11 | Kerstin Hatzi

Glitzer im Gesicht

Schillern ist ein schwaches Verb, sagst du. Und ich nicke, obwohl wir beide etwas vollkommen anderes meinen.
Das ist eine Geschichte, die Sie so oder so ähnlich schon tausendmal gehört haben. Aber man glaubt ja immer, man selbst sei etwas Besonderes, oder?

Also: ICH
Ich bin in einer Stadt, die sehr nah an der Stadt ist, die einmal meine war. Ich bin in einer Stadt, die oft als pittoresk oder malerisch, manchmal auch nur als charmant beschrieben wird. Ich lasse mich davon nicht beirren. Denn: Es ist eine Stadt wie für mich gemacht. Eine mit der genau richtigen Anzahl an Menschen, zu viele, um ganz zu verschwinden, zu wenige, um nie wieder aufzutauchen. Eine mit ausreichend Gassen, um sich zu verlaufen und einer Sprache, die ich nicht spreche. Ich bin seit elf Tagen in dieser Stadt und war noch nicht beim Amt. Habe bisher keinen Supermarkt von innen gesehen, die Wohnung nicht eingerichtet, mit niemandem so etwas wie ein Gespräch geführt. Aber ich habe ein Café gefunden, eines mit durchgesessenen Polstermöbeln und Plastikblumen am Tisch, wo es immer irgendwie nach Rauch und Frittierfett riecht, obwohl keine Speisen serviert werden. In diesem Café trinkt nie, wirklich nie jemand Kaffee, sondern nur Bier und Wein und wenn gar nichts mehr geht, dann einen Kurzen.
Und so sitze ich jeden Abend in dem Café, das eigentlich eine Bar ist, und trinke ein Glas Wein, rauche, schreibe und frage mich: Bin ich jetzt offiziell Autorin oder nur ein Klischee?

Und DU…
Du sagst: Du hasst Menschen, aber liebst deine Freund:innen.
Du isst seit fünf Jahren kein Fleisch, aber Leberkässemmel einmal im Monat muss einfach sein.
Du findest Montage schmecken salzig und Donnerstage sind blau.
Du kannst das Meer nicht riechen und schwitzt nur an der Nase.
Du rechnest mit deinen Fingern und kannst bis heute kein Rad schlagen. Und es ist dir egal.
Du bist lieber laut als leise. Zu spät als zu früh. Zu viel als zu wenig. Mehr Bauch- als Kopfmensch.
Du liest Romane nie, wirklich nie zu Ende, aus Prinzip, sagst du und funkelst mit deinen grünen Augen, die manchmal blau, manchmal grau sind.
Manchmal glaube ich, alles über dich zu wissen. Jeden Schritt und jeden Atemzug vorhersehen zu können.
Aber wo du jetzt gerade bist, was du tust, denkst oder fühlst, das weiß ich nicht.

Also: ICH
Liege da, Arme und Beine von mir gestreckt, liege da und starre an die Zimmerdecke, liege da und schwitze in mein Leintuch, liegt einfach da, in diesem, meinem Zimmer, das sich fremd anfühlt, in dieser, meiner Wohnung, die noch kein Zuhause, in der Gerüche noch nicht vertraut, Geschichten noch nicht Einzug gehalten haben.
Mein Blick wandert durch den Raum und bleibt an meinem Leben hängen, das in 6 Umzugskisten, 2 Koffer und 4 Ikea-Tüten passt. Vor zwei Wochen und drei Tagen in der hintersten Ecke des Zimmers abgestellt, seit zwei Wochen und drei Tagen nicht mehr angerührt.
Schreibtisch, Klappstuhl, Schrank, Bücherregal, das ohne Bücher eigentlich streng genommen nur ein Regal ist. Alles an seinem Platz, alles so wie es die Mieterin vor mir verlassen hat. Nur die feine Staubschicht, die ist neu.
Als ich meiner Mutter vor drei Tagen am Telefon von dem Umzug erzählte, nannte sie ihn ein „mutiges Projekt“. Ich wollte sie korrigieren. Wollte einwerfen, dass es sich hierbei um nichts Geringeres als um mein Leben handelt. Aber ich schwieg. Für meine Mutter ist seit der Scheidung alles ein Projekt: Töpferkurs, Darmreinigung, Mutterschaft. Mein Vater war nicht zu erreichen. Also schrieb ich ihm eine SMS, schrieb, dass ich raus musste, aus der Wohnung, der Stadt, sogar aus dem Land. Er antwortete per Mail. Schrieb, ihm tue das alles schrecklich leid für mich, aber, und das müsse er jetzt auch mal sagen als mein Vater, er müsse sagen, dass ihn das alles nicht wundere, eine Expertin für das Leben sei ich schließlich noch nie gewesen.

Und DU…
Wenn du lachst, bebt der ganze Körper. Die Mundwinkel ziehen nach oben, die Nasenlöcher weiten sich, die Augen werden zu schmalen Schlitzen. Wenn du lachst und prustend deinen Kopf nach hinten wirfst, wenn du lachst und mit den Händen auf deine Schenkel klopfst, drehe ich mich beschämt zur Seite.
Wenn du einen Raum betrittst, nimmst du ihn ein. Du machst das nicht absichtlich. Aber du machst es und bist in Sekundenschnelle mit allem eins. Mit jedem Menschen, jeder Zimmerpflanze, jedem Molekül. Wenn du einen Raum betrittst und in deinem Element bist, alles und jeden in dich aufsaugst, raubst du mir die Luft zum Atmen.

Also: ICH
Ich sitze in dem Café, das eigentlich eine Bar ist, und scrolle mich stundenlang durch alte Fotos am Handy. Ich sehe diese Frau, Anfang/Mitte Dreißig.
Die Frau isst Döner, vegetarisch, aber mit Zwiebeln, viel Zwiebeln
und trinkt Cola, nicht light, sondern normal.
Die Frau reist allein durch Vietnam und streichelt Esel in Marokko
Sie gewinnt im Backgammon
und zockt im Casino
Die Frau knutscht Fremde
und tanzt barfuß in Clubs
Sie trägt Glitzer, oft und viel Glitzer im Gesicht.
Und ich erkenne die Ähnlichkeit, ich kenne die Frau, aber ich weiß, ich kann das nicht sein. Ich kann das nicht sein, weil ich weiß, was ein Foto nicht ist:
ein Abbild,
ein Ausschnitt,
ein Dokument der Wirklichkeit.

Ich sitze in dem Café, das eigentlich eine Bar ist und schreibe in mein Notizheft. Ich schreibe: Was es bedeutet zu gehen, Doppelpunkt. Ich schreibe:
Du wirst nicht essen.
Du wirst nicht schlafen.
Du wirst nachts Geister jagen.
Du wirst nicht eine, sondern 20 Hände brauchen, die dich halten und die ersten Meter tragen.
Du wirst in dich zusammenfallen und immer weniger und weniger, aber alle werden sagen: Gut sieht sie aus.
Du wirst nicht alles, aber das meiste in Frage stellen.
Aber am Ende wird es besser sein.

Weil ich nicht Schritt halten kann
und du eine 5er Pace hast.
Weil ich neben dir immer ein bisschen weniger Feministin bin
und du immer nur du.
Weil ich irgendwann mehr sein möchte als nur eine Aneinanderreihung von Möglichkeiten
und du doch nur in deiner Inkonsequenz konsequent bleibst.

Und dann erinnere ich mich wieder, an den Moment:
Drei Tage bevor ich die Wohnung, die Stadt, ja sogar das Land verlassen musste.
Wir stehen im Badezimmer. Es ist schon hell, wir waren noch nicht im Bett, wir haben wie so oft die Tanzfläche zu spät verlassen.
Schillern ist ein schwaches Verb, sage ich und nicke. Schaue in den Spiegel. Sehe meine grünen Augen, die manchmal blau, manchmal grau sind. Sehe die kleinen Schweißperlen auf der Nase. Sehe zu viel Farbe, zu viel Glitzer, zu viel von dir. Nur mich – mich sehe ich nicht.
Das ist eine Geschichte, die Sie so oder so ähnlich schon tausendmal gehört haben. Das ist eine Geschichte, die sich so oder so ähnlich oder ganz anders zugetragen hat. Und ich denke mir, ich will das niederschreiben. Will mich aufs Papier bringen. Neu verfassen. Aber ich finde den Ausdruck nicht. Alles schon gesagt.
Und trotzdem weiß ich irgendwie: Ich bin noch nicht auserzählt.

 

Kerstin Hatzi

 

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7 | Jutta Schüttelhöfer

Der Ententeich

Ihre Schritte knirschen auf dem leicht abfallenden Schotterweg. Sie geht langsam, vorsichtig, um nicht erneut zu stürzen. Vor einer Woche gab es ein paar frostige Nächte. Da hat sie in der Dunkelheit früh morgens auf dem gefrorenen Boden den Halt verloren. Ihr rechtes Knie ist noch immer blaugrün verfärbt. Aber zimperlich war sie nie. Sie zwingt sich trotz Schmerzen in Bewegung zu bleiben.
Sie ist jetzt 94. Inzwischen ist sie immer zu früher Stunde auf den Beinen. Ihre schmerzenden Knochen treiben sie zeitig aus dem Bett. Früher liebte sie es auszuschlafen. Manchmal begann ihr Tag erst zur Mittagszeit. Aber das ist lange her. Wenn sie nun morgens noch vor der Dämmerung allein in ihrer Wohnung hockt und neben ihrem eigenen Atem bloß das Ticken der Küchenuhr die Stille durchdringt, verlässt sie zuweilen bereits in der Dunkelheit das Haus, um nicht in tiefer Einsamkeit zu versinken. Die Geräusche des anbrechenden Tages außerhalb ihrer Wohnung verleihen ihr ein Gefühl von Lebendigkeit, das sie drinnen allzu oft vermisst.
Heute hat sie jedoch eine Weile gebraucht, bis sie das Haus verlassen konnte. Ihre Schlüssel lagen nicht am vorgesehenen Platz auf der Flurkommode. Seit über 30 Jahren wohnt sie hier. Seither liegt ihr Schlüsselbund, wenn sie nicht unterwegs ist, immer in der kleinen Keramikschale auf der alten Kommode aus Mahagoniholz. Bloß heute nicht! Über eine halbe Stunde suchte sie vergeblich danach, ohne eine Erinnerung zu haben, wann sie diesen das letzte Mal in der Hand hatte. Mehr zufällig fand sie ihn schließlich auf ihrem Nachttischchen.
In letzter Zeit passiert das öfter. Gegenstände verschwinden und tauchen plötzlich an Orten wieder auf, wo sie sie sicher niemals hingelegt hat. Erklären kann sie sich das nicht. Inzwischen hat sie allerdings aufgehört, über diese Seltsamkeiten nachzudenken. Sie möchte nicht kostbare Lebenszeit mit Grübeleien verschwenden. Zumal ihr alle diese Vorkommnisse bisher ein Rätsel geblieben sind. Ganz egal, wie lange sie darüber auch sinnierte.
Der scharfe Wind weht ihr eisig ins Gesicht. Es sind höchstens ein bis zwei Grad über null, denkt sie und zieht sich die Wollmütze tiefer in die Stirn. Am Ententeich setzt sie sich auf eine Bank. Stehen kann sie nicht mehr lange, denn nach wenigen Minuten protestieren ihre Knie. Auch das Laufen fällt ihr schwer und die Strecke ist mittlerweile, obwohl der Park nicht weit von ihrer Wohnung entfernt ist, eine kleine Herausforderung für sie. Trotzdem kommt sie oft hierher. Sie liebt die Ruhe, besonders am frühen Morgen.
Langsam durchdringt die Feuchtigkeit der zum Teil mit Moos überzogenen Holzbank den dünnen Stoff ihrer Hose. Normalerweise hat sie eine Plastiktüte als Sitzunterlage dabei, doch auch die scheint heute auf mysteriöse Weise verschwunden zu sein.
Die Enten hocken schlafend an der Uferböschung. Ihre Schnäbel tief im dichten Gefieder vor der Kälte geschützt. Die Brötchentüte knistert, als sie sie aus ihrer Handtasche zieht. Ein paar Enten drehen die Köpfe in ihre Richtung. Sie schüttet die Krümel auf den Rasen und sieht zu, wie Leben in die Gruppe kommt. Eine Weile beobachtet sie, wie die Tiere sich auf das Futter stürzen. Dann lässt sie ihren Blick staunend über den See gleiten, als betrachtete sie ihn zum ersten Mal in ihrem Leben.
Sie genießt die Ruhe, lauscht auf das Schnattern zu ihren Füßen und fragt sich, warum sie diesen wundervollen Ort nicht schon früher einmal besucht hat. Als die Sonne hoch über dem Park steht, sitzt sie noch immer auf der Bank. Wenn sie sich doch nur erinnern könnte, wo sie zuhause ist.

 

Jutta Schüttelhöfer

 

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5 | Claudia Dvoracek-Iby

True Colors

Abstimmung. Zuerst zählt die Prof die erhobenen Ja-Hände. Dann die Nein-Hände. Die Ja-Hände sind in der Mehrheit.
Leon (empört): Lächerlich! Wieder dieses Kinderspiel. Und das in der Maturaklasse!
Iris ((gespielt) empört): Richtig. Wir sind inzwischen achtzehn und nicht acht!
Die Prof (lachend): Engerl-Bengerl ist Tradition. Ihr werdet es auch dieses letzte Jahr überstehen.
Meine Nein-Hand schreibt widerwillig meinen Vornamen auf ein Blatt Papier. Faltet es zusammen. Wirft es in die Box, welche die Runde durch die Klasse macht. Zieht dann wenig später einen der Namenszettel. Steckt ihn schnell in die Hosentasche.
Ich hoffe so sehr, dass ich nicht seinen Namen gezogen habe. Dark.
Ich hoffe so sehr, dass ich seinen Namen gezogen habe. Dark.
Dass er meinen gezogen hat, ist nicht möglich. Er ist nicht da. Krankgemeldet. Doch die Prof hat seinen Namen aufgeschrieben. Und ihn in die Box zu den anderen gelegt.
Dark heißt eigentlich Jonas. Ist aber Dark. Zweitens, weil er immer dunkel gekleidet ist. Und erstens wegen seinem schwarzen Labrador. Darky. Mit dem er jede freie Minute verbringt. Jeden Abend, wenn ich im Stadtpark unter der Trauerweide oberhalb des Teiches sitze, sehe ich die zwei. (Ob Dark mich wahrnimmt? Ich weiß es nicht.)
Sie laufen immer den Teich entlang. Seite an Seite. Ihre tiefe Verbundenheit ist spürbar. Schön ist das zu sehen. Die beiden Dunklen sind mir schon früher aufgefallen. Angenehm aufgefallen. Als ich noch nicht in diese Klasse ging. Vor eineinhalb Jahren habe ich die Schule gewechselt. Hatte meine Gründe.
Zuhause in meinem Zimmer. Ziehe ich vorsichtig den Namenszettel aus meiner Hosentasche. Schließe die Augen, während meine Nein-Hände ihn auseinanderfalten.
Ich hoffe so sehr, dass ich nicht seinen Namen gezogen habe. Dark.
Ich hoffe so sehr, dass ich seinen Namen gezogen habe. Dark.
Ich öffne meine Augen. Und betrachte fassungslos die vier Buchstaben auf dem zerknitterten Papier: DARK.
Ich lege mich auf mein Bett, Ohrenstöpsel rein, höre meine Musik. Die aus den 80er, 90er Jahren. Derzeit True Colors von Cyndi Lauper. In Dauerschleife. Denke an ihn. Niemand würde das vermuten. Dass ich sehr oft an ihn denke. Dark und ich reden nämlich nur miteinander, wenn es sein muss. Bei Gruppenarbeiten und so. Ich, weil ich mit niemandem mehr rede, als notwendig ist. Habe meine Gründe. Und Dark, weil er ebenfalls mauert. Auf niemanden zugeht. Wird auch seine Gründe haben.
Vor einigen Monaten war er mit einer aus der Klasse zusammen. Mit Iris. Nicht lange. Nur ein paar Tage. Habe sie zusammen gesehen. Abends im Park. Ich wie immer unter der Trauerweide. Und die zwei mit Darky den Teich entlang spazierend. Habe ich ungerne gesehen. Hat aber auch null harmoniert. Die beiden Dunklen. Mit der hellblonden Iris in ihrer knallroten Jacke.
Und in letzter Zeit macht sich Lea an Dark ran. Ganz offensichtlich. Zum Fremdschämen ist das.
Mir fällt ein Gesprächsfetzen ein. Den ich zufällig mitgehört habe.
Iris (warnend) ~ Lea: Vergiss diesen Typ. Der interessiert sich nur für seinen Scheißköter. Hat mich damals glatt abserviert, weil sein Hund mich nicht mochte.
I see your true colors, höre ich. Und sehe Dark mit Darky vor mir. Seite an Seite. Wie sie den Teich entlanglaufen.
Und plötzlich weiß ich es. Weiß genau, was ich Dark schenken werde. Als sein Engerl. Sitze jetzt aufrecht auf meinem Bett. Vor Aufregung und Vorfreude. Das Projekt, das mir vorschwebt, ist zeitaufwendig. Knapp drei Wochen habe ich Zeit. Ist zu schaffen.
Dark fehlt die ganze Woche. Auch die Woche darauf. Ich sehe ihn auch nicht abends mit Darky im Stadtpark. Angeblich hat er sich wegen Grippe krankgemeldet.
Ich höre Lea (verärgert) ~ Iris: Der antwortet mir auf keine WhatsApp.
Iris (genervt) ~ Lea: Bitte vergiss endlich diesen Typ!
Ich mache mir ständig Gedanken. Dass er vielleicht vor den Weihnachtsferien nicht mehr zur Schule kommt. Und dass ich ihm mein Geschenk nie geben kann.
Doch zwei Tage vor den Ferien ist er wieder da.
Lea (laut, freudig): Hey, Dark! Was war denn mit dir los?!
Dark (leise): Ich möchte nicht reden, okay?
Verstohlen sehe ich ihn an. Immer wieder. Er wirkt verschlossen, geheimnisvoll wie immer. Aber anders als immer. Dark wirkt traurig. Herzzerreißend traurig.
Am letzten Schultag vor den Weihnachtsferien: Der Geschenkeaustausch. Die Offenbarung.
Die Nacht zuvor konnte ich kaum schlafen. Immer wieder habe ich mir mein Werk angesehen. Und ja, ich bin zufrieden damit. Es ist so geworden, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich finde es gelungen. Aber wie wird Dark reagieren? Wird er meine Botschaft finden? Sie verstehen?
Es wird laut in der Klasse. Sämtliche Engerl wollen ihre Geschenke loswerden. Iris drückt mir rasch etwas (einen Mini-Notizblock) in die Hand. Nickt mir kurz zu. Und ist auch schon wieder weg.
Ich sehe zu Dark. Der auf seinem Platz sitzt und in sein Handy schaut. Ich traue mich nicht, zu ihm zu gehen. Überwinde mich schließlich. Lege mein in Packpapier gewickeltes Geschenk vor ihn hin. Er sieht auf. Sieht mich an. Er hat blaugrüne Augen.
Ich (leise, mich räuspernd): Ich habe deinen Namen gezogen.
Dark (leise, mein Geschenk in seine Hände nehmend): Es ist ziemlich schwer.
Er löst das Papier. Schaut auf mein Geschenk. Schaut lange darauf. Schaut wie erstarrt. Auf Darky in klein. Ich habe ihn aus Ton modelliert. So gut ich es konnte. (Und ja, ich kann modellieren. Ist meine Leidenschaft. Das Modellieren und Töpfern.) Habe ihn dann brennen lassen. Danach mit Acrylfarben bemalt. In jenen Farben, in denen ich Dark und Darky sehe. Wenn sie Seite an Seite den Teich entlanglaufen. In schönen, kräftigen Blau-Grüntönen. Um den Hals habe ich der Darky-Skulptur ein dunkelblaues Halsband gebunden. Mit einer versteckten Botschaft.
Dark steht abrupt auf. Sieht mich an. Tieftraurig. Verlässt schnell und wortlos, mein Geschenk in seinen Händen, das Klassenzimmer.
Lea hinter mir (laut): Was ist denn mit dem los? Spinnt der jetzt total?
Ich (leise, betroffen): Ich – ich weiß nicht …
Zuhause. In meinem Zimmer. Um 22:13 Uhr. Läutet. Plötzlich. Mein. Handy.
Dark: Kaya?
Ich (sprachlos): –
Noch nie hat Dark mich angerufen. Noch nie hat Dark meinen Namen gesagt.
Dark (leise, stockend): Kaya, es tut mir leid. Dass ich – dass ich einfach abgehauen bin heute. Diese schöne Skulptur von Darky. Die war mir – momentan zu heftig. Weißt du, er – ist vor zwei Wochen gestorben.
Ich (stotternd, betroffen): Oh nein. Das tut mir so leid! – Ich hätte ihn nicht modelliert, wenn ich das gewusst hätte …
Dark (verwundert): Wie – du hast ihn selbst modelliert? Wahnsinn. Du hast echt Talent.
Ich (wieder sprachlos): –
Und dann. Dann reden wir miteinander. Wir reden und reden. Ohne peinliche Pausen. Bis weit nach Mitternacht. Kann danach lange nicht einschlafen. Fühle mich so leicht. Fühle mich wie ein neuer Mensch. Denke an Dark. An all das, was wir einander erzählt haben. Einander anvertraut haben.
Dark ~ mir: Dass Darky in seinen Armen gestorben ist. In der Tierklinik. Altersschwäche. Organversagen. Dass Darky für ihn so viel mehr als nur ein Hund gewesen ist. Dass er ihn als Welpe vor 14 Jahren geschenkt bekommen hat. Von seinem Vater. Am Tag, bevor der Vater ins Krankenhaus musste. Und dann nie wieder nach Hause gekommen ist. Lungenkrebs. – Dass ich die erste bin, der er das erzählt. Dass ich die erste bin, der er es erzählen will.
Ich ~ Dark: Dass ich mit ihm fühle. Alles nachempfinden kann. Weil auch ich jemanden verloren habe. Anna. Meine (einzige/beste) Freundin. Seit der ersten Volksschulklasse. Anna. Der ich nicht helfen konnte. Die vor eineinhalb Jahren gestorben ist. An einer Überdosis. Abends. Allein im Stadtpark unter der Trauerweide. Dass ich darum die Schule gewechselt habe. Weil Anna mir dort so furchtbar gefehlt hat. – Dass er der erste ist, dem ich davon erzähle. Dass er der erste ist, dem ich es erzählen will.
Dark ~ mir: Dass er mit mir fühle. Alles nachempfinden kann. Dass er mich gesehen hat. Jeden Abend. Im Stadtpark unter der Trauerweide. Wenn er mit Darky unterwegs gewesen ist. Dass er sich oft Gedanken gemacht hat. Warum ich immer dort bin. Allein. Dass er aber nicht aufdringlich sein wollte. Und sich auch nicht getraut hat. Mich anzusprechen.
Dark ~ mir: Dass er abends das dunkelblaue Halsband von meiner Darky-Skulptur runtergenommen hat. Dass er auf der Rückseite des Halsbandes gelesen hat, was ich eingraviert habe. True Colors. Dass er daraufhin den Cyndi Lauper-Song gehört hat. Mehrmals. Dass er verstanden hat. Dass er seinen ganzen Mut zusammengenommen hat. Und mich angerufen. – Dass er mich sehen möchte. – Ob ich ihn am Abend bei der Trauerweide treffen will?
Ich ~ Dark: Ja.

 

Claudia Dvoracek-Iby

 

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3 | Anne Büttner

Tapetenwechsel

Springsteen hat ihr den Urlaub in die Wohnung geholt. Acht Bahnen Bali-Traumurlaub aus Vlies: Traumstrand, Traumpalmen, Traummeer, ein Traum von Abendsonne.

Dass sie ja jetzt nicht mehr so verreisen können, wie sie gern würden, weil das ja immer mehr werden wird, dass Elke sich immer weniger bewegen kann. Deswegen ja auch der da, hat er gesagt und zum schmucklosen Rollator neben dem Puky mit Pokémonwimpel und Hamburgerklingel genickt, den ich bis dahin nicht zuordnen konnte. Müssten sie dann mal sehen mit den Treppen und allem, wie sie das dann machen. Weiß man ja nicht, wie lang das noch geht. Sie war jetzt schon froh über jedes Mal, die sie ihr erspart blieben.

Stimmt, dachte ich. Sie hatte ich schon länger nicht gesehen, sah eigentlich nur noch ihn. Sah ihn mit der Post, den Einkäufen, dem Müll, dem Pfand, den Apothekentütchen.

Deswegen, weil ihnen da niemand was Genaues sagen und man da nur schätzen konnte, hat er ihr den Urlaub in die Wohnung geholt. Jetzt schon, bevor es wieder kalt wird draußen. Wenn dann auf dem Balkon ja auch kein schönes Sitzen mehr ist, so schön sie es da auch haben. Und das haben sie ja, betonte er. Auf jeden Fall haben sie es sehr ordentlich, dachte ich und nickte. Regelmäßig werden Stuhlpolster und Auslegware gesaugt, wird drübergewischt über Wachstischdecke, Armlehnen und Geländer, werden Lichterkette, Zierkrähe, Wetterhahn und Korbregal abgestaubt, wird der Efeu gestutzt, werden die zwischen Petunien, Pelargonien und Geranien steckenden bunten Solarschmetterlinge von Blütenstaub befreit. Einen neuen Sonnenschirm gibt es auch, einen weniger bunten, dafür deutlich größeren. Damit seine Elke sich nicht immer in den Schatten bewegen muss, wenn die Sonne zu viel wird. Und das wird sie ja schnell, wenn man sich nicht immer in den Schatten bewegt.

Ob ich einen Hometrainer gebrauchen könne, fragte er, mich dabei ganz selbstverständlich duzend. So einen, sagte er, umschloss mit den Händen zwei unsichtbare Griffe, während er die Arme abwechselnd vor und zurück bewegte und die Fußballen zeitgleich auf und ab. Ich verneinte. Geschenkt, er wolle da nichts für haben. Das sei ja jetzt kein Profigerät oder so, aber noch mit Garantie und zum Rumstehen einfach zu schade. Trotzdem nicht, trotzdem danke. Oder ob ich jemanden kenne, der einen braucht, überlegte er weiter. Dass ich mal rumfrage, sagte ich und wusste, dass nicht.

Ich kann nicht mehr sagen, was dem Gespräch vorausging. Was den Auftakt dazu bildete, dass er mir davon erzählte, neulich, an den Briefkästen. Ich den Müll in der Hand, er ein Schlüsselmäppchen und die Tür. Bislang hatten wir kaum mehr als Behelfsmimik, ein paar Höflichkeiten und Benachrichtigungskärtchen gegen gescheiterte Zustellversuche ausgetauscht.

Ich wohne eine Etage höher, genau über Springsteen und Elke. Wir haben also die Adresse, den Grundriss und Wände gemeinsam, die Räume teilen und nicht selten darin Geschehendes. Wenn Springsteen angestrengt hustet oder engagiert schnäuzt, dann ist das zu hören. Erst recht, wenn er niest. Jeder seiner Nieser, wirklich jeder, klingt nach Tobsuchtsanfall und so, als wäre unterdrücken gesünder. Wenn der Fernseher zu laut ist, hört man das und auch, wenn Elke das ebenfalls findet. Das Klingeln des Telefons und ihr gegenseitiges Inkenntnissetzen darüber? Das Zischen fettheißer Pfannen? Das Rauschen des Badewannenhahnes? Staubsauger? Einschätzungen zu Spielgeschehen und Personalpolitik seiner Borussia? Ebenso.

Und hin und wieder hört man Springsteen, also den echten. Ich weiß gar nicht mehr, wann es anfing. Wann ich das erste Mal mein Handy an die Tapete hielt und Shazam die Töne abnehmen ließ, die sich darin verfingen.

Vermutlich war es ein Mittwoch. Ziemlich sicher sogar. Denn immer mittwochs ist Jutta von nebenan zu Besuch. Ich kenne Jutta nur vom Grüßen, die drei kennen sich noch aus Konsumzeiten: Jutta und Elke Kasse, Springsteen Fahrer. Natürlich war er Fahrer. Straßen sind Straßen geworden, damit Typen wie Springsteen sie fuhren und Lederwesten Lederwesten, damit Typen wie er sie trugen. Dazu meist Schalke-Trikot oder T-Shirt mit Flockprint, Jeans, Allzweckschlappen und etwas, von dem ich annehme, dass es eine Mischung aus Old-Spice-Rasierwasser und, wenn es das gibt, Axe-Raststätte ist.

Sobald Jutta ihr stakkatoartiges Juttaklingeln klingelt, bleibt noch ungefähr eine Stunde, die Buchhaltung, oder was eben ansteht, fertigzubekommen. Danach ist es vorbei mit der Konzentration. Dann ist die Musik zu laut und Juttas Lachen, das an Old MacDonalds Farm erinnert. Je später der Mittwoch, desto mehr Tiere lacht sie.

Wenn die drei auf dem Balkon sitzen, setze ich mich zum Feierabend manchmal leise auf meinen, höre ihnen zu und der Musik. Wie heute. Im Moment läuft Scott McKenzie. Davor kam Supertramp und danach müsste Born to run kommen. Es ist immer dieselbe Reihenfolge. Inzwischen habe ich die komplette Mittwochsplaylist zusammen. Und auch die meisten Mittwochsgeschichten.

In letzter Zeit geht es oft um die Scheidung von Juttas Tochter und darum, dass Jutta ihre nie bereut hat, und zwar keine davon, es geht um „uns hier unten“ und „die da oben“, womit sie zu meiner Erleichterung nicht mich meinen, sondern die Regierung, die man komplett in den Skat drücken könne. Es geht um mir größtenteils unbekannte Nachbarschaft, um Parkraumbewirtschaftung, Balkongestaltung und Schädlingsbekämpfung, um Wetter, gestiegene Preise trotz gesunkener Qualität, fast immer auch um den Flaschenautomat beim Netto, der mal wieder oder immer noch kaputt ist.
Und es geht um früher, als vieles leichter war, aber bei Weitem nicht alles gut. Das mit dem Reisen, dass man das nicht konnte, nicht so jedenfalls, wie man wollte, das war, vor allem für Hungry-Heart-Springsteen, das Schlimmste.
Das macht schon einen Unterschied, ob man in Binz am Strand liegt oder auf Bali, ob man durch die hohe Tatra wandert oder durch den Grand Canyon, wo sie zwar nie waren, aber geht ja ums Prinzip. Elke war immer fürs Warme, Bali oder Thailand, aber am liebsten Bali, Springsteen fürs Kernige, die Rockies oder den Grand Canyon. Geeinigt haben sie sich dann meistens auf Kroatien oder Gran Canaria.

Heute kein Wort vom Reisen. Den ganzen Abend nicht. Und auch kein Born to run. Wenn Jutta heimgegangen ist und Elke schon rein, läuft der Song immer nochmal. Nur für Springsteen allein, der noch austrinkt, was auszutrinken ist, raucht, hickst, mitbrummt, dabei, so zumindest stelle ich es mir vor, vornübergebeugt sitzt, Ellbogen auf den Knien, der Kopf nickend, die Füße wippend, beides knapp am Takt vorbei, während er von der Freiheit träumt. Von den Rockies und dem Grand Canyon, von Kroatien und Gran Canaria. Inzwischen vielleicht auch von Binz. Weil es nun mal einen Unterschied macht, ob man Bali an der Wand hat oder in Binz am Strand liegt.

 

Anne Büttner

 

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freiTEXT | Marlene Schulz

Auf der Melibokusbank

In der Nacht hatte es geregnet. Die Wiesen waren noch feucht und die Luft war kühl an den Wangen und frisch. Ein feiner Nebel zog über den Gräsern auf.
Sie gingen hoch zu der Sitzgruppe, einem Tisch und davor einer Sitzbank aus grobem Holz, mit Blick auf den weit entfernten Melibokus. Oben stiegen sie über die Bank auf den Tisch und stellten sich nebeneinander. Das Holz war zu feucht, um darauf zu sitzen. Sophia tippte wortlos den gestreckten Zeigefinger an die Lippen und zeigte dann auf den Waldrand. Da stand eine Ricke mit einem Kitz. Nada nickte. Sie schauten eine Weile zu, sahen die Rehkuh aufschrecken und die Tiere davonlaufen.
Gestern hatte ich eine seltsame Begegnung, sagte Sophia.
Hier im Wald?, fragte Nada.
In der Bahn. Ich bin von Frankfurt nach Darmstadt zum Nordbahnhof gefahren. Wenn du da in den Zug steigst, kommt dir die Welt viel kleiner vor. Der Zug hat zwei kurze Wagen und alles wirkt wie ein größerer Bus auf Schienen, der in die Jahre gekommen ist.
Auf halber Strecke, da waren die meisten Leute schon ausgestiegen, kam ein Mann auf mich zu, ich saß auf einem Vierer, und der fragte, ob er sich zu mir setzen dürfe. Klar, hab ich gesagt, und da streckt der mir seine Hand entgegen und sagt seinen Namen. Ich war so perplex, dass ich ihm auch die Hand gab. Komisch irgendwie. Die hat er dann mit zwei Händen festgehalten, für mein Gefühl ein bisschen zu lang.
Hast du deinen Namen auch gesagt?
Ich hab erst mal gar nichts gesagt. Er hat dann geredet, hat gesagt, ich kann mir vorstellen, dass Ihnen das etwas eigenartig vorkommt. Nicht ganz gewöhnlich, hab ich gesagt. Ja, das trifft es.

Wissen Sie, sagte er, ich habe in einem Magazin über eine Studie gelesen. Solche Analysen sind immer sehr aufschlussreich. Da hieß es, dass körperliche Berührungen von Menschen und Tieren Schmerzen lindern können und Depressionsgefühle und Ängste.
Hm, hab ich gesagt.
Ich finde das sehr beeindruckend, sagte er. Die körperliche Gesundheit kann jeder Mensch dadurch selbst beeinflussen und seitdem ich das weiß, habe ich angefangen zu sammeln.
Was sammeln Sie denn?, hab ich gefragt.
Berührungen, meinte er.
Deshalb haben Sie meine Hand vorhin so festgehalten.
Sie haben es erraten, sagte er und dabei streckte er seinen Zeigefinger gefährlich nah zu mir herüber. Glücklicherweise blieb er sitzen.
Und führen Sie darüber Buch, was Sie so am Tag gesammelt haben?, hab ich gefragt. Vier Mal Händeschütteln, drei Mal Armberührung, zwei Mal Anrempeln in der Straßenbahn im Berufsverkehr? Weihnachtsmärkte müssten da ja sehr ergiebig sein oder Demos.
Nein, wo denken Sie hin, sagte er. Ich mache keine Strichlisten, ich sammle einfach nur die Berührungen. Volksfeste sind ein guter Fundort, auch Bahnsteige. Da stelle ich mich am ankommenden Zug vor die Tür und bleibe einfach kurz vorm Reingehen stehen, während die anderen alle in die Bahn wollen. Da gibt es ganz viel Berührung, nicht immer freundlich, aber Körperkontakt von mehreren Seiten. Je häufiger, umso gesünder. Umarmungskissen gehen natürlich auch, sagte er. Oder Gewichtsdecken. Aber so etwas habe ich nicht zuhause. Ich mag es lieber natürlich, so von Mensch zu Mensch. Und wissen Sie, was die herausgefunden haben?, fragte er.
Die Forscherinnen meinen Sie?
Forscherinnen?
Ja, die Forscher stecken ja sowieso im Wort, sagte ich. Sie machen mich neugierig, was die entdeckt haben.
Ach so, sagte er, und ja, stimmt. Die haben herausgefunden, dass es gar nicht auf die Länge der Berührung ankommt. Da gibt es keinen Unterschied, ob es um zehn Sekunden geht oder um eine Stunde.
Okay, sagte ich.
Aber noch interessanter ist, sagte er, wo die Berührung am wirkungsvollsten ist.
Irgendwie war ich plötzlich alarmiert und dachte so bei mir, hoffentlich ist das jetzt harmlos. Ich hab mir alles Mögliche ausgemalt, wo das sein wird, auf Herzhöhe oder direkt unterm Bauchnabel oder am Hintern, und dass der mir dann die Stellen genau an sich zeigt und hoffentlich nicht an mir.
Am Kopf, sagte er da.
Am Kopf, hab ich dann wiederholt und war erleichtert.
Kurz vor der nächsten Haltestelle stand er dann auf, guckte mich an und sagte: Hätten Sie etwas dagegen?
Gegen was?, hab ich gefragt.
Nur eine kleine Berührung, so von Stirn zu Stirn, also von Kopf zu Kopf. Für meine Sammlung.
Für Ihre Sammlung, hab ich gesagt.
Ich sammle doch Berührungen.
Ja, das sagten sie, sagte ich. Er stand ja da so vor mir und ich, ich hab gesessen. Von mir aus kann der ja sammeln, was er mag. Ich bin auf jeden Fall für gesunde Sachen, und dass da einer für sich selbst sorgt und alles, finde ich wirklich super. Der kann vor jeder Zugtür stehen bleiben und warten, bis alle eingestiegen sind und beim nächsten und übernächsten Zug nochmal das Gleiche, von mir aus den ganzen Tag und meinetwegen auch die Nacht, alles fein, aber stell dir vor, dich will auf einmal jeder Mensch am Kopf anfassen, da wirst du doch verrückt von diesem ganzen Kopfgetatsche.
Und was hast du gemacht, fragte Nada und guckte mich von der Seite an. Ich schaute auf den Melibokus.
Hast du’s gemacht? Nada kräuselte die Augenbrauen und legte den Kopf ein wenig schief. Hast du nicht, sagte sie. Oder?
Ich hab ihm gesagt: Tut mir leid, aber ich habe da einen ganz schlimmen unsichtbaren Ausschlag am Kopf, ich möchte sie auf keinen Fall anstecken. Ich mag Ihre weitere Sammlung nicht gefährden.
Da hat er seine flache Hand auf den Mund gelegt und große Augen bekommen, ist dann sofort aus dem Vierer raus auf den Gang und weg war er.

 

Marlene Schulz

 

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freiTEXT | Carolina Reichl

Plus, Minus, Notizen

mit L. zusammenbleiben:
+ er liebt dich
+ du liebst ihn
+ du kannst mit ihm lachen, über alles und nichts
- ihr streitet zu viel
+ ihr streitet eigentlich nur, wenn ihr betrunken seid
- er trinkt zu oft und zu viel
+ er sagt, er will sich ändern
- er hat schon oft gesagt, er würde sich ändern
- deine freundinnen sagen, du verdienst was besseres
+ deine eltern mögen ihn
+ seine mama mag dich
+ seine freunde sagen, du tust ihm gut
+ ihr seid seit 6 jahren zusammen
+ er ist dein erster freund
- er ist dein erster freund
- du fragst dich manchmal, wie es wäre, mit jemand anderem zusammen zu sein
+ du kannst bei ihm sein, wie du bist
- er sagt, deine oberschenkel wären fester geworden
+ der sex
+ die neue wohnung
- seine eifersucht
+ er sagt, er will dich nicht verlieren
+ er sagt, er kann sich eine zukunft mir dir vorstellen
+ du bedeutest ihm viel, ohne dich fühlt er sich leer
- er hat dich bitch genannt
+ er ist kreativ
+ er ist ehrgeizig
+ du kannst ihn glücklich machen
- das glück ist nie von dauer
+ er sagt, du bist was besonderes
+ du weißt, es fällt ihm nicht leicht, sich zu öffnen, aber für dich versucht er’s trotzdem
+ so offen wie mit dir spricht er sonst mit niemandem über seine vergangenheit
- er ist unpünktlich
- er entschuldigt sich für seine unpünktlichkeit nicht
- wenn du weinst, wird er wütend
+ er schenkt dir blumen
+ er mag dieselben serien wie du
+ er kocht gerne
- du hasst es, wenn er in seiner nase bohrt und glaubt, du merkst es nicht
+ du magst, dass seine augen unterschiedlich sind, das eine grün, das andere blau
- er hat dich betrogen
- er hat es nicht zugegeben, als du ihn danach gefragt hast
+ es ist nur einmal passiert, sagt er, und er war betrunken
+ es tut ihm leid
+ er sagt, es war ein fehler
+ er sagt, dass es für alles eine lösung gibt
- was, wenn er wieder fremdgeht?
- was, wenn du ihm nicht verzeihen kannst?
+ du kannst mit ihm über alles reden
+ er hört dir zu, wenn dich was bedrückt
+ er vertraut dir
+ du bist die einzige, die weiß, dass er antidepressiva nimmt
+ er sagt, er kann sich nicht vorstellen, mir jemand anderem so glücklich zu sein
- du hast angst, dass es dir irgendwann zu viel wird
+ er gibt dir selbstbewusstsein
+ er sagt, du gibst seinem leben sinn
+ du kannst an dir arbeiten, wenn du genug an dir arbeitest, wird alles wieder gut
- du schreibst diese liste nicht zum ersten mal
+ er liebt dich
+ du liebst ihn

 

Carolina Reichl

 

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freiTEXT | Jan David Zimmermann

Onkel Fritze

Schmerz ist das stärkste Mittel der Mnemotechnik. – nach F. Nietzsche

Haarmann hat sich aufgerichtet. Er hat sich aufgerichtet und hat die Teerbrocken ausgehustet, die jeden Morgen auszuhusten sind. Immer, ausnahmslos… ja, jeden verdammten Morgen das durch das Rauchen verursachte Aushusten von Teerbrocken. Zumindest fühlen sich diese klumpigen Rachenablagerungen so an wie Teer, dachte Haarmann nun in der Dämmerstimmung des Morgengrauens.
Er hat sich aufgerichtet, sein feister Körper hat sich in der Mitte also rechtwinkelig geknickt, wobei ihm die abgewetzte dünne Decke wie eine zweite Haut von der breiten Brust um den Bauch rutschte. Dann hat er die Beine ausgestreckt und die Arme ebenfalls. Warum macht man das?, hat sich Haarmann wohl gefragt, warum streckt man sich in der Früh? Versucht der Körper etwas loszuwerden, was in der Nacht in ihn fälschlicherweise hineinkam?, klang es in seinem Ohr. Haarmanns Lippen haben unter dem vom Polster der Nacht aus der Ordnung gebrachten englischen Schnurrbart kurz gezuckt. Er hat neben sich eine zweite, zerwühlte Decke gesehen, aber neben ihm lag niemand. Ihm war eigenartig zumute. Und nun war es ihm auch wie ein Déjà-vu, in der Früh so aufzuwachen und sich dies zu denken, die Lippen zucken zu spüren, die zerwühlte Decke zu sehen, und sich eigenartig zu fühlen, ein leichtes Grausen zu fühlen, das um ihn waberte. Er hat nun genauer in das Halbdunkel der Frühe geschaut, angestrengt hat er versucht, Neues zu entdecken, herauszufinden, warum ihn das leichte Grausen befiel. Da ist ihm plötzlich im Dämmerdunkel das konstante Sehfeld aufgerissen und ebenjene schwarzen kleinen Kristalle sind durch den Raum geschwebt, die entstehen, wenn man sich zu lange nach unten bückt und anschließend schnell wieder aufsteht. Warum zerbröselt mir die Sicht derart, wenn ich mich aber doch gar nicht nach unten bücke und dann schnell wieder aufstehe, sondern nach wie vor im Bett sitze?, hat Haarmann sich gefragt und ihm war noch seltsamer zumute als zuvor. Der entblößte schwammige Brustkorb ist nun auch zusätzlich von der kalten Luft angegriffen worden, die das undichte Fenster mit der dünnen Scheibe einströmen ließ. Einem innerlichen Frösteln folgte also, mehr oder weniger, aber eher mehr, ein äußeres Frösteln. Langsam beruhigte sich sein Sehfeld wieder etwas. Haarmann hat die Arme links und rechts neben sich in die quietschende und durchgelegene Matratze gestützt, hat einen dunklen Fleck in die Grobkörnigkeit seiner Decke geschaut, die noch um seine Füße geschlungen war. Dachte, er hat dort etwas gesehen, hat aber nicht gewusst, ob es nur das zu lange Starren auf einen Fleck war, das ihn dort, auf seiner Decke etwas vermuten ließ. Die Dämmerung des Morgens entstellt die Dinge, klang es in seinem Ohr. Haarmann hat genickt und die allgemeine Grobkörnigkeit der Dinge und Gegenstände bemerkt und sich nun wieder hinlegen wollen, hat sich die Hautlappen der glatzigen Decke geholt und seine Brust wieder bedeckt, den Kopf in die Kissen gesenkt. Auf den Plafond starrend war er nun aber wach und musste an Hildesheim denken, es strömte nun unaufhaltsam auf und in ihn ein; die Schwere der Dinge in der Nacht kann bisweilen von einer noch größeren Schwere der Dinge in der Früh abgelöst werden, klang es in seinem Ohr. Er musste nun an das Kranksein denken, er erinnerte sich an die Worte des Arztes und konnte sich an dessen von Schweißperlen umkränzten Mund erinnern, als dieser damals die Diagnose aussprach. Haarmann musste nun also das Wort Jugendirresein in sein Bewusstsein lassen, musste also am Ende sich in einem kranken Zustand und seine Krankheit und alles damit Zusammenhängende in sein momentanes Bewusstsein eindringen lassen, ohne Unterlass. Das Wort Jugendirresein penetrierte seine Gedanken und zerhackte die Wohlgeformtheit seiner Gedanken, zerrieb die Syntax seiner Gedanken, zerstob die Semantik seiner Gedanken, zersetzte die Logik seiner Gedanken. Ein Summen und Surren dieser losen, zerbrochenen, nunmehr wirren Gedanken. Nun hörte er in all diesem dröhnenden Gedanken-Strömen die Jungen sprechen, die Puppenjungs, wenn sie ihn zärtlich „Onkel Fritze“ nannten. Dieses „Onkel Fritze“, das sie von sich gaben, wenn sie sich um Haarmann geschlungen hatten, mit ihm so im Bett lagen, ihn dann küssten und so weiter. Dieses Bild stach nun in Haarmanns Kopf, flackerte auf.
Haarmann hat sich daher wieder vollkommen aufgerichtet, so als könnte er dadurch den Gedanken entkommen, so als gäbe es die Gedanken und Bilder nur in einer bestimmten Position. Haarmann hat sich also aufgerichtet, hat sich im schweißverwetzten Bett herumgedreht, sich mit erhöhtem Oberkörper die Decke noch fester um die Beine geschraubt, die zweite Decke lag nach wie vor zerwühlt neben ihm und er fragte sich nun endgültig, was es mit ihr auf sich hatte, wo er doch alleine war. Im langsam sich erhellenden Zimmer konnte er nun eigenartige Flecken auf dieser Decke erkennen. Er fasste einen Entschluss und begann, auf die zweite Betthälfte zu kriechen. Haarmann ist nun also im morgendlich erhellten Raum mit von seiner eigenen Decke umschlungenen Beinen zu der anderen Betthälfte gekrochen, ist an und über die zerwühlte zweite Decke gekrochen und hat schließlich beim Lüpfen der anderen Decke das Blut bemerkt, das sich in dieser Betthälfte befand und das Laken darunter getränkt hatte. Haarmann hat die Augen entsetzt aufgerissen und ist weiter bis zur Bettkante gekrochen.
Da hat er am Boden einen liegen sehen, hat gesehen wie die Morgensonne, nunmehr endgültig in das Zimmer eingedrungen, auf den Körper des toten Jungen fiel. Haarmann sah den nackten und schönen Körper des Puppenjungen, sah aber gleichzeitig dessen zerwühlte Kehle; zerwühlt wie Decken in der Früh.

 

Jan David Zimmermann

 

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freiTEXT | Dana Schällert

Denk mal

Niemals hätte sie das gedacht.
Wo sie doch so gegensätzlich sind.
Gegensätzlicher kann man gar nicht sein, denkt sie. Denkt sie.
Sie denkt. Allein das ist bemerkenswert, denkt sie. Das muss ER gewesen sein. Denk mal, denkt sie.
Man kommt wohl nicht drumrum, wenn man sich in wen verliebt, der ein Denkmal ist. Sein Sein ist die Arbeit, denkt sie. Er arbeitet Tag und Nacht, denkt sie, während sie nichts tut. Rumsteht. Rumsteht und nichts tut, außer Kleider zu tragen. Mal dick und warm, mal luftig und kühl, gemustert oder uni, es bleibt Stoff, aus dem keine Träume sind.
Sie hat weder Augen noch Mund, ihr ganzer Körper verharrt im Status der Andeutung. Ihre Hand ist leicht erhoben und nicht voll gestreckt, eine Geste von Eleganz und Überdruss, sie hat sie nicht selbst geformt. Formwerk anderer ist ihre Haltung, ihr ganzer Leib, Kunststoff wie die Gewänder, ihre Kugelgelenke drehen sich um eine Welt, die eine Glasscheibe ist. Dahinter steht sie nämlich, in einem Zwischenraum. Hinter der schmalen Stellwand, die ihren Rücken umsäumt, liegt die kunstlichtbeschienene Verkaufsfläche, gefüllt von Aufreihungen kleidförmiger Identitätsvorschläge in den Farben der Saison, deren verkaufsträchtigstes Exemplar sie selbst als Botschafterin zu tragen auserkoren worden ist. Das ist ihr Platz. Hier. Vor unsichtbarem Hintergrund, hinter besagter Scheibe. SALE steht vor ihrer Stirn. Es könnte ihr Name sein.
Schaut ihn an. Augenlos, hirnlos, wortlos. Schaut ihn an und denkt auf einmal.
Denk mal, sagt etwas an ihm. Wie er abgehoben da oben steht auf dem Turm anderer Figuren mit der Kelle in der Hand. Sein Körper ist vom Schuften gebogen, auch steht er nicht aufrecht und stolz wie sie, die innen hohl ist, sondern schräg, als könnte ihn bereits ein leichter Wind hinfortreißen. Sein metallener Blick aber ist so fest und stark wie die Hände, die die Kelle umgreifen, wie die weit gespreizten Beine, die in den Boden gegossen scheinen, weil sie es sind. Seine Kleidung ist nicht aus Stoff, das ist in Bronze gegossener Marmor. Das ist ewig, das ist nicht Saison, das ist die stehengebliebene Zeit. Das ist Geschichte, genau wie seine unmoderne Kopfbedeckung, die was mit seiner Arbeit zu tun haben muss. Niemals wird ein Wind ihn hinfortwehen, denkt sie. Niemals. Das ist Geschichte. Was war, steht fest. Stünde ich dort, ach, aber ich bin ja hinter Glas, ich bin ja …
Sie weiß, er schwarz. Er weiß, sie nicht. Nichts weiß sie. Aber denk mal, sagt er wohl, denkt sie. Denk doch mal. Denk, was sein könnte. Du könntest sein. Ich könnte sein. Alles könnte anders sein. Wir könnten sein. Könnten abhauen, denk doch mal. Und sie starrt hinaus, Gedanken verloren, die sie gerade gewann und sehnt sich. Ich bin ja …, ich könnte ja … Denk mal, sie sehnt sich. Steht hinter dem Glas des internationalen Modekonzerns und sehnt sich. Nach mehr. Nach Wahrheit. Nach Körper und Schweiß und Sex und Luft. Nach Veränderung. Denkt, dass er längst müde sein muss. Von so viel Arbeit. So viel Geschichte, die in seinen Adern zur Ewigkeit gefror, dass sie kein Hirn mehr zum Denken bringt. Wie sie, so harrt er aus, vor Bewegung längst steif geworden, steif wie sie, denkt sie, die sie nie in Bewegung kam. Hart und starr, beide, da muss es was anderes geben, denkt sie. Es muss mehr geben.
Wie käme Regung in meine Beine?, denkt sie. So wie das Denken in mein Hirn kam? Aber wie war das? Wie war das nur? Und wie könnte …? Liebe, denkt sie, Hoffnung, vielleicht, Glaube, oder was in der Art. Denk mal, ich habe ein Herz, denkt sie. Erkennt es aufgeregt, auf einmal, spürt den Rhythmus der Popmusik im Store kräftig in sich verzweigenden Adern pulsieren. Starrt hoch zu ihm, fragt sich: Und du? Könntest du? Willst du? Heut ist Ausverkauf. Rufen wollt ich dich, denkt sie, aber hab keine Worte, denkt sie, tastet nach den stummen Lippen und erstarrt, als sie merkt, dass sie sich bewegt hat, als sie merkt, wie die Kugeln rotieren, wie der Boden rotiert. Und als die Glassplitter auf die Straße klirren, da dreht er plötzlich, erschrocken hat er sich, dreht da oben den Kopf, ein Riss durchzittert den Stein, die Kelle schöpft Mut im Fall. „Jetzt!“

 

 

Inspiriert von der Skulptur „Turm der Arbeit“ von Jürgen Weber in der Innenstadt von Salzgitter Lebenstedt (Deutschland). Diese visualisiert die Stadtgeschichte Salzgitters. An ihrer Spitze steht der „Probennehmer“, eine große männliche Figur mit einer Gießkelle in der Hand. Umsäumt wird das auf einem Platz stehende Monument von Geschäftshäusern, in denen vor allem internationale Modekonzerne residieren, deren Schaufenster sich zum Platz hin öffnen.

 

Dana Schällert

 

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freiTEXT | Stefan Volkmann

Verlorene Kokons

Mein Fenster ist offen, ich döse. An der Bushaltestelle stehen französische Mädchen, warten, sprechen und lachen. Ich erinnere mich an Karens und meinen Wochenendausflug nach Straßburg. Es war Herbst, auf den Brücken und Quais lagen Blätter. Wir gingen Hand in Hand, umarmten und küssten uns. Wenn ich jetzt daran denke, fühlt es sich an wie die Erinnerung eines Fremden oder als hätte es mir jemand in einer Kneipe erzählt. Ich saß auf dem Place Kléber auf einer Bank, zwei Teenagerinnen schauten auf ein Handy und lachten. Acht in schusssicheren Uniformen steckende Soldaten patrouillierten langsam – ihre Maschinengewehre schussbereit – an uns vorbei, spähten in alle Richtungen und suchten Terroristen. Eine aus einem Maschinengewehrlauf sich lösende Kugel hätte mich treffen sollen, mein Leben wäre in einem roten Faden auf den Boden geronnen und aus mir rausgetropft. Plätschern von Springbrunnen, der sonnige Himmel, Karen hätte mir ihre neuen Schuhe nicht zeigen können, sie wären für meine Beerdigung nicht geeignet gewesen, zu fröhlich, lebendig und silbern. Wir bummelten zum Hotel, duschten uns und schliefen miteinander, goldene oder rote Blätter wehten aus meinem Körper in ihren oder aus ihrem in meinen, wir häuteten uns, um einander näher zu sein, aber sie hatte schon was mit Sascha. Warum habe ich sie, oder wir uns, verloren? Weil ich nicht mal mich halten kann? Karen sieh, ein ängstlicher Kahn versinkt. Ich sinke, seit ich denken kann, mir meiner Umwelt bewusst bin, aber mache trotzdem weiter, als sänke ich nicht. Leben ist vom ersten Atemzug an ein Weitermachen, ein Kampf. Ich rutschte die Rutsche runter, kletterte ein sternförmiges Netz aus Tauen oder Seilen hoch und sprang in den Sand, aber verstauchte meinen Knöchel oder schürfte ein Knie auf. Jemand wird gebracht, ein anderer geholt, Kleinkindergesichter kommen und gehen, verziehen sich zu Grimassen, entspannen sich zu Gesichtern, verformen sich zu Fratzen, und so fort. Ich spielte mit Jungs und Mädchen, überall standen Frauen, mit oder ohne anderen Frauen, schoben Kinderwägen vor und zurück, hockten sich hin und beugten sich vor. Haare fielen über Dekolletés, ich scheiterte bei meinen Versuchen, ihre Blicke zu deuten. Blaue, grüne, braune und graue Augen wurden schwarz, sobald ich sie anschaute, rote oder rosa Lippen grau, schwarze Augen steinern. Ich stehe zwischen Statuen im Park, bin ein Mensch, ein Mann, ein Kind, aber will eine Statue sein, oder sitze als nackter König – Grünspan auf der Haut, in der Krone, am Geschlecht – im Kettenkarussell. Es dreht und dreht sich, aber ich komme nicht raus. Die Frauen vom Spielplatz werden älter, fegen Blätter zusammen und gehen nach Hause. Kompost wievieler Herbste fault in meinem Schoß? Ich sitze im Tretauto, rase die Kindergartenautobahn lang und will endlich raus, aber ein Schneepflug nach dem anderen rauscht an mir vorbei, Kabinenlichter blinken rechts und links, türmen Matschberge vor mir auf. Ich müsste einen Tunnel graben, um irgendwo hinzukommen, sehe fahles Licht oder Nebel, durch den oder in das orangene Schneepflüge rutschen. Sie schlittern wie in einer weißen Kugel durch mein Schütteln oder stecken fest. Blonde Haare wehen im Zwielicht, rote Fingernägel winken aus halb geöffneten Fenstern, gespreizte Strumpfhosenbeine dampfen unter Lenkrädern. Herzatemwolken tragen Sonnenbrillen. Ich trete und trete, aber komme nicht raus, als wäre ich festgewachsen. Alles wiederholt sich, die Welt läuft auf Schienen, Kinder hängen wie frisch gewaschene Wäsche an Leinen, zittern körper- und kopflos im Wind. Ich verlasse meine Wohnung, laufe durch den Gleisdreieckpark zur Agb¹ und sitze am Ufer. Pferdeschwänze joggender Frauen und Mädchen pendeln rhythmisch von links nach rechts oder von rechts nach links und messen meine Zeit. Frauen und Mädchen öffnen ihre Zöpfe, Haare fallen und strömen ins Gras, meine Zeit ist abgelaufen, nimm dein Rennrad, tritt in die Pedale, es fährt rückwärts, du weißt nicht wohin, siehst nicht, dass ein Lkw in dich rein fährt, bleib, wo du nicht mehr zuhause bist, auf der Straße liegen und stirb. Ich verheddere mich in den Haaren der Frauen und Mädchen, mit denen ich geschlafen, die ich geliebt habe, ihre Haare wachsen weiter um mich, aber die Frauen und Mädchen sind lange fort und mit anderen Männern und Jungs zusammen. Ich ersticke in Kokons, die niemanden wärmen, bin in meinen Nestern aus Haaren, die ich gebaut habe, auf dass die Liebe – oder Karen – zu mir zurückkehren, aber sie kehren nicht zurück, nie flügge geworden. Habe Milch gesabbert, Haare verklebt und stecke in meinen Nestern, die keine Kokons sind, fest, schaue wippenden Pferdeschwänzen, die meine Stunden zählen, hinterher, und will ein neues Nest, einen neuen Kokon, aber keine Frau, kein Mädchen schenkt mir mehr ihre Haare, alle joggen den Kanal lang oder fahren in Schneepflügen an mir vorbei und spucken auf den fetten Alten, der in seinem roten Tretauto sitzt, das vor einer grünen Ampel steht und nicht anspringt, runter, schlaf ein, träum süß, stirb lang.

¹ Amerika-Gedenkbibliothek in Berlin

 

Stefan Volkmann

 

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freiTEXT | Ann-Christin Kumm

Nachmittags/abends

– Ich habe auch Angst vor dem Dunkeln. Und vor kleinen Tieren.
Mit vielen Beinen.
– Ja.
Insekten und Spinnen.
– Genau…
In der Zelle war eines, ein Käfer. Er ist über meine Haut gelaufen, wie eine Erinnerung, dass da noch Leben war.
– Das tut mir so leid.
Ich möchte eigentlich kein Mitleid.
– Das muss schrecklich gewesen sein.
Wir haben uns angefreundet.
– Oh.

– Aber krass, dass man die Frage nach Angst sofort beantworten kann.
Ja… Manchmal habe ich Angst vor meinen Träumen. So sehr, dass ich nicht schlafen will.
– Das kenne ich gut.
In meinen Träumen muss ich immer wieder fliehen, muss aufspringen und aus dem Raum rennen, ich habe keine Zeit, etwas mitzunehmen, jemandem Bescheid zu sagen. Es sind immer dieselben Bilder.
– Bei mir auch. Also, andere natürlich. Aber immer wieder dieselben Bilder.
Was für Bilder?
– Dass mich jemand umbringen will. Ich laufe und hinter mir das Brüllen und ich bin zu langsam, stolpere, renne weiter.
Ist das eine Erinnerung? Ist es wahr?
– Es ist wahr. Also, ich habe das so erlebt, damals. Und es kommt wieder. In den Nächten kommt es wieder.
Wenn man weiß, was Todesangst ist.
– Ja!
Dabei habe ich sonst keine Angst vor dem Tod, im Gegenteil.
– Ich wollte immer leben.
Immer?
– Immer.
Hm.
– Ich habe mir immer gesagt: Irgendwann kommst du hier raus. Irgendwann bist du alt genug. Und dann kommst du raus.
Und jetzt bist du hier.
– Ja.
Du BIST rausgekommen.
– Ja… Und du auch.
Ich auch.
– Nach diesen Träumen muss man immer sofort das Fenster öffnen.
Kaffee machen.
– Sich an die Welt erinnern…
Sich in die Welt zurückbringen.
– Ja! Es hilft auch, wenn ich nicht alleine bin. Wenn A. bei mir ist. Wenn ich aufwache, und da atmet jemand neben mir.
Ah. Okay.
– Auch wenn ich nicht weiß, ob A. und ich wirklich zusammen sind.
Was meinst du, wirklich zusammen?
– So, dass ich weiß, es bleibt so.
Ich habe mich noch nie von jemandem angezogen gefühlt. Ich dachte erst, es wären Männer, aber das ist es nicht. Es interessiert mich einfach nicht. Sex, Romantik, das alles.
– Das ist doch voll in Ordnung.
Für dich vielleicht. Aber die Leute stellen Fragen, dauernd.
– Das stimmt…
Meine Eltern haben mir jeden Tag gesagt, wann ist es so weit. Wann willst du anfangen. Sollen wir dir eine aussuchen.
– Im Ernst?
Glaubst du mir nicht?
– Ich glaube dir.
Ich habe dann den Kontakt zu meiner Familie abgebrochen.
– Ah.
Es ging nicht mehr. Sie sagten, sie würden in Schwierigkeiten kommen, wenn ich mich melde. Und ich wollte ihr Gelaber nicht hören.
– Und jetzt?
Nichts. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist.
– Denkst du, sie sind tot?
Manchmal. Manchmal finde ich das eine angenehme Vorstellung.
– Ich glaube, das verstehe ich. Ich wünschte, ich könnte einfach wegziehen, ganz weit weg. Und mich nie wieder melden.
Allein? Oder würdest du A. mitnehmen?
– Ich weiß es nicht. Das klingt schrecklich…
Ich wüsste auch nicht, wen ich mitnehmen, wem ich meine Nummer geben würde.
– Würdest du sie mir geben? Entschuldige.
Schon okay. Eigentlich will ich gar nicht. Ich bin genug ausgewandert für ein ganzes Leben.
– Willst du hierbleiben? Also, ich meine. Für immer.
Jedenfalls will ich gerade nicht woanders hin. Klar gibt es hier viele Probleme, aber die gibt es überall.
– Ja…

– Ich schon. Ich will weg.
Weit weg?
– Ja. Dahin, wo niemand mich kennt. Wirklich niemand.
Ja.
– Vielleicht würde ich A. mitnehmen.
Ja.
– Ich weiß nur nicht, wohin.

 

Ann-Christin Kumm

 

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