freiTEXT | Christina König

Geschmacklos

Der Tag, an dem das Essen seinen Geschmack verlor, war ein Dienstag. Wir saßen beim Abendessen, meine Frau hatte Krautfleckerl gemacht und ich griff zum zweiten Mal nach dem Salz, um ihnen Aroma zu entlocken. Meine Frau schaute mich pikiert an. Sie konnte nicht kochen und wollte es nicht wahrhaben.
„Es ist sicher gut, ich schmeck nur heute nichts.“
„Wie, du schmeckst nichts?“
Ich zuckte mit den Schultern. Das Salz glitzerte nutzlos wie Haarschuppen auf meinem Teller.
Nach dem Essen reichte mir meine Frau einen Corona-Test.
„Ernsthaft?“
„Man weiß ja nie.“
Der Test war negativ.
„Vielleicht geht es ja von allein wieder weg.“

Es ging nicht von allein wieder weg. Nach einer Woche schickte mich meine Frau zu ihrem Bruder, der Arzt war. Er kratzte sich am Kinn.
„Hast du Kopfverletzungen? Eine Erkältung? Einen trockenen Mund?“
„Nein.“
„Nimmst du irgendwelche Medikamente?“
„Was gegen Eisenmangel.“
„Könntest du schwanger sein?“
„Du weißt schon, dass ich mit deiner Schwester verheiratet bin.“
„Ich mein ja nur.“
Er führte ein paar Tests durch, aber als die Ergebnisse da waren, hob er nur die Achseln. „Eigentlich hast du nichts.“
„Und was machen wir jetzt?“

Wir machten weitere Tests, diesmal im Krankenhaus. Auch bei denen kam nichts raus. Ich wusste jetzt, dass meine Schilddrüse nichts hatte, ich nicht an einem Gehirntumor litt und aktuell keine Strahlentherapie machte. Grantig schaute ich meiner Frau dabei zu, wie sie Schokoladeneis löffelte.
„Ich kann aufhören, wenn du willst.“
Ich stapfte in die Küche, holte mir einen Löffel und grub ihn ebenfalls ins Eis. „Ich stell es mir jetzt einfach vor.“
Meine Frau sagte nichts. Die Brownie-Stücke aß sie selbst.

Ich pflanzte ein Kochbuch über gesunde Ernährung auf die Küchentheke. Es gab Rote-Beete-Salat, Linseneintopf und Walnuss-Apfel-Porridge zum Frühstück. Ich nahm fünf Kilo ab.
„Wenn ich schon nichts schmecke, kann es gesund auch gleich sein.“
„Recht hast du.“ Trübsinnig schaufelte meine Frau gedämpfte Brokkoli in sich hinein.
„Magst du’s nicht?“
„Es ist ein bisschen stark gewürzt.“
Ich kniff die Augen zusammen.
„Ich sag schon nichts mehr.“

Die Pizza schwitzte auf dem Teller vor sich hin. Meine Freundinnen gafften mich an. Ich schnitt ein Dreieck ab und führte es zum Mund. Niemand sagte etwas. Ich nahm einen Bissen und alles jubelte, kreischte und applaudierte wie bei der Mondlandung. Ich hasste Tomatensauce. Meine beste Freundin erzählte heute noch die Geschichte, wie ich mich bei den Kennenlerntagen im Gymnasium übergeben hatte, als die Lehrerin mich zum Pizzaessen gezwungen hatte. Eine Freundin schoss ein Foto. Ich hob den Daumen und grinste blöd.
Drei Wochen lang musste ich bei jedem Freundinnentreffen Pizza essen. Dann wurde es den anderen zu langweilig. Meine beste Freundin sagte: „Ich weiß nicht mehr, was ich den Leuten über dich erzählen soll, wenn ich nicht mehr sagen kann, dass du Pizza hasst.“ Meine Frau sagte: „So identitätsstiftend war das auch nicht.“ Meine beste Freundin sagte: „Na, es war schon ziemlich cool.“

Mein Neffe kicherte und gluckste und drängte mir eine furchtbare Essenskombination nach der anderen auf. Gurke mit Nutella. Ketchup auf Kaiserschmarrn. Cornflakes in Cola. Ich schlang alles gelangweilt herunter. Bisher hatte er mit mir nichts anfangen können, jetzt war ich seine Lieblingstante. So lange, bis er selbst nur noch Lasagne mit Gummibären essen wollte und seine Eltern mir verboten, ihn aufzustacheln. Dann mochte er wieder meine Schwester lieber.

Meine Arbeitskollegen redeten über die neue Kochshow auf Netflix, über die Vorteile von Granatapfeleis und über die besten Sommersalatrezepte. Ich zupfte an meinem Falafel-Wrap herum. Dann redeten sie über die Kollegin, die immer die besten Geburtstagskuchen backte, über die Teriyaki-Sauce beim Chinesen gegenüber und über kalorienarme Muffins. Ich zermalmte Kichererbsen und Datteltomaten zwischen den Zähnen. Dann schwärmten sie von den Erdbeeren aus eigenem Anbau.
„Hört ihr endlich auf mit dem Scheiß?“
Alle gafften mich an. Ich warf meinen Wrap in den Mülleimer und stopfte mir Dragee-Keksi vom Süßigkeitentisch in den Mund. Es krachte neurotisch.

Ich hing über dem Schnitzel, das meine Frau und ich bei Mjam bestellt hatten. (Es gab jetzt wieder Schnitzel.) Nebenbei lief eine Fernsehsendung, von der wir beide bestritten, dass wir sie jemals gesehen hatten.
„Du, ich glaub, ich schmeck was.“
„Hm?“
„Ich schmeck was.“
Sie löste den Blick vom Bildschirm. „Bist du sicher?“
„Ich glaub schon.“ Ich kaute, stoppte, kaute weiter. „Oder ich weiß nicht.“
Meine Frau stand auf, holte das Chiliöl aus der Küche und goss einen Schluck über mein Schnitzel. „Probier nochmal.“
Ich kostete. Dann zuckte ich mit den Schultern. Meine Frau schnitt ein durchtränktes Stück von meinem Schnitzel ab und aß es selbst. Ihre Augen tränten, sie wurde rot und spuckte das Stück in ihre Serviette. „Du schmeckst nichts.“
„Okay.“
Wir widmeten uns wieder unserer Fernsehsendung. Dasselbe Gespräch hatten wir schon fünfmal geführt.

Beim Geburtstag meines Bruders kam die ganze Familie zusammen. Jedes Jahr wünschte er sich Käsefondue. Dazu gab es Fleischbällchen, Prosciutto-Melonen-Spieße, Ofenkartoffeln und Maissalat. Ich brachte selbst gemachtes Knoblauchbrot mit. Mein Bruder fütterte meine Nichte, mein Neffe ließ sich flüssigen Käse übers Gesicht tropfen, meine Frau schnüffelte an den Ofenkartoffeln, mein Vater lachte mit vollem Mund und ich warf meinen Teller auf den Boden. Alles wurde ruhig.

Ich hörte auf zu essen. Ich nahm nur noch etwas zu mir, wenn mir der Kreislauf versagte. In der Arbeit konnte ich mich nicht mehr konzentrieren, ich hatte dauernd Kopfschmerzen und lag am liebsten auf der Couch. Auf dem Weg zum Einkaufen wurde mir einmal schwindelig, ich fiel ein paar Stufen herunter und wachte im Krankenhaus wieder auf. Meine Frau saß auf dem Stuhl neben meinem Bett. „Wenn du so weitermachst, verlass ich dich.“ Die Schwester schob einen Wagen mit Lauchrisotto und Schokoladenpudding als Nachspeise herein. Ich griff zur Gabel.

Wir saßen gemeinsam am Frühstückstisch. Es gab Rühreier. Ich schaufelte meine Portion in mich hinein. Dann stockte ich. Ich öffnete den Mund.
„Du schmeckst nichts.“
Ich klappte ihn wieder zu. Wir aßen weiter.

 

Christina König

 

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freiTEXT | Patricia Malcher

In Stein gemeißelt

Hier bist du zu Hause.
Ein Satz aus ihrer Jugend, mindestens zwanzig Jahre nicht erinnert. Die Hände braun, verklebt von aufgeweichtem Erdreich, die Nägel schwarz, gesplittert, blutunterlaufen kommt er ihr wieder in den Sinn.
Hier bist du zu Hause.
Ihr Vater hatte den Kopf geschüttelt, damals, als sie die Tage bis zum Abitur zählte, um anschließend zu verschwinden, endlich dem Dorf den Rücken zu kehren.
Sie selbst hatte nur türenknallend das Haus verlassen.
Nun drückt sie, gräbt, hält fest. Die Straße, die Erde, sie rutschen.
Fundament weggeschwemmt, schießt es ihr durch den Kopf und nun ist es die Kindheit, an die sie denken muss. Reime, Verse, rhythmisch geklatscht. Mit den Dorfkindern und Schulfreundinnen. Ene mene meck.
Jetzt also die Erde feucht und klebrig, als kleines Mädchen geliebt, ideal zum Bau von Burgen und Schlössern, von Prinzessinnen bewohnt und Stöckchen-Rittern gestürmt.
Damals, als das Dorf noch genügte und die Sehnsucht nach Städtischem in den Kinderschuhen steckte.
„Hilfe“, brüllt sie, während sie brusttief im Wasser versinkt, brüllt es bereits seit einigen Minuten, „Hilfe!“
Doch obwohl sie schreit, ohrenbetäubend schreit, das eigene Trommelfell foltert, hört sie niemand. Ihre Schallwellen versickern in Lehm und Regen und Flut und Gestrüpp.
Ein Schuh und ein Fahrrad und Frau Wagner strömen vorbei, den Alltagskittel um die Beine gewickelt, eng und verdreht.
Wie hinderlich, denkt sie, doch Frau Wagner stört es nicht, kein Versuch sich zu befreien, stattdessen ein Weiterströmen, kopfunter, ein Abprallen und Anecken an einem Postkasten vom Ende der Straße. Obgleich – endet die Straße jetzt nicht hier, am eigenen Grundstück?
Nichts ist klar in diesem Moment, weder das Wasser noch die Umstände, die Eigentumsverhältnisse, die Nachbarschaft, die Anzahl der Familienmitglieder.
Ist das ihr Sessel, samtig rot, der dort auf und ab schaukelt? Einladend der Eindruck, zum Ausruhen, lesen, Augen zu, Augen auf und endlich aufwachen, noch trunken vom Albdruck, mit sauberen Fingernägeln, intaktem Trommelfell, trockenen Füßen. Doch schon ist er untergetaucht, im Tante-Emma-Laden, der eigentlich Frau-Wagner-Laden heißen müsste, der nicht mehr dort steht, wo er stand, geschluckt wurde, nicht von einer Großhandelskette, sondern von der Wucht des Sturzbaches. Der Fluss ist es, der sich ihr kleines Dorf einverleibt, es schon immer würgt wie eine Schlange und nun, gemeinsam mit dem Dauerregen, mitsamt Knochen verspeist. Ein kleiner Bachlauf ursprünglich, so sagte der Lehrer stets, aus dem Keller eines Fachwerkhauses entsprungen. Mehr ist es nicht, und wo soll sie morgen Brot und Milch einkaufen?
Hier bist du zu Hause.
Mit Edding hat sie den Satz des Vaters seinerzeit auf die Rücklehne des Schulbusses geschrieben. Schwarzer Filzstift auf violett-grünem, blau-grau schillerndem Polster.
Das D von du umrahmte das Loch im Sitz, das irgendein Jugendlicher auf einer der täglichen Fahrten zur Oberschule hineingeknibbelt hatte. Gelber Polyester flockte aus dem Bauch des Buchstabens hinaus. Bereits einige Tage später war der Satz kommentiert. Ein stummes Schreibgespräch pendelnder Schüler.
Home sweet home, stand dort, Scheiß drauf, daneben No Future, Alles wird gut und Fuck off. Dazu der gewohnte Penis, krakelig und überdimensioniert, auf das Loch und die Füllung und das D und das du ejakulierend.
Jeder, den sie kannte, träumte damals davon, das Dorf zu verlassen. Dauerhaft. Nicht nur bis 19 Uhr 38, am Wochenende zwei Stunden länger. Der Bus war die einzige Möglichkeit, aus dem Alltag auszubrechen. Kein Hinaus-in-die-Welt-gehen ohne ihn. Die Ausgangssperre begann und endete an der Haltestelle. Zehn Kilometer entfernt schon die große, weite Welt. Weg. Einfach nur … weiter … Hauptsache … weg. So schnell es irgend ging, dem in Fels gemeißelten Lebensweg entfliehen, dem Familienhof, der Verwandtschaft, den verstaubten Lebenszielen vorheriger Generationen. Provinziell die schlimmste Schublade, die vorstellbar war.
Sie hört auf zu brüllen, erkennt die Sinnlosigkeit. Ihre Hand rutscht ab, verliert den Halt. Kurz taucht sie unter. Ein Stück Heimat schwappt ihr in den Mund. Es schmeckt nach Sand, Mörtel, nach Kalk und knirscht zwischen den Zähnen. In den Wangentaschen raut es die Schleimhaut auf, krümelig und bitter.
In Höhe der Kapelle ist ein Baum gekippt, ragt in das Hochwasser hinein, an der Krone die Sauerkirschen schon rot und prall.
Am Stamm bekommen die Finger Griff, die Füße Tritt. Sie kann verschnaufen, den Hals recken. Die Früchte in greifbarer Nähe.
In diesem Sommer werden es die Vögel sein, die ernten, denkt sie, nachdem Michi seine Frau hat sitzenlassen mit Kirschen, Kleinkind und Katzenklappe und in die Stadt gezogen ist. Michi, der noch nie was taugte und dieser Tage statt Kirschen zu pflücken in einem Zwei-Zimmer-Appartement sitzt, allein, so hört man jedenfalls, Fenster zum Hof, den Kopf voller Hirngespinste. Mit Mitte vierzig das Dorf verlassen, denkt sie und weiß, dass etwas nicht stimmt, mit diesen Kirschen, mit ihrer Logik, mit Vaters Satz, mit der Natur.
Der Lehm trocknet. Langsam beginnt er, sich zusammenzuziehen, kratzt und klebt ockerfarben auf der Haut. Die Zehen sind taub, das Wasser hat alles Gefühl ausgeschwemmt.
Sie sieht Toni und Heinz, für deren Gastwirtschaft sie die Buchführung macht. Sieht die Brüder hilflos vor ihrem Eigentum stehen, die Sandsäcke hüfthoch vor Kellerabgang und Haustür gestapelt.
Sie sieht Sophie, der sie Nachhilfe in Englisch gibt, und die das Dorf genauso hasst, wie sie selbst damals. Sie sieht das Mädchen mit einem Bündel Decken in der Hand, von Tür zu Tür rennen. Sophie, die sich schwer tut, the impact of globalization on culture and communication zu verstehen und für die eine mangelhafte Note in der Nachprüfung ein weiteres Jahr Dorfleben bedeuten würde.
Sie sieht Menschen, die sie nicht mehr voneinander unterscheiden kann in ihrer Hoffnungslosigkeit und Angst und Verzweiflung. Menschen, deren Handeln und Denken und Fühlen sich in der Katastrophe gleichen.
Sie sieht Blicke aus übermüdeten Augen, morastige Hautfalten, Dreck so klebrig, dass doch jede Straße, jedes Haus, jedes Auto hätte pappen bleiben müssen.
Einige Meter entfernt hört sie erneut ein Bersten, ein Reißen, einen ohrenbetäubenden Lärm. Hört die Flut gegen Beton tosen, Masse auf Masse.
Sie kann sich nicht mehr halten, schnappt nach Luft, lässt los. Sofort verringert sich der Druck, die Natur gewinnt die Oberhand. Leicht fühlt es sich an, aus dem Leben erodiert zu werden, eigene Kraftanstrengung nicht vonnöten. Der Körper schwerelos umhüllt.
Ein letztes Mal bäumt sie sich auf, hebt ihr Gesicht über die Wasseroberfläche. Pustet, atmet, schluckt und spuckt. Sie kennt ihr Schicksal aus den Nachrichten. Hochwasser im Sudan, in Nigeria, in Indonesien. Immer weg, weit weg, doch niemals hier. Warum auch? Tausend Jahre ist es gut gegangen. Das Leben und Lieben und Weinen und Lachen, das Siechen und Sterben, das Gebären und Großziehen, das Anbauen und Ernten, das Siedeln und Melken, das Zimmern und Tischlern.
Sie sieht das gelbe Heck eines Busses neben sich, die Fahrtzielanzeige schwarz und leer. Sie folgt der Linie, fühlt sich leicht und unbeschwert. Eine Zeit lang treiben Mensch und Metall nebeneinanderher, bis der Bus an Fahrt verliert, trudelt und im Schlamm versackt.
Sie selbst rauscht vorbei.

 

Patricia Malcher

 

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freiTEXT | Juliane Hahn

Ich, ich und das Lottchen

Der Mond fiel durchs vorhanglose Fenster und ließ meinen Bettnachbarn erbleichen. Ein kleiner Junge, der sich beim Spielen fast das Genick gebrochen hätte. Aber er war mit einer Gehirnerschütterung davongekommen. Jetzt lag er dort und röchelte im Schlaf, manchmal wehten auch ein, zwei gehauchte Worte von seinen anämischen Lippen.

Ich drehte den Kopf weg und versuchte, nicht da zu sein, indem ich mich dem Satz hingab, der mich ohnehin vollständig beherrschte. Er hing in meinem Hirn wie in einer Warteschleife, seit Stunden. La beauté sera convulsive ou ne sera pas. Da fehlte noch irgendetwas in der Mitte, sie würde außerdem verschleiert und magisch sein, die Schönheit, so ähnlich jedenfalls hatte Breton es formuliert, als er den Surrealismus ausrief. 1924, sogar die Jahreszahl stand klar vor mir. Den Satz selbst habe ich nie verstanden, allein das Wort konvulsivisch. Die Schönheit zuckend, verkrampft, ein Krampf. Jetzt hatte mich dieser Satz, so absurd es klingt, mitten aus dem Leben gerissen und hierher katapultiert, ins Krankenhaus. Er war zu mir zurückgekommen, damit ich endlich das vollenden konnte, was ich musste. Mein Lebenswerk. Eine Installation, die alle Künste auf sich vereinigen würde, Skulptur, Malerei, Film, vielleicht sogar Poesie als eine Art integrierter Text, eingearbeitet in das hauptsächlich als Bilderfolge geplante Video. Noch lag alles vor mir. Mein Schaffensdrang hatte wieder Blut geleckt, ich war dabei mich aufzurappeln. Neue Bildwelten zu erfinden, Ästhetik, Schönheit. Das war es, was ich so dringend brauchte. Für alles, was ich berührte, für mich selbst, für den Durchbruch. Sogar dieser Gips, der meine ganze rechte Seite vom Schulterblatt an bis hinunter zu den Zehenspitzen verbarg, hatte etwas Ästhetisches. Über zehn Knochenbrüche! Die Ärzte waren beeindruckt gewesen. Voller Interesse hatten sie mich untersucht, als wäre ich ein faszinierendes Objekt, ein Wunderwerk. Währenddessen hatte ein Assistent etwas von Autounfall gemurmelt, Drogenmissbrauch eventuell, ich blieb ruhig, meine Erinnerung leer.

Am nächsten Morgen war der Junge verschwunden. Kurz vor der Visite schoben sie den Neuen herein, ein älterer Herr mit Schnauzbart und verkrebsten Stimmbändern. Zu sprechen war ihm nicht möglich, so dass er zur Begrüßung sehr heftig nickte und mich dabei unverwandt ansah; türkisblaue Augen, wie das Meer in Ferienkatalogen. Ich grüßte zurück, wobei ich darauf achtete, nicht zu viel Freundlichkeit zu zeigen, um einer Verbrüderung von Anfang an entgegenzuwirken. Abstand war wichtig, gerade jetzt.

Später die Visite. Meine Ärztin trug eine schwarze Hornbrille und beugte sich lächelnd zu mir herab. Ein Medizinerlächeln, ich glaubte ihr nichts. Sie wollte reden. Ob ich Bezug zu Drogen hätte, ob ich mich an das Fahrzeug erinnerte, an den Unfall selbst, den Aufprall vielleicht. Und meine Familie, ob sie bereits informiert worden sei?

Charlotte. Plötzlich fiel sie mir ein. Ich hatte lange nichts von ihr gehört. Sie war jetzt vielleicht sechs oder sieben, ein Schulkind. Das Lottchen. Abgesehen von den üblichen Babyfotos hatte ich nur ein Video mit ihr gedreht. Damals war sie erst ein knappes Jahr auf der Welt und konnte noch nicht laufen. Als Geisha verkleidet hatte ich sie an den Schrank gelehnt wie eine Puppe und ihrem Gebrabbel synchron einen Text unterlegt - über Liebe, Geld, Genuss, eine Geisha eben. Eigentlich war es ein scharfer kleiner Film geworden, aber Anja rastete aus. Das wäre Kindesmissbrauch und widerlich und die Kunst könne ich mir sonst wohin. Ich war froh, als sie später mit dem Kind auszog. Denn je älter das Lottchen wurde, umso mehr Schrecken verbreitete es. Jedes Mal, wenn ich in ihr Gesicht blickte, bemerkte ich Linien und Formen, die auf mich zurückgingen. Ihre Nase zum Beispiel und die Form ihrer Oberlippe. Erblasten, die ich ihr zugeschoben hatte, ohne es zu wollen. Ich hatte meinen dicklichen Körper nie haben wollen, diesen fleischigen Mund. Diese viel zu stark gebogene, unförmige Nase. Sie hatte mir damals leid getan, das Lottchen, und auf grausame Weise hatte es mich geekelt, sie zu sehen, uns beide zusammen, das ging einfach nicht.

Zehn vor sechs. Die Schwester setzte mir ein Tablett mit Schonkost vor, eher unappetitlich: Selleriesalat in weißliche Kuben geschnitten. Ich verzehrte ihn mit asketischem Gleichmut, ebenso wie mein Zimmernachbar. Überhaupt schienen Askese und Demut die Koordinaten zu sein, auf die es momentan ankam. Dies wertete ich als Zeichen für die Schwere meiner Krankheit, welche mir zugleich eine umso strahlendere Rückkehr ins Leben, in die Kunst versprach. Je tiefer unten, desto höher hinauf. Voller Vorfreude senkte ich mein Kopfteil ab, da sah ich sie. Anja. Charlottes Mutter. Sie lehnte lässig an der Wand direkt neben dem Fernseher. Noch immer trug sie ihr Haar aufgetürmt wie eine Plastik, ein haariger Widerstand, der die Luft zerteilte.

Familienbesuch, sagte sie trocken. Ich antwortete nicht.
Wie lange willst du dich noch krank stellen?
Ist das dein Mitleid?, fuhr ich sie an. Zehn Knochenbrüche, mein Körper ist zerbröselt.
Zerbröselt, wiederholte sie höhnisch. Dann müsstest du eigentlich dein Ziel erreicht haben. Physische Auflösung, Immaterialität, Reinheit der Kunst, blabla.
Ich blickte an mir herunter. Der Gips sah tatsächlich wie ein Gebirge aus, unter dem ich verschwand. Sie war gekommen, um mich zu verletzen. Nach so vielen Jahren. Ich versuchte, mich zu konzentrieren.
Wieso bist du gekommen?, fragte ich schließlich. Und wo ist Charlotte?
Sie neigte leicht den Kopf, und ich meinte einen kleinen Vogel zu sehen, der dort in ihrem Haarturm nistete. Stille trat zwischen uns.
Glaubst du wirklich, du wirst diesen Ort gesund verlassen? Glaubst du wirklich, du wirst so sterben können?
Ja, wo ist sie denn?, schrie ich laut. Wo ist das Lottchen?
In diesem Moment regte sich mein Zimmernachbar, wir mussten ihn geweckt haben. Ich wollte ihn beschwichtigen, aber er blickte mich böse an. Geh endlich los, sagte er, geh sie suchen. Das sagte er, obwohl er gar nicht sprechen konnte, wegen seiner Stimmbänder.
Erschöpft fiel ich zurück aufs Bett. In diesem Krankenhaus war ich nicht mehr sicher. Ich litt, Knochenbrüche und Halluzinationen. Und selbst wenn ich mir alles nur einbildete: Dass ich sie suchen musste, mein Kind, mein eigen Fleisch und Blut. Und dass man mir Hypochondrie vorwarf, Feigheit, Verantwortungslosigkeit – große deutsche Worte, wie abstoßend. Dieser Ort war voller Täuschungen, und die einzige Wahrheit, die es jetzt noch gab, war Charlotte. Sie musste ich finden, irgendetwas bedeutete es doch, das Band der Gene.

Mühsam erhob ich mich und schlich am Schwesternzimmer vorbei den Gang hinunter. Meine Glieder spürte ich kaum, ganz offensichtlich war ich kerngesund und frei. Lautlos öffnete sich die automatische Glastür, die von der Wartehalle im Erdgeschoss ins Freie führte. Der Pförtner verharrte starr vor der Glotze, in einen Actionfilm aus den Siebzigern vertieft, während ich den Parkplatz überquerte. Ich folgte der Straße, die hinter dem Gelände weiterführte, wanderte ins Dunkel, irgendwohin, bis die Lichter der Stadt sich auflösten.

Die Weite der Landschaft umfing mich, es war, als geriete ich mit jedem Schritt, den ich über unbestelltes, rohes Feld stolperte, tiefer in ihren Bann. Der feuchte Boden zog mich förmlich an, und ich erschrak, als ich mein eigenes Schnaufen bemerkte, schnell, kurzatmig, laut. Wo sie sich wohl aufhielt, überlegte ich, während ich mich umwandte: Felder, weiter hinten Wiesen, die sich an den Hang schmiegten, ein Zaun, ein paar wenige Bäume, Sträucher. Meine Knie zitterten, ich musste mich hinlegen, nur einen winzigen Moment. Die aufgewühlte feuchte Erde würde mir Kühlung verschaffen; so machte ich es mir bequem, während ich den Sinn dieser Suche geradezu physisch empfand. Ich würde das Lottchen finden, sie war der Schlüssel zu mir, der letzte, der mir noch geblieben war, und wie im Märchen musste man nur den Zauberspruch kennen. Ich breitete die Arme aus, um meinen Körper in die Länge zu ziehen, so weit es ging. Vielleicht gelänge es mir, mich so zu dehnen, dass ich annähernd zwei Meter groß würde, vielleicht sogar größer. Wie eine Vogelscheuche. So würde sie mich leichter finden, falls ich zu schwach sein sollte. Sie würde auf mich zukommen, sehen, dass ich auf sie gewartet hatte. Feuchtigkeit drang von unten durch meinen Bademantel, während meine Hände die Erde abtasteten, um mich zu vergewissern, dass ich es war, der hier auf dem Feld lag, ich – bis mich ein tiefer Schlaf fortnahm.

Plötzlich Licht, Stimmen, das Klacken einer Tür. Jemand hat den Raum betreten, gleich steht er vor mir. Ich hebe abwehrend die Hand, bin krank, habe genug, da sehe ich die braunen Flecken, Altersflecken. Das muss eine Verwechslung sein, diese Hand ist uralt, vielleicht achtzig oder noch älter. Papa, flüstert die Frau; sie ist jung, sie setzt sich auf die Bettkante. Weint. Ein lautes, unbeherrschtes Weinen, das mich einhüllt, als wäre es ein Teil von mir. Irgendwie angenehm. Die Schönheit der Konvulsion, ist es das? Sie hat sich nach vorne gebeugt, zu mir hin, fast liegt sie auf mir. Ich möchte den Arm heben, nur ein Zeichen, aber es ist unmöglich. Ich habe mich schon entfernt und die Distanz wächst. Und zugleich die Schönheit, so scheint es, denn sie – das habe ich früher mal gelesen – nimmt man von ferne umso deutlicher wahr.

 

Juliane Hahn

 

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freiTEXT | Katharina Forstner

Regentinnenschaft

Die Königin frauscht waltet regiert:
108 m² Wohnfläche und einen kurzgemähten Rasen
zur Miete. Die zahlt sie an den Mann.
Die Königin besitzt: einen Thermomix einen Vibrator ein Auto. Den Thermomix besitzt sie auf der Kücheninsel, den Vibrator in der Sockenschublade, das Auto unter dem Carport. Die Königin fährt SUV. Das Schwarz glänzt in der Sonne, die Katze liegt auf der Motorhaube.
Die Königin weiß, dass sie glücklich ist. Ich bin glücklich, denkt sie
als sie in den Wagen steigt. Die Katze flüchtet beim Schlagen der Türen. Das Auto schnurrt aus der Einfahrt. Die Abendnachrichten säumen den Weg in die Arbeit.
Die Königin pflegt: 25 Wochenstunden für 1700 brutto auf der Neurologischen.
Dazu braucht sie: orthopädische Schuheinlagen gegen den Hallux Valgus. Eine junge Kollegin für die Eingaben am PC. Eine Tafel Schokolade für die Seele.
Hier dauert die Nacht zwölf Stunden und 24 Betten lang. Auf dem Heimweg wird sie zweimal angehupt: Die Ampel ist grün.
Die Schlüssel klimpern. Die Schüsseln klirren. Trockenfutter rieselt. Die Königin duscht und stellt sich nicht auf die Waage. Im Spiegel betrachtet sie Bauch und Haaransatz. Sie ist weiß gekrönt und muss bald nachfärben. Ihr Körper ist ein halbes Jahrhundert alt. Er hat eigene Zeitrechnungen erschaffen: 25 20 17 Jahre seit dem Urschrei. Das ist jährlich wert: Gutschein für drei Mal Wäsche aufhängen. Gutschein für einen Tag nicht lästig sein. Gutschein für einmal essen gehen. Die Königin wurde zur Mutter gekrönt.
Diese Krone ist mein Glück, sagt sie zum Spiegelbild und legt sich ins leere Doppelbett.
Die Königin hat gelernt sich zu kümmern um: drei Kinder zwei Katzen einen Mann. Den ist sie losgeworden. Jetzt hat sie einen anderen. Den neuen König statt dem alten.
Zu Mittag wird der neue König nach Hause kommen, deswegen schläft die Königin nur bis zwölf und wärmt das Essen. Um halb eins schreibt sie dem Mann: Wo bleibst du so lang?
Wo warst du so lang? Das Essen ist schon kalt geworden. Setz dich nieder. Ich nehme den kleineren Knödel. Der ist mir zerfallen. Willst du noch einen Schöpfer? Die Soße ist nichts geworden, zu viel Schlagobers erwischt. Hast du eh genug gehabt? Noch einen Kaffee? Kuchen habe ich auch noch.
Der Mann nimmt Platz auf der Eckbank und das Besteck in die Hand. Einen Bissen vom ganz gebliebenen Knödel. Er nimmt gerne. Er nimmt Liebe wie einen Blumenstrauß.
Die Königin gibt gerne. Das macht sie glücklich. Du machst mich glücklich, sagt sie dem Mann und springt auf um den Geschirrspüler auszuräumen.
Jetzt setz dich mal hin, sagen die Kinder immer zu ihr. Bleib doch am Tisch. Wenn sie mal da sind zwischen ihren Aventuiren.
Die Königin ist ihr Leben lang gelaufen: dem Läuten der Patienten nach, auf Eltern- – korrigiere – Müttersprechtage, zum Hofer zum Spar zum Fußballturnier laufenden Siebenjährigen zuschauen.
Der Mann steht auf und geht gemütlich: wieder in die Arbeit die Enkel besuchen seinem Freund Haus bauen helfen. Das Kaffeehäferl lässt er stehen.
Die Königin putzt schrubbt tuscht sich die Wimpern. Spricht mit den Katzen. Die Katzen sprechen nicht zurück. Bückt sich im Schlafgemach des Sohns nach Unterhosen und sagt: Das letzte Mal räume ich hier auf. Das Schlafgemach spricht nicht zurück. Ruft bei der Tochter an und erwischt nur die Mailbox. Die Mailbox spricht nicht zurück. Der andere Sohn hebt ab und will zum Essen kommen, morgen. Die Königin wird gebeten. Der Königin wird gedankt. Der Sohn spricht von seinen Weihnachtswünschen. Die Königin spricht nicht zurück.
Sie liest gießt sprießende Tomaten. Der Schlauch und die Augen tropfen.
Die Königin wartet: dass der Mann zurückkehrt die Kinder sie besuchen die Himbeeren reif werden
wartet: dass es heimkommt, ihr Glück.

 

Katharina Forstner

 

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freiTEXT | Simon Gottwald

nevermore

Da fliegen die Worte, rabenschwarz auf grauem Papier. Seit Stunden steht der Mann auf der Brücke und lässt sie aus einem schier unerschöpflichen Vorrat auf die Straße regnen.
Das Neonlicht der Reklame schneidet ihnen die Flügel ab, scheint es.

Wir sind doch alle Rabenkinder unglücklicher Eltern.

Wagen fahren keine mehr; die Polizei hat den Verkehr umgeleitet. Schaulustige stehen in dicken Trauben an den Absperrungen. Manche schütteln den Kopf, als hätte die Fassungslosigkeit ihr Genick gelockert. Andere heben eines der herbeigewehten Flugblätter auf, runzeln die Stirn, nachdem sie es überflogen haben, und werfen es wieder weg.
Der Mann will mit niemandem sprechen. Solange die Beamten auf Abstand bleiben, ist er eine Schatulle aus Schweigen. Jedes Mal, wenn sie sich ihm nähern, droht er, zu springen.
Fröhlich leuchtende Bildschirme reproduzieren die Szene unendlich, wie gegeneinandergestellte Spiegel. In der Menge diskutieren die Menschen, was der Mann da wohl mache. Eine Werbeaktion, meint einer, das ist ein Protest, weiß ein anderer, wogegen, er zuckt mit den Schultern.

Eine brechende Eierschale gibt zwei Welten frei. Manchmal ist das Nest geflochten aus einander verschlingenden Schlangen oder gebaut aus glühenden Kohlen. Das ist dann Pech. Mit fremden Flügeln kann man nicht fliegen.
Wo andere mit Schmuck oder Tand vollgestopft sind, bergen manche Schatullen eine Spieluhr, die eine seltene oder eine bekannte Melodie spielt, berührt man sie nur vorsichtig.

Vor grauem Papier ist der Asphalt kaum noch zu sehen. Ein Schottergarten aus Worten liegt auf der Straße.

Aus den Menschenmassen steigt eine Stimme auf. Jemand erkennt den Mann. Das ist Narcissus Hyde, sagt er. Der Name springt von Mund zu Mund, schlüpft in kleine Tastaturen und tänzelt durch die Luft wie ein Irrlicht.
Werbeaktion, wiederholen jetzt andere, Kunst, widersprechen einige. Zerknitterte Flugblätter werden als Beleg für beide Thesen weitergereicht.

Der Pelikan nährte seine Jungen von seinem eigenen Fleisch.

Haben Sie auch gehört, was man neuerdings über ihn sagt, wispert jemand. Ich kenne ihn gar nicht, lautet die Antwort. Alles nur Gerüchte, wird ergänzt, alles nur Gerüchte, bis es Beweise gibt. Das ist er gar nicht, mischt jemand sich ein, Sie verwechseln ihn.

Wie hauchdünne Spiegel aus Licht sehen die Zettel aus. Sie stürzen, als wäre das Papier zu schwer für sich selbst. Vielleicht sind es auch die Worte auf ihnen, die sie nach unten ziehen, oder die Gedanken, zu denen diese sich verschlungen haben.

Verstehen Raben, was sie sagen, wenn sie menschliche Worte verwenden?
Und wie ist das eigentlich mit Menschen?

Was halten Sie davon, fragt einer seinen Nebenmann. Muss der das von da oben machen, antwortet der. Nein, ich meine das hier, sagt der Erste und zeigt ihm ein Flugblatt, auf dem ein Schuhabdruck aus Straßenschmutz prangt. Die Linien sind deutlich zu erkennen.
Frechheit, so etwas noch zu verteilen, meint der Zweite.
Der Erste knüllt den Zettel zusammen und wirft ihn weg.

Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein‘ Fuß, hat ein‘ Zettel im Schnabel, von der Mutter ein‘ Gruß.

Unermüdlich regnet das Papier, so, als würde der Mann aus der Unendlichkeit schöpfen. Man ist sich nicht einig, ob er wirklich Narcissus Hyde ist. Man diskutiert über die Zettel. Inzwischen haben die Menschen festgestellt, dass auf jedem einzelnen etwas anderes steht. Manche hat er sogar von Hand geschrieben, sehen Sie mal, das kann er gar nicht alles alleine gewesen sein, warum denn nicht, die Handschrift ist eine ganz andere, sehen Sie das nicht, nein das ist die gleiche, sie verändert sich nur, weil er so viel geschrieben hat.
Wissen Sie, ich glaube, ich habe mich geirrt, so etwas würde Narcissus Hyde nicht schreiben, doch ich denke schon, waren Sie nicht eben noch der Meinung, dass …

Wir sind alle Rabenkinder. Über unzählige Generationen lässt unsere Geschichte sich auf ein einzelnes gesprenkeltes Ei zurückverfolgen, aus dessen dampfender Ursuppe das Leben entstand. Flossen, Beine, Flügel und Arme differenzierten sich aus.
Ein in Plastik erstarrtes Fossil, Spiegel einer in Öl gemalten Welt. Irgendwann werden Städte, Beton und Abgase nur noch als unverständliche Albträume existieren.

Der Mann, der vielleicht jenen Namen trägt, von dem keiner der Zuschauer weiß, ob er ein Pseudonym oder der ihm von seinen Eltern gegebene ist, sieht auf die Menschen herab. Es könnte Enttäuschung sein, was sich auf seinen Zügen abzeichnet, oder kaum verhohlener Ekel. Manche der Menschen halten seinen Gesichtsausdruck für einen der Neugierde, andere bemerken gar nicht, dass er ein Gesicht hat.
Ein älterer Mann in den hinteren Reihen keift wütend vor sich hin, wobei er so sehr mit dem Kopf zuckt, dass die über die Glatze gekämmten langen Strähnen sich lösen und wild vom Haarkranz abstehen. Unglaublich, dass der den Verkehr so beeinträchtigt, teeren und federn sollte man den, ruft er. Manche stimmen murmelnd zu, anderen missfällt die Forderung offensichtlich. Vielleicht denken sie an die Lebensbedingungen in den Legebatterien oder daran, dass die Dinosaurier Federn hatten.

Nachdem er stundenlang Worte in die Stadt entlassen hat, beginnt der Mann, die Kartons von der Brücke zu werfen. Noch immer fast randvoll, platzen sie unten mit lautem Knall auf und ergießen sich über das Zettelfeld.
So fasziniert sieht er den fallenden Kartons nach, so erleichtert nimmt er den Aufprall jedes einzelnen zur Kenntnis, dass man denken könnte, dieses Finale sei der eigentliche Zweck der Inszenierung und alles andere sei nur eine belanglose Fingerübung gewesen.
Der Polizei entgeht nicht, dass der Mann sie nicht mehr beachtet, dass er nichts anderes als die Kartons und die aus ihnen schwemmenden Zettel wahrnimmt.
Zwei Polizisten rennen auf einen Fingerzeig zu dem Mann und stürzen sich auf ihn. Er wirft gerade einen Karton, als sie ihn packen und ihm die Arme auf den Rücken drehen wie brechende Rabenschwingen. Obwohl er sich mit aller Kraft wehrt, haben sie ihn rasend schnell zu Boden gebracht und fixieren seine Hände.
Er gibt keinen Laut von sich. Röhren schütten Neonlicht über der Szene aus wie verdorbenes Saatgut. Die Polizisten heben den Mann vom Boden auf und stellen ihn auf seine Füße, als wäre er eine Vogelscheuche. Sein Gesicht glänzt, als würde er stark schwitzen.

Lieber Vogel, fliege weiter, nimm die Welt mit und noch mehr, nie wieder werd ich heiter, denn das Leben ist schwer.

Keiner der Zuschauer hat gesehen, wie er es geschafft hat, sich aus dem festen Griff auf seinen Schultern zu befreien, keiner, wie er die Fesseln an seinen Handgelenken gelöst hat. Auf einmal steht er auf der Brüstung und breitet die Arme aus. Dann legt er den Kopf in den Nacken, atmet einen Sonnenfleck aus und gibt dem Himmel einen Kuss.
Die Beamten können ihn nicht fassen, er ist wie in Öl gehüllt, seine Haut wie ein Panzer gegen die Welt.

Melodie im Bauch, gefüttert mit der Würmer Weisheit, jedes Wort ein telepathisches Tentakel, und Odin fehlte ein Auge.

Am nächsten Morgen rollt kein Verkehr, obwohl die Absperrungen nicht mehr da sind, die Schaulustigen verschwunden.
Die einzige Erinnerung an den Vorfall sind die Papierstreifen, mit denen die Vögel ihre Nester auspolstern.

 

Simon Gottwald

 

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freiTEXT | Emil Fadel

Schlick

„Ich finde, wenn man auf das Wasser schaut, und nur auf das Wasser, dann sieht es fast aus als wären wir am Meer“, hatte er gesagt und sie hatte kurz nachgedacht und ihm dann zugestimmt, denn es sah wirklich so aus. Die Wellen, die an den Strand spülten, die kleinen Tang- und Algenfelder, die in den Wogen auf- und niederschwappten, die träge blaue Masse, die sich vor ihnen erstreckte – das alles hätte genauso gut auch das Meer sein können, in einer Lagune an der Adria, oder an einer der südfranzösischen Küsten. Aber es war trotzdem nicht das Meer, sondern der Gardasee, und da, wo normalerweise der Horizont das Wasser berührt, ragten Bergmassen in den Himmel. Sie nahm seine Hand und zeigte ihm, wie er sie halten konnte, um das gegenüberliegende Ufer zu verdecken, dann war es noch viel einfacher, nur das Wasser zu sehen, das Meer.

Wenn sie jetzt die Hand über das andere Ufer hält, dann sieht sie auch nur noch das Wasser, aber wie Meer fühlt es sich trotzdem nicht an. Der See ist trüb und schlickig und hat sich weit zurückgezogen, nur noch die Verfärbungen an den Steinen zu ihren Füßen lassen noch erahnen, wie hoch das Wasser einmal gestanden hat.

Es war ihr erster gemeinsamer Sommer gewesen, sie hatten eine ganze Weile hin- und herüberlegt, wo sie hinfahren wollten, aber weil es zu viele Orte gab, die sie gerne entdecken wollten, weil sie beide zu viel Rücksicht auf die Wünsche des jeweils anderen nahmen, waren sie zu keinem richtigen Schluss gekommen. Schließlich hatte eine ihrer Kolleginnen ihr den Gardasee empfohlen, weil sie oft als Kind mit ihren Eltern dorthin gefahren war, „da gibt es anscheinend auch einen tollen Vergnügungspark“ hatte sie ihm erzählt, direkt als sie an diesem Tag von der Arbeit nach Hause gekommen war. Das hatte ausgereicht, um ihn zu überzeugen und zwei Wochen später saßen sie in seinem Mitsubishi Eterna, der nach vier Jahren irgendwie immer noch neuem Plastik roch, und fuhren die Brennerautobahn hinunter. Sie waren beide vorher noch nie in Italien gewesen und sprachen so gut wie kein Wort Italienisch, aber er meinte, dass das schon kein Problem werden würde.

Sie hat kein Gefühl dafür, wie lange sie am Ufer gestanden hat, als nun der Hotelmitarbeiter hinter sie tritt und sie in holprigem Englisch darauf hinweist, dass den Gästen des BuonviaggoSpa von Seiten der Hotelleitung nicht empfohlen wird, sich längere Zeit im Freien aufzuhalten, jetzt, wo die Brände so nah sind. „Lasciami stare“, sie winkt ärgerlich ab und er verschwindet wieder, wahrscheinlich ein wenig überrascht darüber, dass diese offensichtliche deutsche Touristin mit dem Sommerkleid und dem Strohhut ihn plötzlich auf Italienisch anfährt. Natürlich weiß sie, dass er eigentlich recht hat, ihre Lungen brennen schon und ihr Hals ist ganz wund von dem scharfen Rauch, der hier überall in der Luft liegt. Aber ihr Zimmer mit der Lüftung und der Klimaanlage ist ihr noch viel mehr zuwider als hier draußen zu sein. Hotelzimmer können sich ganz schön furchtbar anfühlen, vor allem wenn man alleine ist.

Das kleine an der Durchfahrtsstraße gelegene Hotel, in dem sie nach langem Suchen abgestiegen waren, trug den Namen CASABLANCA in schönen, großen Lettern auf dem Dach und alles daran fühlte sich auch genauso an – auch für jemanden, der noch nie in Casablanca gewesen war. Ihr Zimmer war winzig und gefliest und von einer eigenartigen Kühle erfüllt, als sie eintraten und die Koffer auf die Betten warfen, um direkt unter die Dusche zu springen und den Schweiß der Fahrt loszuwerden. In der Ecke stand ein alter klappriger Ventilator, der sich sichtlich Mühe gab, die Luft im Raum in Bewegung zu bringen. Die Betten waren steinhart, als sie die Koffer nach der Dusche beiseiteschoben und auf den schneeweißen Laken miteinander schliefen und hinterher sagte er: „Willkommen im Urlaub“ und sie lächelte still in sich hinein, während er einschlief und der Ventilator in der Ecke vor sich hin ratterte.

Über ihrem Kopf ertönt aus der Ferne ein Rattern, das langsam lauter wird und als sie hochsieht, ist es ein Helikopter der Feuerwehr, der mit hoher Geschwindigkeit und nach unten gesenkter Nase über den See eilt, um am Berghang gegenüber eine große Ladung Wasser auf die Flammen fallen zu lassen. Sie sieht zu, wie die Wolke aus Tropfen auf die glühenden Skelette der Bäume niedergeht, wie eine gewaltige Dampfwolke aufsteigt und wie der Hubschrauber abdreht, um die nächste Ladung zu holen. Sie sieht auch, dass es nichts nützt. Die gelöschte Stelle lodert immer noch an vielen Punkten und hinter der anderen Flanke des Berges zeugen Rauchsäulen davon, dass sich weitere Brände nähern. Kopfschüttelnd geht sie einige Schritte am Ufer entlang, die Haufen von Tang, die der Sturm an Land gespült hat, vorsichtig übersteigend. Das Hotelpersonal gibt sich normalerweise Mühe, den Strand von allerlei Treibgut freizuhalten, aber seitdem man ohnehin nicht draußen sein soll, wurden die Säuberungsarbeiten eingestellt.

Das Seeufer in der Nähe ihres Hotels war malerisch, aber ziemlich überfüllt, weil direkt angrenzend ein großer Campingplatz lag, der jeden Morgen pünktlich um zehn eine gewaltige Menge badesüchtiger Wohnwagenbewohner aus seinen Pforten quellen ließ. Dennoch verbrachten sie die ersten Tage fast ausschließlich dort, im Wasser planschend wie Kinder, auf den heißen Steinen in der Sonne schwitzend, die Strandtücher nur als notdürftige Unterlage gegen den harten Untergrund, oder im Schatten der Bäume ruhend. Es war wunderbar. Sie war vorher nur an der Nordsee gewesen und hatte das ziemlich furchtbar gefunden, er hingegen hatte schon immer das Meer geliebt, und trotzdem fanden sie beide, dass das hier irgendwie genau richtig war. In diesem Sommer verliebten sie sich also nicht nur ineinander, sondern auch in den Gardasee.

„Der See stirbt“, denkt sie bei sich. Er liegt auf dem Totenbett und sie besucht ihn ein letztes Mal. Im nächsten Sommer wird es keinen Urlaub mehr hier geben, zumindest nicht für sie. Ohnehin ist es dieses Jahr einfach nicht mehr dasselbe gewesen, mit all den Bränden und ohne ihn. Es ist das erste Mal gewesen, dass sie alleine irgendwohin fahren muss, das erste Mal seit dreißig Jahren. Inzwischen ist sie am Ende des begehbaren Bereiches angekommen, hier endet der Strand – oder das, was davon übrig ist – und die Klippen beginnen, ins Wasser zu greifen. Hier an dieser Stelle haben sie gestanden, als sie ihm den Trick mit der Hand und dem Ufer gezeigt hat. Damals hat er gelacht und sie in den Arm genommen und ihr ins Ohr geflüstert, dass er sich so sehr auf diesen Sommer mit ihr freut und auf alle anderen Sommer, die danach noch folgen werden. Jetzt ruht er in der kühlen, dunklen Erde eines deutschen Friedwaldes und es wird kein Sommer mehr mit ihm folgen und vor ihren Füßen liegt der vertrocknete Kadaver einer Möwe, ein sandverkrustetes Elend, aus dem an allen möglichen Stellen Federn und grätenartige Knochensplitter ragen.

„Ich freue mich auch so sehr“, sagte sie und zerzauste sein von der Sonne hell gebleichtes Haar. Und zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte es sich auch so an, als würde sie es wirklich meinen, wenn sie das sagte.

Sie sieht den toten Vogel noch eine Weile an, dann dreht sie sich um und beginnt, den Hügel zurück zum Hotel wieder hinaufzusteigen. Oben kommt ihr schon ein Hotelmitarbeiter entgegengelaufen, genauso freundlich und gesichtslos wie der erste – oder ist es gar derselbe? Sie ist sich nicht sicher – und informiert sie, dass soeben ein Erlass der örtlichen Tourismusbehörde eingegangen ist. Das Hotel wird evakuiert. Die Brände kommen zu nah. Sie lassen sich nicht löschen. Der Ort wird aufgegeben. Kurz überlegt sie, was sie tun soll, und für einen Moment ist da die Verlockung, einfach zurück in ihr Zimmer zu gehen, sich aufs Bett zu legen und auf die Flammen zu warten. Dann fängt sie sich wieder und folgt dem emsig vorauseilenden Jungen in der Hoteluniform. Bei der Eingangspforte des Hotels bleibt er stehen und fragt, ob sie noch ihr Gepäck aus dem Zimmer holen möchte, der Shuttlebus könne solange warten. Sie dreht sich noch einmal um, sieht auf den See und strafft dann die Schultern. „Lascialo bruciare.“ Soll es doch brennen.

 

Emil Fadel

 

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freiTEXT | Marie Menke

Mutter im Wind

Sie schaffe es nicht rechtzeitig, sagt meine Mutter am Telefon, als sie zu Besuch kommt. Ihr doppelter Espresso seien maximal eineinhalb, sie bestelle noch einen.
Wo sie denn sei, frage ich.
Im Café am Rathaus.
Ich gebe das Rathaus in Google Maps ein. Elf Minuten zu Fuß.
Eigentlich liege ihre Verspätung an der Sonne, fügt meine Mutter hinzu.
Ich wühle in meiner Tasche. Ohne Creme ließ sie mich früher nicht einmal in den Garten.
Ob sie Lichtschutzfaktor 50 dabei habe, frage ich.
Ja, ja, antwortet sie, die Vokale so kurz, ich kann hören, wie sie abwinkt.
Dann könne sie ruhig durch die Sonne laufen, sage ich.
Es sei gerade so schön, sie könne noch nicht los, sagt sie.
Ich sei aber schon da.
Ich könne ja rüberkommen.

Als meine Mutter beschloss, mich zu besuchen, schrieb ich meinem Bruder, er müsse mitkommen. Weil ich nicht sicher war, ob er verstand, rief ich gleich danach an, und damit er sah, dass ich es ernst meinte, schaltete ich die Kamera ein.
Andernfalls würde Mama verloren gehen, sagte ich, sich von den Zeugen Jehovas anquatschen lassen, ins falsche Flugzeug einsteigen oder sich im Reisebüro über den Tisch ziehen lassen. Ich machte mir Sorgen.
Niemand buche mehr im Reisebüro, entgegnete mein Bruder.
Mama schon.
Ich beobachtete, wie es in seinem Kopf ratterte.
Sie sei doch erwachsen.
In der letzten Zeit sei sie manchmal wie ein Kind.
Mein Bruder grinste verschmitzt.
Ob er also dabei sei, fragte ich.
Er nickte.

Es gibt viele und keine Cafés am Rathaus. Viele in dem Viertel drumherum, keine in der unmittelbaren Umgebung.
Doch, doch, sagt meine Mutter am Telefon, ob ich denn noch nie im Rathaus gewesen sei.
Ich verneine.
Was ich denn an den Samstagabenden mache?
Ich gebe erneut das Rathaus in Google Maps ein und lasse mir den Weg zur gleichnamigen Kneipe ausgeben. Dreizehn Minuten zu Fuß.
Da könne sie mir entgegenkommen, sagt meine Mutter.
Ich muss daran denken, wie sie mir nachts entgegenkam, wenn ich als Jugendliche betrunken nach Hause lief.
Wo ich denn sei, fragt sie.
Am Rathaus, antworte ich.

Mein Bruder durfte nicht mitkommen.
Unsere Mutter gluckste vergnügt, als sie auf einer selbstgedrehten Videobotschaft erklärte, dass sie allein fliegen würde. Sie habe viel gearbeitet dieses Jahr, sie habe Lust auf Abenteuer, sie habe sich Zeit mit ihrer Tochter verdient. Damit sie keinen Punkt vergaß, las sie von einem wiederverwendeten Einkaufszettel ab.
Auf dem Korbstuhl neben ihr saß mein Vater, hatte keinen Text zugewiesen bekommen und grinste verschmitzt.
Er würde dafür mit meinem Bruder ins Stadion gehen, schrieb er anschließend. Damit Timon nicht enttäuscht sei.
Später erfuhr ich, dass mein Bruder die Karten längst gekauft hatte.

Weit kommt meine Mutter trotz dreifachem Espresso nicht. Ich finde sie neben der Rathaus-Kneipe, die Hände auf den Griff ihres Rollkoffers gestützt, dunkelrote Jack-Wolfskin-Jacke, ein Rock aus Leinen. Für den Kindergarten nähte sie mir auch so einen. An den Füßen trägt sie Sandalen aus schwarzem Leder mit einer türkisen Schnalle. Für den Urlaub gekauft, vermute ich, den Krampfadern zum Trotz.
Ihre Gestalt ist schmal und etwas schief, aus der Entfernung sieht sie aus wie eine Fahne im Wind und ich habe Angst, dass sie weggeweht ist, wenn ich blinzle. Als sie mich umarmt, fühlen sich ihre Arme dünn wie Streichhölzer und ihre Begrüßung wie ein Zuhause an.
Auf dem Weg zum Hotel biete ich an, ihren Rollkoffer zu ziehen, und sie gestikuliert, um mich davon abzuhalten. Ich schiebe sie samt Koffer sanft auf den Fußgängerweg, dann mich auf die Seite der Autos. Sie begutachtet die rosa Häuserfassaden zu ihrer Rechten und geht bei Rot über die Straße. Als sie vor ihrem Hotel auf mich wartet und ich auf der anderen Straßenseite auf die nächste Grünphase, ist sie atemlos, aber hält sich den Bauch vor Lachen über meine Vorsicht.

Die Frau an der Rezeption kann keine Buchung auf den Namen meiner Mutter finden.
Ob sie eine Buchungsbestätigung habe, fragt sie.
Meine Mutter verneint.
Die müsse sie aber bekommen haben.
Meine Mutter erinnert mich daran, dass es meine Idee war, im Internet zu buchen.
Ich verstehe den Zusammenhang nicht.
Meine Mutter gluckst wieder, etwas weniger vergnügt. Die Webseite habe sie aufgefordert, sich für einen Newsletter anzumelden, das habe sie nicht gewollt, da habe sie das Internet einfach geschlossen, vielleicht läge es daran.
Was sie dann gemacht habe, will ich wissen.
Nichts, antwortet meine Mutter. Sie habe ja kein zweites Hotelzimmer buchen wollen.
Die Frau an der Rezeption holt ein Formular aus einer Schublade und nimmt die Buchung auf.

In ihrem Zimmer möchte meine Mutter sich kurz hinlegen und schläft prompt ein. Ich lege mich neben sie und schreibe meinem Bruder, dass sie gut angekommen sei. Er schickt einen Daumen hoch-Emoji zurück.
Nach dem Aufwachen sind ihre Pupillen klein und die Falten um ihre Augen tief. Sie sagt, sie wolle nicht, dass ich später allein nach Hause fahre und bezahle mir lieber das Taxi. Ich erwidere, dass ich ständig allein Straßenbahn fahre. Sie trinkt aus meiner Metallflasche, sagt, das Leitungswasser sei schlecht, und verschwindet im Bad.
Bevor wir gehen, wasche ich ihr mit Daumen und Spucke einen Zahnpastarest von der Wange. Als ich klein war, gab sie vor, von dem Weiß meiner Zähne geblendet zu werden, wenn ich besonders lange putzte. Ihre Haut fühlt sich weich unter meinem Finger an und riecht aus der Nähe nach Lavendel.
Sie frage sich, ob ihr das bei Vorstandssitzungen auch passiere, aber niemand sich traue, sie darauf hinzuweisen, sagt sie.
Ich vermute es.

Wir gehen die Einkaufsstraße herunter, sie schaut in alle Fensterläden und ich hake mich unter, damit ich sie nicht verliere. Im Restaurant verkaufe ich ihr billigen Rotwein mit Zitronenlimonade und Eiswürfeln als lokale Spezialität. Zu meiner Überraschung schmeckt ihr die süßliche Schorle, aber nicht der Dip, der mit Brot als Vorspeise serviert wird. Aus der Bauchtasche um ihre Hüfte holt sie ein Glas Bio-Kichererbsen-Aufstrich aus dem Reformhaus, öffnet die Dose und tunkt eine Scheibe hinein.
Ich trete unter dem Tisch gegen ihr Schienbein und sage vorwurfsvoll, sie könne nicht ihren aus Deutschland mitgebrachten Aufstrich auf den Tisch stellen.
Sie habe ihn ja nicht auf den Tisch gestellt, sagt meine Mutter und hält ihn mir hin.
Ich lehne ab.
Traust du dich nicht, was?, sagt sie und kichert.

Als der Kellner fragt, ob wir getrennt oder zusammen zahlen, schweige ich.
Meine Mutter holt ihre Geldbörse aus der Bauchtasche und ich sehe die umgetauschten Scheine, sehe, dass der Kellner sie ebenso zählt, und sage, sie solle mit Karte zahlen.
Umständlich hält meine Mutter die Karte an alle Seiten des Lesegeräts.
Ob sie einen Beleg bräuchte, fragt der Kellner.
Ich nicke.
Meine Mutter schüttelt peinlich berührt den Kopf. Sie vertraue dem Kellner, sagt sie zu mir.
Darum gehe es nicht, sage ich.
Meine Mutter lächelt beschämt, nickt dann doch, zwinkert dem Kellner zu und sagt, para mi marido.
Der Kellner stellt ihr einen Beleg aus und lacht über die deutsche Frau in der Regenjacke, die Reisekostenabrechnungen bei ihrem Mann einreicht.
Ich frage mich, ob er ihr ansieht, dass es eine Lüge ist, aber bin zu verblüfft, um zu fragen.

Auf dem Weg nach draußen weht der Nachtwind unter ihren bodenlangen Rock. Ich habe noch nie so schmale Fußgelenke gesehen, denke ich. Meine Mutter wippt bei jedem Schritt, winkt dem Kellner von draußen zu, er winkt zurück.
Vor der Tür erklärt sie mir, dass ich sie nicht zurück ins Hotel bringen müsse.
Ob sie mobile Daten habe, frage ich.
Was das sei, will sie wissen.
Ich beschließe mit ihr zu gehen.
Sie könne sich durchfragen, sagt sie noch, sie haben das früher bei Reisen immer so gemacht.
Ich höre nicht hin und erkundige mich stattdessen besorgt nach ihrer Hüfte.
Oma und Opa hätten sie damals auch mal im Ausland besucht, sagt meine Mutter.
Ich frage, ob es inzwischen einen Termin für die Operation gebe.
So eine Reise sei damals sehr aufregend gewesen, sagt sie.

Im Hotelzimmer funktioniert das Licht nicht. Es dauert, bis meine Mutter versteht, dass ihre Türkarte eingesteckt sein muss, damit der Kreislauf funktioniert. Dann macht sie sich daran, die Klimaanlage einzustellen. Ich sitze auf der Bettkante und suche im Handy nach der nächsten Straßenbahn nach Hause. Neun Minuten zu Fuß, dreizehn in der Bahn, nochmal drei zu Fuß.
Es sei schön, allein zu schlafen, sagt meine Mutter und legt ihr Nachthemd auf das Kopfkissen.
Ich würde mich gerne danebenlegen, um neben ihr aufzuwachen, wie früher, wenn mein Vater verreist war.
Ich sage, dass ich noch nie darüber nachgedacht habe, dass sie zuhause nie allein schlafe.
Mein Taxi sei da, sagt sie.
Ich habe keins bestellt.
Meine Mutter hebt die Jalousien vor dem Fenster mit dem knochigen Zeigefinger an. Ich aber, sagt sie stolz.
Zum Abschied ist ihre Umarmung flüchtiger als ihre Begrüßung es war.
Ob ich sie morgen früh wieder abhole, fragt sie, die Stimme hell vor Aufregung, als ich die Türklinke schon in der Hand halte.
Ich schmecke Anti-Falten-Creme auf meinen Lippen, nachdem ich ihr einen Kuss auf die Wange drücke.

 

Marie Menke

 

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freiTEXT | Barbara Rieger

An windstillen Tagen

Seit ich aufgehört habe zu rauchen, schlafe ich schlecht.

Ich finde keine Worte, nur einen toten Vogel vorm Haus.

Die Babykatzen der Nachbarin beginnen unsere Terrasse zu erkunden. Mein Kind versucht sie wieder zurückzutragen. Eine nach der anderen, immer wieder.

Mit dem Fahrrad überfahre ich oder überfahre ich fast eine Schlange. Als ich umdrehe und nachschaue, ist nichts mehr von ihr zu sehen.

Am See. Mein Kind und ich, im Hintergrund ein Schwan. Es ist nicht so idyllisch, wie es aussieht.

Das Kind öffnet die Haustür, um die Katze hereinzulassen und steigt in die Innereien eines Vogels.

Ich versuche zu verstehen, wie ein Gartenschlauch funktioniert.

Seit ich nichts mehr rieche, träume ich auch nicht mehr. Oder kann mich nicht an die Träume erinnern.

Auf der Terrasse zwischen den Babykatzen der Rest einer Schlange.

Ich fühle mich heimatlos und notiere: Ist der Tod ein sicherer Ort?

Am See mit Freundinnen. Die mit dem größten Rucksack und dem Kind bin ich.

Ich stelle mir vor, dass du aus dem Gebüsch kommst mit einer deiner Frauen und wir alle gemeinsam über das Wetter reden.

Eine Freundin filmt, wie eine der Babykatzen eine Schlange fängt und vollständig verzehrt.

Meine feministischen Freundinnen interessieren sich nur theoretisch für mein Kind. Praktisch versuchen sie es zu ignorieren.

Ich halte die Tränen zurück und notiere: Das ist Stoff!

No one fucks as hard as a writer.

Seit ich aufgehört habe zu masturbieren, weiß ich nicht mehr, wie du aussiehst.

Tut mir leid, mein Lieber. Das waren keine Metaphern.

Manchmal lese ich noch Bücher, die ich mit dir teilen möchte.

Seit ich am Land wohne, sehe ich keinen Sinn mehr darin, mich zu schminken.

Schau, da sitzt ein Vogel.
Der fliegt gar nicht.

Der Fluss führt so wenig Wasser wie noch nie. Ich notiere: Wenn alles früher austrocknet als gedacht.

Ich sage alles ab und nenne es Burnout-Prävention.

Der Vogel ist wieder da. Aus seinem Gefieder fallen Insekten. Er lässt sich fangen, wir halten ihn über eine Schüssel Wasser, er öffnet immer wieder den Schnabel. Wir bringen ihn in Sicherheit vor den Katzen.

Im Freibad. Mein Kind und ich im Wasser. Es ist so idyllisch, wie es scheint. Zuhause bemerke ich die durchgescheuerten Stellen an meinem Bikini.

Mein Mann würde eine Schaufel nehmen. Aber ich denke nicht, dass der Vogel die Nacht überleben wird.

Seit ich nicht mehr trinke, kann ich den Anblick von Trinkern nicht mehr ertragen.

Nur mich selbst kann ich nicht ad acta legen.

Wir begraben den Vogel im Wald.

Ich zähle die Traktoren, denen ich ausweichen muss.

Alle Amselweibchen sehen gleich aus.

Manchmal, an windstillen Tagen, vermisse ich dich.

 

Barbara Rieger

 

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freiTEXT | Suse Schröder

Mehlmottenmonate

In Hildes Aufgang plärrt und scheppert es nun auch tagsüber. Alle sind zuhause, aber nicht bei Hilde. Um das Alleinsein zu beenden, rührt sie Teig, backt ihn sandgolden, deckt den Tisch mit dem Sammeltassenservice, schlägt die Sahne, bevor sie sich setzt und einige Minuten nur schaut. Dann klingelt sie bei Frau Meyer. „Was wollen Sie?“, fragt die und legt die Kette vor. „Ich habe Selbstgebackenes. Wollen Sie?“ – „Stell ein Stück vor die Tür. Gern auch für meinen Mann.“ – „So kommen Sie doch!“ – „Nein, Du!“ Hilde setzt sich allein an die Kaffeetafel, lädt Kuchen auf die Teller, schenkt Kaffee ein. Dann schmatzt sie los, wechselt zwischen den beiden Gedecken hin und her, um das Gespräch am Laufen zu halten, um zu vermeiden, dass sie eine ist, die Selbstgespräche führt. Trotzdem strudelt sie in eine Einsamkeitswoge hinein, entscheidet sich aber aktiv zu werden. Sie hängt ihr Plakat in der Nachbarschaft aus: „Nicht mobil, aber in Bewegung! Treffpunkt: Fenster zum Innenhof, diens- und donnerstags 15:30 Uhr zur gemeinsamen Ertüchtigung. Hilde Straub“. Zwei Tage später winkt sie zur vereinbarten Zeit einer im gegenüberliegenden Fenster.

Gemeinsam kreisen sie Arme und Hüften, heben Beine und strecken sich. Hilde ist begeistert, bleibt aber am darauffolgenden Donnerstag allein, sortiert stattdessen alte Briefe, beschriftet Kassetten neu, sieht Ordner durch. Als sie den Papiermüll zum dritten Mal herunterbringt, bemerkt sie, dass ihr alles zu still ist und die Nachbar*innen zu laut. Dass, wenn alles anders ist, sie auch anders sein sollte. Sie packt ein paar Sachen und zieht in die Laube. Diese ist noch winterfest verrammelt. Bei Hubertus qualmt ein Laubfeuer. Hilde weiß, wenn er etwas zu teilen hat, kommt er vorbei. Umgekehrt nie. Seit dreißig Jahren.

Sie saugt den Geruch der vergilbten Gardinen ein, riecht Terpentin, muffige Polster, vergangene Sommer. Mit einem Lächeln tritt sie an den Vorratsschrank, richtet das Foto von Heiner. Nach einjähriger Trauer hat sie sich berappelt, wiegt fünf Kilo weniger und ist froh, keine der alten Schachteln zu sein, die sich in Kreuzworträtseln versenkt oder auf verwandtschaftliche Anrufe wartet. Heiners Habe bewahrte sie im Kopf und Herz.

Am ersten Laubenmorgen setzt sie sich steif mit brühendheißem Tee auf die Hollywoodschaukel, sieht sie Stachus. Zwischen Weg 3 und 5 umarmt der eine Süßkirsche. Drei Mal grüßt sie ins Leere, ehe er zurückwinkt. „Was machen Sie hier? Stachus, richtig? Von der Tanzschule Wohlgefallen?“, ruft sie und geht zum Zaun. Er nickt: „Stimmt. Ich warte auf meine Verabredung.“ – „Zum Tanz?“ – „Geht Sie das etwas an?“ – „Ich bin einsam. Lange leere Wochen liegen hinter mir.“ – „Gewahren Sie Abstand!“ – „Und Sie Anstand!“ Hilde entfernt sich, den Blick stur auf Stachus gerichtet. „Lassen Sie das!“, ruft er und Hilde winkt ab: „Warten ist nicht verboten.“

„Auf was warten Sie?“ – „Auf Ihre Verabredung. Dann sind Sie nicht allein.“ Sie schaut noch ein bisschen, bevor sie sich ihr Buch nimmt, Tee nachschenkt, beim Nachbargrundstück das Gartentor, Schritte stapfen und tippeln hört. Sie tritt an die Grenzhecke. „Hallo?“, ruft sie durchs Blattwerk hindurch. Ein rotgelockter Kopf, eine winkende Hand und zwei Worte schieben sich aus der Laubentür: „Ja! Saisonstart.“ Hilde versteht, ist sich für den Abend selbst genug. Am nächsten Morgen ruft es von der anderen Heckenseite: „Hallo?“ Mit Brötchenkrümeln am Mund wieselte Hilde hinzu: „Ja?“ „Abstand ist sicherer, aber schauen Sie mal, weiter rechts…, noch ein Stück…“ Hilde folgt, greift nach einer Blechbüchse, die wie ein Zylinder auf einem Zaunpfeiler sitzt. „Sie müssen straff ziehen“, ruft es aus der Laubentür. Hilde geht rückwärts, bis sie ins Polster sinkt. Die Strippe straff, die Büchse am Ohr. „Agent Uri hier. Die Glibberschleimschranke öffnet sich nur durch herzhaftes Lachen. Erzählen Sie einen Witz“, scheppert es in der Büchse. Hildes letztes Büchsentelefonat liegt mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. „Nicht schon vorher lachen“, funkt Uri. Hilde holt Luft: „Also! Kommt ein Pferd in die Bar. Fragt der Wirt: Was machst Du für ein langes Gesicht?“ – „Hä?“, fragt Uri. Hilde hört ein Gackern: „Habt ihr Hühner?“ – „Superwitz. Nein! Das ist meine Mutter. Sie lacht gern laut.“ – „Zweiter Versuch! Was ist orange und hat einen Rucksack?“ Hilde hört es klatschen, eine rollende Büchse auf Terrassenbeton. Durch die Hecke sieht sie einen dürren, blassen Jungen auf allen Vieren: „Eine, eine Wander… Wanderine“, ruft Uri. „Der ist unschlagbar. Die Schranke ist geöffnet. Nähern Sie sich bitte langsam.“ Hilde schiebt eine Himbeerranke zur Seite. Uri hat Sommersprossen auf den Armen, auf den zerzausten Haaren eine Papierkrone. „Super! Jetzt weiß ich, mit wem ich die Welt rette. Wenn Sie Unterstützung oder Superkräfte brauchen, Sie wissen, wie Sie mich erreichen!“, ruft er und verschwindet in der Laube.

Zur Dämmerung klappern im Nachbargarten Teller. Hilde greift zum Telefon: „Agent Uri?“ – „Agent Uri hört.“ – „Monsteralarm. Gerade schlafen sie. Aber morgen früh wollen sie mit Komplimenten gefüttert werden. Ich brauche Sie!“ – „Alles klar! Wir schaffen das! Nachti!“ Hilde sendet ein Taschenlampensignal zur Nachbarlaube, setzt sich zum Abendbrot. In der Gaslampe knistern Nachtfalter. Sie schlemmt griechische Konserven, Weißbrot, Olivenöl. Zum Apfelmuskochen gönnt sie sich ein Glas Rotwein, schläft danach tief.

Die Komplimentenkanonade trifft Hilde nach dem Aufstehen. Nach dem letzten Kompliment ruft sie: „Bravo!“ und schiebt eine große Schale Apfelmus unterm Zaun durch. Uri verneigt sich: „Frau Hilde, wir sind ein tolles Team.“ In großen Happen schmatzt er das Mus, reibt sich den Bauch. Hilde verbeugt sich ebenfalls. Die nächsten Stunden wechseln zwischen Tee, Apfelkompott, Buch, Nickerchen und Stachus. Diesmal umarmt er eine Pflaume. Diesmal horcht er am Holz, reibt sanft mit der Wange über die Borke. Als Hilde fragt: „Likörchen oder kommt Ihre Verabredung gleich?“, dreht er sich abrupt um. „Nein, die ist schon da“, antwortet er, streichelt die Rinde und erklärt: „Die mögen das“, ehe er die Augen schließt und das Gesicht zurück an die Baumhaut legt, ehe er doch nach einem Likör greift. Auf den Grillrost legt Hilde an diesem Nachmittag eine Bratwurst und einen Grillkäse mehr. Stachus entscheidet sich für die Wurst, schlingt sie herunter, leckt sich Senfreste aus dem Schnurrbart, tanzt eine Pirouette. „Das könnte was werden“, sagt er und wirft Hilde Kusshände zu. „Mit uns?“ Hilde greift sich den Grillkäse.

Abends ist Hilde die erste: „Verstehst du, was hier passiert?“ Uri antwortet: „Na, wir sind hier und ganz nebenbei erledigen wir Monster.“ – „Ja, aber was ist mit unserem Alltag? Du musst doch lernen und spielen. Vor allem spielen.“ – „Stimmt. Ich finde Frau Hilde, Sie sollten uns regieren.“

Als im Nachbargarten die Lichter ausgehen, klaubt Hilde kleine Geschenke aus dem Vorratsschrank, dem Bücherregal und der Spielekiste. Mit Strippe und Leiter schleicht sie zur Weggabelung, behängt Äste und Zweige.

Morgens schleicht Stachus um die Bäume. „Finger weg!“, mahnt Hilde und treibt damit Uri ans Büchsentelefon. „Unordnungsmonster haben sich über die Bäume hergemacht.“ – „Frau Hilde, ich habe Höhenangst.“ – „Macht nichts, Uri. Ich halte unten die Stellung.“

Uri tritt aus dem Gartentor. Ganz krumm geht er. „Du schaffst es!“, ruft Hilde und Stachus drückt beide Daumen. In den Bäumen glitzert und flattert es. Uris Augen leuchten und flackern zugleich. Hilde wartet an der Weggabelung. Ein Wind zieht auf. Eine Raupe fällt ihr auf die Schulter. „Nur Mut, Uri.“ Er umkreist die Bäume, schaut, staunt: „Wie eine Treppe.“ Langsam kriecht er hinauf. Hilde holt einen Korb mit Papierkrone und Himbeerlimonade, wirft ein Strippenende hinauf und befestigt das andere am Korb. Gierig schlürft Uri die Brause, ehe er sich die Krone aufsetzt und die Schätze birgt. Hilde ist stolz, die hinzugeeilte Mutter stolzer. Stachus klatscht: „So, meine Damen! Umarmungen und Nähe braucht‘s. Wollen Sie auch mal? Das tut gut. Beiden!“ Und wirklich, Uris Mutter wirft sich richtig an den ihr zugewiesenen Baum.

Hilde geht zurück in die Laube, kehrt mit gezuckerten Erdbeeren in Kondensmilch und einem Schnaps zurück. Auch den nimmt die Mutter begeistert entgegen. Hubertus schaut, was sie dort treiben, schenkt sich einen ein und eine Runde Blechkuchen aus. „Wir haben gewonnen!“, ruft Hilde, als Uri sich den Stamm hinunterrutschen lässt. Sie lacht viel dieser Tage, weint abends im Bett. Aber es sind die wenigen Abende, die, an denen sie noch einmal aufsteht, sich ein Kompott gönnt, Oliven oder eine Konservenbüchse mit Champions und Parmesan. Für diesen Sommer fühlt sie sich gewappnet.

Nach sechs Wochen holt sie ein paar Sachen aus ihrer Wohnung. Lebensmittelmotten und die Meyer begrüßen sie im Hausflur. „Hast du auch welche?“, fragt die. „Nein, Frau Meyer, ich habe rechtzeitig meine Vorräte verbraucht“ und dreht ihr eine lange Nase.

Abends prostet Hilde in die Runde ihrer Lieben, während die Nachtfalter in den Teelichtern verglühen.

 

Suse Schröder

 

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freiTEXT | Anika Hoffmanns

Wachgang

Ich bemerkte es nicht sofort. Ich vermisste ohnehin nur eine Person in diesen Tagen. Die Anwesenheit oder das Fehlen anderer nahm ich kaum wahr.
In dieser Zeit sprach ich manchmal über Tage mit niemandem und ging wenig vor die Tür.
Ich bildete mir ein, ich würde die Situation besser verstehen, hätte ich es schneller bemerkt. Aber das stimmte vielleicht nicht.
Das Internet war ausgefallen, und ich konnte weder meine Eltern noch meine Schwester telefonisch erreichen. Schließlich begann ich doch, mir Sorgen zu machen.

Zu meinen Eltern war es ein kurzer Fußweg, fünf Minuten, wenn man sich beeilte, zehn, wenn man langsam ging.
Es war April, und der Stadtpark und die Felder waren frisch und grün und die Wolken weiß wie Schaum. Die Windräder standen still. Etwas stimmte nicht.
Eine ganze Menge Autos standen auf der Straße, doch die Motoren waren aus. Die Ampel schaltete auf grün. Niemand fuhr. Niemand hupte.
Ich blieb stehen. Ich drehte mich einmal um meine eigene Achse. Ein Vogelschwarm stob aus einer Baumkrone in den Himmel. Das Flügelschlagen kam mir laut vor. Auf einer Bank am Rand des Stadtparks lag eine Frau und schlief. Die Vögel weckten sie nicht. Sie war zu ordentlich gekleidet, um auf einer Bank im Stadtpark zu schlafen. Kurz fragte ich mich, ob sie tot war, aber ihr Brustkorb hob und senkte sich in regelmäßigen Abständen.

Auf der Straße war sonst niemand. Nur die insgesamt zehn Autos standen an der Ampel hintereinander. Von meiner Position aus konnte ich die Menschen, die darin saßen, nicht sehen. Ich ging näher heran. Dabei wählte ich erneut die Nummer meiner Schwester. Sie hob nicht ab. Bei meinen Eltern sprang nach wenigen Sekunden der Anrufbeantworter an.

Der Fahrer des ersten Autos in der Schlange war ein Mann um die sechzig in einem weißen Hemd und grauer Hose. Sein Kopf lehnte an der Fensterscheibe. Er schlief. Da, wo sein Mund der Scheibe am nächsten war, beschlug das Glas. Ich traute mich nicht zu klopfen.
Das junge Pärchen im nächsten Auto kannte ich vom Sehen. Auf dem Rücksitz stand eine Babyschale, in dem ein Neugeborenes lag. Die Eltern hielten sich an den Händen. Sie atmeten gleichmäßig, die Augen geschlossen. Ich sah, dass die Pupillen der Mutter sich unter den Lidern bewegten. Kondenswasser rann die Scheiben hinunter.

Ich ging jedes Auto ab. Alle schliefen. Wieder und wieder sprang die Ampel im Wechsel auf Grün und Rot.
Ich wandte mich um und folgte der Straße, die am Stadtpark entlangführte. Ich erreichte die Wohnsiedlung, in der meine Eltern wohnten. Ich drückte auf die Klingel. Ohne zu warten schloss ich die Tür auf. Ich rief in den Flur und die Treppe hoch. Nichts rührte sich.
Meine Mutter lag auf der Couch im Wohnzimmer. Sie hatte sich in eine Decke gewickelt. Ihre Hände lagen auf ihrem Bauch. Ich stupste sie an. Sie machte ein murmelndes Geräusch und drehte sich von mir weg.
Ich rief nach ihr, erst leise, dann ungehaltener. Ich rüttelte an ihrer Schulter. Sie wurde nicht nicht wach.
Mein Vater lag vollständig angezogen auf dem Teppich im Schlafzimmer. Er lag kerzengerade, als hätte er sich absichtlich auf den Teppich gelegt. Neben ihm stand der Staubsauger. Ich schaltete ihn an. In einer jähen Anwandlung hielt ich die Düse an seinen Pullover, dann an sein Ohr. Er wachte nicht auf.
Der Mülleimer in der Küche roch schlecht. Fliegen umschwirrten ihn.
Ich schrieb meiner Schwester eine kurze Nachricht. Seit Tagen hatte mir niemand mehr geantwortet. Es war mir nicht aufgefallen. Ich wartete seit Monaten nur auf Nachrichten von Johannes. Es kamen keine.

Ich wählte verschiedene Nummern. Nach langem Zögern wählte ich auch Johannes’ Nummer. Eine Computerstimme erklang, die sagte, die Nummer sei nicht erreichbar. Mir wurde schlecht.
Die Stille im Haus war bedrückend. Ich schaltete das Radio ein, doch es ertönte nur Rauschen. Ich schaltete auf CD um. Die ins Leere drängende Musik erschreckte mich. Ich machte sie wieder aus.
Aus dem Kühlschrank nahm ich mir einen Erdbeerjoghurt und aß ihn. Dann lief ich zurück zur Straße. Neun Autos standen an der Ampel. Ich war mir sicher, dass es eben zehn gewesen waren. Ich sah über die Schulter, dann ging ich schnell zurück nach Hause. Die letzten Meter rannte ich.

Ich stand am Fenster in der zweiten Etage und sah hinaus. Überall waren dunkle Fenster. Der Abendhimmel war blau und weit. Die Wolken hatten sich verzogen. Lange sah ich in den Himmel und hielt Ausschau nach Flugzeugen. Es kamen keine.
Ich fragte mich, ob es Autounfälle gegeben hatte.
Flugzeugabstürze, Brände.
Ich fragte mich, ob die Schlafenden verhungern oder verdursten würden.
Meine Augen brannten. Ich legte mich ins Bett und deckte mich zu. Dass ich nicht mehr aufwachen könnte, bereitete mir keine Sorgen. Ich hatte seit Monaten nicht mehr richtig geschlafen.
Allmählich begehrte ich den Schlaf so verzweifelt, als wäre er eine Person.
Ich schaffte es, leicht wegzudämmern, indem ich mir vorstellte, Johannes läge neben mir. Ich stellte mir vor, wie sein Körper sich anfühlte. Später lag ich mit Herzrasen im Dunkeln. Es war besser als sonst. Normalerweise hielt mich die Vorstellung wach, dass er in diesem Moment mit seiner neuen Freundin schlief.

Am folgenden Morgen nahm ich mir das Auto mit dem Pärchen und dem Baby vor. Ich nahm das Baby aus dem Sitz und drückte es an mich. Es roch sauber, nach Mensch und Muttermilch. Nachdem ich eine Weile zugehört hatte, wie es leise atmete, legte ich es zurück.
Ich kniff den Vater in den Arm. Er schnarchte auf. Ich hielt der Mutter die Nase zu. Ihr Mund öffnete sich, ansonsten geschah nichts. Ich schrie ihr ins Ohr. Es kam mir falsch vor. Es kam mir vor, als würde der Schrei weit fort getragen. In den Autos blieb alles still. In den Sträuchern am Straßenrand raschelte es. Ich floh nach Hause und setzte mich in mein Auto. Ich verriegelte die Türen von innen.

Für den Weg ins Stadtzentrum brauchte ich lange. Nahezu jede Straße wurde von Autos blockiert. Ich traute mich nicht auszusteigen. Ich sah es auch so. Ich fuhr auf Gehwegen und Mittelstreifen. Manche Menschen lagen im Gras neben den Geh- und Radwegen, aber nie darauf. Einmal musste ich umkehren, weil ordentlich abgestellte Fahrräder mir den Weg versperrten.
Die Straße, in der Johannes wohnte, lag in gleißendem Mittagslicht. Gegenüber bellte ein Hund, ansonsten war alles ruhig.
Ich schlüpfte durch die Terrassentür, von der ich wusste, dass sie immer offen war. Ich schloss die Augen, um mir vorzustellen, dass ich erwartet wurde.
Er lag in seinem Bett. Ihm zugewandt schlief eine zierliche blonde Frau. Ihre Köpfe waren nur Zentimeter voneinander entfernt. Er trug ein T-Shirt und Boxershorts. Sie war nackt. Ich trat gegen das Bett.
Auf dem Boden lag ihre Kleidung. Ich fand ihre Handtasche im Wohnzimmer und darin die Geldbörse mit ihrem Pass. Sie lebte im Nebenort. Ich kannte die Straße nicht.
Es kostete mich Mühe, sie anzuziehen. Noch schwieriger war es, sie hochzuheben. Ich ließ sie auf den Boden sinken und griff unter ihre Achseln. Sie stöhnte leise. Ich zog sie in den Flur. Als ich sie endlich die Treppe hinunter und in den Sessel im Flur gehievt hatte, brauchte ich eine Pause.
Die Küche war unaufgeräumt und stank. Ich wusch die Töpfe und Pfannen in der Küche ab und stellte die Spülmaschine an. Im Kühlschrank lagen zwei Nackensteaks.
Mit dem Fleisch ging ich zum Haus gegenüber. Der Hund stand hinter der Gartentür. Als er mich sah, begann er gegen die Tür zu springen. Das Fenster daneben war gekippt. Ich ließ das Fleisch durch die Lücke ins Innere fallen. Im Laufschritt ging ich zurück.

Es dauerte noch eine weitere Stunde, bis sie schließlich in meinem Auto auf dem Rücksitz lag. Ich schwitzte. In der Küche trank ich ein Glas Wasser, dann machte ich mich auf den Weg. Ich fuhr über die Landstraße. Einmal hielt ich an, um einen schlafenden Polizisten zur Seite zu ziehen, der quer über dem Mittelstreifen lag. Nach kurzem Zögern öffnete ich das Holster und nahm die Pistole heraus. Sie wog schwer in meiner Hand.
Links und rechts von der Landstraße war Birkenwald. Lichtpunkte tanzten auf dem Asphalt. Mit dem Auto im Rücken stand ich lange da und starrte in den Wald. Ich zielte, schoss aber nicht.
Systematisch fuhr ich die Straßen im Nebenort ab. Am Abend hatte ich die richtige gefunden. Es war ein Haus mit sechs Parteien und einer Bank im Vorgarten. Ich probierte verschiedene Schlüssel aus, bis ich den richtigen fand.

Die Wohnung befand sich im zweiten Stock. Ich zog sie an den Achseln die Treppe herauf. Am liebsten hätte ich sie im Treppenhaus liegengelassen. Ich tat es nicht. Ich schleifte sie durch ihre Wohnung ins Schlafzimmer, ohne mich umzusehen.
Auf dem Rückweg regnete es. Ich dachte an die Frau auf der Bank im Park. Ich widerstand dem Drang zu weinen. Zuhause duschte ich, dann stieg ich erneut ins Auto und fuhr zu Johannes.
Die Spülmaschine brummte. Durch die Küche war frische Luft gezogen. Es dämmerte.
Ich ging die Treppe hoch. Ich legte mich neben ihn. Ich besah und befühlte jeden Zentimeter seines Gesichts. Angst, dass er aufwachen könnte, hatte ich jetzt nicht mehr. Es wurde Nacht.

 

Anika Hoffmanns

 

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