Alle Jahre wieder
Die Welt dreht sich vom aufzeichnenden Auge unbemerkt, wie die Felgen eines Sportwagens am Großbildfernseher. Je mehr Zeit man sich nimmt, um zu schauen, umso mehr fällt auf, dass sich nichts tut. Und doch ist irgendwann wieder ein Jahr vorbei und noch eines und die Lichterketten ranken sich an den Geschäften und Boutiquen empor wie die Rosen des Dornröschenschlosses seit Jahrhunderten Abend um Abend in den Gutenachtgeschichten der westlichen Kultur, nur dass dahinter nicht die unendliche Ruhe des (Winter)schlafs einkehrt, sondern ein alptraumhafter Mahlstrom an Geschäftigkeit.
Das hübsch anzusehende Überwuchern kann man auch in zeitgerafften Dokumentationen des Zerfallsprozesses beispielsweise eines Weihnachts-Apfels beobachten: Der Schimmel sprießt und zuckt tänzerisch mit seinen feinsten Härchen, manchmal springt etwas ganz unerwartet hervor und erweckt im Betrachter ein süßes Erschrecken und insgesamt sammelt sich alles zur samtenen Geborgenheit eines Pelzes, wie von einem kleinen wichen Tier, man möchte schon die Wärme eines pochenden Herzschlags darin vermuten, aber bald! – zeigt sich das verfaulte schwarze Fleisch im Inneren, dass immer mehr verkümmert und schließlich gottseidank verschwindet!
Auch in den Geschäften tummelt sich das überschäumende Leben: Die Augen der ausgezehrten, burnout-gefährdeten Beamten, Betriebswirte und Babysitter glänzen im Fieber der Selbstüberwindung – sie spüren weder Hitze noch Kälte, keinen Durst und nicht die schmerzenden Füße – alle Körperfunktionen fallen dem übermächtigen Treiben des Gehirns, dass nur noch seiner Fixierung auf ein Ziel folgt, zum Opfer: Weihnachten! Rauschende Feste, Gemütlichkeit, Beisammensein, Intimität, Besinnung – all dies muss durch größte Entäußerung und Disziplin vorbereitet werden! Es liegt in der Natur der Sache, dass die Erleichterung des Einbruchs nur auf die äußerste Belastung folgt:
Wenn man mit Schultern, die verspannt sind, wie die eines Langzeit-Gefängnisinsassen im höchsten Sicherheitstrakt, nach der Bescherung im Bett liegt und zum ersten Mal bemerkt, dass man Schmerzen hat und, wenn man dann den geliebten Partner bittet, den Schmerz durch zärtliches Betasten zu lindern und dieser murrend reklamiert, dass man überhaupt die ganze Zeit schon so angespannt sei und damit allen die Freude verderbe und, wenn man daraufhin in Tränen und Rotz ausbricht und all den Glühwein und die Gänsesuppe aus sich heraus weint, und wenn man dann den Partner aus den verbliebenen Leibeskräften anbrüllt und sieht, wie er aufrichtig erschrickt, wie in ihm das staunende Kind wieder zum Vorschein kommt, und man in sich einen Funken Zärtlichkeit diesem Kind, das er einmal gewesen sein muss, gegenüber aufkeimen spürt, dann, ja dann ist Weihnachten.
Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen.