hätte versinken wollen.

Ich stelle mir vor, wie er mir seinen Namen sagen will, dieser Mann, der Dinge tut, die verboten sind, der aussieht wie einer, dem alle Regeln egal sind, der küsst, wie jemand, der nur dafür und nur für mich auf der Welt ist, als der Zug plötzlich hält und ich die Augen wieder öffne.

Weg ist der Rauch, verflogen. Weg ist die Stimme, die sonorste von allen. Ich sehe eine ältere Frau durch den schmalen Gang im Zug auf mich zu kommen, sie schaut sich um, ihr Blick bleibt an dem Mann vor mir hängen, sie schiebt sich in seine Reihe und setzt sich auf den Platz, genau vor mir. Weg ist der Mann, der vor mir saß und rauchte. Weg der Rauch, der Geruch, die Liebe.

Da die Gewissheit, er war nie hier.

Sophie Somburane

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freiTEXT | Barbara Zoschke

Die Liebesunwahrscheinlichkeit

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marokko, london 116

Die Liebenden saßen unter dem bisschen Hoffnungsgrün links im Bild. Sie hatten den Ort gewählt, weil er ihr ein wenig Schatten bot, während er mit dem Gesicht halb in der Abendsonne auf einem breiten Sims Platz finden konnte. Sie empfanden Glücksstille. Gleich würden sie die Lesung eines von ihnen beiden verehrten Autors besuchen.

Als das Handy des Geliebten klingelte. Der Geliebte zuckte zusammen und sagte: „Das ist meine Familie.“ Dabei sah er seine Geliebte mit Unvermeidbarkeitsbedauern an, das schwer auf seine Schultern drückte. Der Geliebte stemmte sich gegen sein eigenes Gewicht und stand auf. Er entfernte sich mit Rücksicht auf die Familie und auf die Geliebte von der Geliebten, obwohl er sich durch seine heimliche Verabredung zur Lesung mit Rücksicht auf die Geliebte und seine Familie gerade erst von der Familie entfernt hatte. Die Geliebte erkannte darin auf Anhieb die vertrauten zwei halben Wahrheiten, die allerdings jetzt, da sie allein im Innenhof war, plötzlich und unerwartet in weitere, immer kleiner werdende Wahrheitsanteile zerfielen, die die Geliebte proportional zur Dauer des Wegbleibens ihres Geliebten immer schlechter zu einem Wahrheitsganzen zusammenkratzen konnte. Schon erschien es ihr nur noch zu einem Viertel wahr, dass es sie selbst überhaupt gab. Und das Viertel wiederum schmolz in der Abendsonne auf die Größe eines Achtels Butter. Die Geliebte trank gegen den Wahrheitszerfall an und leerte das Weinglas, das ihr der Geliebte im Weggehen überlassen hatte, in einem Zug. Doch es nützte nichts. Die Wahrheit zerfiel weiter bis sie schließlich unwahrscheinlich war und überschwemmte die Geliebte dergestalt von innen.

„Ach, käme er nur schnell zurück“, dachte die Geliebte. Die Unwahrscheinlichkeitsschwemme hatte ihre Gedanken längst geflutet. „Und was, wenn er hat nach Hause fahren müssen, weil der Junge sich verletzt hatte?“ Er würde ihn verbinden müssen, vielleicht sogar ins Krankenhaus fahren, ihm versprechen müssen, ihn nie wieder allein zu lassen. Die Geliebte suchte nach einem Ausweg, der es ihr erlaubte, ihre Existenz über die Zeit des Telefonats, über die Zeit des Wegfahrens, über die Zeit des Verbindens und über die Zeit des Versprechens an das Kind hinaus zu retten.

Versuchsweise löste sie die Feststellbremse und rollte aus dem Bild.

Barbara Zoschke

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freiTEXT | Katja Bohnet

Unsichtbare Dritte

Seit du mit ihm geschlafen hast, sehe ich dich mit anderen Augen. Wir haben seitdem nicht mehr viel miteinander gesprochen. Als ich das Autoradio anmachte, hast du es leiser gestellt. Du fährst zu schnell.  Ich frage mich, wohin. „Halt an!“, höre ich mich sagen.

Du ignorierst mich.

„Halt sofort an!“ Diesmal schreie ich.

Ich merke, wie du die Geschwindigkeit drosselst und scharf bremst. Die Landschaft wird langsamer, die Felder halten an.

„Was?“

Ich öffne die Tür und steige aus. Ich stehe einfach nur da. Du lehnst dich über den Beifahrersitz und ziehst die Tür zu. Der Wagen zieht an, beschleunigt, eine Staubwolke weht hinter dir her. Auf dem Asphalt klebt ein Stück Fell. Jetzt ist das Auto nur noch ein verwaschener Punkt am Horizont.

„Hau ab, Arschloch!“ Meine Stimme klingt fest.

Hier am Straßenrand fühle ich mich seltsam banal. Ich gehe nicht zurück. Die Hitze lädt mich auf. Ich schreite voran. Felder, unermesslich weit. Irgendwann höre ich ein leises Rauschen. Hinter mir. Ich sehe mich um. In der gleißenden Hitze glänzt etwas metallisch. Es kommt auf mich zu.
Der Güterzug ist endlos. Wir ziehen nebeneinander her. Ich schwitze. Meine Füße brennen. Als der letzte Waggon vorüber rollt, fühle ich mich verlassen. Meine Beine müssen weitergehen. Mit dem Handrücken wische ich mir den Schweiß von der Stirn. Eine Kreuzung.

Die unsichtbare Dritte: Das bin ich.

Kein Flugzeug taucht auf. Nichts. Ich gehe weiter gerade aus, biege nicht ab. Nicht mehr. Meine Schritte werden kürzer. Ich ignoriere den Durst. Die Sonne brennt. Kein Auto kommt, kein Truck, kein Mensch, kein Tier.
In der wabernden Pfütze auf dem Asphalt erkenne ich sein Gesicht, seinen Leib, nackt. Du liegst auf ihm, hier mitten auf der Straße. Du siehst mich an. Eine Fata Morgana. Ganz real. Ich stolpere über eure Körper, falle, rappele mich wieder auf. Den Nachmittag halte ich noch durch. Meine Sohlen schleifen über den Asphalt. Die Straße trägt mich, ad infinitum. Ich blicke hinauf ins Weiße. Ich bin frei.

Ein kleiner Punkt kommt näher. Ich habe Schwierigkeiten, ihn im Auge zu behalten. Dann höre ich Motorengeräusche. Vielleicht lasse ich mich retten.  Der Wagen hält an. Du öffnest die Tür. „Steig ein!“, sagst du. Ich sehe dich an. Wenn ich dich anschaue, sehe ich auch ihn. „Hau ab, Arschloch!“

Du kneifst die Lippen zusammen. Schlägst die Tür zu, fährst an. Dein Blick hart. Dein Schwanz war es sicherlich auch.

Katja Bohnet

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freiTEXT | Susanne Ulrike Maria Albrecht

Mystisch

Schon den ganzen Tag freute ich mich auf das schmale Büchlein in meiner Tasche. Ich hatte ihm am Vortag in unserer Bibliothek nicht widerstehen können. Sein silbrig blauer Einband mit der Andeutung von prasselndem Regen und schweren Gewitterwolken hatte mich neugierig gemacht. Nun saß ich unter dem Lichtkegel meiner Stehlampe und strich über die erste Seite. Doch da ...

… überfiel mich eine bleierne Müdigkeit und ich nickte ein. Kurz darauf erwachte ich sehr erfrischt  und begab mich in mein Arbeitszimmer. An meinem Schreibtisch machte ich mich an die explizite Auswertung einiger Diplomarbeiten. Als geschiedener Germanistikprofessor hatte ich ohnehin nichts besseres zu tun.  Allerdings wurde mir während dieser Semesterferien eine ganz besondere Ehre zuteil. Ich sollte meine Enkelin, deren Eltern verreist waren, betreuen. Meine Tochter Beatrice und mein Schwiegersohn Horst Tauber, der als Arzt bei einer Tagung in Österreich weilte, um anschließend die traute Zweisamkeit für eine romantische Italienreise zu nutzen, hatten mir die kleine Sarah samt ihres Kanarienvogels Sindbad anvertraut.

In der Zwischenzeit würden ich, meine Enkelin, deren Vogel und mein Kater Humbert, die eine eigenartige Konstellation bildeten, sich das geräumige Haus mit dem großzügigen Grundstück teilen. Einmal wöchentlich würde sich Frau Rawenstein, in ihrer Funktion als Haushaltshilfe, dazugesellen. Weswegen, unter Berücksichtigung von meiner Zerstreutheit, die sich gleichsam lustig wie anregend auf meine Enkelin auswirkte, das Chaos für die bevorstehenden Wochen bereits vorprogrammiert schien.

Sarah, die sich  hier nach Herzenslust ausleben konnte, deren kindliche Phantasie dauernd aufs neue gefordert war, bemüht darum, diese Art der Belustigung im Fluss zu halten und fest dazu entschlossen, dem Chaos keine Pause zu gönnen, hatte sich seit langem ein gelbes Strickkleid gewünscht. Doch all die Bemühungen von seiten ihrer Mutter und die vielen Einkaufsversuche waren fehlgeschlagen. Ein leuchtendgelbes Strickkleid aus reiner Wolle sollte es sein. Mit einem Griff in das Schrankfach, war es um Großvaters Lieblingspullover geschehen. Genau das richtige für Sarah. Jetzt nur noch schnell in die Waschküche, wohlwissend, dass Großvater Waldemar besagten Kellerraum selten betrat und dessen Nutzung lieber seiner Zugehfrau überließ. Stunden später glich das edle Wollteil, zuvor eingeweicht und tropfnass aufgehängt, dem lang ersehnten Strickkleid. Nur noch fertig trocknen, dann reinschlüpfen und sich wohl fühlen. Stolz betrachtete Sarah das Resultat ihrer klammheimlichen Aktion und freute sich über die gelungene Arbeit.

Ich als ein selbsternannter Einkaufsbummelmuffel und erklärter Feind von Shoppingtouren, begegnete Sarahs Frage nach diesbezüglichem Ausflug in die Stadt mit diplomatischem Geschick. Mit der einfachen Feststellung, dass die von ihr getragene Kleidung doch neu und sehr schön sei, war der Erklärungsbedarf gedeckt. Scheinbar zufrieden verzog sich Sarah in den Garten, um mit der gleichaltrigen Nachbarstochter Simone zu spielen.

Nach einer Weile stand sie heulend in der Tür zu meinem Arbeitszimmer und beklagte sich schluchzend über die Hänseleien von Simone. Die hatte nicht mit ihr spielen wollen, weil sie diese abgetragenen und viel zu kleinen Klamotten trug und daraus ableitend bestimmt kein guter Umgang war. Kleider machen eben doch Leute, schloss Sarah das Plädoyer über ihre missliche Lage.

Tatsächlich war Sarah in kürzester Zeit sehr schnell gewachsen, und nachlässig gekleidet war sie auch. Das war nicht von der Hand zu weisen. Ich hatte mir diesmal die Mühe gemacht, mich zu ihr umzudrehen und musste mit Entsetzen feststellen, dass die Nachbarstochter nicht übertrieben hatte. Die eigene innere Animosität überwindend, packte ich Sarah bei der Hand, um sie neu und angemessen einzukleiden.

Sarahs Plan, mit der sehr viel kleineren Simone die Kleider zu tauschen, war vollends aufgegangen.

Als passionierter Frühaufsteher und vehementer Verfechter eines ausgiebigen Frühstücks, war ich geradewegs im Begriff, mich ans tägliche Werk zu machen, als ich angesichts der Federspur, die von der Küche zur Hintertür führte, mir das Pfeifen im Halse steckenblieb. Die ungute Ahnung, die mich  dabei befiel, fand im Garten ihre grausame Bestätigung.

Das Unheil, das mein Kater da angerichtet hatte, war nicht mehr gutzumachen. Sindbad, oder das, was noch von ihm übrig war, lag da, und Humbert, sein Mörder, war spurlos verschwunden.

Sarah durfte auf gar keinen Fall etwas davon mitbekommen.

Über den leeren Käfig im Wohnzimmer hängte ich das dazugehörige Tuch, um den Anschein zu erwecken, dass der Vogel noch schlafen würde. Ich hatte die Absicht, gleich einen neuen Vogel zu besorgen. Ich hoffte nur, dass Sarah nicht den Unterschied merken würde.

Derweil Frau Rawenstein zu ihrem großen Reinemachetag eingetroffen war, bereitete ich eilig Sindbads letzte Ruhestätte vor. Das war ich ihm schuldig. Immerhin war er durch die Pfote meines Katers ins Jenseits befördert  worden. Frau Rawenstein, die unter einer Vogelphobie litt, weigerte sich lautstark, den gewünschten Ersatz zu besorgen. Allein schon der Gedanke an einen Vogel brachte bei ihr eine Lawine ins Rollen, die eine Panikattacke auslöste und sich schließlich zum Tobsuchtsanfall steigerte. Durch das Geschrei aufgewacht, stand Sarah plötzlich auf dem Balkon, um mich auf frischer Tat zu ertappen. Ich tarnte meine geheime Aktion mit dem Deckmantel der üblichen Gartenarbeit. So hatte ich vorerst meinen und Humberts Hals gerettet. Der Kater schlich irgendwo da draußen herum und hatte mir die Drecksarbeit hinterlassen.

Frau Rawenstein war wieder bei Sinnen. Und ich fuhr zur Zoohandlung.

Sarah kringelte sich vor Lachen. Das war ihre bisher beste Spaßattacke gewesen. Dank ihres makabren Scherzes würde ihr geliebter Sindbad noch heute anstelle des geopferten Spielzeugvogels einen Gefährten mit dem Namen Timba bekommen. Zwei Vögel würden für Frau Rawenstein den endgültigen Zusammenbruch bedeuten.

Aus mir wurde mit wenigen Worten Professor Hardwig, der wieder einmal einen endlosen Vortrag hielt, der so langweilig war, dass man ihn getrost verwerfen konnte. Aber meine Enkelin Sarah, würde schon für die rechte Kurzweil und die dringend notwendige Abwechslung sorgen.

Ein Schauer lief mir über den Rücken und mir sträubten sich die Nackenhaare. Was sollte das? Germanistikprofessor? Enkelin? Ich war doch ein angehender Student! Und seltsamerweise saß ich immer noch unter dem Lichtkegel meiner Stehlampe und strich über die erste Seite. Anscheinend schien das schmale Büchlein mehr zu wissen als ich. Aber irgendwie war es auch sehr beruhigend zu wissen, dass das mit meiner Zukunft alles klar gehen würde.

Susanne Ulrike Maria Albrecht

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freiTEXT | Judith Trapp

Zurück

Seit Neumünster trabt der schwarze A-Klasse-Hengst quasi mit Autopilot. Obwohl nur geliehen, kennt er den Weg. Schon lang nicht mehr meine Heimat ist der kleine Ort zwischen Holsteinischen Hügeln und doch hält die Zeitlosigkeit jetzt die Zügel. Das Grün ist hier noch grüner als am Meer, von dem ich gerade komme. Verstörend die Mischung von großer Vertrautheit und Ferne zum Ort und dem, was war. Nicht nur ich, auch alle andern sind längst weg vom Gehöft am Ende der Straße. Ein langgezogenes Gebäude mit unpassend protzigem Portal kommt mir näher. Nun angeglichen an den Rest: Der Lack der beiden Steinsäulen ist gründlich von den 20 Wintern angefressen, die der jetzige Besitzer hat nachlässig verstreichen lassen. Meterhoch umwuchert sind Haus und Nebengebäude mit grazilem Topinambur, wildem Kohlstrauch, garstiger Nessel. Das Tor zum Waldstück rostet schief und wird nur noch vom Stacheldrahtprovisorium gehalten. Die Stalltüren sind mit der Zeit am obern Rand ausgezackt. Traurigbraun und unregelmäßig stehen die Holzzähne dem Wind entgegen. Und auch der letzte Bewohner und Besitzer vom ehemaligen Hippiehof ist mit den fleckigen Tapeten, dem muffigen Trödel auf dem Dachstuhl, dem wackligen Mobiliar alt, furchig, grau geworden. Gleichwohl bewahrt er als letzter dem Ort die Würde durch das an Erinnerung, was in meiner Vita so gut wie heilig gesprochen ist: Unsere Kommunenzeit hier. Lange vorbei und doch wie gestern geh´ ich in Gedanken durch das Gelände, alle Räume. Die warn wild und bunt. Voller Kunstmaterial. Experimentelle Lesestoffe, mondäne Teppiche an den Wänden. Instrumente, auch sehr eigenwillige. Farben, Früchte, Hoppeltiere. Unter den niedrigen Fenstern liefen die Kaninchen und Hühner, vögelten die Angereisten, den Apfelfrüchten nah. Trunken machte schon der viele Sauerstoff und der freie Himmel unterm Berg. Und wenn wir nicht tags dort nackt Gewitter tanzten und nachts auf dem Mercedeskombidach über Feldwege cruisten, blieben noch so viele andere Spielmöglichkeiten, häuften wir ekstatisch die Erfahrungen an. Wir schufen eine andere Wirklichkeit und das nicht nur im Drogenrausch. Auch die Musik, die Natur, das Atmen und Halten und Loslassen all dessen, dem wir habhaft wurden – sperrten uns die Tore der Wahrnehmung auf, fürwahr. Heute finden nur noch wenige Realitätsflüchtlinge hierhin und sie finden keine Alternative mehr zu ihrer Gefangenschaft in der verkauften Welt. Nur noch tristes Versteck in feuchten Räumen, die nun viel zu groß. Weil leergeräumt, zu Geld gemacht, was von Wert und alles andre als Leben, das hier die Lücken füllen könnte. Das Schelmische und Laute, Mystische und Streitmutige: Niemand mehr, der mit gerupftem Hühnerleib erzürnt den Dieben aus den eigenen Reihen im Innenhof nachsetzt, wirft. Niemand (kein Sunbird, keine Hallibelli), die mehr suchspielen im Dunkeln, mit Trommeln und Tamtam. Anschwellende Gesänge, die das Innenleben lobpreisen, begleitet vom Geschirrgeklöppel, rhythmischen Schlägen auf den runden Tisch in der Küche mit den fünf Türen. Heut´ leckt dort die Decke und lässt Böses ahnen – zwei Stockwerke drüber liegt der Schornstein. Keine Kräuter- und Körnersammlung in den Regalen sondern Tafelfutter, staubig und dunkel, weil das Fenster zum Hof fast blind. Ein Zauber bis ins Erdreich trieben wir voran: Deponierten im Steinkeller Devotionalien von weitgereisten Gästen (Figuren aus Fernost) oder verfluchten die schmallippigen Rivalinnen, gaben dort unter der letzten Wölbung ihr Foto zum Zerzausen frei. Glücklich torkelten die Schmetterlinge durchs Cannabis und der Tonchef einer Band, die in unserm Studio ein Album aufnahm, raubte im ausrangierten Bulli dem 17jährigen Sänger einvernehmlich dessen Unschuld. Am Ende des dreieckigen Gartens lag das „Dreieck“ und wurde fruchtbarster Punkt und Anbeginn nächster Generationen der späten Jugend, irrwitziger Gedanken, mancher Lieder wohl. Lieder, die vorgetragen am andalusischen, gomerhischen, goatischen Lagerfeuer die gleiche Freude zeitloser Sinnlichkeit sein konnte.

Mir blieb aus der Zeit Erfreuliches und meine Leibesfrucht, gezeugt bei Mondschein nah der jungen Eiche. Ich bin nach all den Jahren eine ganz andere, beschließe ich. Fahre friedlich nach Stunden und Umwanderungen den gleichen Weg zurück. Im Nachbardorf zieht vor mir ein Bauer auf´m Rad, mit einem Eimer am Lenker, eine große Kurve von der Nebenstraße in die Hofeinfahrt, mustert mich durch die Karossenscheibe eingehend, hebt dann geruhsam und wissend die Hand zum Gruß. Wen grüßt er da? Die, die fünfzehn Jahre weg war oder eine ganz andere?

Judith Trapp

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freiTEXT | Kai Gutacker

Der harte Kern

Der harte Kern also, wir vier; immer wir vier, in den Bars, lange nach Sonnenaufgang, mit ein paar letzten Drinks, Tequila oder Jägermeister, und bis auf Hendrik alle mit blauen Gauloises zwischen den Fingern; wir, die noch nicht gehen wollen, auch, wenn die Nacht bis auf den letzten Tropfen ausgesaugt wurde und sie nichts mehr hergibt, alles nur noch Trägheit ist, die Betrunkenen um uns sich verzogen haben, gerade kurz bevor sich die Straßen mit frischen, ausgeschlafenen Menschen bevölkern, das ist unsere Zeit. Wir vier, allesamt single, drei Jungs und eine wunderschöne Frau, die wir flankieren und die insgeheim unser aller Träume streift, die wir aber lange als Unseresgleichen akzeptiert haben. und mit der also nie etwas geschehen könnte, das nicht freundschaftlich wäre. Wir in den nächtlichen Straßen oder wir tagsüber im Laden, niemand hat einen besseren Geschmack in Fragen der Eleganz, wir vier, die wir uns darin bestätigen, wie wir leben, dass man auch als Heutiger wissen darf, ob man zwei oder drei Jackettknöpfe bevorzugt und wie man sein Revers trägt, ob man Windsorknoten binden können oder sich bei Swingmusik auskennen müsste, wir, die wir das alles bejahen, und die wir unseren Plänen nachgehen, unser Stück von der Welt zu erobern. Jeder auf seine Weise, Benjamin in seiner Kanzlei, tatsächlich das Kind der Freude, das er seinem Namen nach ist, mit rotblondem Haar und eleganten Gesten, dem alles zufällt, maximal fünf Jahre noch, dann wird er genug für drei verdienen und sich irgendwo ein Apartment kaufen. Oder Hendrik, der immer etwas ernst ist und verschlossen – er ist Getränketechniker und erzählt, wenn er einmal etwas erzählt, meist davon. Und natürlich Alexandra, über die sich so vieles sagen ließe. Sie ist hinreißend, aber das erwähnte ich ja schon. Also, unser Vierergespann, wir alle kommen aus den verschiedensten Teilen des Landes und haben uns hier gefunden, vor gut fünf Jahren, einer nach dem anderen. Wie wichtig wir uns gegenseitig geworden sind, in einer Stadt, die einem immer Neues bietet und fordert, die mal Artemis, mal Demeter und immer Janus ist, hier, an diesem Ort, weiß ich, diese vier bleiben, und es wird sein wie immer, wenn Hendrik über blaue Gauloises mault und sie für ganz ungenießbar erklärt – was wir doch für Barbaren seien – oder Alexandra, auf dem Sessel quer zwischen Armlehne und Armlehne hingefläzt die Beine in die Luft hängen lässt und einen Witz macht. Wenn wir Benjamin diagnostizieren, wie sehr sein Geschmack, der sonst so tadellos wäre, gerade bei Frauen so oft versagt und wir seine Exfreundinnen in der Luft zerreißen, wie Alexandra einen Schluck Wein trinkt, in die Männerthemen einsteigt und ihnen vorangeht, jetzt auf einmal von Deepthroat-Pornos spricht, wenn wir bei mir sind und Hendrik zu kochen anfängt, denn das kann er als einziger von uns, und deswegen an uns herumnörgelt. Selten vergeht ein Wochenende, an dem ich nicht zumindest einen von ihnen sehe, und neue Insider entstehen. Wenn ich bei anderen Freunden bin, fallen mir diese Insider wieder ein, ich fühle mich dann jedes Mal fremd, bei wem auch immer ich gerade bin – solange niemand vom harten Kern dabei ist. Und es kommt vor, dass ich sitze und denke, wenn es schon spät ist, wir getrunken haben und Alexandra ganz nah bei mir sitzt, dass ich Glück hatte, sie als Freundin gefunden zu haben, nicht als Geliebte, trotz allem, was sie so begehrenswert macht, dass ich ihr als Mensch näher bin als jeder, mit dem sie geschlafen hat oder einmal schlafen wird. Was sind schon ein paar Träume dagegen – und von wem träumt man nicht alles? Mit den Träumen ist es wie wenn einer die Arme verschränkt – das kann bedeuten, dass er sich unwohl fühlt, zurückziehen will, aber es kann eben auch gar nichts bedeuten. Man weiß das nie. Und so kann es doch auch sein, wenn ich von Alexandra träume. Dass es eigentlich gar nichts ist, ein zufälliges Spiel von Hormonen und elektrischen Impulsen in den Nervenbahnen. Vielleicht, wenn sie auf mich zuginge, ihren Körper an meinen drücken und mir einen Kuss geben würde. Dann wäre alles anders, aber so ist es ja nicht. Und wir alle wissen, dass es sich nicht ändern wird, daran ist kein Zweifel. Dass es Momente gibt, wo wir ihr nachsehen – wir alle tun das – es hat nichts zu bedeuten. Wenn sie käme, mir Flüsterworte ins Ohr sagte. Ob ich dann meine Freundschaft zu Hendrik und Benjamin gefährden würde? Vielleicht. Obwohl das mit Sicherheit eine der schlechtesten Entscheidungen wäre, die ich nur jemals treffen könnte. Deshalb bin ich glücklich, dass wir nur Freunde sind. Vielleicht finde ich eine andere, die so bezaubernd ist wie sie. Wir alle müssen das irgendwann, Alexandra wird jemand finden, der gut für sie ist. Solange es nur niemand von den Jungs ist. Manchmal frage ich mich, wer von den beiden die Freundschaft zu uns gefährden würde, um sie zu bekommen. Wir alle träumen von ihr. Aber dann denke ich, dass das alles ja nicht von Bedeutung ist.

Es ist gut, dass die Dinge so stehen; von Insider zu Insider, während wir über unsere Pläne brüten, nehmen wir  die Nächte und teilen sie untereinander auf, bis nichts mehr von ihnen übrigbleibt, trinken bis morgens und rauchen blaue Gauloises – bis auf Hendrik, der die ja nicht ausstehen kann.

Kai Gutacker

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freiTEXT | Katharina Bergunde

Katharina Bergunde

'Es ist unvorstellbar: man geht nach draußen und innerhalb von Sekunden schlägt sich die Feuchtigkeit, das Wasser! an deinem Körper nieder und du weißt nicht, ob du unmöglich doll schwitzt oder es eben die Feuchtigkeit ist, es ist Hitze, deine Lungen fühlen sich schwer an und du kannst nicht atmen, zu viel Wasser in der Luft. Ich verlasse mein klimatisiertes Zimmer, betrete die Küche oder das Bad, wo keine Klimaanlage und das Fenster offen ist und schon ist die Feuchtigkeit da und an mir - mir wird schwindlig. Es ist wirklich so krass, man kann nichts tun, außer jetzt nachts vielleicht, aber feucht ist es immer noch. Mir geht es gut hier, in meinem Kopf ist es schon vorbei und ich habe keine Lust auf das Danach.' (Email an Marie)

Es ist lächerlich, zu duschen, da in den Sekunden, in denen das Wasser schon abgestellt ist, man sich in das Handtuch wickelt, die Badtür öffnet und schließt und den kurzen Weg in sein Zimmer zurücklegt, die Tür hinter sich schließt, in der klimatisierten Zone aufatmet, schon wieder winzigste Schweißfilm die Haut umgibt, man entrinnt ihm nicht und er entrinnt einem unablässig. An den ehrlichen Schweiß der Hitze der brennenden Sonne bin ich längst gewöhnt, er stört mich nicht mehr, ich vermische ihn mit Lotion nach dem Duschen und errieche die enstandene Mischung in jedem meiner Kleidungsstücke und den Laken und Decken. Ich liebe meine Haare noch mehr als ohnehin schon, sie sind der einzige Ort des Körpers, auf dem die Illusion von Normalität ruht, kein Schweiß möglich, das Kissen der Ort, der nur nach Shampoo riecht.

Der ehrliche Schweiß also, der normale, ist Gewohnheit, Teil jedes Teils des Daseins. Dagegegen der Film, der nicht einem selbst, sondern der Luft entrinnt und am eigenen Körper lediglich kondensiert, sich wie eine zweite Haut auf die Umrisse legt, bis auf die Oberfläche der Lungen – zu viel Wasser in meinen Lungen und nie genug Luft, um mich wachzuhalten – dieser Schweiß aus der Luft selbst ist es, an den ich mich nicht gewöhne und dem nur im Meer zu entkommen ist oder dem Ozean, der tiefen, dunklen See, oder der blauen, rosafarbenen, sie ist Fluchtpunkt, umso mehr, als dass ich sie in den einzigen atmungsaktiven Stunden aufsuche, zwei Stunden vor und eine Stunde nach Sonnenaufgang, die einzige Zeit des Tages, in der die Luft genügend Sauerstoff enthält, um meine schwere Müdigkeit zu beenden. Bei jedem Aufwachen hält die Illusion von Wachheit einige Minuten an, Nachwirkungen des Traumes und der Veränderung des Zustandes, diese Minuten verbringe ich liegend, mit geschlossenen oder halbgeöffneten Augen, nachhängend dem Nichtbewusstsein meiner Körperlichkeit, der Ignoranz der Hitze, dem Wohlgefühl eines nichtphysischen Daseins.

Wenn ich schlafe, interessieren meinen Körper Hitze und Feuchtigkeit nicht, ich wache auf, wie ich geduscht habe, der Schweißfilm entsteht erst, wenn der Körper erwacht ist und zu funktionieren beginnt, seine Umwelt aufzunehmen beginnt, wenn ich den kühlen Raum verlasse und in die Hitze der Hygienemaßnahmen trete, welche mich zuerst zwingt, diese durch meinen Verbleib in ihren Räumlichkeiten notwendig zu machen. Es dauert nur wenige Sekunden. Es ist tatsächlich eine Möglichkeit, um Mitternacht herum zu schwimmen, den Körper herunterzukühlen, sodass er beim geringsten Wind inmitten der tropischen Temperaturen zu frieren beginnt, ein Phänomen, das so seltsam wie schmerzhaft ist, der Körper leidet unter der vermeintlichen Kälte vielmehr als vor der Ständigkeit der Hitze zuvor und doch ist es eine solche Unglaublichkeit, dass es schön ist, so wie alle Abwechslung schön ist und mit der Angst vor Krankheit belegt. Dennoch ist dieser Zustand ein herrlicher, ich kehre zurück in den leichten Wind der Klimaanlage und genieße, mich bedecken zu können und wach und ohne jeglichen Schweiß zu sein, fast kühl, fast fröstelnd, alles absurd. Ich schlafe nicht und ich schlafe immer. Es ist, als wüsste mein Körper nichts mit sich anzufangen. Überhaupt ist in diesem für mich Ausnahmeklima alles auf Körperlichkeiten zurückgeworfen - was mir gefällt, es ist wie Krieg, Moment für Moment und die Zeit vergeht und man übersteht. Meine Vorhänge sind immer geschlossen. Ich weiß nicht mehr, wann ich damit begonnen habe, sie nicht mehr zu öffnen. Morgens würde mich die Sonne blenden, tagsüber ist es trotz der geschlossenen Vorhänge ungeheuer hell im Zimmer, die tieforangen Fliesen und die Bläue des Tuches über der Couch sollen alles dämpfen und tun das auch, trotzdem ist Aktivität nichtgeistiger Art unmöglich. Nachts bemerke ich erst, wenn wieder Licht durch die Vorhänge fällt, dass es hell geworden ist und lösche das Licht. Ich trinke, ich esse, ich schlafe, ich döse, ich lese, ich denke, es überkommt mich, ich schreibe. Wann immer die Tür einen Moment offen steht, kommt der Hund ins Zimmer, dreht eine Runde und lässt sich in unmittelbarer Nähe der Tür nieder, schaut heraus, mich an, mich ärgert das Einströmen der Feuchtigkeit, aber ich liebe den Hund und schließe die Tür nicht, bis er nicht von selbst gegangen ist und ich ihn gestreichelt habe, ihn auf den Kopf küsse und die weichsten aller Ohren meiner Hand entweichen, sich aufstellen und wissen, das nächste Mal wird kommen. Der Hund versichert sich der Ordnung meines Zimmers und meiner Zuneigung und verlangt nach beidem nachdrücklich. Gibt es einen fremden Geruch in diesem ihm oft verschlossenen Raum, einen starken männlichen Menschengeruch, auf den Laken, in der Luft, eine Spur im Flur, legt er seinen Kopf auf mein Bett und studiert ihn. Sieht mich an, nähert sich und beriecht mich ausgiebig, auch zwischen den Beinen, wenn ich ihn lasse. Manchmal lasse ich ihn, weil ich will, dass er versteht. Ich umarme dann den Hund, der eine Sie ist und niemals Kinder bekommen wird und er verlangt eine besonders lange Zuneigungssitzung, oder vielleicht bilde ich mir das ein in meinem bewussteren körperlichen Zustand, der einzigen physischen Aktivität, zu der ich mich bewegen kann. Schwimmen ist keine Aktivität, Schwimmen ist aufgehen in der See und meditieren mit dem eigenen Körper, während der Geist über den Wellen schwebt und ihnen beim Denken zuschaut, ohne dass es ihn angeht. Schwimmen ist absolute Freiheit, Bedeutungslosigkeit, loslassen der Welt. Leere, wenn man so will. Ganz Bewegung und Leichtigkeit und Bewegung und Leichtigkeit sind und bedeuten nichts. Ich schwimme bis hinter die Wellenbrecher und schaue zurück auf die jahrtausendealte Stadt und die neue Stadt und hinaus aufs Meer, die Endlosigkeit. Manchmal scheint mir der frühe Morgen die einzige Zeit, in der ich die Grenze zwischen Meer und Himmel wahrnehme. Zartrosa gegen dunkelviolettblau. Ich liebe die Wellen und ich liebe das Meer still. Es ist mir unersetzlich geworden, der Ort des absoluten Friedens. Danach ist Wachen eher wie Schlafen. Außerhalb der unerträglichen Klimatage genieße ich jede Sekunde, manchmal auch dann. Ich weiß, Europa ist ein weit entfernter Kontinent einer ungefähr gleichgestellten Zeitzone. Ich habe nichts gegen Europa, aber ich bin nicht dort. Mir hat noch nie sehr gefallen, allein zu sein und nie weniger etwas bedeutet. Bedeutungslosigkeit ist nicht gleich Gefühls- oder Emotionslosigkeit, im Gegenteil, aber ich bin gelöster von allem, lasse mich und alles andere gehen, ohne Schmerz zu empfinden, es ist wie ein Wind, den man spürt; niemand käme darauf, ihn festzuhalten, auch wenn er angenehm kühlt und die Hitze ansatzweise vergessen lässt. Ich weiß genau, was ich von mir erwarte, daher erwarte ich Nichts vom Hier oder Anderen. Und genieße das und genieße mich in meiner Freiheit. Alleinsein ist zum ultimativen Erleben geworden, das Alleinsein im Inneren eines gelösten Selbst.

Macht es mich traurig, dass alles temporär ist? Nicht mehr. Meine Macht über mich selbst war selten größer und alles, was passiert, ist Teil der Flut meiner Gedanken, in der ich mich entscheiden kann, zu schwimmen oder sie gehen zu lassen, so wie alles andere auch. Nirgendwo auf der Welt ist es einfacher, genau das zu tun, was man tun will, in keiner Situation ist es einfacher, überall und nirgendwo zu sein, ambitioniert oder freigeistig, zurückgezogen oder im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, es ist, als lerne man von selbst die richtigen Menschen für jede Stimmung, jede Unternehmung, jeden Gedanken kennen, das einzig fehlende ist der intellektuelle Überbau, den aber auch niemand schaffen will. Vielleicht schreibe ich deswegen. Oder weil ich doch trotz all dem Frieden die Intelligenz europäischer Melancholie vermisse.

Eine Stadt, ein Meer, eine Mitte.

Frieden.

Katharina Bergunde

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freiTEXT | Dietmar Maetzig

Das Lied

Litauische Begegnungen 

Weit bist du gefahren. Ermüdend ist es gewesen. Monate hatten sie früher zu dieser Reise gebraucht und auf dem dunklen Weg durch die Berge, unendlichen Wälder und Sümpfe war Mindaugas´ Krone in andere Hände geraten! Nie hatte sie ihn erreicht. Die fremde Obrigkeit residierte fern von ihm. Auch Obrigkeiten halten Kronen nicht sicher in ihren Händen. Und du weißt: manches Mal wirst du ausgezeichnet, weil gerade du die Auszeichnung nicht bekommen solltest.

Behände trägt dich die Autobahn über die Landschaft dahin. Ein aufgeschlagenes Buch ist die Landschaft dir. Es lässt sich lesen und spricht in deiner Sprache zu dir. Auf tausend und abertausend Fragen antwortet es dir – nur die Fragen musst du ihr stellen. Wie gut, dass du die Buchstaben des großen Lebens beherrschst!

Du siehst, du erkennst und du liebst die Landschaft, du möchtest sie betreten, in ihr weilen. Du möchtest sie in dich aufnehmen, du möchtest dich ausgelassen wie ein Pferd auf dem Rücken über den Erdboden rollen, alle Viere gegen den Himmel strecken und blicklos in den weiten Himmel schauen. Dich einfach ziellos dem Leben hingeben! Doch die Pflicht des Tages bindet dir einen straffen, einen engen Zaum. Du bist zu schwach, dein Leben zu gestalten. Du bist ein Sandkorn im übermächtigen Alltagsbau, du fühlst dich wert und auch gebraucht. Immer wieder wird dir klar, für deine eigenen Ziele bist du allein zu schwach. Was wärest du, wenn du dich nicht befehlen ließest?

Schuldig hältst du deinen Wagen an, steigst aus, um inniger mit der Landschaft zu sein. Sie nimmt dich auf. Sie bewirtet dich. Es ist Abend geworden. Ruhig schaust du über das schweigende Land. In die weite, weite Ferne, an den Horizont ziehen dich deine Augen. Ach, könntest du erfassen, was alles in dieser Landschaft ruht! Jahrtausende gestaltetes Leben, reine, bewahrte Natur! Der Mensch – ein Teil von ihr. Könntest du über der Landschaft schweben, einfach Stunde um Stunde über ihr schweben! Dich auf die Erde niedersetzen und dich einfach wieder über die weite Landschaft erheben! Hat der Mensch dieses Sehnen nicht den Göttern geschenkt? Bewahrt er das eigene himmelwärts Schweben nicht für das Ende seines Lebens auf? Ach, könntest du diesen Moment mit nach Hause nehmen und noch lange, lange von ihm zehren! Das fremde Land ruft dich deutlich zum Ursprung, zum Wesen deines Lebens zurück. Wir heiligen das Leben, wir sehnen uns, es zu begreifen. Ja, das Leben – nicht seine Organisation, seine Verwaltung. Die ruhige Großartigkeit der Landschaft führt deine Seele zu innerer Einkehr. Du lauschst in das Leben, in die unermessliche Zeit hinein. Du möchtest begreifen, was dir die Stille verrät. Du bist dem ängstlichen, selbstgefälligen Geschrei der Gegenwärtigen entwichen. Du lässt dir von ihrem Heucheln dein Trachten nach dem tieferen Sinn des Lebens nicht ersticken.

Du senkst dein Haupt. Du kehrst zu deinem Auto zurück. Du musst! Das reale Leben fordert seinen Preis von dir. Du musst gehorchen. Du hast dich dem Leben verpflichtet. Du musst weiter fahren. Die Landschaft streicht im Abendlicht vorüber und verabschiedet einen weiteren Tag. Wie viele werden es noch sein, werden noch auf dich warten? Einerlei. Du bist dir gewiss, irgendwann führt dich das Leben noch einmal hierher. Du wirst den Wanderpfad betreten, durch Wälder, Felder, Dörfer, Landschaft ziehen, in den Holzhäusern schlafen, der fremden Sprache lauschen, nichts verstehen, doch dich aufgenommen fühlen, ohnmächtig träumen, frei von deinem dir eingebrockten Leben. Du willst Leben und Landschaft genießen. Aber wann? Wann wird das werden? Weshalb führt dich das Leben hierher? Weshalb spricht es dich hier so innig an? Was du dir heute nicht erfüllst, wirst du später nie erreichen! Du zwingst dein Auto an den Straßenrand, lässt es stehen und wieder zieht dein Blick über das weite schweigende Land, in dem ungesehen Menschen leben. Ein unglaublicher Friede umfängt dich. Deine Andacht gehört dem Leben. Natur und Mensch sind unbegreiflich schön!

Und da! Horch! Ein Lied! Ein fernes, leises Lied löst dich aus tiefer Betrachtung! Es kommt auf dich zu. Es gesellt der Landschaft einen Menschen zu. Sacht´ schwebt es über das weite, stille Land. Es erreicht dich, zieht an dir vorüber in die abendliche Ferne hinein. In dich und in die schweigende Landschaft wolltest du hineinhören, doch dich trifft ein menschliches Lied! Es tritt zu dir, tritt an dich heran. Erklingt es wirklich? Hat es deine Phantasie in diese Landschaft gesetzt? Du schaust in das flache, unermesslich weite Tal, das alles fasst, den Wald, das Wasser, die Wiesen, das Haus... Du erkennst seine Grenzen nicht. Es zieht sich hin, unendlich weit. Und du lauschst. Ein Mensch! Ein Mensch ist in deiner Nähe. Er ruft in die freie Welt hinaus. Er kennt, er versteht sie. Er schreit nicht. Er singt. Er verlangt nichts, von keinem verlangt er etwas. Er gibt uns ab von seinem Dank, seiner Sehnsucht, seinem Werk, seiner Seele, seinem Gefühl. Er meldet sich. Er ist hier zu Haus. Er gibt sich zu erkennen, all denen, die eine Stimme suchen, die seine Stimme - die ihn - achten wollen. Mag seine Stimme auch den erreichen, dem sie hilft! Ein Herz hatte nach einem Lied gegriffen, eine Stimme gab ihm den Ton, ein Mund hat es geformt und geduldig zieht es durch das Land. Für das Leben singt der Mensch sein Lied. Zeitlos, ziellos gewinnt es die geheimnisvolle, die nur geahnte Welt. Es zieht vorbei an Blatt und Raute, an Stein und Hügel. Es sucht nach Ohren, sucht nach den Seelen, die auf eine Stimme warten, die es aufnehmen werden. Es sucht nach Herzen, die sich mit ihm verbünden, sich verstanden, sich bei ihm zu Hause wissen. Auch du nimmst es an, nimmst es auf, nimmst es mit. Es führt dich zum Feuer in der feuchten, kühlen Nacht, zu den Tänzen, zu den Sprüngen über die lodernden Scheite, zum letzten Schluck im Becher, den du dem Feuer schenktest: es möge sich an dich erinnern und dich immer wieder erwärmen! Der Mensch hat sich das Lied erschaffen. Der Natur schenkt er es aus Dankbarkeit für sein Leben, als innigen Zeugen für sein Leben in der Landschaft. Wessen Brot du isst, dessen Lied singst du! Darf es das Lied deiner Landschaft sein? Oder singst du das Lied deines Herren? Zu Menschen führt dich das Lied, zu Menschen, die sich - wie du - den Tag erarbeiten und sinnen und träumen. Ein jeder braucht sein Lied. Du singst es aus Dankbarkeit, aus Freude, aus Trauer, aus Übermut. Du darfst es überziehen, wie den in Holz gegrabenen Menschen. Zur intellektuellen Fratze darfst du es verzerren. Dein Lied verrät dich.

Noch immer schwebt das Lied - die Daina - suchend durch das flache Land. Kein Berg, kein Felsen versperrt ihm den Weg. Eine Daina kannst du nicht im Rundfunk senden, nicht im Konzertsaal hören. Der Landschaft gehört sie an. Die Landschaft ist ihre Heimat. Hier wurde sie geboren, hier ist sie zu Haus und hier breitet sie ihre Schwingen aus. Hier kannst du sie erleben. Beim Gesang der Daina wird das Kind der Landschaft geboren. Es summt sie mit, es stimmt sie an und mit ihr auf den Lippen wird es als Greis versterben. Hier tritt die Daina in das Herz der Menschen und gedeiht, wie die prächtige Pflanze und das vitale Tier. Hier hat sie ihren Boden, ihr Wasser, ihr Klima, ihre Luft und hier findet sie den Menschen, mit dem sie zusammenleben will. Und hier, wo sie zu Hause ist, wo sie in aller Herzen lebt, darfst du sie heute hören! Unerwartet reich hat das Schicksal dich beschenkt! Das Lied der Landschaft hat dich eingeladen, seine Menschen zu verstehen, zu begreifen. Es anzunehmen wird deine Freiheit sein. Du bist nicht allein Körper und Stimme, du bist auch Herz und Seele. Du hast deine Landschaft, deine Heimat, dein Wort, dein Lied, deine Literatur, dein Leben und noch so viel Eigenes mehr und lauschst nun der fremden Stimme. Sie führt dich in ihr Haus, in das Herz eines fremden Menschen. Ihre Heimat ist deine Fremde. Du gehst auf sie zu, gehst mit ihr mit. Du folgst ihr und trittst tief in ihre fremde Menschlichkeit ein, die dir deine zivilisierte Gegenwart zu verstecken trachtet. Hier bist du innig mit ihr zusammen, seid ihr gemeinsam in der großartigen Natur unserer Welt. Der Mensch trägt die Werte der Welt und des Lebens in sich. Auch du darfst sie in dir tragen. Du malst dir die Welt und das Leben nach deinem Vermögen, als Bild, als Lied, als Text, als Idee. Du darfst all das besitzen, was du dir aus Welt und Leben erschaffst. Sorgsam hat deine Seele aus dem unerschöpflichen Angebot gewählt und sie wählt noch immer, sucht, solange sie dazu fähig bleibt. Mehr nicht, sie sucht. Wird es reichen, dich durch das Leben zu geleiten? Wird es reichen, auch das Leben der Deinen reicher zu machen? Die Daina hatte dich gerufen, dich zu besinnen. Sie wird dir verklingen, doch unverdrossen wird die in Holz geschnitzte Hochzeitsgesellschaft in das reiche Tal des Lebens schauen. Du wirst dich neben sie stellen, mit ihr die Daina hören und mit ihr in das schweigende Tal blicken. Nein, du hast kein Lied geraubt! Du hast erlebt und angenommen, was du so innig-emsig gesucht, wozu dich dein Leben über die Erde treibt. Die Stimme eines Menschen, eines unbekannten Menschen wird bei dir sein, wird dir Vertrauen geben, dich lebenslang über die Erde begleiten und dir auch in der Ewigkeit zur Seite stehen. Mag deine Seele die Stimme so gut verwahren, dass sie dich zu und unter denen führen wird, die dir die Welt schon vor deinem Leben gestaltet hatten. Mag sie dir Zugang zu ihren Seelen bieten! Und du lauschst. Noch immer schwebt die Daina über das Land, einfühlsam, beherrschend, fragend, bescheiden. Sie hat Seele und Stimme zueinander geführt. Oh, hätte doch ein Mensch dem anderen niemals ein falsches Wort, eine falsche Seele, ein falsches Herz anerzogen! Oh, wäre das Lied, wäre die Musik die einigende Religion aller Menschen geblieben! Hätte es statt der Söldner unsere Grenzen überschritten!

Das Leben zu spüren hattest du die Einsamkeit gesucht, hattest du die bequeme Hölle verlassen. Es ist eines Tages Abend. Wehmütig und getragen, ernst und voller stiller, sanfter Kraft schweben die Lieder über das Land. Doch schon bald arbeiten die Menschen am nächsten Tag, lassen Werkzeug und Kommandos erklingen und auch dann noch liegen die Töne der Dainas über dem Land, umhüllen es bis zum freien Abend hin. Voller sorgendem Optimismus werden sie wieder einsetzen. Sie, die Gesänge des Lebens, aus seiner Härte und Not geboren, seine Größe und Zuversicht verkündend, ein Bekenntnis zu Land, zu Landschaft, Volk und jahrhundertealtem Leben, dauerhaft verehrte Kunst. Ein Lied trägt seinen eigenen Charakter. Ein krisenfester Reichtum ist den Menschen die Musik. Du verstehst den Sänger, nicht seine Sprache. Schweigend hörst du ihm zu. Lass ihn die Seelen der Menschen aller Welt verbinden!

Dankbar lauschst du noch immer der Stimme. Der Stimme eines Menschen. Du weißt, er steht bei dir. Weshalb solltest du ihm nicht folgen, mit ihm zusammen durch die morgenfeuchten Wiesen gehen, die ganze weite Welt durchschreiten, zu anderen Menschen gelangen? Unglaublich viele gute, schöne Stimmen hat die Welt gehört. Nimm diese lebende für sie alle an!

Und wieder trägt dich dein Auto durch das Land. Du hast die Fenster geschlossen. Die Nachtluft ist zu kühl. Vorbereitete Straßen weisen dir den Weg zu deinem Ziel. Die fremden Lieder begleiten dich durch die Nacht. Sehnsüchtig schweben sie über das weite, ebene Land, ernst, getragen, dem Leben gewidmet, Seelen verbindend, dem Lebenswillen verpflichtet, stille, starke, natürliche Freude entzündend. Wie Nebelbänke legen sie sich schützend über das Tal. Im zuversichtlichen Einklang erlebst du die Stimmen nebeneinander, erhabener, ehrlicher, wahrhafter als die Töne unserer Zeit. Das Wort vermag Gesang nicht zu ersetzen. So will ich schweigen und dankbar dem Erlebten lauschen.

 Du stehst im Leben. Es gibt dir Aufgabe und Brot. Zu leben und sich zu entwickeln, fordert die Natur von Pflanze, Tier und Landschaft und sie alle erproben seit Jahrmillionen, dem zu folgen. Auch der Mensch tut es. Und unverdrossen führt dich dein Auto durch die fremde Nacht an deinen altgewohnten Platz. Es ist die Welt, wie du sie siehst. Deine Blicke darfst du deiner eigenen Seele schenken. Lass sie sich ihr Bild machen, so, wie es auch die anderen tun! Doch sperre es nicht weg, vernichte es nicht ungeprüft. Wir alle sehen die Welt und das Leben nach unserem Vermögen. Sprich sie an, die ihrer Seele gestatten, zu verarbeiten, was die Augen sahen. Du findest sie unter den Dichtern, den Sängern, den Holzschnitzern und Bildhauern und allen Menschen, die sich zu diesem ihrem Vermögen bekennen. Sei dankbar, dass du als Mensch eine Seele hast und tiefer sehen kannst als auf dein Frühstück und Abendbrot, tiefer fühlen kannst, als dir deine natürliche Begierde aufträgt, sei dankbar, dass sie dir gestattet, dich aus deiner Lethargie zu erheben.

Dietmar Maetzig

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freiTEXT | Jörn Birkholz

Autor Normalverbraucher

Einmal traf ich einen Autor, der beschwerte sich, dass jeder Tag gleich verlaufe und er nicht vorankomme. Das tue mir leid, sagte ich ihm und wollte schnell wieder gehen, aber er hielt mich auf, ließ mich nicht gehen, nahm mich quasi gefangen. Er wollte, er musste reden. Wieder mal war ich am falschen Ort, zur falschen Zeit. Und jetzt saß er vor mir, mit glänzendem Gesicht, leicht glasigen Augen und einer hippen Brille, die, wie ich erschrocken feststellen musste, der meinen erstaunlich ähnlich sah.

Kaum jemand liest meine Texte, klagte er jetzt.

Das kann dir doch egal sein, sagte ich. Ich duzte ihn; hätte ihn aber am liebsten gesiezt um damit wenigstens etwas Distanz zwischen uns zu wahren. Aber dann hätte er mich wahrscheinlich durch seine Brille, die auch die meine hätte sein können, sicher nur verstört angeglotzt, und mir nahegelegt, dass ich ihn ruhig Duzen könne, zumal wir – und auch das fiel mir unangenehm auf - etwa im gleichen Alter waren.

Aber man möchte doch gelesen werden, jaulte er nun.

Sicher, sagte ich, nur wenn nicht, dann eben nicht, wen interessiert’s.

Das stimmt natürlich, pflichtet er mir sofort bei. Liest ja heutzutage ohnehin kaum noch jemand, fügte er noch hinzu und rang sich ein ironisches Grinsen ab. Seine Zähne waren gelber als meine - wenigstens unterschieden wir uns darin.

Ich wollte weg, wusste aber nicht wie.

Darf ich dir was geben?, fragte er mich jetzt.

Was?!

Ich hab einen Text bei mir. Keine Sorge, er ist nicht lang.

Ich machte mir keine Sorgen, aber ich konnte nicht glauben, dass das bebrillte Glanzgesicht jetzt tatsächlich eine grüne Mappe aus seiner Adidas Umhängetasche hervorzauberte, aus der er ein leicht abgegrabbeltes DinA4 Blatt entnahm und es mir aufgeregt reichte.

Das Blatt war in kleiner Schrift - Times New Roman, ich vermutete allerhöchstens Schriftgröße acht - zu dreiviertel vollgeschrieben.

Hab ja gesagt, ist nicht viel.

Und was soll ich damit?

Lesen.

Da ich mich nicht traute nein zu sagen, las ich.

Und?, fragte er mich, nachdem ich den Text gelesen, oder vielmehr überflogen hatte.

Was soll ich sagen?

Ist es gut? Ein kleiner Speicheltropfen schoss ihm aus dem Mund und verfehlte mich nur knapp.

Das musst du doch wissen. Schon wieder duzte ich ihn!

Ich weiß, dass es ein bisschen radikal ist.

Radikal?

Zum Beispiel die Stelle mit den Arbeits- und Erziehungslagern für Hartz-IV Empfänger und Homosexuelle.

Mal abwarten, was die Zeit noch bringt.

Eine hübsche Frau lief an uns vorbei, er nahm sie gar nicht wahr, was auch egal war, denn sie uns auch nicht. Zwei identische Brillen in einer Kneipe sind ja auch kein besonderer Hingucker. Ich wurde müde.

Ich glaub, es ist gut, sagte er, sogar sehr gut, denke ich jedenfalls.

Na dann ist doch alles klar.

Versteht nur keiner.

Tja.

Das ist übrigens der Anfang zur Einleitung meines Romans. Meines Zweiten! Den ersten wollte auch keiner lesen.

Das tut mir leid.

Leider ist Schreiben mein Leben!, wurde er jetzt pathetisch.

Das ist sehr traurig.

Wieso?

Egal.

Die hübsche Frau drehte um und kam nochmals an uns vorbei. Ich lächelte sie an. Sie lächelte nicht zurück, sondern tat, als wenn sie es nicht bemerkt hätte. Ich wollte weg, nur weg von hier, weg aus diesem Laden, und vor allem weg von meinem Brillenspiegelbild.

So, ich muss dann mal los, muss morgen früh raus.

Morgen ist Sonntag?

Ich muss in die Kirche.

Bist du gläubig.

Wie man’s nimmt. Ich bin Pastor.

Oh, das hätte ich jetzt aber gar nicht gedacht.

Der Autor nahm es mir tatsächlich ab.

Du wirkst eher wie jemand aus der Werbebranche. Das sollte jetzt aber keine Beleidigung sein.

Kein Problem, kam auch nicht so rüber.

Katholisch?

Was?

Katholischer Pastor?

Ja, ja. Also dann.

Vielleicht sieht man sich ja nochmal.

Ja, vielleicht.

Aber auf jeden Fall danke für deine konstruktive Kritik.

Äh, ja gerne.

Ich verließ den Laden und ging gleich in den nächsten. Auch da waren etliche Brillen. Viele potentielle Autoren also auch hier. Ich achtete besonders darauf, dass ich mich nicht in die Nähe von jemand setzte, der ähnlich aussah wie ich. Ich fand einen Platz ganz am Ende der Theke. Hier war ich sicher. Gut, dass ich kein Autor bin, dachte ich und bestellte ein Bier.

Ist hier noch frei?, vernahm ich es zu meiner Rechten.

Ein Brillentyp mit Umhängetasche pflanzte sich auf den letzten freien Barhocker neben mir.

Was machst du?, fragte er mich nach nur wenigen Sekunden des Schweigens.

Ich bin in der Werbebranche, sagte ich, exte mein Bier und bestellte sofort ein neues.

Jörn Birkholz

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freiTEXT | Julian Drescher

Grüner Kasten

Sie kam das Treppenhaus mit schweren, stampfenden Schritten hochgelaufen. Auf halber Strecke blieb sie stehen.
»Hallo, Marie«, sagte sie.
»Hey«, sagte ich und hob die Hand.
Ich lehnte mit verschränkten Armen am Türrahmen. Sie schnaufte und trug einen grünen Metallkasten in der Rechten. Sie hatte große Mühe, ihn bis zu meiner Wohnung
hochzubekommen.
»Das ist er«, sagte sie und stellte mir den Kasten vor die Füße. Wir tauschten Blicke aus. Sie versuchte zu lächeln. Ihre Augen waren glasig und rot, ihre Haut fahl.
»Ist gut«, sagte ich und räusperte mich.
Ich sah auf den Kasten. Brauner Rost begann, ihn aufzufressen. Ich wollte noch etwas anderes sagen, aber ich tat es nicht.
»So, das war jetzt das letzte, was ich von ihm hab«, sagte sie.
»Hat er die anderen Sachen schon geholt?«
Ich nickte. Dann lehnte sie sich mit dem Rücken an die Wand und drehte ihren Kopf weg von mir. Ich überlegte, ob ich es ihr jetzt sagen sollte. Sie begann, tief ein- und auszuatmen. Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Früher war sie blond gewesen. Jetzt hatte sie braunes, kantig geschnittes Haar. Als sie ihren Kopf neigte und in die Hocke ging, da fielen sie ihr wie ein Vorhang vor ihre Augen. Die braunen, kantig geschnittenen Haare.

Sie war drei Jahre lang mit ihm zusammen gewesen. Sie waren dem anderen nie fremdgegangen. Sie lebten nicht zusammen, aber sie sahen sich nahezu täglich. Ich traf die beiden ein paar Mal die Woche. Ich kannte sie aus dem Lehrstuhl. Sie lachten viel, aber oft verdrehten sie die Augen, wenn sie über den anderen sprachen. Nachdem er ihr gesagt hatte, dass er sie nicht mehr liebe, wollte sie ihn nie wieder sehen. Deswegen brachte sie mir seine Sachen.
»'schuldigung«, sagte sie. Sie wischte sich über die Augen, dann sah sie wieder mich an. »Heute nervt mich alles. Es gibt so Tage, da nervt mich einfach alles.«
Ich nickte, kratzte mich am Nacken. Ich hatte in einer halben Stunde eine Verabredung. Wir wollten ins Kino gehen. Da lief so eine Komödie über Punks, über Punks in den Achtzigern.
»Kein Problem«, sagte ich.
»Okay«, sagte sie.
Sie lehnte noch an der Wand an. Sie atmete tief ein und aus. Ich stand im Türrahmen, mit verschränkten Armen. Ich dachte an den Film, an die Komödie. Das Licht im Treppenhaus erlosch. Ich drückte den Knopf. Als es wieder hell war, hockte sie noch immer da, an der Wand gelehnt, und starrte vor sich hin.
»Willst du noch kurz reinkommen?«, sagte ich. »Wir müssen
hier nicht so rumstehen, im Treppenhaus.«
Aber eigentlich dachte ich an die Komödie.
»Nein«, sagte sie, ohne mich anzusehen, »passt schon, danke.«
Dann: »Er hat mich angerufen, heute. Vorhin. Er hat gesagt, er möchte noch mal über alles reden. Über früher. Er hat gesagt, dass er so ein abschließendes Gespräch haben will. Dass da noch Sachen unbesprochen sind.«
Ich nickte. Das Licht ging wieder aus. Ich drückte auf den Knopf.
»Er ist ein Arschloch«, sagte sie.
»Ja,« sagte ich, »sowas geht echt gar nicht«, sagte ich.
Ich trug den Metallkasten in meine Wohnung. Dann kam ich wieder.
»Er ist ein Arschloch, dass er mich einfach so anruft.«
Ich nickte. Ich mochte es nicht, so im Türrahmen zu stehen.
Das Treppenhaus war kalt, die Luft klamm. Sie rieb sich die Augen, dann sah sie hoch zu mir und sagte: »Ich glaube, ich würde doch noch mal kurz mit reinkommen, wenn’s dir nichts ausmacht.«
Auf dem grünen Kasten war eine Bohrmaschine gezeichnet. Der Kasten stand auf meinem Küchentisch, er sah uns an.
»Wir haben damit einen Schrank gebaut«, sagte sie, dann nippte sie noch mal an ihrem Glas. »Den einen, der da bei mir in der Ecke steht. Du weißt schon, mit den CDs drin.«
Ich nickte. Sie sah den grünen Kasten kurz so an, wie sie ihn immer angesehen hatte. Aber dann war sie wieder wütend, wütend und traurig. Ich glaube, es gibt nichts schlimmeres, als wütend und gleichzeitig traurig zu sein.
»Er war einfach so vor meiner Tür gestanden. Er hat geklingelt, und ich hab aus dem Fenster geschaut. Und dann hat er hochgewinkt, und auf den grünen Kasten gedeutet. Er hat gegrinst und hochgeschrien, dass er eine Überraschung für mich hat. Das hat er gesagt, als er mit dem Ding da vor meiner Tür gestanden war.«
Sie sah den Kasten noch immer an. Ich dachte an die Komödie. Aber ich dachte auch daran, wie sie bei sich zuhause sitzt und den Kasten ansieht.
»Ich bin so froh, dass es vorbei ist«, sagte sie und zuckte mit den Schultern. »Es waren die schlimmsten Jahre meines Lebens. Er war so ein richtiges Arschloch.«
Ich goss ihr noch etwas ins Glas und sagte: »Aber ist ja jetzt vorbei.«
»Ja«, sagte sie, »ja. Aber er war so ein richtiges Arschloch, weißt du? So ein richtiges.«
Ihre Augen glitzerten wieder, und sie strich sich mit der Hand darüber. Wir schwiegen und tranken aus unseren Gläsern.
»Du solltest heute noch was machen«, sagte ich, »irgendwas, dass du nicht so alleine rumsitzt.«
Sie nickte.
»Hast du was vor?«, sagte ich.
Sie zuckte mit den Schultern.
»Du?«, fragte sie.
»Ich gehe dann ins Kino.«
Sie sah mich an.
»Ach, schön«, sagte sie.
»Ja«, sagte ich.
Sie sah mich noch immer an, und ich fragte mich, ob sie es sehen konnte, ob man es mir ansah. Ihr Handy klingelte. Sie nahm ab und sprach ein paar Sätze, dann legte sie wieder auf.
»Ach«, fing sie an, »ich mach in der letzten Zeit so richtig viel. ’ne Menge neuer Leute kennengelernt. Ist manchmal ganz schön anstrengend«, sagte sie, und dann lachten wir beide. Wir zündeten uns Zigaretten an. Sie lächelte und schüttelte dabei den Kopf.
»Ich bin voll über ihn weg«, sagte sie dann, »das kannst du ihm ruhig sagen, wenn du ihn mal wieder siehst. Dass ich voll über ihn weg bin.«
»Ja«, sagte ich, »ja, mache ich.«
Ich drückte meine Zigarette aus. Der Film fing in einer Viertelstunde an. Ich schaute zur Wanduhr, zweimal, dreimal, dann sagte sie: »Oh, musst du los? Ich will dich nicht aufhalten, wenn du los musst.«
»Ist schon okay«, sagte ich und machte eine wegwerfende Handbewegung, »ich hab noch Zeit.«
Als wir aufstanden, sah sie noch einmal auf den grünen Kasten. Ihre Augen waren rot und in dunkle Schatten gehüllt. Ihre Haut war weiß wie die Wände meiner Küche. Dann drehte sie sich um und ging.

Mein Auto hatte einen Platten, also nahm ich das Fahrrad. Vor der Tür umarmten und verabschiedeten wir uns. Ich fragte mich noch einmal, ob ich ihr es sagen sollte. Ich fuhr und winkte ihr. Sie ging die Straße entlang und winkte zurück. Der Mond war groß und weiß, er war voller Narben. Ich dachte an die Komödie. Aber dann dachte ich wieder an den Kasten. Ich konnte mir gut vorstellen, wie sie damit den Schrank gebaut hatten. Ich konnte mir gut vorstellen, wie sie zuhause vor dem Kasten kniete und heulte und schrie. Ich sah ihn, wie er jetzt bei mir stand, auf meinem Küchentisch, der Kasten. Ich fragte mich, ob sie es mir angesehen hatte, ob man Leuten allgemein so etwas ansehen kann.

Vor dem Kino begrüßten wir uns. Wir küssten uns lange und intensiv. Er trug eine braune Lederjacke und roch nach Rasierwasser.
»Wo warst’n du so lange?«, fragte er und lächelte, »der Film
fängt gleich an.«
»Mein Auto hat ’nen Platten«, sagte ich.
Er fuhr mir durch die Haare.

Julian Drescher

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