19 | Alisha Gamisch
advent ende zwanzig
die großen generationen sterben ab
sie lassen ihre haut zurück und ein zwei sprengkörper unter häusern
fernnah gesehen die angst
in den augen der opas wie viel prozent
hungerleuchten disziplin hörigkeit? die oberen die oberen
eben und uns ist auch so viel leid geschehen der apfelstrudel im starnberger
haus des großtantenmannes
die russn die tschechn die säue
stolpern durch albwörter
winden durch entwurzelte ausreden
ja aber wir hatten nie ein zu hause so wie du
nemez haben sie mich genannt sagt ein opa
und russ haben sie mich auch genannt
wenn zwei opas sich als jugendliche begegnet wären
hätten sie sich erschossen oder einen schnaps getrunken?
die zeit sie dehnt sich durch gene hindurch sie blättert von der wand
legt hände drauf
ein opa in einem anderen haus
zitiert ein gedicht von kästner
ohne fehler – fehler? er kann sich nicht mehr erinnern
auch erzählen geht noch aber
ohne bezug zum heute oder morgen
keine frage kommt ihm in den sinn
verschoben das gefühl im jetzt zu sein
Alisha Gamisch
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15 | David Hassbach
Weihnachten im Schlachthaus
Am Heiligabend machte ich immer eine Doppelschicht im Schlachthaus.
Ich wollte nicht wie die ganzen Arschlöcher sein,
die das ganze Jahr über ihre Frauen schlagen
und dann für einen Abend ein nettes Gesicht aufsetzen,
ihren Bälgern etwas Liebloses schenken
und sich anschließend mit Punsch besaufen.
Außerdem wartete zu Hause niemand auf mich.
Mein Vorarbeiter Jack, ein derber Mann
mit Bratpfannenhänden und einem Kopf so groß
wie der eines Ochsen, trank immer aus seiner Whiskeyflasche,
sprach dann vom heiligen Geist und lachte dreckig,
wenn sich wieder jemand einen Finger abschnitt.
Dieser Betrieb hatte fürwahr mehr Krüppel produziert,
als so manches Schwangerschaftsmedikament.
Die Zeit verging langsam und gegen acht Uhr
spürte auch ich den Whiskey schon in den müden Knochen.
Doch plötzlich lag ein Schimmer in der Luft,
wie wenn sich das schummrige Kneipenlicht
im Pailletten-Kleid einer billigen Nutte reflektiert.
Einem der frischen Kalbskadaver wuchsen auf einmal Flügel
und dieser Kalbsengel stieg in die Luft empor
und verkündete die Frohe Botschaft.
Unter den Arbeitern wurde es still.
Doch dann schlug Jack dem himmlischen Vieh einen Haken durch die Ferse und zog es
schreiend hinauf zu den anderen Kadavern,
bis es verstummte.
Während ich noch einen Schluck Whiskey nahm, dachte ich:
An diesem gottlosen Ort ist einfach kein Platz für Weihnachten.
David Hassbach
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12 | Enno Ahrens
Lausige Weihnacht
Wir sind uns näher auf den Pelz gerückt,
Zeit des Lausens; ein wispernder Flockenwirbel
klopft sanft an eisfreier Doppelverglasung,
Herzströme scheinen in den Lichterketten zu fließen,
sehnsuchtsvoller Duktus in uns dimmt die grellen Dioden.
Wir blinzeln uns eine Winterlandschaft in
die Großstadt wie die bezaubernde Jeannie.
Schwermütig versinken wir in alten Bratapfelträumen,
als unsere Mutter noch da war; mein kleiner Bruder
hat noch ein paar Lebkuchen aufgetrieben von ihr,
sagt, darin lebt Mutter weiter, und wir
bewahren sie auf bis zum nächsten Heiligabend,
wenn es wieder darum geht zu lausen.
Enno Ahrens
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11 | Stéphanie Divaret
„They are mates, and like all true
companions they are devoted
and they bite.“Keetje Kuipers – The Rats
wer sonst
hätte geschütze
wer sonst als sie hätte / also
wer hätte sie denn sonst geschützt
weil es brauchbar sei
ein brauch sich zu schützen
durch / also es zu brauchen
das geschütz zum schutz
den brauch zu schützen
die bräuche
was sonst
hätte schutz gebraucht
wer sonst als sie / also
wer glaubt schützt sich
und seine bräuche
braucht glauben an schutz
braucht schutz durch glauben
schützt sich
durch geschütze / also wer
also weil
es brauch ist
so wird es geglaubt
Stéphanie Divaret
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09 | Andreas Hutt
hier ist sogar kiefernwald möglich.
kläffen eines hundes, das die richtung vorgibt,
mit schiefer gepflasterte wege, folgen
die augen einem imaginären fingerzeig nach oben
ins rostrot verdorrte. je höher wir steigen,
desto mehr schleicht sich kahles grün
in die knochen.
ist das ein wasserfall
der den geruch von moder
auslöst?
hinter dem hügel
leblose ausläufer der stadt.
Andreas Hutt
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05 | Martin Peichl
Alte Landkarten
wenn die U-Bahn einfährt und unser Leben zu einem Windkanal wird und bellt: über den Zaun springt fast
ein Wald aus gelben Haltegriffen, der orange Mann mit dem orangen Kind, die Sitze rot: eine Alarmstufe / und das Essverbot, das wir auf uns beziehen
was wir alles in die Postkästen im Stiegenhaus stecken (aus den Augen, aus dem Sinn), als könnten wir hinter den geschlitzten Fächern ein ganzes Leben wegsperren
(ich: der Nachbar, den es nicht mehr gibt)
in meiner Hand: nichts, nur deine Hand oder der Schatten einer Hand (was ist der Unterschied, hier: im Winter)
wenn der Schnee Wurzeln schlägt in deinen Haaren
woraus Zeit gemacht ist: wir wissen es nicht, aus alten Dias und Projektoren, die nicht mehr funktionieren vielleicht / ein Wort, das wir einer Bewegung geben, deren Richtung wir nicht verstehen / und jedes Mal, wenn wir ein Foto machen, einen Moment festhalten, verlieren wir: ein paar Sekunden nur, sie summieren sich: werden zu Halden
(ganze Tage, die wir im selben Türrahmen verbracht haben, auf die nächste Katastrophe wartend)
und zurückbleibt: eine leere Schneekugel, ein Schütteln
die Buchstaben hängen über den Stühlen, liegen auf der Couch und auf dem Tisch gleich daneben, zum Teil auf dem Parkettboden verteilt
jemand muss die Wörter zerstückelt haben, während wir geschlafen haben (ich schaue auf meine Finger: kein Blut, das eingetrocknet unter meinen Nägeln wartet)
deine Jalousien: sie klingen wie alte Landkarten, gegen die Faltlinien zusammengelegt und im Handschuhfach verstaut / aus dem Wasserhahn tröpfelt: die vorletzte Jahreszeit
jemand hat die Stadt mit Nebel eingerieben und wir: haben kein Alibi
Martin Peichl
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freiVERS | Elke Cremer
transparenz
an der grenze der haut verweilen
im schattenblick rasten haarfeine äste
adern und verzweigungen in pupillen
gespiegelt die rasterfahndung ein iris-scan
glaskörper voller steine
draußen löse ich die fußfesseln
sprinte über digitale friedhöfe
tausche mit der person neben mir
lautlos die hautpigmentierung
lösche den cache
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freiVERS | Cornel Köppel
ausufern
gletscherwasser getrunken
auf travertin gebissen
den pfad am falschen ende
aufgesäumt das geröll
rund gewaschen von wo das
alles herkommt dieses geschiebe
ohne jahrringe das tosen
des schmelzwassers
das gebleichte holz
wie angeschwemmte knochen
ausgestorbener tiere flusswärts
zum gegenwert der trockenlegung
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freiVERS | Martin Peichl
Orpheus in Tschernobyl
/1/
an sonnigen Tagen, bei ausgeschaltetem Licht
sind im Reaktor von oben herabfallende Lichtsäulen zu sehen
der Sarkophag: ein Leichnam, der noch atmet
Menschen, die sich in Kraftwerke verwandelt haben
(als sie sterben, wird das Krankenhaus renoviert)
ihre Körper: zerfallen (ein lauerndes Leuchten in ihren Augen)
/2/
eine Katastrophe der Zeit
ein noch ungedeutetes Zeichen
die Zerstörung des normalen Lebens
was bleibt: eine lebenslange Vorsilbe
unsichtbar, lautlos, ohne Geschmack
Radioaktivität, die sich nach Körpern sehnt
/3/
der kollektive Suizid der Feuerwehrleute
sie betreten eine undurchschaubare Welt
begraben Erde: in der Erde
für ein Leben im bankrotten Raum
Dinge und Landschaften ohne Menschen, Wege ins Nichts
ein Besetztzeichen, das in den Telefonleitungen pocht
/4/
etwas Unsichtbares liegt auf der Erde
und kriecht hinein
hängt in der Luft, in den Straßen
sie sagen: Dunkelheit ist nichts anderes als
die Abwesenheit von Licht
eine Substanz mehr, die wir nicht verstehen
/5/
Menschen, die wie Sandsäcke
auf den Reaktor geschleudert werden
sie waschen die Häuser
sie kämpfen mit Schaufeln gegen das Atom
sie werden sterben: den Tschernobyl-Tod
DAS IST KEINE ÜBUNG
/6/
die Kinder spielen:
nicht EINKAUFEN oder SCHULE,
sie spielen KRANKENHAUS
und wenn die Puppen sterben
werden sie mit einem weißen Tuch bedeckt
(und das Spiel beginnt von vorne)
/7/
Tschernobyl ist eine Mondlandschaft
ein Museum ohne Eintrittskarten
niemand hier braucht Science-Fiction
die Menschen haben sich in Astronauten verwandelt
in wandelnden Staub
ihre Tage sind Mondlandungen (ohne Fernsehübertragung)
/8/
wir haben Angst: vor Schnee,
vor dem Wald, Angst vor den Wolken,
vor dem Wind, vor der Physik,
in die wir verliebt waren
(wenn die Menschen weg sind,
vergeht auch die Zeit anders)
/9/
die Sperrzone als Magnet
wir stehen vor einer Kulisse
wir fotografieren (etwas stimmt nicht mit der Belichtung)
haben die Apokalypse im Sonderangebot gekauft
wir zahlen SARGGELD: eine Entschädigung dafür,
dass wir leben
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freiVERS | Nicola Quaß
Die Gestalt einer Mücke
im Wind. Der Tag fällt
in die Wiese. Wolken zerbrechen
das Licht. Wir streifen durch benachbarte Gärten.
Aus Häusern tritt ein Echo und erschreckt
die glitzernde Stille.
Adler kreisen
ohne Gewicht. Im Schlaf wäre jetzt alles
im richtigen Abstand. Die schwarzen Töne
des Abends, das farblose Wort. Wie Ohren
den Gesang der Tannen schlucken,
und etwas ohne Mühe vergeht.
Später: Stillstand unserer Körper
auf fotografiertem Papier.
Du, mit fremder Stimme
im Gesicht, erstarrt
im untergehenden Licht.
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