11 | Leonie Höckbert

Der letzte Gang

Zu Weihnachten gab es in ihrer Familie traditionell sehr viel Essen und noch mehr Bemerkungen darüber, wie schlecht so viel Essen ist. Mit etwas Glück gab es für Louisa auch den ein oder anderen ganz persönlichen Kommentar über ihr diesjähriges Weihnachtsgewicht. Wie bei der Gans, nur andersrum. Man wartete offenbar auf die mageren Jahre.

Ihre Kindheit war glücklich gewesen, glaubte sie, aber durch die letzten Jahre des ersten Erwachsenenalters fraß sich die wachsende Vermutung, dass sie bei damaligen Familienfeiern nur durchs Kindsein geschützt worden war vor den verstecken Spitzen und offenen Attacken der Verwandten. Sie saß zwischen den Beinen des Couchtischs und den Beinen der Großeltern auf dem Boden und was gesprochen wurde, ging buchstäblich über ihren Kopf hinweg. An die Weihnachtsfeste dieser Jahre dachte sie mit einem kerzenwachsweichen Gefühl zurück. Der Geruch der Tanne und des Parfüms ihrer Mutter und der von Holz, das im Kamin verbrannte, das alles gehörte so sehr zum Damals, dass Louisa es jetzt unpassend fand, an diesem Weihnachten, wo der Kamin genauso brannte und ihre Mutter dasselbe Parfüm benutzte und Tannen so rochen, wie sie es immer tun würden.

Louisa war in diesem Jahr aus Weihnachten rausgewachsen. Wie für jede Jahr buchte sie ein Zugticket nach Hause, wo ihr Vater sie mit jährlich müderem Gesicht abholen würde. Vor dem Kleiderschrank hatte sie ängstlich überlegt, welche Bemerkungen ihre Kleiderwahl provozieren könnte, und hatte dann direkt unterm Brustbein eine kleine Wut über diese Sorge entdeckt. Ein kleiner bitterer Zorn, den sie später in Ruhe genauer betrachten wollte. Sie spürte die Last der Vorweihnachtszeit, die man von Kindern fernhält. Die vielen Stunden auf der Suche nach passenden Geschenken, die sie sich leisten konnte, erschöpften sie und vom Plätzchenbacken bekam sie Rückenschmerzen. Niemand hatte sie nach ihrer Wunschliste gefragt. Weihnachten zehrte ihren Dezember auf und Louisa betrank sich zum Ausgleich mehrfach am Glühweinstand. Während sie schwallweise Glühwein erbrach, dachte sie daran, wie grotesk es war, nach inneren Blutungen auszusehen, aber nach den Gewürzen des Dr. Oetker Aktions-Aufstellers zu riechen.

Erst im Zug zu ihrer Familie fiel ihr die kleine Wut wieder ein. Sie war noch da. Louisa schaute durch ihr Spiegelbild im Zugfenster hindurch und wunderte sich. Sie freute sich nur auf ihren kleinen Neffen. Dem könnte sie im passenden Moment beiläufig die Ohren zuhalten, wenn sich die Erwachsenen als Komplimente getarnte Beleidigungen ins Gesicht sagten.

Abgesehen von ihren Eltern gab es für sie eigentlich kaum einen Grund, jedes Jahr wieder mit wachsenden Heiligabendbefürchtungen in den Zug zu steigen, dachte sie. Der Gedanke zog zusammen mit den Lichtern der Vorstadt an ihr vorbei. In ihrem Koffer fielen die Plätzchen mit den Streuseln im Zuckerguss durcheinander und brachen den Zimtsternen die Ecken ab. Ihr Ankommen wurde etwas leichter, als ihr Vater sie schon im Festtagshemd am Bahnsteig umarmte und nach demselben Rasierwasser roch wie vor zwanzig Jahren. Er sah nicht bedeutend müder aus als bei ihrem letzten Besuch. Weihnachten hatte keine Vorboten gesandt.

Der erste Gang bestand aus Salat und noch vergleichbar frischer Wiedersehensfreude. Selbst enge Verwandte haben sich alle paar Monate nochmal für eine Stunde etwas zu erzählen. Der Salat war sehr gut. Ihre Cousins waren sehr witzig und erzählten viele Geschichten aus ihrer neu gegründeten Firma. Als sie erzählten, dass sie und die meisten Mitarbeiter oft von zu Hause arbeiteten, sagte ein Onkel, zu seiner Zeit hätte man noch richtig gearbeitet. Ein Salatlöffel wurde vielleicht strategisch laut zurück in eine Schüssel fallen gelassen. Louisa leerte ihr vom Anstoßen übriges Glas Sekt, ihre Mutter war ihr schon eins voraus.

Im Anschluss gab es Tomatensuppe. „Ich liebe Tomatensuppe“, sagte Louisa, und setzte ihrer Suppe eine Schlagsahnehaube auf. Ihre Tante lachte und sagte, so würde sie Suppe auch lieben. Sie hatte keine Sahne genommen. Louisas Mutter, die Köchin, schwieg auf ihren Teller. Ihr Vater sagte, „du hast als Kind Tomatensuppe schon geliebt, weißt du noch? In der Schublade unterm Herd war immer eine Dose Tomatensuppenpulver“. Sie wusste es natürlich noch ganz genau. Manchmal hatte sie heimlich das Pulver pur genascht. „Suppe aus Pulver?“, fragte ihre Oma. „So Instantzeug ist aber nicht so gut für das Kind“. Ein Cousin sagte, „naja, das waren die Neunziger“. Das Gespräch wand sich dem Mauerfall zu. Über Ossi-Witze konnten noch immer alle gemeinsam lachen.

Zwischen zwei Gängen wurden die Gläser wieder aufgefüllt und der kleine Neffe herumgereicht. Seine Mutter beantwortete Fragen dazu wie er schlief, wie er aß, für welche Kita er vorgemerkt werden sollte. Louisa ging ins Bad und wünschte sich, jemand würde sie etwas fragen. Sie war erst vor weniger als zwei Jahren zu Hause ausgezogen. Es war ihr erstes Weihnachten ohne ihren Exfreund, den ihre Familie gut gekannt hatte. Als sie sich die Hände wusch, sah ihr Spiegelbild über dem Waschbecken etwas selbstgerecht aus. Sie übte ein Lächeln für den Rückweg zum Tisch. Da stand schon der Hauptgang bereit. „Und“, sagte ihre Oma zu ihr, als sie sich wieder setzte, „wann bringst du auch noch jemanden mit“, und nickte in Richtung des Babys auf dem Schoß seiner Mutter. „Na vorerst wohl dann erstmal nicht“, sagte Louisas Opa, ehe sie selbst antworten konnte. Louisa sah auf und ihm ins Gesicht, ihr Opa sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, als würde er um seine Augen herum Platz machen wollen für das daraus sprechende Urteil über Louisas Beziehungsscheitern. Die Mutter ihres Neffen fragte, ob man ihr die Kartoffeln reichen könnte und ordnete sie dann neben dem Gemüse an, das sonst ihren Teller füllte.

„Isst sie noch immer kein Fleisch?“, fragte Louisas Opa ihren Bruder. „Nein, ich esse noch immer kein Fleisch“, antwortete seine Frau selbst. „Ich esse selbst kaum mehr welches“, sagte Louisas Bruder, auf dessen Teller drei Stücke Braten von Soße unförmig gebadet wurden. Ihr Onkel machte einen Vegetarierwitz, den er im Internet gelesen hatte. Die Frau ihres Bruders lachte nicht mit und Louisa versuchte ihren Blick zu fangen, aber sie schien Verschwörung nicht nötig zu haben. „Mir liegen Tiere eben zu sehr am Herzen“, sagte sie fast unbeeindruckt. Man war sich einig, dass das ja jeder halten könne, wie er wolle, so lange sie nicht versuchten, den Kleinen zum Vegetarier zu erziehen.

Glücklicherweise sagte in diesem Moment Louisas Tante zu ihrer Mutter, „wie machst du das nur, dass das Fleisch so zart wird, das zerfällt ja richtig“. Ihre Mutter lächelte aufrichtig und sagte, „freut mich, dass es dir schmeckt, das ist gar nicht schwer, sondern nur eine Frage davon, wie lange man den Braten im Ofen lässt“. „Ah ja“, sagte ihre Tante, „deine Zeit zum Kochen immer hätte ich ja mal gerne“. Für eine Weile sagte niemand mehr etwas und Louisas Mutter leerte das Glas und ließ daneben ihren Teller halbvoll.

Als sich kleinere Gespräche zwischen Sitznachbarn entspannen und auch Louisa sich etwas entspannte und in ihr Weinglas starrte, fragte ihr Cousin neben ihr, wie zu jeder Familienfeier seit fast zwei Jahren, „was studierst du nochmal?“ Und sie hatte nicht übel Lust, zu lügen. „Kulturanthropologie“, sagte sie trotzdem. „Ach das“, sagte ihr Cousin. „Warum studierst du mit deinem super Abi nicht eigentlich was Richtiges?“, mischte sich ihr anderer Cousin ein. Sein Bruder sagte, „ach komm, sie ist doch schön genug, um mal jemanden zu heiraten, der Geld verdient“. „Danke“, sagte Louisa tonlos in ihr Weinglas und stand abrupt auf, um ihrer Mutter beim Abräumen zu helfen. In der Küche sortierte sie Bestecke in die Besteckschublade der Spülmaschine, eine Arbeit, die ihrem Bedürfnis, etwas irgendwo rein- oder draufzuknallen, nicht gerecht wurde. Ihre Mutter nahm derweil viele Glasschälchen aus dem Kühlschrank, von denen sie die Frischhaltefolie zog. An der Folie hatten sich Kondenswassertropfen gebildet und Louisa musste hörbar Schlucken. Ihre Mutter strich ihr mit etwas ungezielten Bewegungen liebevoll über den Nacken. Als Louisa von der Spülmaschine aufsah, noch immer nicht ganz weggeblinzelte zornige Tränen im Augenwinkel, lächelte ihre Mutter sie für einen Augenblick ganz sanft und gerührt an. „Louisa“, sagte sie dann, „kannst du noch Getränke aus dem Keller holen? Nüchtern erträgt man das hier ja alles nicht“. Sie wies auf einen Sechser-Getränketräger aus Plastik neben der Tür.

Im Keller war es angenehm kühl nach der Hitze von Essen, Alkohol, Gesprächen und Kerzen, aber wie immer dämmrig. Die Glühbirnen hier unten hielten vermutlich schon seit den Achtzigern durch und schafften es nicht bis in die letzten Winkel des kleinen, dunkel gestrichenen Raums unter der Treppe, in dem die Getränke gelagert wurden. Sie füllte den Plastik-Träger nicht sofort mit Wein aus den Regalen und Sekt aus dem kleinen Kühlschrank, sondern lehnte sich einen Moment lang mit dem Kopf gegen die kalte Wand. Der Rauputz bohrte sich in ihre Stirn. Hier im Getränkekeller roch es schon immer viel mehr nach Keller als in den Räumen daneben. Der Geruch selbst war kalt, nicht direkt modrig, aber auch nicht frisch, als würden dort viele ungewaschene Äpfel lagern, die bei Minusgraden durch den Winter gebracht werden sollten. So lange Louisa sich erinnern konnte, hatte ihre Familie nie Äpfel im Keller gelagert. Sie lehnte an der Wand und drückte den Kopf dagegen, bis ihre Stirn brannte, und lauschte dem Gluckern der Wasserrohre. Als Kind war sie nie tief in den Raum hineingegangen und auf der Flucht vor unklaren Bedrohungen immer die Treppe so schnell es ging wieder hinaufgerannt. Sie dachte an das gemeinsame Auspacken im Wohnzimmer gleich und versuchte sich vorzustellen, wie sich zum Beispiel ihr Bruder über ihr Geschenk freute.

Aber an das in ihr vergrabene Weihnachtsgefühl kam sie nicht mehr dran und sie hatte die wachsende Wut der letzten Wochen nicht vergessen. Sie sagte sich, dass auch da noch das Kind in ihr lebte, der trotzige Anteil eines egoistischen Mädchens, das gerne beachtet werden wollte. Die geraubten Kindheitsgefühle würden weder der Weihnachtsbaum noch das Kaminfeuer im Wohnzimmer zurückbringen. Die vielen kleinen Verletzungen des Abends würden nicht zurückgenommen werden und sich zu denen der letzten Jahre gesellen. Geschenke auspacken konnte man aber ja trotzdem. Sie nahm den Kopf vom Putz und rückte ihren Gesichtsausdruck zurecht. Mit sechs vollen Flaschen im Träger machte sie sich wieder auf den Weg die Treppe hoch. Oben warteten sie schon mit dem letzten Gang. Auf dem Heimweg würde die Keksdose leer unnötig viel Platz in ihrem Koffer wegnehmen, zu Hause würde sie die letzten verlassenen Zimtsternecken rausschütteln und die Dose ganz oben auf einen Küchenschrank schieben und nicht an sie denken, bis wieder Dezember wäre.

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Leonie Höckbert

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10 | Manon Hopf

Wir sind drei oder vier. Am Meer fällt kein Schnee, wir pusten ihn aus den Feldern, wechseln unsere Verortung. Wir sind ein Wald, in unserem Blick wohnt ein Kreis. Dort fällt eine Flocke, landet. Auf der Zunge ist sie nichts. Auf der Haut, im Fell bleibt sie als Zuneigung. Als Menschen stehen wir ungerade, haben einen Hang zur Erde.  Als Tiere sind wir gleichauf, wie überliefert, weithergebracht. Sind eine Erzählung, ihre Worte lecken wir uns ins Fell. Da überwintern sie.

Wenn eine ausfällt trauern wir. Dann ist wir eine weniger. Dann suchen wir uns etwas aus. Es gibt ein Spiel, das heißt, uns einen Schatten holen. Der Schatten wächst. Wenn er größer wird als wir, dann müssen wir ihn abhängen. Das heißt, wir rennen davon. Teilen ihn auf. Wir teilen uns nie, aber der Schatten wird kleiner, wenn er zerrissen ist. Bleibt hängen im Gestrüpp. Von dort zieht er in Fetzen in die Erde.

Einmal im Jahr kommt der Schnee. Wenn er nicht kommt, werden wir nicht älter. Älter werden heißt, Schatten im Boden vergraben. Dann legt sich der Schnee darauf und man vergisst. Wir vergessen nicht. Wir haben gelernt, dem Schnee zu danken. Danken heißt, etwas zurückzugeben. Einmal im Jahr bleibt eine liegen. Einmal im Jahr kommt der Schnee. Wenn er nicht kommt, liegt eine umsonst.

Umsonst ist immer zu wenig. Zu wenig heißt, dass man sich etwas nehmen muss. Wir nehmen uns etwas vom Mann. Es geht immer sehr schnell. Etwas Lebendes bleibt in den Händen, wenn man es hat. Dann schieben wir es uns in den Bauch, setzen uns fest. Wunden lecken heißt auch, die große Narbe trösten, wenn sie weint. Dann kommen wir aus uns selbst.

Wie es ist, sich selbst im Arm zu haben. An den Brüsten. Wir jaulen, wenn wir Hunger haben. Wer Hunger hat der isst. Was essen, wenn es nichts gibt als uns selbst. Am Waldrand stehen Augen. Ein andres Spiel heißt, wer sie schneller schließen kann. Liderlecken, unter den Lefzen Träume. Der Schlaf kommt immer aus dem Bauch.

Sich nur den halben Schlaf holen. Ein Auge immer halbauf. Das hat der Mond uns ins Gesicht gemalt. Wir lecken ihm ein Loch in die Stirn. An irgendwas muss er sich aufhängen können. Wie wir, wir hängen in den Bäumen. Die am längsten hängt, verliert. Es kracht wenn man sich an die Beine hängt, wie Äste. Ein Baum hat mehr als ein Genick.

Wie schwer der Schnee im Rücken liegt, das weiß der Frühling. Wie wenn man aus der Erde kommt, nur blau. Mit blauen Lippen kann man besser singen, sagen wir. Wir schütteln unsere Wörter ab wie Schnee. Mit vollen Händen trinken wir sie wieder auf. Stecken uns Zapfen rein. Was kalt auf der Zunge liegt, stillt einen Durst. Ob er gelöscht wird liegt an unseren Worten.

Was sprechen, wenn der Durst nicht sterben will beim Trinken. Wie nennt man eine Angst die nicht vergeht, wie ein Verlangen. Wir sagen nichts, wir gehen durch die Zeit. Kann süß sein, das kann Nacken brechen. Die Zeit findet in uns dann einen Ort, sie findet statt. Wir wissen zu vergehen. Vor Hunger, Kälte, vor Wald. Wir wissen auch, wie man sich weitergeben kann, verwandeln. Einmal im Jahr kommt der Schnee. Wenn er nicht kommt, werden wir kälter.

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Manon Hopf

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8 | Martina Berscheid

Deadline

Arnes Bett knarrt leise, als er sich aufsetzt. Er schlüpft in seine Hausschuhe, sie quietschen auf den Fliesen. Ich zähle die Schritte, die sich vom Bett entfernen. Acht.

Als Arne die Tür schließt, atme ich auf. Drehe mich auf den Rücken. Starre an die Decke, als stünde dort geschrieben, was ich tun soll.

Endlich rapple ich mich auf. Ich muss es hinter mich bringen, bevor er das Haus verlässt.

Ich ziehe mich hastig an, gehe die Treppe runter, den Geräuschen aus der Küche entgegen. Arnes Summen zur Radiomusik. Dem Pfeifen des Kessels. Dem Schmatzen der Kühlschranktür.

Arne lächelt mir entgegen, als ich die Küche betrete. „Bist ja schon wach. Hab ich dich geweckt?“

Er kommt auf mich zu, streicht mir eine Haarsträhne aus der Stirn. Nach zehn Jahren bringt er mir noch immer eine Zärtlichkeit entgegen, als wären wir erst kurz zusammen.

Das macht es noch schwerer.

Er sieht frisch aus, dafür, dass er erst um zwei Uhr ins Bett gekommen ist. Sein Gesicht spiegelt Zufriedenheit.
Ein Kälteschauer huscht mir über den Rücken.
Ich schüttele den Kopf. Wortlos fällt mir das Lügen leichter.
Er dreht sich um, holt eine Tasse aus dem Schrank, die er mir zum Nikolaustag geschenkt hat. Lieblingsmensch steht darauf.

Er gießt Kaffee ein und reicht mir die Tasse. Ich achte darauf, dass sich unsere Finger nicht berühren. Damit er nicht merkt, wie kalt meine Hände sind.

Ich zucke zusammen, als zwei Brotscheiben aus dem Toaster springen. Arne nimmt sie heraus, legt sie auf einen Teller. Er hat wie immer für mich mit gedeckt. Obst geschnitten, das ich morgens gerne esse. Zwei Kerzen auf dem Adventskranz angezündet.
Er ist ein guter Mann.

Der schlechte Dinge tut.
Ich schlucke schwer an der Wahrheit. Trinke Kaffee, als könnte ich sie in den Magen spülen, wo sie sich zersetzt, in besser verdauliche Bestandteile.

Arne dreht sich um. Sein Lächeln verrutscht. Er sieht mir an, wenn etwas nicht stimmt.
„Mach dir keine Sorgen. Du kriegst das hin!“
Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich verstehe, dass er die Deadline eines Artikels meint, den ich heute abgeben muss. Ich nicke und trinke einen weiteren Schluck.
„Setz dich doch.“ Er deutet auf den Stuhl ihm gegenüber. Sein Lächeln verströmt Wärme.

Sie verfliegt auf dem Weg zu mir.

Ich nehme Platz. Sehe ihm zu, wie er Margarine auf eine Toastscheibe schmiert, einen Klecks Orangenmarmelade darauf verteilt.
„Du wirst sehen, dein Chef wird begeistert sein.“
Er redet immer noch von dem Artikel.

Ich schaue zur Küchenuhr. In zwanzig Minuten muss er los. Wenn ich es jetzt nicht anspreche, muss ich warten, bis er nach seiner Arbeit nach Hause kommt.

Aber ich höre mich sagen: „Wann bist du heute Abend da?“

Er zögert. Was ihn verrät, ist sein Blinzeln.
„Kann spät werden. Ich wollte noch Buchhaltung machen.“
Bist du sicher?, will ich ihn fragen. Oder willst du wieder mit einer Fackel in der Hand vor den Häusern unbescholtener Menschen Parolen skandieren? Brüllen, dass sie nicht in dieses Land gehören?
Seit wann denkst du so?, will ich ihn fragen. Wieso habe ich das nicht gemerkt, wer hat dir das eingeflüstert, einer deiner schwarz gekleideten Kumpanen? Woher kennst du die?

Hast du geglaubt, ich werde nicht misstrauisch, wenn du plötzlich ständig länger arbeiten musst, obwohl im Geschäft so wenig los ist? Bist du nie auf die Idee gekommen, ich könnte dir nachgehen, und sehen, mit welchen Leuten du dich triffst? Hören, welche Worte ihr brüllt, die an eurem Hass keinen Zweifel lassen?
Ich öffne den Mund, aber keins der Worte schafft es nach draußen. Sie prallen gegen eine unsichtbare Wand, wo sie sich auftürmen, und ich schlucke und schlucke, bis mir der Kaffee hochkommt.

Ich springe auf, stürze aus der Küche ins Gäste-WC und spucke braune Brühe ins Waschbecken.
„Isabelle? Alles in Ordnung?“

Arne steht im Flur. Ich spüre seine Anwesenheit durch den Spalt der Tür. Muss erneut würgen.
„Hey.“
Er kommt herein. Der Raum ist zu klein für uns beide. Vielleicht nur dieser, vielleicht auch unser Beziehungsraum.
Er fasst mich an der Schulter, dreht den Wasserhahn auf. Mit einem Waschlappen fährt er mir über die Stirn, über den Mund. Dann drückt er mich an sich.

Er riecht gut, wir er immer gerochen hat, nach einer frisch geheizten Backstube, das habe ich tatsächlich mal gedacht.
Er ist derselbe Mensch.

Er ist mir vertraut.
Er ist mir fremd.

„Du hast immer brillante Texte abgeliefert. Auch der wird brillant sein. Ich fahre jetzt, und du kannst in Ruhe arbeiten und die Deadline einhalten. Okay?“
Ich sehe ihn an, sehe an ihm vorbei. Sehe dem Zeitpunkt nach, dem richtigen, wie er verstreicht, sich in meiner Sprachlosigkeit auflöst.

Arne führt mich in die Küche, kocht Tee, die Tasse ist schlicht, weiß, unbeschriftet.

„Bis heute Abend.“ Er lächelt, er küsst mich.

Wie jeden Tag.
„Bis heute Abend“, antworte ich und stelle die Tasse auf den Tisch.

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Martina Berscheid

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7 | Anna-Katharina Kürschner

ice

Ich sitze im Zug auf dem Weg nach Hause und mein einziges Gepäckstück ist ein mittelgroßer Rucksack, in den meine Querflöte, der Laptop und Klamotten für drei Tage passen. Der ICE ist leer, es war die günstigste Fahrt an einem Montagvormittag, ich war flexibel: Querflötenunterricht erst um 14 Uhr. Ankunft in Frankfurt 12:54 Uhr. Es bleibt genug Zeit, selbst bei Verspätung. Die Landschaft draußen ist eis-hell und gleichförmig und lullt mich ein.

Ich sitze unbequem. Meine Füße sind trotz der schweren Winterboots kalt und so zieh ich sie aus, winkle die Beine an und stecke meine Zehen unter den neben mir stehenden Rucksack. Ich lehne mit dem Rücken am Fenster und knülle mir meine Jacke zum Kissen an den Sitz. Ich habe einen Tischplatz gewählt, mein Laptop bleibt trotzdem im Rucksack. Der Zug ruckelt und ich bin müde. Ich schlafe ein.

Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe, aber mein Mund muss leicht offen gestanden haben, denn meine Zunge fühlt sich taub und trocken an. Ich schlucke. Im Schlaf hat sich mein rechtes Bein aus der angewinkelten Position gelöst und ist gegen die Tischplatte geklappt, ich spüre den Abdruck der Kante an meinem Oberschenkel. Ich reibe über mein Gesicht, versuche zu lokalisieren, wo wir inzwischen sind. Ich will aus dem Fenster des Vierers gegenüber schauen. Während ich den Blick hebe, sehe ich einen Penis. Ich schaue weg, und bin mir sicher, mich geirrt zu haben. Ich muss blinzeln. Ich schaue wieder hin. Der Penis ist fleischrot und auf mich gerichtet, schräg vor mir, unter dem gegenüberliegenden Vierertisch. Eine gelbliche Hand, nicht weniger fleischig, reibt unbeirrt auf und ab.

Mein Blick schnellt hoch, in sein Gesicht, bevor ich es verhindern kann. Da ist kein Handy, keine Zeitung. Der Mann schaut mich an, direkt, ein leichtes Lächeln auf den schmalen Lippen. Ich denke, dass das gerade nicht wirklich passiert. Ich weiß nicht wohin. Ich senke den Kopf. Ich weiß nicht, ob Zeit vergeht. Ich bewege mich nicht. Ich starre auf sein Ding. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich fühle nichts.

Mir direkt gegenüber sitzt ein Anzugträger und klappert auf seinem Laptop. Er hat noch nicht einmal aufgeschaut, seit wir gemeinsam eingestiegen sind. Ich hätte ihm Bescheid sagen können, das Zugpersonal rufen. Ich hätte aufstehen und gehen können. Ich hätte, ich hätte und ich hätte.

Ich will ein Foto mit dem Handy machen. Heimlich. Unauffällig. Ich prüfe vorher mehrfach, dass ich mich nicht mit einem Blitzlicht oder dem Fotoklickgeräusch verrate. Das Geräusch imitiert die Verschlussblende einer Analogkamera aus einem vorherigen Jahrtausend, ist völlig unnötig, und nur zu hören, wenn das Telefon laut gestellt ist. Meines ist stumm. Der Blitz deaktiviert. Ich mache ein Foto, ich verwackle es leicht. Ich will ein zweites machen, aber meine Arme heben sich nicht mehr.

Die Fahrkarten wurden bereits kontrolliert, aber ein Kaffeemann kommt, ein Bahnangestellter sammelt den Müll aus unseren Tischabfalleimern, alle haben es eilig. Ich bin stumm. Ich könnte gehen, jemanden suchen. Aber ich habe kaum einen Beweis, nur einen vier Pixel großen, fleischroten Penis. Ich will nicht mit diesem Mann konfrontiert werden. Wenn ich ihn beschuldige, muss ich mit ihm reden. Er wird sagen, dass es nicht stimmt und dann stehe ich da.

In die Winterboots bin ich längst wieder eingestiegen. Die Dreiviertelstunde bis der Zug in Frankfurt hält, sitze ich starr und kerzengerade auf meinem Platz. Mein Blick in meinem Handy. Ich überlege, jemandem zu schreiben, aber ich kann nicht. Ich muss still sein, hören, wie Stoff an Hand an Haut reibt. Ich zwinge meinen Blick nach unten. Ich will nichts hören, nicht seinen Atem, nicht das Kramen in seiner Jacke, nicht das Aufreißen der Taschentuchpackung. Aber noch immer sagt der Zugchef nichts von unserem nächsten Halt. Ich stehe sieben Minuten zu früh auf. Ich laufe durch den ganzen Zug nach vorne. Ich drehe mich nicht mehr um, dann renne ich zur U-Bahn.

Im Querflötenunterricht denke ich plötzlich: Es ist ja auch eine enganliegende Jeans. Ich habe im Schlaf die Beine auseinander klappen lassen. Ich habe mich beinahe angeboten. Das ist lächerlich. Habe ich mich etwa angeboten? Ich möchte duschen, aber ich möchte nicht nackt sein. Ich war still. Ich war feige. So ein Schwein. Ich schweige. Ich spiele schlecht. Meine Professorin sagt: „Sie haben ja noch ein paar Wochen.“ Was kann ich tun?

Mir passiert so etwas nicht. Ich bin so nicht. So stumm. Ich habe keine Angst, im Dunkeln nicht und auch nicht davor, nachts mit der U-Bahn nach Hause zu fahren. Ich mache keine Umwege für belebtere Rückwege.

Nach der Stunde setze ich mich mit meinem Rucksack auf dem Schoß auf die Treppe. Ich google. Ich finde widersprüchliche Informationen. Für das Wort Exhibitionismus brauche ich die Autokorrektur. Ich werde wütend. Ich google: Nächste Polizeiwache. Ich presse meine Oberschenkel fest zusammen.

Ich mache das, damit sich vielleicht irgendwann richtig anfühlt. Ich kenne mich damit nicht aus. Ich wurde nicht ja verletzt und es hat mich ja auch keiner angefasst.

Ich stehe mitten auf der Zeil. Aus dem Backshop links von mir riecht es nach Treibmittel und warmen Brötchen. Aus der Eisdiele rechts von mir dudelt italienische Popmusik. Die Tür vor mir ist eine Front. Die ganze Hausfassade ist eine verspiegelte Front, so hoch, dass ich ihr Ende nur mit in den Nacken gelegten Kopf erahne. Ich lege den Kopf in den Himmel, damit ich im verspiegelten Metall meine verzerrte Silhouette nicht sehen muss. Ich atme mehrmals. Ich will nicht. Ich will nach Hause. In mein Bett, in mein Kissen. Mir ist nichts passiert.

Es geht mir gut. – Mir geht es nicht gut. Ich gebe mir einen Ruck. Mein oberstes Zeigefingergelenk drückt sich durch, als ich auf den Messingklingelknopf drücke. Wenn mir das beim Querflöte spielen passiert, beschwert sich meine Professorin sofort. Meine Fingergelenke müssen stark und beweglich sein, aber bei diesem Klingeln schnappt das Gelenk und biegt sich durch.

Erst passiert nichts, ich denke, ich gehe wieder, ich habe es ja versucht, ich kann gehen.

„Polizei?“

Die Stimme aus dem Lautsprecher neben der Klingel knistert männlich und angespannt. Ich schweige.

„Hallo? Hier ist die Polizei. Was gibt es?“

„Ich“, es klingt viel brüchiger als meine eigene Stimme, „möchte Anzeige erstatten.“

Italienische Popmusik. Jemand hätte gern eine Kugel Stracciatella-Minze. Die verspiegelte Hausfront sagt:

„Um was geht es dabei?“

Ich denke: Das ist nicht sein Ernst. Ich stehe doch noch auf der Straße. Ich denke: Wie schwer kann man es jemandem machen. Mitten auf der Zeil. Jemand will drei Kugeln im Becher. Ich muss etwas sagen, jetzt zu gehen, geht nicht mehr. Wer weiß, sonst kommen die mir noch nach? Ich kratze einen Klumpen Mut zusammen:

„Könnte ich das vielleicht in einem etwas –", ich stocke, „intimeren Rahmen –" Meine Stimme bricht weg und lässt Tränen vorbei. Jetzt? Tränen, die ich nicht will, die ich nicht fühle, die völlig deplatziert sind.

Die Tür summt, ich trete ein. Ich sehe nur orangene Plastikschalstühle, die direkt mit der Wand verschraubt sind, ich sehe durch eine Plexiglasscheibe Männerbeine in Uniformhosen und Sicherheitsschuhen. Waschbeton auf den Böden, Waschbeton an den Wänden. Sie stehen beieinander und reden. Ich will ihnen nichts erzählen. Die Hässlichkeit der Umgebung ist bedrohlich. Ich habe nichts falsch gemacht, oder? Ich friere, dränge meine Tränen zurück. Ich zwinge mich, meinen Kopf so weit zu heben, dass ich an einen Schalter mit einem spinnennetzförmig gebohrten Lochmuster im Plexiglas treten kann und dem Beamten, der davor sitzt, ins Gesicht sehe. Ich kann nicht sprechen. Endlich sagt er: „Möchten Sie das vielleicht mit einer Kollegin besprechen?“ Etwas in mir schmilzt, möchte als Tränen herauskommen, ich stoppe es und nicke hektisch. Er ruft in einen Raum hinter sich, den ich nicht einsehen kann, ich senke meinen Blick wieder und schlucke hart.

Bewegung unter den Sicherheitsschuhen. Eine doppeltgesicherte Tür, die von außen keine Klinke hat, wird geöffnet und ich werde eingelassen. Dann steht vor mir eine Frau mit hellblond wippendem Pferdeschwanz und teichgrünen Augen. Als hinter uns die Tür zufällt und wir allein in einem Büro sind, laufen meine Augen über. Ich komme mir lächerlich vor. Ich will nicht weinen. Mir ist doch gar nichts passiert, sie muss denken… Unter Schluchzen sage ich zuerst:

„So schlimm ist es eigentlich gar nicht.“ Und dann: „Ich weiß auch nicht, warum ich jetzt so weine.“

Die Polizistin nickt. Dann erzähle ich ihr, was passiert ist. Sie muss nachschauen, um welchen Tatbestand es sich handelt: Solange er mich nicht berührt hat, ist es nur Erregung öffentlichen Ärgernisses. Exhibitionismus, habe ich selbst schon gegoogelt. Das erzähle ich ihr auch. Ich zeige ihr auch das Foto. Ich soll es ihr per Mail schicken. Sie schreibt einen Bericht. Ich fülle ein Formular mit meinen Personalien aus. Die grauen Kästchen, immer nur groß genug für einen Buchstaben, beruhigen mich. Sie liest mir noch einmal vor, wie ich ihr die Ereignisse geschildert habe. Ich unterschreibe.

Während sie weiter mit ihren Teichaugen den Bildschirm bearbeitet, versuche ich mich damit abzulenken, meine Personalausweisnummer auswendig zu lernen. Meine Nase ist verstopft. Ich suche in meinem Rucksack umständlich nach einem Taschentuch. Sie fügt das Foto der Akte als Anhang hinzu. Sie meint: Ihn darüber zu schnappen ist nahezu unmöglich, aber wenn der sowas noch einmal macht, kriegt man ihn vielleicht. Ich fühle mich trotzdem leichter, als ich mit ihr und trockenroten Augen durch den Waschbetoneingang wieder nach draußen gelassen werde.

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Anna-Katharina Kürschner

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5 | Dana Schällert

Die Frau mit den Locken

Ich hab die Frau oft zufällig gesehen. Kannte sie nicht, kenne sie nicht. Wiedererkannt hab ich sie stets an ihrer altmodischen Lockenfrisur, die mich an die Achtziger erinnert. Wer trägt heute denn noch sone Frisur? – hab ich gedacht. Wer kann die einem heutzutage überhaupt noch machen? Einfach aus der Zeit gefallen, jedes Mal hab ich das gedacht, aber es gibt so Leute, die bleiben halt irgendwann modisch stehen, vielleicht bleiben sie auch insgesamt stehen – und das hat mir bisher immer irgendwie leidgetan. Stehengeblieben in jener Zeit, die für sie irgendwie besonders … glorreich war. „Glorreich“, denke ich und muss selbstironisch grinsen, bin wohl auch aus der Zeit gefallen. Wer gebraucht denn heute noch das Wort „glorreich“. Wobei ich schon weiß, wie ich gerade jetzt auf diesen Begriff komme … Egal, ich meine jedenfalls, eine Zeit, in der man irgendwie für sich das Gefühl hatte, dass man in ihr besonders richtig war. Auf seinem Zenit stand. Wo die Welt besonders in Ordnung war. Vielleicht war das bei der Frau in den Achtzigern. Nee, kann eigentlich nicht sein, dann müsste sie ja schon um einiges älter sein als ich. Ist das möglich? Ich denk das zwar jetzt gerade, aber ich glaube, das ist irgendwie eine Gedankenschleife, in der ich schon öfter festhing, jetzt halt auch, wo ich die Frau sehe. Unerwartet. Aber irgendwie nicht … unverlangt.

Verfange mich immer wieder und ständig in ihren Locken, in denen ich mich in endlosen Loops drehe. Diese Frau jedenfalls, die arbeitet in einem Supermarkt, da habe ich sie an der Kasse gesehen, oft schon, und auch gelegentlich, wenn sie nicht im Dienst war, in irgendwelchen anderen Läden. Als wär sie vor einem anderen Hintergrund als dem eines Ladens nicht denkbar. Das Gesicht kenn ich eigentlich kaum (vielleicht auch daher die übertriebene Fixierung auf ihre Frisur), kannte ich eigentlich kaum, weil sie mir bisher immer nur mit Mundschutz begegnet ist. Auch neulich eben, also, vor einem Monat oder so, beim Friseur – ist ja auch ein bisschen was wie ein Laden. Das war schon witzig, als ich da reingegangen bin, wollte mir ne Balayage färben lassen, und da saß sie mir auf einmal schräg gegenüber, die Frau mit der komischen Achtzigerfrisur, saß da, ganz vertieft, unter soner Trockenhaube, wo ich dachte, die gibt es auch gar nicht mehr, schaute in irgendsone Zeitschrift, mit ganz wichtiger Miene, die massiven Augenbrauen extrem hochgezogen, und ich starrte sie zwischen den Spiegeln hindurch an und fühlte mich, als wäre ich dabei, ein Rätsel zu lösen. Und auch als man anfing, mir Farbe in die Haare zu pinseln, da guckte ich rüber, glotzte, als wäre die Haube ne Zeitmaschine wie in „Zurück in die Zukunft“, deren Geheimnis ich ergründen wollte. Als die Haube weg war und die Friseurin dann an den merkwürdigen Lockenwicklern rumfummelte, da dachte ich, dass dieses Geheimnis irgendwas mit der Vergangenheit und mir selbst zu tun hatte, aber so recht kam ich nicht drauf. Ich sah meine Mutter genussvoll im Bad stehen, Stunden vor dem Elternabend im Kindergarten, auf den sie gehen würde, als sei es sowas wie ein Mütterball und sie wolle Ballkönigin werden oder den Prinz heiraten. Sie drehte sich die merkwürdigen silbernen und grauen Rollen verschiedener Größen raus, die ich gern heimlich befühlte, weil sie so lustige Borsten und Zacken hatten, oder wo ich meine Finger durchsteckte, dass meine Hände ganz lustig aussahen. Und als ich nun sah, wie die Friseurin jetzt in den Haaren der Frau wühlte, da war richtig so etwas wie ein schmerzhaftes Ziehen in meiner Brustgegend, aber vielleicht war das auch nur, weil ich die ganze Zeit schon so schräg saß, um am Spiegel vorbeizuspinxen, auf die Lockenfrau, deren Blick noch immer mit dem Ausdruck, sich gerade über äußerst wichtige Dinge zu informieren, in die Illustrierte gerichtet war. Meine Friseurin hatte mich schon an die zehn Male wieder in eine einigermaßen aufrechte Position geschoben, die ich dann doch immer wieder, unwillkürlich, verließ.

Die ganze Zeit schon übrigens hatte sich meine Friseurin mit der anderen, der von der Frau, unterhalten. Um Autos war es gegangen, wie schwer es gerade war, an einen neuen Wagen zu kommen wegen der Lieferengpässe und der deswegen auch angespannten Situation auf dem Gebrauchtwagenmarkt. Meine Friseurin hatte irgendwas mit den Zündkerzen gehabt und musste jetzt schon längere Zeit Radfahren. Es war inzwischen aber November geworden, bald würde es zu kalt sein. Danach waren die Heizkosten drangewesen. Die explodierten Preise. In naher Zukunft würde man sicher auch im Salon sparen müssen, momentan ließ man die Heizungen zu Hause noch aus und behalf sich mit Wärmflaschen, hatte meine gesagt. Sie würde dieses Jahr auf die Weihnachtsbeleuchtung verzichten, hatte die andere berichtet. Und ich erinnere mich noch genau – in diesem Moment kam Leben in die Frau mit der Lockenfrisur, die bis dahin ausgesehen hatte wie irgendsone Schaufensterpuppe innem Museum übers letzte Jahrhundert. Sie sog stark Luft ein, ihre Maske zog sich intensiv zusammen, als wollte die gesamte Frau implodieren, und dann sprach sie mit einer tiefen Stimme, die ich ihr nicht zugetraut hätte: Alles mach ich mit, seit Jahren nun schon, trag diese Dinger im Gesicht, die meinen Lippenstift jedes Mal verwischen, mach mich arm, wenn ich einkaufen geh wegen dem russischen Gas und was, ess für den Klimawandel und wegen Antibiotika und Tierhaltung und alles weniger Fleisch, aber das … nein, das: Meine Weihnachtsbeleuchtung, die kriegt keiner, dann trag ich lieber fünf Pullover übereinander! Die mach ich an! So! Die leuchtet wie jedes Jahr. Vielleicht ein, zwei Stunden weniger, mit nem Timer. Aber die läuft! Die wird leuchten! Immer wird die leuchten, wenn es draußen dunkel wird! Und sie hat das gesagt mit einem Nachdruck, so als wärs ne politische Ansprache oder so, da waren die beiden Schnattertanten plötzlich ganz ruhig, bis dann die eine sagte: So ist richtig. Irgendwann ist auch gut.

Und als sie das gesagt hat, die Frau mit den Achtzigerjahrehaaren, da hab ich wieder daran gedacht, wie es damals gewesen ist und wie es auch sonst war: mit den Lichtern in den Fenstern (auch wenn wir nie ne große Festbeleuchtung nach amerikanischem Vorbild hatten) und drumrum oder wie es aussah, wenn wir am zweiten Weihnachtstag am späten Abend von meiner Oma über Land nach Hause fuhren und die Fenster und Häuser und Bäume haben in allen Orten geblinkt und geglüht, da hab ich sowas wie Ruhe und Frieden gespürt und so eine richtig tiefe Freude daran, am Leben zu sein. Und wie ich jetzt hier stehe und daran denke, dass die Frau das gesagt hat, bei dem Friseur vor nem Monat, ich hatte das ganz vergessen, da fällt mir das alles wieder ein, dieses Gefühl aus meiner Kindheit, und ich merke, dass es auch jetzt wieder da ist, wo ich dieses Haus sehe, weswegen ich überhaupt erst wieder an die Angelegenheit denke.

Es ist heute der fünfte Dezember und ich habe ein paar Süßigkeiten für die Nikolausstiefel der Kinder gekauft, bin durch deutlich dunklere Straßen gegangen als sonst um diese Zeit, hab mich ein bisschen traurig gefühlt deswegen, ein bisschen bitter, und hab gedacht, dass das Jahr zu Ende geht, wie es aufgehört hat, mit vielem, was schwerer geworden ist, mit viel Hoffnung, die getrübt wurde, mit viel Glauben, der zusehends verblasste, und dieser Gang aus dem Supermarkt zurück nach Hause, wo wir nur noch alle zwei Tage das Wasser erhitzen, heute war der Tag zum Haarewaschen, der hat sich dieses Jahr so stumpf und hohl und schematisch angefühlt. Ich habe da ein Häuschen gesehen, auf einmal, nicht weit weg, es hat so hell geleuchtet, dass es mich erinnerte an das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten, obgleich ich schon ahnte, dass es kein Räuberhaus wäre, in dem ein Braten auf mich warten würde, nachdem ich nur die Räuber vertrieben hätte, und ich bin hingegangen zu dem Häuschen, das zwischen seinen nur spärlich mit Lichterbögen versehenen Nachbarn leuchtete wie eine Offenbarung, mit zwei flimmernden Tannen davor, das Sims mit funkelnden Eiszapfenketten geschmückt, ein Weihnachtsmann mit Rentieren in der Mitte. All die Jahre hatte ich die Augen verdreht über diesen übertriebenen Beleuchtungshype, all den Kitsch, aber nun hat es mich dorthingezogen, nur einen kleinen Moment schauen, so tun, als sei es wie früher, ein kleines bisschen Helligkeit, ein kleines bisschen Leichtsinn, ein kleines bisschen irriger Glauben, ich könnte mich an den LEDs wärmen, als wäre die Welt in der Vergangenheit stehengeblieben irgendwie. Und nun, wo ich dort steh, vor dem Haus, da seh ich nämlich in all der leuchtenden Pracht, hinter einem der Fenster, sie sitzen, die Frau mit der blonden Achtzigerfrisur, seh sie da sitzen wie einen Weihnachtsengel, wie sie verträumt nach draußen schaut, und dann sieht sie auch mich und strahlt, in all dem Plunder, mit einem verklärten Gesicht wie ein Kind, das den ersten Blick ins Weihnachtszimmer wirft oder wie das Mädchen mit den Schwefelhölzern, das im Flammenschein für Momente Hoffnung und Wärme spürt. Und ich lächle zurück, denn ich fühle das auch, und ich denke: Naja, die Achtziger sind ja auch so langsam wieder im Trend. Alles kommt, alle Jahre, wieder.

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Dana Schällert

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3 | Sarah von Lüttichau

Ein Tag im Dezember

„Kennst du die Serie mit dem Drachen, wo …“

„Ich mag diese Drachengeschichten nicht, Drachen sind doch immer nur Stellvertreterprobleme, da macht man sich was vor, ganz klar.“

Das Wetter ist schon wieder auserzählt und ein anderes Thema will mir nicht einfallen, ich schweige, mache mich klein, ziehe die Schultern hoch, die Arme dicht an meinen Körper und beiße in den Apfel, den ich schon seit einer Weile in der Hand halte. Es dämmert bereits. Wir sitzen immer noch auf der Schaufensterbank, unsere Rücken jetzt kalt im Neonlicht. Und er tut mir leid. Ich werde gleich aufstehen und nicht wieder kommen. Manchmal ist es zu schwer, eine Idee in die Wirklichkeit zu holen.

Auf der gegenüberliegenden Straße hat sich eine Plane vom Baugerüst gelöst und flattert im Wind, schlägt gegen das Eisengerüst. Er umschließt seinen Pappbecher mit beiden Händen, atmet schwer und ich frage mich, ob er das auch merkt, dass es da nichts gibt zwischen uns. Ich kann seine Gesichtszüge nicht lesen, nicht mehr. Die Falten, die grauen Haare, es ist immer noch merkwürdig, ihn so zu sehen.

Die Linden haben längt keine Blätter mehr, mit ihrer dunklen Rinde zeichnen sich ihre Umrisse klar von den umstehenden Altbauten ab. Eine Elster schreckt auf, ruft schnalzend laut und wir drehen synchron die Köpfe.

Dann wird es Zeit. Ich beuge mich nach vorne und werfe den Rest vom Apfel in den Mülleimer neben uns und wische meine klebrigen Finger an meiner Jeans ab.

„Ok“, sage ich und er nickt.

„Du hast ja meine Mail Adresse“ und ich frage mich, warum ich das sage, nur um irgendwas zu sagen. Er nickt und schaut noch mal kurz hoch, nickt zum Abschied, wie ein Fremder.

Ich gehe die Straße runter. Die Autos sind so dicht geparkt, dass ich kaum hindurch passe, um die Straßenseite zu wechseln. Ich verstehe, warum das so ist, dass es in der Stadt immer zu wenig Platz gibt und ärgere mich trotzdem. Um mir eine Packung Lakritz zu kaufen, gehe ich in den nächsten Kiosk. Die Verkäuferin ist freundlich, sie wünscht mir einen schönen Abend, lächelt und ich lächle auch. Die Sonne verschwindet zwischen den Häuserschluchten, die Luft wird kalt und klar. Ich setze mich auf die Bank an der Bushaltestelle und reiße die Verpackung auf. Das Lakritz klebt sofort zwischen meinen Zähnen und ich versuche mit der Zunge die Stückchen zu lösen. Mein Telefon vibriert in der Tasche.

EVA: Und wie war es?

          DU: Ach, wie immer :(

EVA: :(

          DU: Dann halt nicht, ist auch nicht schlimm

EVA: Bist du sicher

          DU: ja, schon

EVA: Väter halt …

          DU: Lass uns später telefonieren

          DU: ?

EVA: !

          DU: jetzt Bahnhof, melde mich später

Ein Plastikgeräusch lenkt mich ab. Neben mir eine junge Frau, die umständlich ihre vollen Einkaufstaschen von der einen in die andere Hand manövriert, um ihr Portemonnaie aus der Tasche zu holen. Der Bus kommt.

Wir steigen ein und die Busfahrerin hat tatsächlich so eine rote Mütze auf. Ich frage mich, ob sie dass muss, ob das vorgeschrieben ist. Ich zeige ihr meine Fahrkarte und setze mich auf einen Platz am Fenster. Es ist dunkel und die Weihnachtsdekorationen leuchten in den Schaufenstern des gegenüberliegenden Einkaufszentrums. Menschen in viel Kleidung und mit vielen Taschen schieben sich aneinander vorbei, wollen rein, wollen raus. Mein Atem kondensiert an der Glasscheibe, verzerrt die Lichter und ich wische mit dem Ärmel meiner Jacke darüber. Ich suche die Packung Lakritz und esse weiter. Als der Bus anfährt, lehne ich meinen Kopf an, schließe die Augen. Dann fällt mir auf, dass es das erste Mal seit Jahren ist, das mich das alles nicht traurig macht, dass da nichts ist und ich muss lächeln.

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Sarah von Lüttichau

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1 | Avy Gdańsk

Wortgewand

Alle Wangen sind mit Aufregung bemalt. Ich stecke im Atemgefieder der Menschen fest, es ist zu warm, ich kann mich nicht bewegen. Der Bus ist ein Schiff, die Straße schwappt darunter hinweg. Wir schwanken, der Seegang wirft uns alle aus der Bahn. Quer durch die Sitzreihen segeln Gespräche, eine Gruppe verstreut auf getrennten Plätzen. Zersprengt in Einzelheiten. Ich weiche den zungrigen Mündern aus, ihrem groben Gelärm auf dem Gang, schlage den Kragen ums Kinn. Unsere Köpfe und Schultern im Spiegel, wir sind ein Renoir auf den Scheiben. Die anderen Busse kurze Raupen mit stämmigen Fühlern, die Straßenbahn eine singende Nacktschnecke. Immer wieder fahren sie an uns vorbei und wir passieren lichtgefüllte Fenster, Lebensraum. Das Murmeln der Menschen ein Bienenstock. Mein schwerer Kopf versinkt im Summen wie in einer Kissenhülle. So sprechen die Dämmermenschen: vorbei an den Herzkapillaren. Eine nadellose Sprache, untauglich zum Blutgewinn. Ich wetze meine Worte, will zur feinsten Ader.

Immer weiter geht die Fahrt, immer mehr Ummantelte stürzen heraus, nur ein Falter steigt zu. Unter den wartenden Laternen schwebt eine milde Abendkälte, bei jedem Öffnen der Türen huscht davon etwas herein, ein kühlender Streif über Augen und Wangen, ein Spätherbstschweif. Er fächelt mir Erinnerung um die Nasenflügel, bald ist es Zeit, Endhaltestelle. Ich stehe allein im Bus, Stiefel fest auf dem Boden, die Teerwellen reitend. Wir gleiten durch die Kurven, im Bauch der Schlange bin ich ein schlingernder Schatten in lichttriefenden Innereien, ein Dunkelförmiges unter zuckendem Glas.

Mit Wucht spuckt sie mich aus, ein Ruck brusteinwärts, mein Fuß setzt sich auf unbekanntes Land. In meinen Schritten weiß ich zu gebieten, laufe mal wie Herrin, mal wie Herrscher, die Straßen voll von nichts als meinem Trittlaut. Frei ist nur, wer kein Wohin erfragt.

Das Blattgold der Alleen schimmert auf der Straße, ich schleiche nun, werde zu Lautlosem, bin ein Wanderer zwischen den Fenstern, der sich in der Nacht versteckt, sich anpasst an die Vorwelt – die Gegend vor verschlossener Tür. Auch ein anderer streift durch die Vorwelt, ein Jäger, der Fallen aufgespannt hat in den Lücken zwischen den Mülltonnen, unter den Außentreppenstufen, in den Gittermustern der Gartentore: Netze aus Schwärze, in denen sich jeden Abend ein paar Blicke verfangen, ein paar Unglückliche in den Abgrund fallen mögen. Füllen sich die Netze mit dem Sehnen der Menschen, nährt er sich davon, liefert er das Eingesammelte irgendwo ab? Oder breitet sich die Schwärze in ihnen aus, füllt sie an wie melancholische Plätzchenformen? Was auch immer sein Zeil ist, nie mangelt es ihm an Beute, denn die Augen treibt es nach draußen. Keiner kann es lassen, den Blick auf Wanderschaft zu schicken, weit fort aus dem Gefängnis des Schädels. Die Sehnsucht hört nie auf, immer suchen die Menschen die Welt mit den Augen, und was sie sehen, gibt ihnen Bedeutung, zeigt eine Lesart der Welt. Wie außen, so innen. Aber wenn alles nur ein Spiegel ist – ich passiere eine Tür mit einem Schild in Fraktur, „Familie ist die Heimat des Herzens“ – dann Gnade den Dämmermenschen. Jemand, der sich so an vermeintlich bedeutungsschwere Worte klammert, weil er selbst der Tiefe entbehrt, dem ist auch das Meer nur ein blauer Streifen, ein Urlaubsmotiv, und selbst das muss er nachbearbeiten, damit es den Anschein von etwas erweckt – etwas, das ihm fehlt, das er sucht und das er niemals finden wird.

„Ja, ein unerträglicher Gedanke – die armen Menschen.“

Ich fahre herum und neben mir steht der Jäger, deutet auf das deprimierende Schild, entfaltet ein weiteres Netz. Das spannt er zwischen den Grashalmen des Vorgartens, ein verschachteltes, viellagiges Leporello, das unbemerkt den Garten ziert, der ausartend mit Schildern dekoriert ist.

„Menschen, die Sprüche wie Schutzschilde aufstellen, empfinden einen großen, wenngleich dumpfen Seinsmangel.“

Er pocht gegen ein Blechschild mit der Aufschrift „Mein Haus, meine Regeln“.

„Jeder klammert sich an Worten fest, an irgendwelchen Zitaten, die einen an etwas erinnern sollen oder in etwas bestätigen. Sinnstiftung eben.“

Wieder holt er ein Netz aus der Tasche und beginnt es zu ziehen und zu formen, dehnt das unendliche Nichts.

„Aber wer die Worte noch nie verstanden hat, für den bleiben sie tot, und das ist wirklich allein. Siehst du?“

Erneut zeigt er auf ein Schild neben einem Vogelhäuschen, unter dessen Vordach er sein Netz anbringt. Geknicktes Origami, vernetzte Vorwelt. Seine geschickten Finger spannen das Netz von dort unter dem Schild weiter, zwischen dem bedruckten Holz und dem Baumstamm dahinter, schnippen prüfend mit dem Mittelfinger dagegen, es federt sacht. Das Holz des Schilds ist noch nass von vergangenem Regen, unter der industriell aufgedruckten Schnörkelschrift „A house is made of walls & beams - A home is made of love & dreams“ klaffen die Risse immer weiter auseinander.

„So viel Fremdsprachen, besonders bei Leuten, die keine beherrschen“, sagt er, in seinen Taschen nach neuen Netzen wühlend. „Weiter weg kann man von der Welt nicht sein. Wer nicht mal die Worte richtig kennt, die sie beschreiben – selbst, wenn es nur Plattitüden sind – an dem treiben die Füllhörner vorbei, ohne ihren Reichtum auszuschütten.“

Mit niedergeschlagenen Lidern fingert er ein weiteres Netz aus der Tasche, macht sich unter einem letzten Schild zu schaffen, hier ist die Leere richtig angebracht. Schlicht „Happiness“ auf einer spiegelglatten Oberfläche.

„Ein Wunsch, eine Bitte, eine Beschwörungsformel? Glauben die Leute, wenn sie sich so ein Wort in den Vorgarten stellen, werden sie glücklich? Und was für eine Art Glück soll das sein?“ Er beäugt das Schild neugierig, bringt seine formbare Falltür an. „Wer zaubern mag, muss Opfer bringen. Wer die Welt aufschließen will, muss die Wünschelrute ins eigene Herz stechen.“

Wir treten zurück, bestaunen das Werk von der Straße aus. Ich staune, der Jäger begutachtet vielmehr. Die taschenbesetzten Lagen seiner Überhänge flattern, als der Nachtwindhund vorbei prescht. Er wirft uns aus dem Gleichgewicht, so wenig Halt ist in den blättrigen Schlaufen der Herbstluft – beide landen wir auf den Hosenböden. Mantel und Überwürfe breiten sich um uns aus, wir überdisteln das Grau des Asphalts.

Durch meine fransigen Knie hindurch setzt sich gleichmütig der Bürgersteig fort, zwischen den Gittern des Gullis verschwinden weitere Netze in der Tiefe. Das ganze Gebiet ein fallengespicktes Revier, zappendustere Lauerbeutel überall. Meine Finger spitzen sich ihnen zu, wollen in den Strudel tauchen, nach dem Nichts greifen. Ich drücke sie gegen den rauen Boden und frage den Jäger, wie viele der Schildbürger ihm ins Netz gehen.

„Nicht viele“, meint er mit halbgesenkten Lidern, unter denen die Pupillen klaffen wie zwei Schlüssellöcher. „Sie sehen nichts. Wer Hände hat, der koste, wer Lippen hat, der taste, habe ich jedes Mal in den Abend geflüstert. Man kann das auf viele Weisen verstehen, und jede davon ist nützlich. Aber sie verstehen gar nichts.“

Mit scheuchenden Bewegungen streift er sich den Staub von den Beinkleidern, macht aber keine Anstalten aufzustehen. Ob es ihm gefällt, am Boden zu sein? Auch ich bleibe sitzen. Welche Leute ihm denn dann in die Blickfalle tappen, will ich wissen. Er erwidert: „Was denkst du?“

Weil ich nicht weiß, wohin die Fallen führen, was dort gefangen und eingesammelt wird, kann ich keine Antwort sagen.

„Übergehende Augen aller Art“, beginnt der Jäger, „fallen dort hinein. In meinem Netz entspinnt sich die Welt, die diesseits davon nicht möglich ist, aber mit allen Fäden fest an der hiesigen hängt. Ein Quallenstoff, ein Schwebeteil mit hundert lockenden, hundert begierigen Armen.“

Seine Beschreibung gibt mir Rätsel auf, und er fragt mich verstohlen: „Willst du einen Blick hineinwerfen?“

Ich biete ihm an, ihn stattdessen beim Wort zu nehmen, beim zottigen Wortpelz, sein flackerndes Fell zu halten und ihm nachzusteigen in den goldenen Mund der Morgenstunde, hinter die Mauer aus sonnigen Zähnen.

Doch er verneint – noch brauche er mich hier – und hängt mir den Mond an, eine fliegende Fußfessel, damit mein Schritt schleppend wird und er mich langsam leuchtend erblickt, sobald ich näherkomme. Ich aber, Gestirnshäftling, entsinne mich meiner Zungenspitze und steche eine Silbenader an. Die Blätter steigen vom Boden wie Nebel, heben sich hundertfach empor, ein fuchsschnäuziger Schwarm nach Norden. Die Luft eine bauchige Laubstaude, Dächer stoßen sich an der Errötung. Wie singende Schnabelschuhe tragen mich die Blätter, von meinen Lippen tropft das Zauberwort. Horchte jemand hin, so könnte er es hören.

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Avy Gdańsk

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freiTEXT | Senka

Die klirrenden Münzen eines monísto

Sandyr wühlt in Kumkas Deutsche Mark Sammlung und grinst. Ja, das ist genau das, was sie gesucht hat.

Brauchst du sie wirklich nicht mehr?

Kumka zuckt mit den Schultern. Er hat die Münzen aufgelesen, als er klein war, weil er kein Taschengeld bekommen hat, aber eigenes Geld für Gummischlümpfe im Lotto-Laden haben wollte.

Sandyr will die Münzen noch bearbeiten, die Gesichter der Frauen aus ihrem Stammbaum draufkleben und sie in ein monisto flechten. Das wird sie dann anai-anae nennen, als ein Stück für ihre Ausstellung. Da wird es noch geflochtene Panneaus geben, wird ganz hübsch sein. Sie stapelt die Münzen nach Größe. Anai-anae bedeute die Mütter der Mütter, hat sie vor Kurzem gelernt, das sei nämlich ihre Sprache, das Udmurtische, nur ihre Familie hätte das nicht sprechen dürfen. Aber wem erzähle sie das, der Kumka, der kenne das doch sicherlich auch! Sie lacht und wirft das rot gefärbte Haar über die Schulter. Kumka macht: Hm-m. Aber eigentlich kennt er das nicht. Seine Eltern sprechen Russisch, sein Opa auch, er wüsste nicht, ob sie jemals eine andere Sprache hätten sprechen wollen.

Kumkas Mama freut sich besonders, wenn Sandyr zu Besuch kommt. Sie zwinkert ihnen zu, sie sorgt dafür, dass Kumkas Eltern während Sandyrs Besuch nicht in der Wohnung sind. Sandyr hat eine Lebensgefährtin, aber das wissen weder ihre, noch Kumkas Eltern. Kumka weiß das, weil er ihr auf Instagram folgt.

Vor Kurzem hat sie dort ihren Namen von der russifizierten Fassung Aleksandra zu Sandyr geändert, außerdem in der Beschreibung alles gelöscht und „udmurtisch-feministische Liturgie im deutschen Exil“ hingeschrieben.

Kumka fragt, ob sich dadurch was verändert habe. Sandyr rümpft die Nase. Es gab danach einen Shitstorm in so einer Bubble von Leuten, von so scheiß Physiognomikern, die meinen, man müsse am Aussehen einer Person die Herkunft ablesen können, sonst sei diese nicht valide, aber mit solchen Idiotinnen will sie auch nichts zu tun haben. Und sie bekommt mehr Follower-Anfragen von russischsprachigen feministischen Profilen und russisch-orthodoxen Gemeinden in Deutschland, aber sie sei sich da nicht sicher und nimmt nur die Anfrage von Leuten an, die Kunst machen. Hat Kumka gewusst, dass so viele russisch-orthodoxe Kirchen in Deutschland Instagram haben?

***

Sanja hänge andauernd am Handy, ein Wunder, dass sie überhaupt ihre Klausuren bestehe.

Die Mutter skypt mit ihren Freundinnen und sie eröffnen die Runde rituell mit Geschichten von ihren Kindern. Wer zum wie vielten Mal gebärt, wer sich geschieden, wer sich eine Anstellung bei der Gazprom geschnappt hat.

Sandyr macht sich nicht die Mühe, ihrer Mutter zu erklären, dass auf diesem Handy auch die Lektüretexte abgespeichert sind. Sie überfliegt Butler, Kristeva und Žižek, macht sich nebenher Notizen, wie sie alle später im Seminar verreißen wird, und behält die Benachrichtigungen im Auge, ob bei Kommentarverläufen der Eventposts von out-ural Trolle auftauchen, wen sie blockieren, wen sie mit einem präzise gewählten Mat zurechtweisen, wen sie konvertieren könnte.

Konvertieren, Lajma seufzt, Sandyr soll es endlich mal lassen, das so zu bezeichnen. Außerdem spiele sie doch damit voll in dieses Narrativ rein, auf das sich das Propaganda-Gesetz stützt, mit der sozialen Übertragbarkeit… Und sie seien doch keine Sekte.

Manchmal spricht Lajma so, als sei sie Teil von Sandyrs Aktionsgruppen. Manchmal tut sie auf gebürtige Deutsche und will Sachen erzählt bekommen, wie es da so ist, woran sich Sandyr erinnere. Und Sandyr erinnert sich nur an die Sprache, die sie erst nach dem Umzug nach Deutschland gelernt hatte. Alle Erinnerungen, die sie hat, sind Erinnerungen an Urlaube in Russland, im Sommer, wenn die Stadt leer ist, weil alle sich vor dem Stadtsmog in ihre Datschas zurückgezogen haben. Um im Winter hinzufahren, dafür hatten sie keine passende Kleidung.

Ja-ja, winkt Sandyr ab. Gegen den Mat hätte Lajma aber nichts einzuwenden, oder wie?

Gegen den Mat hat Lajma auch was, aber Sandyr verwendet ihn mit Fingerspitzengefühl, da vertraut ihr Lajma schon. Sandyr weiß, dass das keine Worte sind, die man schreit oder inflationär verwendet. Eine knappe präzise Setzung bewirkt mehr. Wie bemitleidenswert verhält es sich im Gegenzug bei den Deutschen oder auch bei den Engländern – wo sie zwanzig Mal „Fuck!“ brüllen müssen, braucht Sandyr nur einen einzigen besonnen ausgesprochenen Begriff und damit ist alles gesagt. Lajma beschreibt Sandyrs Art oft als besonnen. Das lässt Sandyr manchmal daran zweifeln, ob Lajma wirklich hört, was aus Sandyrs Mund kommt.

Du musst halt echt allen in diesem Land andauernd beweisen, dass du kein Kamel bist! schreit Sandyrs Mutter ins Laptop-Mikrophon, damit es bis Russland hörbar ist.

Lajma prustet los. Sie bekommt durch die Kopfhörer nur Fetzen mit, die sie allesamt sehr amüsieren, sie zieht sich den Stöpsel aus einem Ohr: Was soll das denn bedeuten?

Das mit dem Kamel? - Ja.

Kennst du das nicht? Sagt man halt so. - Wo sagt man das?

Na, bei uns. - In Russland? Oder in eurer Familie? Oder auf Udmurtisch?

Sandyr zuckt die Schultern, das weiß sie nicht, aber man sagt es halt so.

Seitdem sagt Lajma, wenn es Sandyr von innen schüttelt und sie niemanden um sich haben will und alle hasst: Du bist kein Kamel. Und Sandyr stimmt zu: Ich bin kein Kamel.

Wenn die russischsprachigen Bekannten in der Uni ihr inadäquates Verhalten vorwerfen, weil sie den Dozenten darauf hingewiesen hat, dass Belarus und Russland zwei unterschiedliche Länder sind, und sein Nachfragen nach ihrer persönlichen Meinung zu Lukaschenko nichts in einem Literaturseminar verloren hätte, sie außerdem nicht qualifiziert sei, irgendwelche Auskunft zu Belarus zu geben, weil sie keinerlei Berührungspunkte mit dem Land hätte. Ich bin kein Kamel.

Wenn ihre Mutter ihr sagt, sie solle die eigenen Nerven schonen und ein gesundes Maß an Ignoranz an den Tag legen und die Nachrichten Propaganda sein lassen.

Today’s affirmation: Ich bin kein Kamel.

***

Wenn Sandyr den Ellbogen versehentlich auf den Tellerrand abstellt, noch während sie merkt, dass es das spitze Gewusel von Perlen an ihrer Haut ist und nicht das glatte Tischholz, und den Ellbogen schnell hochreißt, klappt der Teller bereits um und die Glasperlen platzen unsichtbar über die Küchenfliesen, in die Schatten, die die Tischlampe nicht ausleuchtet. Sie lauscht, ob der Lärm ihre Mutter aufgeweckt hat, aber diese schnaubt leise weiter vor sich hin. Als sich Sandyr auf allen vieren auf den Boden niederlässt, bohren sich die Perlen in ihre Knie, Zehen und Handflächen. Sie verzieht das Gesicht und schüttelt sie sich von den Händen.

Sie stellt sich vor, wie die Perlen zwischen den Fliesen Wurzeln schlagen, sprießen, Blumen tragen und zu Perlensträuchern emporwachsen. Die Perlen reifen in Hülsen heran, wie die dünnen Akazienhülsen, aus denen Sandyr mit ihrem Vater Pfeifen gebastelt hatte. Er pustete rein und es kam ein Ton heraus, Sanja pustete und die Hülse blieb stumm. Sie pustete und pustete, spuckte wütend in die Hülse. Da zeigte ihr Vater auf das Wiesen-Rispengras: Schau mal, Hahn oder Henne? Sanja ließ die Hülse fallen, maß die Rispen mit dem Auge ab: Henne. Ihr Vater zog die Rispen mit Daumen und Zeigefinger am Stiel entlang hoch. Eine lange Rispe schaute aus den restlichen hervor. Na, doch ein Hahn, hm? Sanja schüttelte den Kopf: Nochmal!

***

Sandyr lehnt am Fensterbrett und hält die Tasche und den Mantel ihrer Mutter. Diese schimpft und es hallt bis zur Toilettendecke hoch. Der Termin für den Antrag für die Große Witwenrente, nach dem Absetzen der Kleinen Witwenrente, zieht sich bereits seit zwei Stunden. Sandyr versteht nicht, warum ihre Mutter darauf bestand, dass sie zum Übersetzen mitkam, denn diese versteht alles einwandfrei und schafft es, gleichzeitig auf ihre Tochter und die Sachbearbeiterin einzureden. So schnell kann nicht mal Sandyr zwischen den Sprachen switchen.

Es rieselt in die Kloschüssel. Weißt du, bei uns, da stellt man sich mental auf Schikane ein, ja? Und hier tuen sie auf zivilisiert, machen Sicherheitskontrollen, geben dir so ein Nummernzettelchen und was dann?

Hm-m, macht Sandyr mechanisch.

Und dann sitzt da diese Tussi und wühlt sich durch die Papierstapel und kann nicht mal Kopfrechen! Sandyrs Mutter wäscht sich die Hände ab. Weißt du, bei uns, da weiß ich halt, ich bringe einen Cognac mit und ich erniedrige mich ein wenig, aber dann wird da auch was gemacht!

Sandyr reicht ihrer Mutter die Sachen zurück. Das ist klassistisch, Mama, und du romantisierst Korruption.

Die Mutter gibt ihr einen Kuss auf die Stirn. Wer hat dich bloß erzogen, dass du so aufgeklärt bist, hm?

Sandyr zieht ihr Smartphone hervor, trottet der Mutter hinterher und klickt sich durch die Nachrichten. Neuigkeiten vom Justizministerium Russlands, weitere Eintragungen von queeren und feministischen Initiativen als Ausländische Agenten, Auszüge aus Gesetzesentwürfen gegen Agitation…

Sie öffnet die Kalenderübersicht und starrt auf den roten Eintrag, geht die Check-Liste durch, die sie sich dafür notiert hat. Ja, sie hat definitiv alle Papiere vorbereitet. Sie hat darin einzigartige Expertise, mit acht Jahren ist sie bereits Behörden-Briefe mit den Eltern durchgegangen und war stolz darauf gewesen, wenn sie den Eltern ein „Nein, das muss so!“ sagen konnte. Der Antrag auf das Auslandssemester in Perm sei ohnehin rein formal. Es will ja sonst keiner hin.

***

Lies mir aus den Krym’schen Legenden vor.

Oh, nein, Kind, nicht schon wieder! Hast du danach keine Alpträume?

Nein. Ich will das Märchen über Oksana!

Und das Märchen über das Rübchen? Wollen wir nicht gemeinsam alle Tiere herbeirufen, damit sie zusammen die Rübe herausziehen?

Nein! Ich will das Märchen über Oksana!

Na, wenn schon, dann vielleicht das Märchen von den Schwestern? Wo der einen Schwester der schöne lange Zopf von einer Hexe abgeschnitten wird und sie stirbt, und dann muss die andere Schwester sich den Zopf von der Hexe holen?

Nein! Das Märchen von Oksana!

Und das Zauberwort?

Nein!

Das ist nicht das Zauberwort.

Bitte. Danke. Nein! Sanja plustert sich auf.

Die Mutter seufzt.

Oksana, Oksanochka, so eine schöne Frau, so stark, niemand konnte sagen, er hätte jemals eine Träne in ihrem Auge gesehen. Die schwarzbärtigen Kazaken scheuten sich, sie anzusprechen. Nicht, dass sie sich fürchteten, aber vorsichtig waren sie.

Am heißen Tag ist Stille in der Siedlung. Jeder versteckt sich von der Hitze, und die Oksana trägt das Tragjoch mit den Leinwänden zum Fluss zum Bleichen. Gej-gej, Oksana, Oksanochka…

Gej-gej, Oksana! ruft Sanja.

… Wenn du gewusst, wenn du geahnt hättest, wärst du nicht mit den Leinwänden zum Fluss hinunter gegangen. Du wärst nicht weggegangen, wenn du gewusst hättest, dass von der weiten Steppe Unheil naht.

***

Ein Panneau flechten bedeutet, die Muster der Welt wahrzunehmen, abseits der Muster, die uns von dem ӟуч beigebracht werden. Es bedeutet, zu heilen. Die Hände arbeiten, der Geist arbeitet, langsam mit dem Atem, die Fäden in den Fingerknöcheln eingekeilt. Befeuchte den Wollgarn mit der Spucke, drehe ihn schmal, ordne ihn in das Gewebe ein, kämme die Knoten aus. Du wirst starke Finger haben, starke Handmuskeln. Sanja prustet los und schaltet sich stumm. Starke Finger, ja-ja…

Und behalte unbedingt das Werkzeug deines Vaters, wnuchka, die Birkenrinde und das Brenneisen und das Messerchen. Wer weiß, vielleicht holst du es hervor und merkst, die Rinde, die schmeichelt deiner Haut und du willst sie formen. Dann schnitzt du ein tujesok nach dem anderen und sagst den Deutschen, das sei traditionell, vegan und nachhaltig, aus aufgeforsteten sibirischen Wäldern. Die Oma, die hat ein gutes Auge fürs Marketing, das kommt gut, wenn du die Preise hoch setzt.

Das ist kultureller Exhibitionismus, Oma.

Was sagst du? Du verwendest so schlaue Worte, mein Kind, ich bin so stolz auf dich. Zeigen sie in den Nachrichten bei euch die Brände? Das sind nicht die Gewitter - wann hat es zuletzt Gewitter gegeben? Das sind nicht die Torfbrände wegen der trockenen Erde, nein. Das sind Menschen, die das Gras anzünden, weil sie es immer so gemacht haben, um es schnell auszuroden. Weißt du, das Gras, das könnte man ja auch abmähen. Da sollte es Strafen geben, heutzutage, auf oberster Ebene sollen sie da was erlassen, dass das auch ankommt, bei den Menschen. Dieser Dunst über Moskau vor ein paar Jahren, das hat der Kreml davon, wenn sie Sibirien brennen, wenn sie die eigenen russländischen Menschen das eigene Land anzünden lassen. Wir sind ja schon weit weg hier, was die da oben mit Europa und den USA machen, falls das mal gefährlicher wird, wir sind hier sicher. Wir fürchten Gayropa nicht, wir räuchern uns schon selbstständig aus.

Oma, was sagst du da, das macht keinen Sinn, nimmst du deine Medikamente ein?

Du fragst mich immer nach den Medikamenten, wenn ich dir etwas Wichtiges sagen will.

Ja, aber nimmst du die?

Sanechka, mir gefällt dieser bevormundende Ton nicht. Ich werde jetzt auflegen.

Warte, warte, ich werde bald ganz in der Nähe sein, in Perm.

Was willst du hier?

Naja, arbeiten. Nützlich sein.

Also, ich weiß nicht, meine Liebe, du machst doch was mit Literatur, oder? Das braucht doch hier niemand.

Ich wollte mehr sowas in Richtung Menschenrechte und Feminismus machen.

Ja, aber das braucht doch in Perm erst recht keiner. Sind doch nur Kriminelle dort, gab’s neulich wieder mal eine Statistik, da haben sie das auch dokumentiert, ja.

Sandyr lacht verunsichert auf. Brauchst du mich denn?

Versteh mich nicht falsch, mein Kind, aber ich musste mich daran gewöhnen, euch nicht zu brauchen.

***

Sandyr wartet, bis Lajma eingeschlafen ist, schiebt sie vorsichtig von sich, dreht sich auf den Bauch und legt die Nase an den Bettrand. Sie hat sich in der Kindheit angewöhnt so einzuschlafen. Damals trug sie einen langen Zopf und damit die Hexe ihr das Haar nicht abschneiden konnte, hatte sie es sich unter den Bauch geklemmt. Sie hatte ja keine Schwester, wer hätte ihren Zopf zurückbringen können? Und hätte die Hexe versucht, ihr den Zopf unter dem Bauch hervorzuziehen, da wäre Sandyr schon aufgewacht und hätte sich gewährt.

Am Anfang hat Lajma gefragt: Tut dir der Hals nicht weh, wenn du so schläfst? Sandyr hat versucht zu erklären, mit der Hexe und dem Zopf und der Schwester, und Lajma hat den Kopf zur Seite geneigt: Aw, du warst so ein phantasievolles Kind.

Lajma mag es, Sandyr Eigenschaften zuzuschreiben, bei jeder Zuschreibung runzelt Sandyr die Stirn. Sie fühlt sich nicht besonnen, sie war nie phantasievoll, sie ist nicht mutig. Sie wendet den Kopf zu Lajma und stupst mit dem Zeigefinger in Lajmas Bauchnabel. Sie hat eigentlich keine Ahnung, aber Lajma hat das noch nicht durchschaut. Sie nimmt sich jede Nacht vor, Lajma am Morgen zu fragen: Willst du mich in Perm besuchen?

***

Sandyr schaltet sich stumm, winkt in die Kamera und ergänzt ihre Pronomen im Namen für den Zoom-Calls. Die meisten haben ihre Kameras ausgeschaltet. Sie hat vorab ein Handout an die Organisierenden geschickt, mit Beratungsstellen in Deutschland für russischsprachige, queere Menschen, Migrationsmöglichkeiten und die ersten Schritte, um sie einzuleiten. Es wurden fünf Personen eingeladen, die auf Social Media in Support-Gruppen aktiv sind. Jede soll einen Impulsvortrag halten, was an Deutschland besonders toll sei. Sandyr hatte vorab nachgefragt, ob es denn nicht sinnvoller wäre, aufzulisten, was ihr nicht gefalle, um auf Herausforderungen vorzubereiten, aber das hätte nicht ins Konzept gepasst. Der Umzug ins Ausland sei schon anstrengend genug, die Desillusionierung käme auch so, an diesem Punkt gehe es vor allem darum, Mut zu machen und Kraft zu geben. Sandyr soll als letzte sprechen.

Die Deutschen seien höflich und grüßten immer, das Justizsystem sei gerecht und die Medizinausstattung auf höchstem Niveau, die Polizei behandle einen wie einen Menschen, die Krankenversicherung erstatte alles, der Sozialstaat sorge für jeden, die Politik sei feministisch, klar, weil ja Bundeskanzlerin, die Medien berichteten unparteiisch, Lesben und Schwule dürften heiraten, Kinder kriegen, trans und nicht-binäre Menschen eine Personenstandsänderung machen…

Sandyr hält die Luft an. Sie möchte fragen: Kennt ihr Deutsche, so privat? Allesamt ewig freundliche Übermenschen, die immer hilfsbereit sind, ja? Wart ihr denn nie ernsthaft krank, habt ihr nie nächtelang in der Notaufnahme warten müssen, mit Verdacht auf Schlaganfall bei der Mutter, und dann eine völlig übermüdete Ärztin angeschrien, die auch nichts dafür konnte? Habt ihr schon mal versucht, eine Anzeige gegen fremdenfeindliche Gewalt zu erstatten, und euch angehört, wie der Polizeibeamte immer neue Rechtfertigungen für den Angreifer fand, Verständnis wecken wollte, das sei ja ganz anders gemeint gewesen? Habt ihr nie einer gerichtlichen Auseinandersetzung beigewohnt, Sachbearbeitung von mehreren Jahren, Richter, die irritiert sind, von kulturellen Unterschieden? Habt ihr schon mal jemanden hier verloren und beerdigt?

Sie atmet aus, da ist es wieder: Sie unterstellt, sie wirft anderen vor, etwas nicht erlebt zu haben, als mache sie das zu etwas Besserem, als hätte sie dadurch eine klareren Blick. Sie ist die falsche Person, um bei solchen Runden Erfahrungen zu teilen, oder vielleicht auch: Sie hat die falschen Erfahrungen in einem richtigen System gemacht. Sie muss ein Einzelfall sein, denn wenn sie der Lajma Sachen erzählt, dann erwidert sie: Also, das glaube ich jetzt nicht! Und wenn sie Lajma sagt, das klinge für sie so, als meinte Lajma, dass Sandyr lügt, sagt Lajma: Das verstehst du nicht, das sagt man so in Deutschland, das heißt doch nicht, das ich dir wirklich nicht glaube. Und die Oma, die sagt: Jetzt bist du aber undankbar! Was glaubst, wie es den Kindern auf dem Nordpol geht. Und allen, allen geht es gut in Deutschland und nur Sandyr rutscht durch die Paragraphen, durch die Regelungen, durch die Konzepte.

Sie schaltet ihr Mikro an, zieht die Mundwinkel auseinander und streckt die Nase hoch, damit die Tränen nicht aus den Unterlidern schwappen: Es wurde ja alles schon gesagt, ich würde einfach nur Sachen wiederholen. Wollen wir direkt mit der Fragerunde starten?

***

Sandyr schaut vom Lektüretext hoch. Der Zug ist auf einer Brücke über dem Rhein angehalten. An den Stangen türmen sich  bunte Schlössertrauben mit aufgedruckten Initialen. Sandyr fragt sich, ob bei der Konstruktion von Brücken das Gewicht von solchen Liebesbekundungen mitberechnet wird und ob sie einstürzen könnten, wenn zu viele Schlösser angebracht sein würden. Sie stellt sich vor, wie unter ihr die Brücke knarzt, wie der Zug langsam anfängt, in sich zusammenzufallen, und sie für einen kurzen Moment schwerelos wird, ehe der Waggon auf dem Wasser aufschlägt. Sandyr drückt die Wange an das kalte Glas und überlegt, welche Schlagzeilen es gäbe, zu viel Liebe bräche Brücken ein, ein älterer Herr, der sich über den Vandalismus beschwert, den die jungen Leute mit den Schlössern betreiben, vage Stellungnahme der Eisenbahngesellschaft… Sie entsperrt mechanisch das Smartphone und scrollt durch die News Broadcasts, ohne mit dem Blick an den Überschriften hängen zu bleiben. Sie öffnet eine Datei für eine neue Liste. Was zu tun wäre, sobald der Antrag für Perm genehmigt ist. Der Cursor blinkt. Sandyr schaut wieder auf die Schlösser draußen. Die Genehmigung würde erstmal nur eine Reihe weitere Aufgaben zum Abarbeiten bedeuten, das war’s. Sie checkt die Mails, den Telefonverlauf, falls sie zufällig die Benachrichtigung über einen verpassten Sprachanruf weggedrückt hat, wechselt zur leeren Datei zurück.

 

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Senka

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freiTEXT | Julia Knaß

Uns Gespenster (Ein Spiegelspiel)

(1)

Vielleicht hatte es etwas mit dem Wasser zu tun und dass ich nach Sternen tauchen wollte, im Fischteich. Sie war am Ufer gesessen, und hatte andere Wörter geformt. Ich dachte, wenn ich das wirklich will, dann hat der Laich Zacken. Meine Beine voller Schlamm, im Hintergrund der Wald und der Berghof. Und zwischen den Grashalmen hat etwas geraschelt. Hörst du es, hat sie geflüstert und mich erwartungsvoll angesehen.

Das Rascheln war kein Geräusch der Wiese, es kam aus einem anderen Leben, wurde immer lauter, bis es uns die Welt abschnitt, wir rannten vor ihm davon, dann, ich verlor Wassertropfen, sie einige Wörter, es hat beides verschlungen, ich weiß das, ohne dass ich hingesehen hätte.

In mein Tagebuch schrieb ich am Abend, das hätte nicht passieren dürfen. Was sie schrieb, weiß ich nicht, aber ich stelle mir vor, das hätte nicht passieren dürfen. Ich stelle mir vor, sie schrieb es mit meinen Tropfen so wie ich ihre Wörter verwendete. Danach haben wir nicht mehr darüber geredet. Ich habe einige Sterne gemalt und daruntergeschrieben: Froschlaich mit Zacken.

(2)

Vielleicht hatte es etwas mit Herkunft zu tun und dass sie nach Meeresrauschen im Wald Ausschau hielt. Sie hatte einen Stift und meinte, sie könne die Bäume damit umschreiben. Sie dachte, wenn sie das wirklich will, dann würde Sand aus den Ästen rieseln. Wir gingen durch eine Wüste zurück zum Hof und verwischten unsere Spuren selbst

An dem Abend hat niemand von uns etwas geschrieben, aber das Geräusch war zurückgekommen. Ich flüsterte, hörst du es, und sie nickte und verlor ihren Kopf dabei. Da wusste ich, dass ich nicht mehr davonlaufen konnte, vor ihm. Also stand ich auf und hielt meinen Kopf fest, während ich auf das Fenster zuging.

Aber als ich den Vorhang beiseiteschob, war da nur eine Wand. Ich habe geflüstert, es ist nichts, es ist wirklich nichts, und ihren Kopf vom Boden aufgehoben. Ich flüstere das noch immer, wenn ich abends allein im Bett liege, es ist nichts, es ist wirklich nichts mehr, es ist niemand. Und jedes zweite Mal glaube ich mir, dass es stimmt.

 

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Julia Knaß

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freiTEXT | Sophie Vizthum

Seit zwei Minuten offline

Liebe Fanny,

wie geht es dir da drüben in Tokio? Hast du schon einen riesigen Pikachu gekauft? Wie schmeckt Sushi ohne Glutamat? Ich muss dir gleich gestehen, allzu Spannendes kann ich nicht berichten – aber ich habe mich heute nicht übergeben und das ist schon was.

Du fehlst mir hier. Und immer, wenn ich dich vermisse, versuche ich mich abzulenken. Ich habe also mal wieder Tilly geschrieben. Du erinnerst dich vielleicht noch an sie: ich habe sie in so einem Online Forum Anfang der Zweitausender kennengelernt. Die, die auch Probleme hat. Die, die alle paar Sekunden von online zu offline wechselt.

Tilly schrieb mir, dass sie gerade eine Demonstration gegen die Unterdrückung Schwarzer in den USA organisiert. Dagegen kamen mir meine Sorgen irgendwie winzig vor.

Ich habe mich gar nicht getraut zu fragen, was sie sich dadurch erhofft, hier in Österreich? Aber Tilly würde sagen, natürlich verstehst du das nicht, du hast kein Gefühl für die Welt. Ich bin mir gar nicht mehr sicher, warum wir überhaupt noch reden.

Ich habe gesehen, dass du jetzt auch viel postest und so was. Ich hoffe, dass du nicht auch in diese digitale Generation abgerutscht bist, die für alles eine Rechtfertigung parat hat? Du bist nicht schuld am Elefantensterben, dein Einkauf wird CO2-neutral versandt, diese Jogginghose ist aus der schönen Provinz Chinas – das können sie uns ja verkaufen und so, aber glauben muss ich es nicht, oder?

Manchmal habe ich das Gefühl, dass mir alles zu viel wird. Ständig gibt es nur Probleme, aber kauf mich, dann geht es dir besser. Wenn ich mir die Zähne putze höre ich fremden Menschen beim Quatschen über Schwangerschaftsprobleme, beim Planen von Weltreisen oder beim Testen von Produkten zu – dabei bin ich weder schwanger, noch habe ich Geld für eine Reise, noch brauche ich so ein Scheißproteinpulver. Aber ich könnte dir stundenlang von Episiotomien und Proteinpancakes erzählen.

Ja, natürlich könnte ich endlich die selbstgemachten Ohrringe von Anna kaufen und sie dadurch unterstützen. Klar, wären zwei Sportleggins zum Preis von einer super. Und die Babybären in Käfigen in Bulgarien tun mir eh leid. Versteh mich bitte nicht falsch. Aber wo bleibe da eigentlich ich?

Ich habe übrigens jemanden kennengelernt, das wird dich sicher interessieren. Elias heißt er – er kocht gerne und schaut mir beim Spielen auf der Wii zu.

Er merkt sich so Dinge, die anderen gar nicht auffallen. Zum Beispiel, dass ich die eingedrehten Nudeln lieber habe, weil ich denke, sie schmecken nussiger.

Wenn wir gemeinsam kochen, darf ich auf der Fläche gleich neben dem Herd sitzen, wie damals, und rühren. Ich rühre alles um, Wasser, Currys, Chillis, ich rühre mal nach links, mal nach rechts und rede und alles ist gut. Erinnerst du dich noch, damals in der Therapie, da haben wir es nicht anders gemacht.

Wenn ich Elias dann sehe wird sicher alles besser. Er gibt mir das Gefühl, dass es okay ist, mal abzuschalten – wir hören nichts, wir sehen nichts, wir igeln uns ein und der Lärm, den lassen wir vorbeiziehen. Ich glaube, ich werde meinen Fokus auf ihn richten. Zumindest bis du wieder da bist. Schauen wir mal, wie lange es gut geht.

Ich sollte jetzt gehen. Ich bin schon viel zu lange online. Aber eigentlich bin ich gar nicht daheim. Vor mir dreht sich ein Ringelspiel, es dreht und dreht sich und malt eine bunte, runde Spur in die Luft, dort wo sonst eigentlich die Kinder sitzen, weißt du. Die Kinder? Die sind schon lange nicht mehr da. Vielleicht schlafen sie auch nur. Musik höre ich keine.

Jemand in schwarzen Adidas-Hosen boxt gegen einen ledernen Ball. Das dumpfe, mechanische Geräusch des nachgebenden Boxsacks bringt mein Blickfeld zum Wackeln.

Gestern Abend war ich schon hier, mit Elias, wir haben uns Zuckerwatte geteilt und Schaumbecher verschlungen. In der Geisterbahn war mir schlecht. Heute Morgen bin ich wieder gekommen, bin durch die Maschinenreihen spaziert, habe mich auf winzige Fahrgeschäfte gesetzt, die nicht gut genug abgesperrt sind und habe geraucht. Ich habe auch versucht Cola zu kaufen, aber die Automaten blinkten alle rot. Sonst ist noch niemand da. Vielleicht war auch nie jemand da. Und es ist alles nur in meinem Kopf.

Jagen, das tun sie uns alle, mit ihren Scheißideen von Vollkommenheit. Hier sitze ich, kurz nach Sonnenaufgang an einem Junimorgen und überlege, heutzutage nehmen wir die Maschinen überall hin mit. Besonders ist das schon lange nicht mehr. Und freiwillig irgendwie auch nicht.

Ich warte auf Elias.

Schreib mir mal wieder.

Sayonara!

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Sophie Vizthum

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