freiTEXT | Markus Streichardt

Provisorium

K., der gerade ins Taxi gestiegen ist, sieht einen Mann auf sich zukommen und dann mit den Fingerknöcheln gegen die Autoscheibe klopfen. Er fragt ungläubig: „Ist er das?“, und noch ehe K. antworten kann, brüllt er lauter: „Ja, das ist er! Das ist er!“ K. starrt regungslos in das entsetzte Gesicht, starrt in zwei stecknadelgroße Pupillen und einen weit aufgerissenen Mund. Er zählt drei Plomben, ehe das Taxi losbraust.

K. dreht sich um und ist überrascht, wie viel Aufmerksamkeit der Zwischenfall verursacht hat. Passanten halten ihre Handys in seine Richtung, als würden sie Fotos machen, während der Mann, der ihn angeschrien hat, aufgeregt telefoniert.

Als das Taxi abbiegt, richtet K. den Blick wieder nach vorn und lässt sich tiefer in den Sitz fallen. Nimmt der Tag gar kein Ende?, fragt er sich genervt. Immer kommt mir was in die Quere. Erst die Flugverspätung und dann noch Schienenersatzverkehr am Bundesplatz. Zwei Busse für eine rappelvolle S-Bahn und das im Hochsommer, na geht’s noch?!? „Ja, aber ist gut für unser Geschäft“, antwortet der Taxifahrer, was K. irritiert. Habe ich laut gesprochen?

„Außer die Spinner steigen zu uns ins Taxi. Genau wegen denen hab‘ ich meine Schicht gewechselt. Nachts ist es nicht mehr auszuhalten in Berlin. Zu viele Verrückte“, flucht der Taxifahrer und fügt mit weicherer Stimme hinzu, „auch zu viel Elend.“ „Kommt das oft vor?“, fragt K. und erhofft sich Ablenkung. „Inzwischen jede Nacht. Früher is so ne Type mal am Wochenende aufjetaucht, hat nen bisschen Radau jemacht und war dann wieder wech. Kenn‘ mich da aus, weeß wovon ick rede. Bin Urberliner. Vor 56 Jahren hier jeeborn, aufjeewachsn und nie rausjehkommn, wie ick zusagen pflege.“ K. grinst und denkt, ich ja, ich bin rausgekommen und habe die weite Welt gesehen.

Wegen Sanierungsarbeiten verengt sich die Fahrbahn auf eine Spur. Der Verkehr stockt. Die Stille setzt K. zu. Er bittet, das Radio einzuschalten. Mit überdrehter Stimme kündigt der Moderator den nächsten Song an: A horse with no name von America. Die Musik erfüllt ihren Zweck und bildet ein angenehmes Hintergrundrauschen. Während K. im Viervierteltakt auf die Knie trommelt, beobachtet er, wie eine Walze langsam den aufgetragenen Asphalt der Fahrbahn verdichtet und zwei Bauerarbeiter mit Besen hinterher fegen. Mit diesem beruhigenden Bild vor Augen möchte er am liebsten einschlafen und den Tag vergessen.

Die Musik wird jäh unterbrochen: »Der aus der psychiatrischen Anstalt Entlaufende wurde zuletzt in einem Taxi auf der Bundesallee Richtung Friedrich-Wilhelm-Platz gesehen. Die flüchtige Person ist ca. 1,85m groß und schlank. Die Haare sind schwarz und kurz geschnitten. Er hat inzwischen seine Kleidung gewechselt. Er trägt ein dunkelblaues Jackett und eine schwarze Hose. Wie er sich aus dem gesicherten Bereich der Psychiatrie befreien konnte, ist weiterhin ungeklärt …«

K. weiß, er ist gemeint. Die aufkommende Panik versucht er mit rationalen Argumenten kleinzuhalten. Die Personenbeschreibung trifft auf jeden x-beliebigen Mann zu, denkt er angestrengt, der 1,85m groß ist, bei C&A einkaufen geht und Sport treibt. Vor anderthalb Stunden bin ich erst in Tegel gelandet. Das lässt sich leicht nachprüfen und - verdammt, ich sitze hier nur wegen diesem blöden Schienenersatzverkehr. Der Rollkoffer!, fällt ihm schlagartig ein, niemand flieht mit einem Rollkoffer! Die Vorstellung, wie er den Polizisten verschwitzte Hemden und seinen Kulturbeutel vorführt, belustigt ihn. Sein Grinsen erstarrt aber zur Grimasse, als sich sein Blick mit dem des Taxifahrers im Rückspiegel trifft. K. will die Sache klarstellen, aber dann glaubt er, eine Bewegung des Fahrers zum Handschuhfach auszumachen. Er brüllt „STOPP!“, reißt im nächsten Moment die Tür auf und springt hinaus. Dann läuft er in die entgegengesetzte Richtung davon.

Ich muss auf die Nebenstraßen ausweichen, überlegt K. verzweifelt, bevor mich der Mob fängt und massakriert. Er versucht langsamer zu laufen, aber sobald er mehr als zwei Personen auf sich zukommen sieht, macht er kehrt und zieht das Tempo an. Unterwegs wirft er sein Jackett achtlos fort.

Er flieht in die Kleingartenkolonie „Sonnenbad“, rennt die verschlungenen Pfade entlang, solange bis er sich hinter einer dichten Hecke wiederfindet. Er hört sich laut atmen und presst beide Hände auf seinen Mund.

Nach einigen Minuten steht K. vorsichtig auf, blickt sich um. Er ist auf einem verlassenen Grundstück. Der Rasen ist stellenweise verbrannt. Dahlien, Nesseln, Zinnien und Sonnenhüte säumen den Weg zum Bungalow - ein in L-Form gehaltener Flachbau mit Holzverkleidung und überdachter Steinterrasse. Im Hintergrund stehen zwei Apfelbäume, groß und mächtig, deren Äste die Außenfassade der Gartenlaube streifen. Ein verwunschener Ort, denkt K., bis ihm der Geruch von Grillfleisch und Brennspiritus in die Nase steigt und ihn an die Wirklichkeit erinnert.

Er geht zum Bungalow und rüttelt an der Tür. Verschlossen. Unter der Gartenbank entdeckt er neben Wassereimern und angerosteten Gießkannen einen halbvollen Bierkasten. Die Flaschen sind alle leicht staubig. K. pfeift. Irgendwo findet sich bestimmt ein Zweitschlüssel, denkt er, und ich komme rein.

K. füllt einen Eimer mit kaltem Wasser und legt einige Bierflaschen hinein. Dann schlendert er durch den Garten, inspiziert die Gemüsebeete und macht aus einer Laune heraus den Rasensprenger an. Gebannt verfolgt er, wie die Düsen um ihre eigene Achse rotieren und Sprühwasser im hohen Bogen ausstoßen. Das rhythmische Klicken der Automatik vermischt sich mit Kindergeschrei in der Ferne.

Dann zieht er seine Kleidung aus. Ganz selbstverständlich erst Schuhe und Socken, dann Hose und Hemd.

Während K. im selbst geschaffenen Sommerregen steht, wird ihm klar, dass die Geschehnisse, die zu seiner Verwechslung geführt haben, problemlos rekonstruiert werden können. Ich weiß, wer ich bin, denkt er und die Anderen werden es auch.

Trotzdem stellt er sich vor, wie es wäre, sich hier eine Zeit lang zu verstecken. Ich würde die reifen Tomaten und Auberginen vom Schneckenbefall befreien und ernten. Ich würde mir den Bungalow gemütlich einrichten und jeden Abend ein Lagerfeuer machen. Ja, das würde ich. Vielleicht wäre es nur ein Leben im Provisorium, denkt er, aber dieses Leben täte mir zur Abwechslung gut.

Auf diese Aussicht gönnt sich K. das erste gekühlte Bier.

Markus Streichardt

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17 | Martin Peichl

Beim Wuzzeln sind wir dann eine Familie

Heimat ist dort, wo der Dialekt nah und frisch klingt, wo sich die Wörter wie Toastkäse auf deine Zunge legen, wo Gulasch ein Ersatz ist für Liebe, aber Liebe kein Ersatz für Gulasch.

Wo man dir mit LEGO beigebracht hat, wie leicht man Menschen zerlegen kann und sie trotzdem weiterlächeln. Dieses unheimliche Weiterlächeln der LEGO-Figuren, egal wohin man ihre Köpfe steckt!

Zerfranste Erinnerungen an gemeinsam Spieleabende. Die wichtige Regel: Uno und DKT gewinnt man, indem man nicht mitspielt.

Heimat ist dort, wo man am 25. Dezember die feine Balance finden muss zwischen den Vanillekipferln und Mini-Schaumrollen der Tante und den Bierflaschen, die dir dein Cousin hinstellt. Beim Wuzzeln sind wir dann eine Familie. Da werden sogar Eigentore verziehen.

Martin Peichl

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16 | Iseult Grandjean

Bericht aus Babylon

Tag vierhunderteinunddreißig

Es ist so windig hier, dass ich manchmal das Gefühl habe, mir werden die Gedanken aus dem Gehirn gerissen. Dagegen kann man nichts tun, man kann sie ja nicht festhalten, so wie man Strafen nur abzahlen und Sehnsucht nicht ausbremsen kann, und deshalb warte ich dann. Ich warte und schlafe, ich mache ein paar Kniebeugen, um nicht den Kopf zu verlieren, und putze mein Gewehr. An windstillen Tagen laufe ich mit dem Gewehr im Arm durch die trockene Landschaft und streichle meine Waffe wie die Schultern einer alten Affäre. Am Anfang habe ich mich noch gewundert, wieso ich überhaupt ein Gewehr habe – aber dann habe ich getan, was jedem Menschen ein laufendes Leben gewährt und mich einfach daran gewöhnt. Das kalte Silber des Laufes fühlt sich an wie ein Fisch, der durch meine Finger gleitet; oder als schwömmen sie selbst, durch einen See aus flüssigem Metall. Was ist schon ein Ozean – und was eine machtlose Metapher? Inzwischen stelle ich keine Fragen mehr: Ich bin ein Soldat. Und ich berichte von der Front.  Als ich meinen Job hier angefangen habe, hat mir keiner erklärt, worin meine Arbeit eigentlich besteht. Aufpassen sollte ich, dass nichts aus den Fugen gerät und „den Laden sauber halten“. Ich wusste nicht genau, was damit gemeint war, und deshalb reinige ich jetzt jeden Tag mein Gewehr, obwohl ich es in den vierhunderteinunddreißig Tagen meiner Amtszeit noch nie gebraucht habe. Ich arbeite allein; das macht die Tage oft lang, aber anscheinend ist es unerlässlich, dass ich keinen Partner an meiner Seite habe und mir niemand reinredet. Manchmal bin ich mir unsicher, ob sie überhaupt wissen, dass ich keine blasse Ahnung habe, was ich überhaupt sagen und in was mir dementsprechend reingeredet werden könnte, und dass ich den Großteil meiner Zeit damit verbringe, mit meinem Gewehr im Arm auf und ab zu laufen und auf die feine Linie zu starren, die einem Horizont gleicht, aber wahrscheinlich eher so etwas ist wie die Oberleitung einer weit entfernten Bahnstation.  Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der nicht dieser Krieg herrschte. Ich kenne die Welt nur so: der Horizont verleimt von Bahnhöfen, Plakaten, Schildern, bitte aussteigen, bitte trinken, bitte kaufen, bitte konsumieren, aber bitte – kein Müll. Abfall gilt hier als Teufel im System eines falschen Minimalismus (gegründet auf Exzess und seiner Überforderung), denn Plastik und Öl verstopfen heimlich Waldärme und verkleben die Wirtschaft. Als wäre alles nur eine Frage des Stoffs. Doch der eigentliche Unrat, der wirkliche Feind, ist unmöglich zu treffen, denn er ist überall, er liegt in der Luft, hängt in Gardinen und klebt an Wänden, klettert in Ritzen und wächst auf den Bäumen. Er verbreitet sich durch die Zeitung und das Fernsehen, gebiert auf Kaffeetischen und in Krankenhäusern, befruchtet Ehebetten. Wahlplakate, Slogans, Parolen, Hashtags, Nachrichten, Informationen, Fake News; Worte zum Erklären, zum Überzeugen, zum Verführen. Es wirbt um jeden, bietet sich allen an und dient doch keinem außer sich selbst. Es ist Schaf und Wolf in Einem, Bauer und König, Hure und Diktator. Ich kann mich nicht erinnern: an eine Zeit vor der Diktatur des Wortes. Es kommt Gott so nah wie niemand zuvor, fast kann es seinen strengen Atem riechen. Und vielleicht wird es eines Tages sogar sein Mörder.

Tag vierhunderteinunddreißig, später

Deshalb sitze ich jetzt hier also im Wind, seit vierhunderteinunddreißig Tagen, und kratze mich am Arm. Vom dauernden Kontakt mit dem Metall des Gewehres hat er sich an der Ellenbogenbeuge innen entzündet. Ich beobachte die schuppig nässende Haut der Wunde wie ein Wissenschaftler oder ein Archäologe, mit wachsendem Interesse und gleichzeitig zärtlicher Gleichgültigkeit. Seit Wochen habe ich keine Nachricht mehr aus der Zentrale bekommen, keine Anweisung, kein Wort, aber dafür umso mehr Zeit zum Nachdenken; die Stille ist ungewöhnlich, seit der Informationsfluss versiegte. Außer dem verdammten Zug, der durch diese Einöde jagt, der durch keine Bäume und keine Häuserwände aufgehalten wird und dem sich nichts entgegenstellt, ist der Raum, in dem ich arbeite, leer. Und so langsam bekomme ich das Gefühl, dass das auch genau so gewollt ist. Von oben. Wer ist dort oben? Eigentlich gibt es keine Obrigkeiten mehr, das war ja einst die züngelnde Verlockung: Demokratie durch das Wort. Kollektive Wahrheitsfindung und jeder darf mitreden, Silben als Währung, jeder kann sich bedienen, ist genug für alle da. Aber allmählich entwickelte sich aus dieser kommunistischen Utopie ein Kapitalismus der Rhetoriker, der Texter und Wortgewandten, der Lauten, und man versteht sich nicht mehr. Jetzt werfen wir uns die Sätze hin wie vergammeltes Fleisch und graben in den Ruinen von Babylon nach einer Wahrheit, die es so nie gegeben hat. Das Wort hat sich verselbstständigt, ist übermächtig geworden; inflationär. Es hat auf dem Weg zum Monopol all seine Macht verloren: Babel hat sich selbst zerstreut.

Tag vierhundertzweiunddreißig

Heute habe ich zum ersten Mal mein Gewehr fallen lassen. Ich hatte beschlossen, mein Gebiet näher zu untersuchen. Irgendwelche Ergebnisse müsste ich doch nach Hause bringen, dachte ich panisch beim Aufstehen. Ein paar Daten, eine Handvoll aussagekräftige Erde, zumindest einen Bericht, ein Körnchen Wahrheit? Es kommt mir seltsam genug vor, Soldat zu sein, direkt an der Front, und nie auf den Feind zu treffen. Nur Himmel und Erde strukturieren mein Feld, getrennt durch diese eine feine Linie, die immer den Anschein macht, als wäre es möglich, sie zu überschreiten. Außer dem Wind, der manchmal leise pfeift und mir sonst geräuschlos über den Körper fährt, höre ich nichts. Die Stille ist ohrenbetäubend.  Ja, der große Knall, als meine Waffe auf die frostharte Erde stieß, war vielleicht das erste Geräusch seit Beginn meiner Dienstzeit. Als ich mich bückte, um es aufzuheben, fiel mir auf, dass der Boden unter mir von feinen Rissen durchzogen wurde, Linien, die mich an die Aufzeichnungen eines Seismographen oder eines EKG erinnerten. Erst dann wurde mir klar, wie symptomatisch diese Vergleiche für unseren Zustand sind, die wir am Wort kranken: Wie wir uns mit der Zeit angewöhnt haben, Ausdruck auf Ausdruck zu schichten und zu stapeln, Metaphern übereinander zu ziehen wie Kleidung an einem kalten Wintertag, als hätten wir Angst, ohne die schützende Speckschicht der Worte plötzlich allein im Wind zu stehen, zitternd und nackt. Ich sah mich um: Mich fror tatsächlich.

Tag vierhundertdreiunddreißig

Meine Felduntersuchung konnte also letzten Endes ziemlich schnell – und zugegeben recht stümperhaft – durchgeführt werden, und das lag nicht nur daran, dass mir immer kälter wurde und der silbrige Frost der Flinte meine Finger steif werden ließ, mein Blick wanderte von einem unbestimmten Punkt bis zum nächst denkbaren, irgendwo im Hintergrund meinte ich den Grundriss eines Baumes zu erkennen, ich notierte: Der Raum ist leer. Jetzt, wo ich es zum ersten Mal ausgesprochen habe, wird mir erst das Ausmaß dieses sprachlichen Hohlraums bewusst; überall lockte mich sonst immer etwas mit krummen Fingern, mal war es ein Schriftzug, mal eine Rede, manchmal auch nur ein einziger Satz, der ein Parteiprogramm oder das Patent einer Liebesfähigkeit beschwor, im Grunde ist jedes Wort, auch das private, nur noch Werbung, Reklame für die eigene Wahrheit in der Wahlurne eines anderen. Wir halten uns an Worten nicht mehr fest – wir hängen uns an ihnen auf. Davon ist in diesem Raum nichts mehr, nichts verhindert, dass sich mein Blick nach innen richtet. Ich blicke auf mein Gewehr, unbenutzt seit vierhunderteinunddreißig Tagen. Die kleine Öffnung im Lauf starrt schweigend zurück. Bin ich, in der Uniform eines Soldaten, endlich frei? Doch Freiheit, das merke ich ziemlich schnell, ist verunsichernd. Wir haben lieber falsche Wahrheiten als Ungenauigkeiten, lieber Fake News als sokratische Apologie. Diesen Krieg haben wir also selbst verschuldet, das Wort war immer nur Beihelfer: Es versucht Gefühle in Gedanken zu übersetzen, zwängt Vages in Gewissheiten, ja, es arbeitet ohne Skrupel – aber wir haben die Fäden in der Hand. Haben wir den Laut erst domestiziert, und dann vergewaltigt? So zogen wir damals der Musik den Strick der Sprache um die Kehle und seitdem verstopfen wir uns mit hohlen Phrasen den Hals. Man drückt den Menschen ein Instrument in die Hand, und für einen kurzen Moment fühlen sie sich frei; dann gehören sie ihrer Waffe. Ich stelle mir vor, dass die Welt vor dem Wort ähnlich dalag wie mein Gebiet: Weit und schweigsam, wie eine offene Wunde.

Tag vierhundertfünfunddreißig

Stattdessen dieser Krieg, und wir mittendrin. Sie holen mich jetzt zurück, gestern habe ich es erfahren. Anscheinend ist mein Job hier erledigt. Ich bin inzwischen überzeugt: Das war kein richtiger Einsatz. Vierhundertfünfunddreißig Tage und kein einziges Mal habe ich meine Waffe benutzt. Und doch war ich Soldat, direkt an der Front: Ich arbeitete als Späher und Steuer in der Stirn, stationiert am vorderen Ende der linken Großhirnhemisphäre eines so hungrigen wie maßlos übersättigten, eines freien und dabei unendlich verlorenen, kurz eines ganz gewöhnlichen Menschen. Ich sollte die Wahrheit ausmessen und in einem detaillierten Frontbericht aufschreiben. Was wollt ihr jetzt von mir hören? Ich habe nicht viel herausgefunden, außer dass man ein Gewehr am besten mit Öl und etwas lauwarmen Wasser wäscht und dass es keine Wahrheit gibt, sondern nur unendlich viele Übersetzungen davon. Ich notiere einen letzten Satz in mein Notizbuch: Sprache ist ein Schlachtfeld. Dann setze ich mich hin und warte.  Bald kommen sie mich holen. Es weht wieder wie am ersten Tag, mein Ausschlag ist noch nicht ganz verheilt und brennt im Wind. Ich atme in den Schmerz und vergesse mein Gewehr. Der Krieg wird wahrscheinlich weitergeführt, jedes Haupt an seiner eigenen Front, aber ich will dieses semantische Fressen nicht mehr, ich habe es satt und einen Beschluss gefasst, es ist ein Versprechen – und ich werde es halten: Das ist mein letztes Wort.

Iseult Grandjean

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14 | Nils Langhans

Il Postino

Es war ungefähr 20 Uhr, ich aß eine in Küchenrolle gewickelte Salsiccia, einige grobe Fettstücke verfingen sich zwischen meinen Backenzähnen, es roch eigentümlicherweise nach Marzipan, und einen halben Meter neben mir starb eine Taube. Sie kauerte, ein Flügel stand schräg aus ihrem Gefieder heraus, gebrochen, ihr Kopf kreiste, kreiste immer langsamer. Es war windstill. Ich stieß auf. Unter ihrem Körper breiteten sich jetzt einige Tropfen Blut aus, kaum eine Lache, höchstens ein größerer Fleck, den spätestens der nächste Regen hinwegwaschen würde. Noch immer roch es nach Marzipan. Die Taube atmete schwer, Versuch eines Aufbäumens, doch keinen Zentimeter wollte die Schwerkraft weichen, der Körper längst zu schwach. Ich blieb bei ihr, biss in die Salsiccia, kaute und versuchte mit meiner Zunge, das Fett aus den Zahnzwischenräumen zu entfernen. Die Taube gurrte, ich warf ihr das letzte Stück Wurst vor die Füße, keine Regung, noch zwei Atemzüge, und es war geschehen. Sie fiel geräuschlos in sich zusammen. Ich zündete eine Zigarette an und schaute auf das Meer, die See war ruhig, sie schimmerte preußenblau, kein Marzipan mehr in der Luft, stattdessen Kindergeschrei in der Ferne, ich blickte hinab und zu meinen Füßen setzen sich die ersten Fliegen auf die glasigen Augen der Taube.

Später am Abend saß ich in Annas und Viviannas Wohnung, kostete einige Schokoladenplätzchen und trank ein Peroni aus der Flasche. Viviannas Großeltern, die inzwischen zu uns gestoßen waren, empfahlen mir, Il Postino anzuschauen, den berühmten Film. Ich nickte. Vivianna war in etwa so alt wie ich, doch uns unterschied, dass sie schiefe Zähne hatte und ihr Zahnfleisch so künstlich, so gedunsen aussah, so als trüge sie eine Vollprothese, hellrosa, wie ein Babyschwein. Einmal sei sie in Miami gewesen, weil sie ein 6-Monats-Arbeitsvisum gewonnen hatte. Da habe sie in einem Geschäft Sonnenbrillen verkauft und Englisch gelernt. In Miami sei alles so groß gewesen, und erst recht in New York. Ich kaute und Vivianna bot mir weitere Kekse an. Ihre Mutter lugte unter ihrer Brille zu mir herüber, im Fernsehen lief ein Fußballspiel, die Großeltern saßen auf einem Sofa, starrten in den Fernseher und hielten einander die Hand, und ich dachte wie schön es wäre für immer hierzubleiben, Vivianna zu heiraten, zur Marine zu gehen, eines Tages würde ich ihr von meinem Lohn eine Zahnkorrektur spendieren, und in 50 Jahren würde ich auf Procida sterben und das Letzte, was ich hören würde, wäre die Kirchglocke schräg gegenüber, während ich in meinem Schaukelstuhl mit einem Glas Limoncello in der Hand einschlafe.  Plötzlich sagte Vivianna, dass es morgen regnen solle. Kurz darauf verabschiedete ich mich.

Auf dem Balkon lockerte ich den Tabak in einer der starken American-Spirit-Filterzigaretten. Dem Tabakfachgeschäft waren die Lights ausgegangen, sodass ich unweigerlich die stärkeren American Spirit kaufen musste, deren hellblaue Kartonage mir jedoch ausgezeichnet gefiel. Die Kirchglocke läutete ein paar Mal. Nach dem sechsten Gong hörte ich auf mitzuzählen. Ein einzelner Wassertropfen fiel auf meine rechte Schulter. Morgen würde es regnen.  Später ging ich noch einmal auf den Balkon, lockerte noch einmal den Tabak einer American-Spirit-Filterzigarette und entzündete ihn. Wieder läutete die Kirchglocke. Diesmal fing ich erst gar nicht an mitzuzählen. Ein weiterer Wassertropfen fiel auf meine Schulter. Es war so langweilig, dass es schon fast wieder langweilig war. In der Nacht versuchte ich Il Postino, den berühmten Film, auf einer Streamingseite anzuschauen, doch die Internetverbindung war außerordentlich schlecht. Ich schlief zu dem Standbild der Titelsequenz ein und träumte von frittiertem Brokkoli. Am nächsten Morgen fühlte ich mich äußerst ausgeschlafen.

„Als ich in deinem Alter war, Anfang der Achtziger war das, da bin ich einmal nach Stockholm geflogen, weil ich so verrückt nach Peter Weiss war“, erklärte mir der ältere Herr, der das Nachbarappartement bewohnte, während ich zum Frühstück ein Glas Orangensaft auf dem Balkon trank. Er verständigte sich in jenem Sprachgewirr aus Italienisch und Englisch, das entstand, wenn man einen Neapolitaner für ein halbes Leben in die klinische Sterilität Londons verpflanzte. Ich betrachtete seine fleischige Nase, die porige Haut, auf der die roten geplatzten Äderchen wie Wegmarken einer geheimnisvollen Schatzkarte erschienen, und er sagte, dass es damals ja noch kein Internet gegeben habe, damals, als er Peter Weiss in Stockholm gesucht hat.

„Aber ich wusste, dass er da wohnt. Das hatte ich rausgefunden. Und dann bin ich nach Stockholm geflogen und habe ihn fünf Tage lang gesucht. Fünf Tage, weißt du, fünf verdammte Tage. Peter Weiss war damals mein Gott, ich habe alles gelesen, wirklich alles, am besten war Marat/Sade, und ich wollte ihn unbedingt treffen. Fünf Tage habe ich ihn gesucht, fünf Tage, aber ich habe ihn einfach nicht gefunden.“ Sein weißes, kurzgeschorenes Haar gab ihm die Aura eines alternden Schneelöwen, der nach Ewigkeiten im Exil zum Lebensabend wieder in gewohntem Lande unter seinesgleichen ist, und ich hatte das Bedürfnis ihm mit meiner Hand über seine roten Wangen zu streichen und ihm ins Ohr zu flüstern, dass ich verstünde, dass es wohl eine Zeit gegeben hat, in der das Leben gut zu ihm war. Er pellte eine Orange und sagte mit vollem Mund, dass Warten auf Godot inzwischen sein Lieblingsstück sei. Seine Tochter rief aus dem Appartement in schaurigem Oxford-Englisch „Daaaaad?“, er häutete ungerührt eine zweite Orange, steckte sich ein Stück in den Mund und reagierte nicht, bis sie schließlich nach zwei weiteren Daaaaads herauskam und ihn nach der Sonnenmilch fragte. Er schob das Weiße der Orangen zu einem Haufen zusammen, sagte zusammenhangslos „Ach, Peter Weiss“, seufzte dann, seine Tochter kullerte mit den Augen und nasalierte „He’s always doing that“ in meine Richtung, bevor sie über die Balkontür wieder ins Appartement verschwand.

Es regnete den ganzen Tag über nicht. Nach dem Mittagessen ging ich zum Strand. Auf der Straße hinab zur Bucht spielten zwei Jungen mit Wasserpistolen. Dem Kleineren der beiden fehlte ein Schneidezahn.  Im Strandcafé bestellte ich Espresso und hörte dem Kellner zu, der mir erklärte, dass genau hier Il Postino, der berühmte Film, gedreht worden sei, und dass es später regnen solle. Anschließend schlief ich für eine Stunde in der Sonne.

Unweit des Strands – ich war bereits auf dem Rückweg – hingen an einer Mauer einige Käfige mit Wellensittichen, daneben ein Preisschild: 35 Euro. Ich betrachtete die Vögel und hörte ihrem leisen Piepsen zu. Eine junge Frau kam aus dem Geschäft gegenüber und erkundigte sich, ob ich einen der Wellensittiche kaufen wolle. Ich nickte. Sie öffnete den mir nächsten Käfig, nahm meine Hand und bedeutete mir, den Vogel zu berühren. Ich zog die Hand zurück und raunte ihr ein strenges „No!“ entgegen. Sie zuckte mit den Schultern und fragte, ob ich zusätzlich noch einen Käfig benötige. Ich verneinte, sie verschwand wieder in das Geschäft auf der gegenüberliegenden Seite, eilte dann mit einem ReebokSchuhkarton in der Hand zurück, öffnete den Käfig, lockte den Wellensittich mit einem Brotkrumen in den Karton, verschloss ihn und drückte ihn mir in die Hand. Ich bezahlte 35 Euro. Die anderen Vögel piepsten jetzt etwas lauter. Ich bog mit dem Karton in eine Seitengasse ein, der Vogel klopfte gegen die Pappe, ich streichelte über das leicht exponierte ReebokEmblem an der Oberseite der Schachtel, öffnete den Deckel und ließ den Wellensittich wegfliegen. Den Karton schmiss ich auf die Straße.

Gegen Nachmittag saß ich wieder auf dem Balkon. Ich trug ein Leinenhemd von Valentino, die Sonne brannte auf meinen Unterarmen und Vivianna reichte mir ein gefrorenes Glas mit selbstgemachtem Lakritzlikör, der kotbraun schimmerte. Ich probierte einen Schluck, Vivianna lächelte, ging zurück in ihr Appartement und ich goss den restlichen Likör in einen Blumenkasten. Er versickerte äußerst langsam in der ausgetrockneten Erde.  Die Rollläden des Nachbarappartements waren verschlossen. Auf dem Balkontisch lag noch immer der kleine Haufen mit dem Weißen der beiden Orangen. Ich ging in mein Appartement, legte mich bäuchlings auf mein Bett und schlief kurze Zeit später ein. Etwa zwei Stunden später wachte ich von den bittersüßen Lakritzablagerungen in meinem Zahnfleisch auf. Im Nebenzimmer lief SOS von ABBA und draußen vor der Tür schlug jemand mit einem Hammer monoton gegen eine Wand. Ich ging ins Bad und suchte in meiner Kosmetiktasche nach einer Tablette, nach irgendeiner Tablette.

Im Hafen von Marina Corricella las ich die Speisekarte eines Restaurants, das Il Postino sul Mare hieß, und der herbeieilende Kellner sagte zunächst, dass das Restaurant wegen des Films so heiße. Il Postino, der berühmte Film. Anschließend fragte er mich, ob ich etwas essen möchte. Ich nickte. Auf seinem T-Shirt stand Fashionman und ich bestellte Gnocchi alla Sorrentina.  Am Nebentisch aß ein Ehepaar schweigend ein Dessert. Die Frau trug ihre Haare mit einer großen Haarklammer zusammengekniffen, vermutlich, um ihren Spliss zu kaschieren, und ihrem Mann fiel das dünne Haar über die Stirn hinweg aus. Ein buschiger Schnauzbart thronte als letzte Bastion einstigen Testosterons über seiner wurstigen Lippe. Er trug ein Trikot des 1.FC Nürnberg.  Der Kellner mit dem Fashionman-T-Shirt verabschiedete sie kurz darauf mit Handschlag, blickte der Frau ganz tief durch ihre randlosen, nicht entspiegelten Brillengläser in die milchigen Augen und hauchte ihr ein „Signora, Grazie Mille“ entgegen. Sie lächelte unbeholfen, hakte sich bei ihrem Mann unter, er legte seine Hand auf ihren Po und sie entschwanden in eine Nacht, in der sie den deutschen Traum von Italien träumten. Sie und alle anderen glaubten die Geschichte der grün-weiß-roten Flaggen, des sonoren Singsangs, des überkandidelten Charmes, die Geschichte von Ferrari, Pizza und Pasta, sie glaubten so gerne, dass alles eins war, was blieb ihnen auch anderes übrig als zu glauben, zu glauben an die Illusion Italien, an den Kunststaat, der nie ein Staat sein wollte, an das Schelmenstück Garibaldis. Insbesondere in den Wintermonaten tröstete es die Deutschen, dass es Italien gab, und spät am Abend nach getaner Arbeit wälzten die Mitvierziger die Alltourskataloge, stießen mit einem Glas Chianti, den der Vater für 3,99 EUR bei den italienischen Wochen eines großen Discounters erstanden hatte, auf den anstehenden Sommerurlaub in der Toskana an, und später hatten sie noch drei oder vier Minuten Sex in der Missionarsstellung, das erste Mal seit drei Wochen. Danach glitten sie unter der Last ihrer zerborstenen Existenz in den Schlaf und träumten den deutschen Traum von Italien.

Inzwischen hatte es angefangen zu regnen. In der Ferne blitzte es und der Donner hallte einige Sekunden später über den Fischerhafen von Marina Corricella. Vivianna hatte Recht behalten. Das Wasser platschte vom Rand des Sonnenschirms in zapfengroßen Tropfen auf die weiße Tischdecke, schwemmte sie auf und der nasse Baumwollstoff glich einem adipösen Damenbauch, so wie er kleine, geschwulstartige Falten warf. Die Gäste rannten unter das Vordach, die Kellner sammelten eilig das Geschirr ein und zurrten die im Wind wankenden Schirme fest. Es blitzte taghell. Ich blieb sitzen und starrte in den Regen, der auf die Fischerboote prasselte. Die Lampe unter dem Sonnenschirm wog sich quietschend im Gewitterwind und ich trank einen Schluck Aperol Spritz, der inzwischen wässrig schmeckte. Ein Junge stellte sich in einem Verschlag rechts des Restaurants unter. Er hatte blaue Augen, daran erinnere ich mich genau.  Schließlich ging ich in das Restaurant und ließ mir ein Tiramisu bringen. Es war kreisrund, mit Kakaopulver bestreut und leicht rechts der Mitte auf einem viereckigen Teller platziert. Es schmeckte unaufdringlich. An der Wand gegenüber hingen gedruckte Filmausschnitte von Il Postino in sargbraunen Rahmen. Il Postino, der berühmte Film.

In der Nacht stand ich draußen auf dem Balkon und rauchte. Die Kirchglocke läutete zwei Mal. Neben meinem Aschenbecher kopulierten zwei Nacktschnecken, die der Regen angelockt hatte. Die Wolken zogen in kleinen Häppchen am Mond vorbei und es sah aus als würden sie mir eine Fratze schneiden.

Nils Langhans

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11 | Verena Ullmann

FortuneTeller

Du glaubst nicht an Zufälle, du glaubst an das Schicksal. Er findet das lächerlich. Noch nicht einmal sein Horoskop darfst du ihm vorlesen. Natürlich bist du nicht so naiv, das alles wörtlich zu nehmen. Sonst hättest du, die Jungfrau, ihn, den Fisch gleich wieder abgewimmelt. Das wäre schade gewesen, denn inzwischen habt ihr es euch so schön eingerichtet in eurem Aquarium.
Klug wie du bist, liest du das Horoskop vielmehr wie einen Wetterbericht. Da die Wolken nun mal ihre Launen haben, geht es vor allem darum, draußen die Augen offen zu halten.

Heute schenkt dir der Chinese mit der Rechnung einen Glückskeks. Nicht rein zufällig, nein. Wie du an seinem Lächeln siehst und an dem kleinen Zwinkern des Schicksals in seinen Augen, ist dieser nur für dich bestimmt und verspricht dir – schwarz auf weiß – Reichtum.

Erst fragst du dich, ob du gleich beim Kiosk vorne einen Lottoschein ausfüllen sollst. Aber das wäre zu einfach und leichtsinnig unverschämt dieser rätselhaften Macht gegenüber. Als du aus dem Restaurant spazierst, verdunkelt sich plötzlich der Himmel und vertreibt die Freude aus deinem Gesicht. Was wenn du erbst? Wenn jemand stirbt? Oma? Dein Vater? Du wirfst den Streifen Papier mit deinen negativen Gedanken in den nächsten Mülleimer, bevor das Schicksal sie bemerkt.

An der Ecke vor der Bushaltestelle zieht schließlich etwas deinen Blick auf sich. Ein Pappkarton. Er ist schon aufgeweicht, der Krempel darin lieblos durchgewühlt und laut Zettel „zu verschenken“. Unter dem Plüschhund und dem Kabel eines wohl nicht mehr funktionstüchtigen Geräts schimmern Blümchen hervor. Sie tanzen im Kreis und spielen mit den Flocken, die gerade wieder anfangen vom Himmel zu fallen. Deine Augen hängen an den Goldrändern, aber du weißt, der Bus kommt gleich und außerdem beginnt der Schnee zu nerven. Du willst den Strauß pflücken und merkst dabei: darunter sind noch mehr davon, ein ganzer Stapel Kostbarkeiten! Darum ein Gummiband gewickelt, lächerlich instabil. Also gräbst du sie mitsamt den Wurzeln aus, um sie nicht zu trennen. Auf der Busfahrt scheppern sie ein leises „Danke“ und du erkennst, wie wunderschön sie sind.

Zuhause fragst du dich, wohin damit? Das Regal in der Küche ist voll mit Schlichtheit in Scheiben. Und dein Fisch wird dich sowieso fragen, was du da wieder für einen Kitsch angeschleppt hast. Also pflanzt du sie erst einmal auf den Esstisch, dort wo die Sonne Platz nimmt, wenn sie denn heute noch vorbeischaut, und fragst dich, was sie wohl wert sind. Auf der Unterseite des Tellerstapels steht in feiner Schrift „Versailles“ und innerlich triumphierst du schon, als wärst du rechtmäßige Erbin von Marie-Antoinettes Kuchenservice, so unwahrscheinlich dies auch sein mag.

Es hat aufgehört zu regnen und du trägst deinen neuen Schatz, bevor dein Fisch nach Hause kommt, zum Antiquar auf der anderen Straßenseite. Du hast dir extra fusselfreie Handschuhe angezogen und deine Hände darin zittern so vor Aufregung, dass du Angst hast, all die Blumenpracht auf den vier Metern Straße zu zerschmettern. Du setzt sie auf der Theke ab. Der
alte Mann mit der Brille macht nur leider all deine Vorsicht sofort zunichte: er grabscht sich das oberste Exemplar, lässt Licht darauf prallen und kratzt mit seinem Fingernagel sogar an der Oberfläche der Blütenblätter. Für die geheimnisvolle Inschrift hat er nur ein Stirnrunzeln übrig, dem ein abschätziges Lächeln folgt. Dann verschwindet er wortlos in den Nebenraum. Mit so einer Unverschämtheit hast du an deinem Glückstag nicht gerechnet. Deine Aufregung schlägt in Wut um und du bist kurz davor zu gehen, bevor du überhaupt seine Meinung gehört hast. Allein wie inkompetent er sie begutachtet hat! Wie soll er so ihren wahren Wert erkennen?

Da erblickst du, zwischen Theke und Tür, ein Glitzern. Die Sonne ist zurück und spielt auf der Klinge eines Dolches, der in einer offenen Schatulle ruht, als wolle sie dir ein Zeichen geben. Als der Mann zurückkommt, hast du den verzierten Griff schon fest in deiner rechten Hand hinter deinem Rücken. Wie erwartet erklärt er, dass er dir für den wertlosen Krempel kein Geld geben kann. Da musst du ihm natürlich widersprechen. Mit der Spitze des Dolches kratzt du an seiner Kehle und er legt dir, mit einer Behutsamkeit, die du ihm nicht zugetraut hast, den Kasseninhalt auf die Theke. Etwas über Zweihundert Euro sind es nur.

Unter Reichtum hast du dir etwas anderes vorgestellt, aber für Diskussionen bleibt keine Zeit und leider hast du keine Tasche bei dir, um weitere Kostbarkeiten einzupacken. Also greifst du das Geld mit deinen Handschuhen, lässt den Dolch fallen, die Teller stehen, rennst nach draußen und traust dich erst wieder in dein Aquarium zurück, als es erneut zu schneien beginnt. Dass zwischen dem dritten und dem vierten Teller, dem vierten und dem fünften, sowie dem fünften und dem sechsten weitere Geldscheine eingeklemmt waren, insgesamt weitaus mehr als zweihundert Euro, das wirst du erst von den Polizeibeamten erfahren, die – zusammen mit deinem zappeligen Fisch – schon am Esstisch auf dich warten.

Verena Ullmann

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07 | Sebastian Sauer

Killer.

6 Uhr. Busfahrt durch die Eifel. Das klingt so friedlich. Wir haben die Gewehre auf der Schulterstütze zwischen die Beine gestellt. Ein Kamerad sinkt fast mit der Stirn auf die Mündung, schreckt kurz auf, lehnt sich ans Fenster, pennt dort ein. Der Bus, eine surreale Blechbüchse, schwebt für mich irgendwo im Nirvana, zeitlos hoffentlich, Ankunft bis auf weiteres gecancelled. Hier auf dem staubigen Sitz könnte ich ewig vor mich hindämmern, während draußen Unmengen deutschen Mischwalds vorüberziehen.

Stattdessen Aufruhr im Hippocampus. Unwillkürlicher Gedankensprung. Sie sehen nun, was zuvor geschah: Vor mir erstreckt sich grell erleuchtet die rudimentäre Darstellung eines langen Kiesbetts. „5 Schuss, Feuer frei.“ Das prozedurale Gedächtnis übernimmt. Waffe ziehen, Kimme und Korn in eine Linie bringen, Augen aufs Korn scharfstellen, das Ziel verschwimmt zum formlosen Klecks auf der Netzhaut, Druckpunkt suchen, ausatmen, einatmen, abkrümmen (d. h. Peng!). In der freien Wirtschaft bezahlen Leute viel Geld für diese Ausbildung sagen sie. „Übung, Ende.“ Dann Auswertung: „Besonders gut war der Funker Sarras. Dreimal genau ins Schwarze.“ Warmes Bauchgefühl. Verlegenes Lächeln.

In der sehr realistisch dargestellten Eifel hat die Blechbüchse aufgesetzt, auf dem Boden der Tatsachen möchte man fast sagen, es dann aber doch lieber verdrängen. Stimmen werden laut. „Absitzen“ und „Dritter Zug, in Linie antreten.“ Als erstes Pistolenschießen. Bevor es losgeht ein bisschen Schikane: „Funker Marscheider, nennen Sie mir mal die technischen Daten der P8.“ „Äh…“ „Dritter Zug in den Liegestütz fallen! Eins, Zwo…“ Marscheider ist um seine Nachlässigkeit zu beneiden. Ich werde die technischen Daten der Pistole Modell P8 nie vergessen können: Kaliber 9mm, 15 Schuss, 750 Gramm ungeladen, 985 Gramm geladen, Mündungsgeschwindigkeit 360 Meter pro Sekunde, maximale Kampfentfernung 50 Meter. Das ist mein Mantra, während sich vor mir der sandige Boden hebt und senkt. Habe aufgehört zu zählen, für einen endlosen Moment schwebe ich als staubiger Bus durch die Eifel und sorge mich nur um die Popel unter den Sitzen. Es ist ein schönes Leben.

„Zwanzig!“ Alles wieder auf. Das Kiesbett rückt näher. Fünfzehn Meter davor stopfe ich mir auf das Kommando „Gehörschutz!“ die grünen Schaumstoffstöpsel tief in den Gehörgang. Alles wird dumpf. Irgendeiner reißt einen nervösen Witz. Ich kann das Lachen nur sehen, lache wahrscheinlich selbst mit, so genau hört man das nicht. Dann Übungsbeginn. Die ersten Schüsse sind nur ein Vibrieren in den Hoden. Grinsend kehrt der Schütze zurück, hält prahlend Finger in die Luft. Marscheider ausgerechnet, Dumm trifft gut. Ich sehe allgemeines Gelächter. Habe ich das laut gesagt?

Kameraden munitionieren auf, munitionieren ab, treten vor, reihen sich ein. Rücken um Rücken verschwindet, bis vor mir nur noch Kies in Sicht ist. Feuchter, matter, vor allem wirklicher Kies. Der Obergefreite übergibt mir fünf Schuss, schaut dann spöttisch dabei zu wie ich sie betont ruhig ins Magazin drücke.

-Are those… live rounds?

-Nine millimeter. Full metal jacket.

Der Hippocampus meldet sich zurück. Gedankensprung. Zwei Wochen zuvor: „Ich gelobe bla bla, treu zu dienen bla bla zu verteidigen. Zu verteidigen.“, höre ich mich sagen und sehe mich jetzt mit der Aufgabe betraut, zu verteidigen: die freiheitlich demokratische Grundordnung gegen einen Pappkameraden. Das sollte zu machen sein. Zu Hause im Bad ging es doch auch. Vorm Spiegel, mit der Ein-Kilo-Hantel, etwa so schwer wie die geladene P8, in den Händen. Alles ruhig, keine besonderen Vorkommnisse, Herr Feldwebel.  Und jetzt? Die Angst des Schützen beim Elfmeter: Man könnte einen treffen.  Neben mir spüre ich wie der Feldwebel etwas fragt. -Why did you join my beloved corps, Private?

-Sir, to kill, sir.

-So you’re a killer?

-Sir...

„Erst auf harte Kerle machen und jetzt geht Ihnen der Stift? Und solche Leute sollen wir nach Afghanistan schicken?“ Wenn ich mich um 90 Grad nach links drehe und „abkrümme“ ist der Feldwebel futsch. Das folgt schon rein physikalisch/biologisch. Ich habe keine Angst vor Afghanistan, die hat mir die Anne Will-Gesprächsrunde vom 20.05. genommen. Afghanistan ist auch so weit weg. Ich habe Angst vor 90 Grad nach links. Man könnte einen treffen.

Sebastian Sauer

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03 | Katja Johanna Eichler

Zerlaufen

Ich hatte sie seit zwanzig Jahren nicht gesehen. Sie sah müde aus. Dass sie eigentlich vorgehabt habe, in die Ritzen zwischen den alten Holzdielen zu zerlaufen. Die alten Holzdielen. Die Guten. Ließen alles über sich ergehen.

Das sagte sie irgendwann. Sie sei lose Masse gewesen. Schwarz, hässlich, träge. Sie habe schon eine ganze Weile auf den Dielen gelegen. Sie wollte gerade in deren Ritzen zerlaufen. Da habe das Handy geklingelt. Hätte das Handy nicht geklingelt, wäre sie jetzt der schwarze Dreck zwischen den Dielen. Ich verstand sie nicht. Aber ich mochte sie, so wie damals.

Sie schwieg.

Ich schwieg.

Dass ich sie sofort wieder erkannt hatte. Das sagte ich irgendwann. Und dachte, dass sie ausgesehen hatte, wie ein Bambi, das sich in unsere Zivilisation verlaufen hatte. Ausgerechnet in einen Drogeriemarkt. Ein Bambi aus dem Wald, das ungewollt zu trashiger Weihnachtsdeko geworden war. Große verlorene Augen zwischen Shampooflaschen, Slipeinlagen und blinkenden Lichterketten.

Ihre Augen waren es gewesen, die ich wieder erkannt hatte. Hätte sie mich nicht angeschaut, hätte ich mich wenig später nicht an sie erinnert. Hätte nicht bei ihren Eltern nach ihrer Nummer gefragt. Hätte sie nicht angerufen.

Hätte sie mich nicht angeschaut, wäre sie jetzt der schwarze Dreck zwischen den alten Holzdielen. Es ist gut, sich anzuschauen. Hatte ich das gesagt?

Sie schaute mich an.

Ich schaute sie an.

Vor zwanzig Jahren war uns das auch passiert. Das mit dem Anschauen. Immer wieder war uns das passiert. Zwischen den Tanten, Paten und Omas hindurch. Über die Klöße hinweg.

Ich hatte ständig schlucken müssen. Wegen der engen Krawatte des Konfirmationsanzuges und des reifenden Adamsapfels. Wegen der trockenen Klöße. Wegen ihres Blickes. Das war ein besonderer Tag gewesen damals. Hatte sie das gesagt?

Sie lächelte.

Ich lächelte.

Ich dachte, dass ich sie mochte. Dass ich alles von ihr wissen wollte. Mir fiel dabei ein, dass ich keine Zeit hatte. Dass es unfreundlich wäre, auf die Uhr zu schauen. Und dass Anna gestern Abend kaputt und gereizt gewesen war. Wegen der Kinder. Und ich spät von der Arbeit nach Hause gekommen war. Wegen des Projekts. Mir fiel ein, dass ich für das hier gerade keine Zeit hatte. Wegen der Kinder und wegen des Projekts. Und weil Dezember war. Mir fiel wieder auf, wie müde sie aussah. Nicht das Wenig-Schlaf-Müde. Das andere. Mir fiel auf, dass zwanzig Jahre nur ein Augenblick waren, wenn man jemand mochte.

Was machst du eigentlich so, fragte ich sie.

Nichts. Sehr leise sagte sie das. Nach einer Weile. Ich zerlaufe ins Zwischen. Nur das.

Ich verstand sie nicht. Ich verstand nicht, wie man zerlaufen konnte. Ich verstand nur etwas vom Verlaufen und vom Verrennen. Ich sagte nichts, weil ich sie nicht verstand. Weil sie schwarze zerlaufende Masse war und heute Dreck zwischen Holzdielen wäre, hätte ich sie nicht angerufen.

Das war ein besonderer Tag gewesen damals. Das hatte sie schon einmal gesagt. Es gibt viel zu wenige davon. Das hatte sie vorher noch nicht gesagt. Die Menschen schauen sich zu wenig an. Das sagte sie auch.

Ich nickte.

Sie nickte.

Irgendwann stand sie auf und ging. Es war spät. Nicht das Uhren-Schau-Spät. Das andere. Ich ruf' dich an. Das rief ich ihr hinter her. Sie nickte, ohne sich umzudrehen.

Katja Johanna Eichler

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freiTEXT | Katharina Rios

Funkelnde Scherben

Der Forstweg schlängelt sich den Berg hinauf, hinter einer Kurve verliert er sich zwischen den Tannen. Ich gehe mit festem Tritt, den Kopf gesenkt. Die Kieselsteine bohren sich durch die Schuhsohle, wenn ich den Fuß abrolle. Bei jedem Schritt knirscht es, das Geräusch der sich aneinander reibenden Steine dröhnt in meinen Ohren. Laut. Es ist zu laut.
Ich bleibe stehen, lausche in den Wald. Nur der Pulsschlag in meinen Ohren. Der flache Atem, der kleine Dunstwolken vor mir in die Luft malt. Der Himmel hängt tief, die Spitzen der hohen Tannen verstecken sich im Nebel. Ich sehne mich nach Vogelgezwitscher, nach einem Igel, der durch die Bäume raschelt, irgendwas. Es ist zu still.
Ich laufe weiter den steilen Forstweg hinauf, atme im Rhythmus der Schritte. Leichter Nieselregen setzt sich auf meine Haut. Ab und zu vermischt er sich mit Tränen. Ich wische sie weg, sehe nach vorn. Da ist niemand. Niemand außer mir.

Du solltest jetzt nicht allein sein, sagen sie. Du kannst das nur verarbeiten, wenn du darüber sprichst.
Worte. Ich suche nach ihnen. Benutze sie, um zu beschreiben, wie es mir geht. Doch während ich bei Freunden sitze, sie an meinen Lippen hängen und mich aufmunternd ansehen, fallen leere Hülsen aus meinem Mund.

Der Forstweg gabelt sich. Rechts schlängelt sich der Hauptweg durch die Bäume nach unten. Ich gehe nach links, auf einem schmalen Pfad weiter bergauf. Der Boden wird weicher, an manchen Stellen ist er von Wurzeln durchzogen. Meine Lungen brennen vor Anstrengung. Neben mir fällt der Hang steil ab, je höher ich komme, desto lichter wird der Wald. Ich gehe schneller, Schweiß rinnt den Rücken hinab. Ich fühle die Muskeln in meinen Beinen, die Schwere des Rucksacks auf den Schultern. Der Geruch nach feuchter Erde und Nadeln hängt in der Luft, ich atme tief ein, schließe für einen Moment die Augen.

Er hat dich nicht verdient, sagen sie. Er lässt an dir aus, womit er selbst nicht klarkommt.
Ich höre ihnen zu, kann sie nicht verstehen. Er und ich, wir sind etwas Großes. Etwas ganz Großes, das zu Boden fällt. Ich will es auffangen, aber es gleitet mir aus den Händen, zerschellt. Die Scherben liegen vor mir. Langsam gehe ich in die Hocke, beuge mich über sie. Mein zerbrochenes Gesicht erscheint in den dunkelroten Glasstücken.
Ich könnte versuchen, sie zusammenzukleben.

Als ich wieder aufblicke, steht ein Fuchs am Wegrand. Ich bleibe stehen, halte die Luft an. Ein paar Meter entfernt, zwischen den Bäumen, beobachtet er mich. Mein Herz schlägt ruhig, ich stehe da, spüre den Boden unter den Füßen, die feuchte Luft auf meiner Haut. Der Fuchs macht zwei Schritte auf mich zu, streckt die Schnauze in die Luft, sieht mich noch einmal an und verschwindet im Dickicht.
Langsam gehe ich weiter. Nach einer Kurve komme ich an ein Viehgatter, an dem ein schmaler Pfad vorbeiführt.
Dahinter erstreckt sich eine Hochebene. Das Gras sieht weich aus, wie ein riesiger Teppich. An manchen Stellen ragen Felsbrocken aus der Erde, vereinzelt stehen Tannen auf der Wiese. Es ist heller hier oben. Ich kann die Sonne nicht sehen, und doch streicht sie sanft über mein Gesicht.

Es tut mir leid, hat er gesagt. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich fühle nichts mehr.
Ich hebe die Scherben vorsichtig auf. Sie haben scharfe Kanten.
Auch nicht für mich?, habe ich gefragt, konnte ihn dabei nicht ansehen.
Nein, hat er gesagt.
Die Scherben schneiden mir in die Hand.

Ich stapfe durch den Matsch auf die Berghütte zu, vorbei an den Kühen, die mit halb geschlossenen Augen Gras kauen. An der Tür zur Stube lehnt die Bäuerin, die mir mit zusammengekniffenem Mund zunickt. Ich bestelle mir Kaffee setze mich auf eine der Holzbänke, die von der Witterung fast schwarz geworden sind.
Die Berge erheben sich in dunklem Grün, hinter ihnen ragen die steinigen Gipel der Alpen in den Himmel. Das Glockenläuten der Kühe durchbricht die Stille, hinter mir höre ich Hühner gackern. Ich wühle im Rucksack, fische die Schachtel Zigaretten heraus und zünde mir eine an. Als ich von der Glut aufblicke, sehe ich die Landschaft nur noch verschwommen.
Die Bäuerin zuckt zusammen, als sie aus der Tür tritt und mich sieht. Sie stellt den Kaffee vor mir ab, betrachtet mich einen Augenblick. „Hier“, sagt sie und hält mir ein weißes Taschentuch aus Stoff hin. Der Rand ist blau bestickt – kleine Schnörkel, die mich ans Meer erinnern. „Behalten Sie es.“ Sie verschwindet wieder in der Hütte.

Er und ich, das war etwas Großes. Jetzt bin ich klein. Fast unsichtbar.

Ich lasse die Tränen laufen. Sitze auf der Bank, schluchze, ziehe mit zitternden Lippen an der Zigarette, stoße den Rauch aus und sehe dabei zu, wie er sich vor mich auflöst.
Immer wieder tupfe ich mit dem Taschentuch mein Gesicht ab. Der Stoff kratzt und riecht nach Holz.
Hinter mir höre ich die schweren Schritte der Bäuerin. Sie läuft durch die Stube, ich stelle mir vor, wie sie über die gestärkten Tischdecken streicht und aus dem Fenster sieht. Ich falte das Taschentuch zusammen und stecke es in meine Jackentasche.
Langsam atme ich den Schmerz ein und wieder aus. Er lässt nach. Ich bin froh, dass der Moment vorüber ist. Habe Angst, dass er bald wiederkommt.

Auf dem Weg zurück ist der Himmel milchig, ein leichter Wind weht. Ich verstaue meine Regenjacke im Rucksack, kremple die Ärmel hoch. Auf der Hochebene setze ich mich mitten auf den Grasteppich und sehe in die Ferne.
Hinter mir ertönt Glockenläuten. Ich drehe mich um. Ein paar Meter weiter steht eine Kuh mit ihrem Kalb. Es ist hellbraun und hat einen dunklen Fleck auf seiner linken Flanke. Es hebt den Kopf und sieht mich an, die Mutter rupft mit dem Maul Gras aus dem Boden. Das Kalb kommt auf mich zu. Langsam stehe ich auf und gehe rückwärts in Richtung Wanderweg. Ich behalte die Kuh im Auge, mein Herz schlägt schneller. Doch sie scheint sich keine Sorgen zu machen. Sie sieht ihrem Jungen hinterher und widmet sich wieder dem Gras.
Ich bleibe stehen. Die Sonne wärmt meinen Körper, in dem Baum neben mir zwitschert ein Vogel. Das Kalb macht noch einen Schritt. Und noch einen. Als es genau vor mir steht, senkt es den Kopf. Drückt seine Stirn an meinen Bauch. Ich setze einen Fuß nach hinten, um die Balance zu halten. Vorsichtig hebe ich die Hand und lege sie zwischen die Ohren des Jungtiers. Es schnauft. Ich kraule es, spüre das borstige Fell, den Druck seines Kopfes an meinem Bauch. Die Wiese leuchtet unter der Sonne hellgrün. Nichts scheint sich zu bewegen, die Luft ist weich. So weich. Ich lächle. Schaue auf das Kalb hinunter und wünsche mir, dass es noch eine Weile hier stehen bleibt. Nur eine kleine Weile.

Auf dem Parkplatz lehne ich am Auto und verschränke die Arme vor der Brust. Der Himmel färbt sich orange, die schräg durch die Bäume fallenden Sonnenstrahlen werden blasser. Mein Blick fällt auf ein paar Scherben, die neben einem Mülleimer liegen. Sie funkeln im Licht der untergehenden Sonne.

Katharina Rios

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freiTEXT | Kai Bohnert

Die Fischsuppe

Gestern hat es Fischsuppe gegeben. Heute allerdings ist F. unwohl, und zunächst ist er versucht, es dem Stress zuzuschieben, denn seit geraumer Zeit plagen ihn ins Stocken geratene Geschäfte; dann aber erscheint ihm doch die gestrige Fischsuppe durchaus verdächtig. Morgens begann es in seinem Magen zu gären; gleichsam als flöße Schaum durch die Eingeweide blähte sich sein Bauch auf, stieße man eine Nadel hinein, er würde die Haut an der Oberfläche sogleich von Innen aufreißen und herausquellen, wie bei einem Plüschtier – schnitte man es der Länge nach auf – das Futter. Reglos liegt F. seither im Bett, zwischen Tür und Fenster.

Die Sonne scheint fahl und kalt hinter dem Glas; wo ihr Licht über seine Wangen fließt, färbt es sie blass, wie der Bauch eines Fisches, wenn er leblos auf dem Wasser treibt; F. wäre über diesen Morgen sonst zornig gewesen, nun aber ist er nicht einmal dazu imstande; einmal versucht er sich herum und aus dem Bett zu werfen, gelangt jedoch kaum auf die Seite, fällt stattdessen sogleich am ganzen Leib zuckend auf das Bett zurück, als habe ihn jemand in den kleinen Zeh gezwickt. Danach regt er sich noch weniger, als schon zuvor nicht.

Mit trüben Augen starrt er zur grauen Decke. Warum hat er auch die Fischsuppe essen müssen? Wo doch schon der Anblick des Marktes vor dem Fenster ihm Übelkeit bereitet! Dorthin nämlich war der Bedienstete gegangen, um die Zutaten für die Suppe einzukaufen; was für ein elender Ort dieser Markt ist: Jedermann brüllt, auf Anfrage werden einem die Waren ohne Prüfung in den Korb geschleudert, ja man weiß zuweilen nicht einmal, was man überhaupt eingekauft hat. Und selbst wenn man – allen Erwartungen zum Trotz – doch einmal die richtigen Zutaten erhält, so bleibt doch das größte Übel der Fisch selbst.

Zwar wird er gewissermaßen frisch aus dem Fluss geangelt, aber was bedeutet dies schon im Falle des Flussfisches, dieses armseligsten aller Fische? Sein ganzes Leben hängt er nur in der Strömung – zwischen Oberfläche und Flussbett – herum, sogar die Fischer ermüdet es, ab und an schlafen sie beim Angeln ein; beinahe genügte es schon, wenn man den Eimer nur am Ufer abstellte, der Fisch spränge dann nahezu von selbst hinein. Wenn er nur zum Springen in der Lage gewesen wäre! Wo aber doch nichts lächerlicher erscheint, als ein Flussfisch, der springt!

Aus solchen Fischen hat nun also der Koch die Suppe zubereitet. Und F. sieht ihn im Geiste vor sich, wie er, bei dem Gedanken, diese Suppe nicht selbst essen zu müssen, teils erleichtert, teils schadenfroh lächelt. Zunächst ist F. daher versucht, schlichtweg dem Koch die Schuld zu geben, dann dem Bediensteten, endlich sich selbst, da er immerhin die Suppe, obwohl genau Bescheid wissend, gegessen hat.

„Du bist auch Schuld“, sagt F. bewusst vorwurfsvoll.

Auf dem Stuhl neben der Tür, sitzt an einem Tisch sein Vater; aber er macht ein Gesicht, als sei allein in dieser Ecke Winter. Dann schließt F. die Augen und lehnt sich zurück: Während seiner Kindheit hatten sie am Meer gewohnt. Und jeden Tag war sein Vater zum Fischen hinunter an den Strand gegangen, wo die See schier ohne Ende erscheint. Wenn der Wind Regen und Gischt gegen das Fenster peitschte, starrte F. in den Sturm hinaus. Würde der Vater sicher wieder nach Hause kommen? Schlussendlich tauchte der gelbe Regenmantel vor der Tür auf, er trat ein und schleuderte ein Bündel Fische wortlos auf den Tisch. Dieser Meeresfisch bebte selbst noch in Gefangenschaft, würfe man ihn in einen Eimer Wasser, so schwämme er sogleich herum.

Wie anders hingegen der Flussfisch!

Ob er reglos im Flussbett hängt, ob er im Eimer die graue Wand anstarrt – es ist völlig gleich; ja, vor allem im Eimer bewegt er sich noch weniger, als er es ohnehin schon nicht tut. Wo der Meeresfisch selbst auf dem Schlachtbrett noch vor Leben geradezu strotzt, da trifft einen aus dem trüben Auge des Flussfisches nur dieser – gegen sich selbst mehr als gegen den Fischer gerichtete – vorwurfsvolle Blick.

Schon als Kind hatte F. dies nur allzu gut verstanden.

Er öffnet die Augen – und der Stuhl am Tisch neben der Tür ist leer. Das hat er nun also davon noch in der übelsten Fischsuppe einen Fingerzeig auf das Meer finden zu wollen. Während die aus Meeresfisch zubereitete Suppe durchaus vergangene Geschichten über die Kindheit und noch vergangenere über das Meer zu erzählen vermag, macht diese hier unweigerlich krank. F. kann nicht einmal aus dem Fenster sehen.

Dort draußen angelt soeben ein Fischer einen Fisch aus dem Fluss. Er wirft ihn auf den Tisch, schlägt ihn ein paarmal gegen die Kante und betrachtet ihn dann eingehend, woraufhin sich aber seine Stirn in Falten legt. Schließlich wirft er ihn in hohem Bogen zurück ins Wasser. Der Fisch kommt mit dem bleichen Bauch nach oben zurück an die Oberfläche und leblos auf dem Wasser treibt er davon.

Kai Bohnert

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freiTEXT | David Hassbach

Ländersex

Aktuell hat man bei uns große Angst vor fremden Einflüssen. Die Furcht etwas könnte aus dem Ausland in unser schönes Österreich reinkommen, sich hier ausbreiten, uns wie ein Virus infizieren oder schleichend unterwandern, ist rasend. Dabei vergisst man allerdings gerne die positiven Aspekte des Kulturimports. Ein paar liegen geblieben Säcke, die im Zuge der Räumungsarbeiten nach der zweiten Türkenbelagerung gefunden wurden, haben zum Beispiel dazu geführt, dass wir in Wien eine ordentliche Kaffeehauskultur entwickeln konnten und nun köstlich, aromatischen Mokka genießen, während man sich in Deutschland damit begnügt Wasser braun zu färben und sich dann auch noch traut, dieses Verbrechen als Kaffee zu bezeichnen. Oder man blicke auf die alten Griechen, die Brutstätte unserer Demokratie. Dank Pythagoras wissen wir wie man eine Hypotenuse berechnet, dank Hippokrates haben die Ärzte einen Eid auf den sie schwören können, dank Sokrates wissen wir, dass wir eigentlich nichts wissen und dank einer gängigen Gesellschaftspraxis unter altgriechischen Männern, wissen wir, dass man den After nicht nur zum Scheißen verwenden kann.  Homosexuelle und sexuell experimentierfreudige Heterosexuelle würden ohne die großen, griechischen Vordenker, vielleicht noch immer ein Nasenloch oder das Ohr für ihre Vergnügungen verwenden. Man merke: Ein offenes Weltbild hat Vorteile – Vor allem im Schlafzimmer.  Die Staatsgrenzen der sexuellen Präferenzlandkarte sind allerdings nicht immer leicht zu ziehen und deshalb sollte man sich gut informieren, bevor man irgendwo am breitgefächerten Ländersexglobus um Asyl ansucht.

Hier ein Überblick:

Rein evolutionstechnisch, macht der Deutsche alles was er beim Kaffee falsch macht, in Punkto Sex richtig. Deutscher Sex ist effizient. Betritt der deutsche Mann gemeinsam mit einer Frau das Schlafzimmer, hat er automatisch eine kruppstahlharte Erektion, begibt sich in Angriffsposition, betreibt das Vorspiel genau so lange, bis die Frau im richtigen Maße feucht ist und dringt anschließend blitzkriegartig in sie ein und bevor ihr Körper überhaupt versteht was passiert, hat sein siegreiches Spermium die Eizelle bereits eingenommen. Es verwundert deshalb nicht, dass Deutschland das bevölkerungsreichste Land auf dem europäischen Kontinent ist.  Die einzige Stellung die für sein Schlafzimmer-Gaudium in Frage kommt, ist natürlich die Missionars-Stellung. Denn was man ordentlich macht, macht man gut. Der ganze Prozess wird auch nicht unnötig in die Länge gezogen. Denn jeder weiß: In der Kürze liegt die Würze. Man soll das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Wer zu spät kommt, den straft das Leben und wem du`s heute kannst besorgen, den schiebe niemals morgen.

Im Gegensatz zum Deutschen ist der Franzose ein Genießer. Liebe geht durch den Magen und deshalb beginnt der wahre Gourmet sein Vorspiel damit, stundenlang zu fressen und literweise Wein zu trinken. Im Anschluss daran ist eine Erektion oft nur schwer möglich. Deshalb bedient sich der französische Mann zweier, besonderer Techniken. In seltenen Fällen benutzt er für ein knuspriges Schäferstündchen ein altes Baguette als Penisprothese. Historiker berichten auch vom Einsatz abweichender Teigprodukte. So soll der Sonnenkönig Ludwig XIV gerne ein Eclair als Schwanzersatz verwendet haben. Von ihm stammt auch der vielmals falsch zitierte Ausspruch: >> L’Eclair, c’est moi <<, also, >> Das Eclair, bin ich! <<
Im Allgemeinen haben sich Sprachwissenschaftler darauf geeinigt, den Einsatz von Backwaren zur sexuellen Stimulation, mit dem Fachterminus „Ejaculatio-Brot-Cock“ zu belegen. Viel öfter als ein Baguette, benutzt der Franzose zur Befriedigung seines Partners allerdings seinen Mund. Oralsex hat sich als gängige Praxis im Land der Liebe durchgesetzt. Über die Jahrhunderte haben sich die Franzosen so sehr an den Geschmack gewöhnt, dass es auch nicht verwundert, dass es sich beim französischen Nationalgericht – der Bouillabaisse – um eine Fischsuppe handelt.

Ganz in IKEA-Do-it-yourself-Manier, spannen sich die Schweden gerne den AllzweckInbusschlüssel zwischen die Finger und schrauben sich ihren Orgasmus mit der Hand zusammen. Die wodka-trunkenen Russen treffen nur mehr zwischen die Schenkel, die Inder verrenken ihre yogageübten Körper durchs Kamasutra, die Spanier nennen den Busensex ihr eigen und wer beim Ficken auf die härtere Gangart steht und dabei dennoch höflich bleiben will, ist mit englischem Sex gut beraten.

Dennoch ist immer wieder die wahrlich bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit der Menschheit hervorzuheben. Not macht erfinderisch und deshalb bevorzugt der italienische Mann, der traditionell noch immer bei seiner Mama wohnt und aus diesem Grund nur wenig Raum in seinem Kinderzimmer hat, den platzsparenden Sex unter die Achsel. Auch die Abneigung der Italiener gegen Deodorant, gepaart mit dem südlichen Klima, erweist sich in diesem Kontext, als gleitmitteltechnische Goldgrube.  Nach einem Urlaub in Lignano und einigen verschwitzten Achselnächten, weiß man, nicht umsonst gehörte Italien, Mitte des 20 Jahrhunderts, zu den sogenannten Achselmächten.

Aber was zeichnet uns Österreicher aus? Was ist typisch österreichischer Sex? Der klassische Österreicher geht aus, betrinkt sich, sieht eine wunderhübsche Frau, spricht sie nicht an, kommt nach Hause, masturbiert und denkt sich dabei: Also wenn ich gewollt hätte, die hätte ich haben können.  Österreichischer Sex ist Sex im Konjunktiv. Wir sind ein Volk der Musiker, Dichter und Denker. Deshalb spielt sich bei uns das Vergnügen im Kopf ab.

Damit sollten wir aber nicht zwingend hinter den Bergen bleiben, die uns umgeben. Wir müssen raus in die Welt, rund um den Globus, bis nach China müssen wir unsere Weisheit exportieren und ich schwöre binnen kürzester Zeit, wäre das Problem der Überbevölkerung weltweit gelöst.

Mit freundlichen Grüßen,

Ihr Professor Hassbach

David Hassbach

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