8 | Irena Habalik

Stille, Nacht, Stimme

Zuerst fiel ein Blatt herein, dann zuckte eine grüne Kuh auf dem Bild von Chagall.

War es ein Zeichen?

Die Nachtstunde hat Blech im Munde, die Gegensprechanlagen leuchten wie die bierpolierten Klinken, die Stromdrähte dünn, schutzlos, wen kümmern sie bloß?

Ich lausche der Stille, berieche, starre sie an. Sie ist es. Ein leichtes Wort, zwei Silben, zu denen ich nicht leicht einen Reim finde. Ich? Ja, ich komme vor, in unregelmäßigen Abständen bin ich da, mein Stammbaum ist abgebildet, beige auf weiß, die Tafel drei, und in welchem Stammbuch erscheinen Ihre Sprüche?

Züchten Sie Majoliken, Majoran, Ranunkeln?

Die Beweggründe am Abend? Immer verschlafen? Gestern um zehn sammelte ich Steine, am Bahndamm, am Feldrain, jeder Stein in meiner Hand verlor seine Einsilbigkeit, jeder Stein auf dem Spielplatz eine Möglichkeit. Sie wurden bemalt pink, pastell, blau:

Fröhliche Zeugen einer erstarrten Zeit,

und sie wurden zusammengebracht, die passten und die nicht zusammenpassten.

Später schrieb ich einen Brief an die Kölner Stadtverwaltung:

Sehr geehrte Damen und Herren, die Fassade des Doms sollte geputzt werden. Wenn die Fassade nicht stimmt, wie steht es mit den Altären, über Seitenschiffe will ich nichts wissen, morgen geht die Post nach Madagaskar, legen Sie nicht auf, bitte, waren Sie schon im siebenten Himmel?

So wird gefragt, und nebenbei wird gezählt an den Fingern, in einem Sommer stürzte ich zwischen dem vierten und dem fünften.

Eine schiefe Ebene mit frischen, klaren Lüften für heiße Umarmungen auf den Bänken, eine Ebene in Glanz und Glamour oder ohne, je nach Aussichtspunkt (stand da nicht beim Eingangstor, klein und durchgestrichen: von Aussicht zur Ansicht?).

Einen Engel sah ich im Parterre, ein blasser Engel sprang über den Fenstersims, lief die Straße hinunter, immer geradeaus, vorbei an der Kurzsichtigkeit der Ampel. Die Passanten schüttelten einander die Hände, einer stammelte:

Es ist nicht aller Tage Engel.

Vielleicht war das ein Schatten, entlang der Häuserwand, vielleicht ein kleiner runder Mann, der nicht im Schatten stehen wollte, also lief er.

Während ich spreche, blicken die Augen in den rechten Winkel, als ob dort eine Postkarte von gestern klebte, doch nichts ist zu sehen, nichts bewegt sich in diesem Raum nur anderswo ist bekannt: Zu Ovids Zeiten sprach man einander zugewandt, ohne zu zwinkern, ich zwinkere, zwinkere, auf diese Weise komme ich näher, wenn nicht einem Gesicht, dann einem Ding an sich, aber Achtung, die Stimme hier:

Ja, Sie sollten sie damals reden hören.

Meine Stimme ist verlorengegangen.

Zur Maulbeerenzeit, in der angeblich Wunder passieren. Das Wunder überstand ich, auch das Staunen darüber, mit einem Ersatzstimmorgan artikuliere ich mich schöner, bilde lange Nebensätze, als ob es darauf ankäme, Sie werden nicht glauben, wer so ein Organ hat, muss sogar lachen. Was steckt dahinter?

Das kann schon morgen nach vorne treten, keiner wird dem einen Namen geben, am Ende eines letzten Satzes steht die Nacht.

Der Unbekannte unter der Brücke sagte: Die Nacht ist ein Ufer für die Schlaflosen, Uferlosen, dem glattgefegten Pflaster hast du den Rücken gezeigt, vor dir buntes Treiben, vor dir Farben, das ist die Stille.

Sie schimmert, flimmert, flackert dir entgegen, leise, zuversichtlich.

Und das Rauschen, Rascheln, Lispeln an diesem Ort ertönt wie eine Ouvertüre. Hören Sie es?

Arm in Arm langsam, leise, wir sind an jenem Ort angelangt.

Wir schauen uns um, ein Nicken genügt, man versteht es von alleine, wir schauen in die Weite, wer weiß, ein Ort gibt den anderen.

Ist es nur Krächzen in der Leitung?

Eine Tücke des Unsichtbaren, gerne würde ich Honig um Ihre Wangen schmieren (sind Sie Mann, Frau? Ach egal), eine Floskel ins Ohr setzen,

Dutzende von Floskeln ohne sich dutzendmal anzustrengen, Verzeihung, Sie können mich anschreien, schreien Sie,

das Schweigen der Stadt, die Stille: Ich horche in sie hinein, sie brüllt in meinen Eingeweiden, mir ist bang.

Nein, fürchten Sie sich nicht.

Ich ein Nachtschänder? Sinnesverwirrter? Nichtstuer? (Ja, ja, das Vokabular, es lässt manchmal verstummen.)

Aber sind wir nicht alle Nichtstuer für den Vater, den unseren da oben? Was tun wir für ihn? Und welcher Vater, welche Mutter würde uns unendlich füttern?

Wahr schmeckt das Futter, Gottesspeise für uns. Unendlich mein Dank, kurz wie Magenaufstoßen die Bitte: Vater unser gib keine Butter, es genügt, gib bitte, was täglich durch die Finger zerrinnt.

Hören Sie zu? Jetzt erscheint der erste Bus.

Im zarten hellen Rot, einem Farbton, der aus der dunklen Umklammerung loslässt, schon stellt man Tafeln auf, die etwas verraten, der Wind fällt herein,

leicht wie Worte zum Sonntag, ich sage gegen die Wand: Es lassen sich Reime machen.

Irena Habalik

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5 | Luca Kieser

wiederholungen

#27

und er küsste sie

zwischen küssen, sagte sie und küsste ihn

zwischen küssen, fügte er hinzu und küsste sie

zwischen küssen, fügte sie hinzu und küsste ihn

zwischen küssen, fügte er hinzu und küsste sie

zwischen küssen, fügte sie hinzu und küsste ihn

[wiederholen!]

Luca Kieser

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4 | Martin Troger

Der Stiegenhaus-Kranz

In diesem Stiegenhaus werden
oft mehrere Stufen mit einem
Satz genommen, während,
mit einem lauten Knall,
die Haustür von alleine wieder zugeht
Aufgegangen ist sie erst
nach einem kurzen lauten
brummenden Geräusch

Das Loch in der Mitte des Kranzes,
er ist ungefähr so breit
wie der weiße Teller
auf dem er steht,
ist ungefähr so breit wie die dicke Kerze
in der Mitte, die erst ein-zweimal
gebrannt hat,
ein-zweimal
öfter als ein Kaufhaus-Kranz
Beim Schlüpfen aus den Schuhen
berühren manchmal kleine Finger,
noch seltener ein Ringfinger,
die Außenseite des Kranzes

Auch beim Schlüpfen in die Schuhe
am nächsten Morgen
steht der Kranz oben vor der
Wohnungstür auf der Kommode
Es wäre zu gefährlich die dicke
Kerze anzuzünden, weil sich
niemand länger in dem kalten
Stiegenhaus aufhält, als es dauert
sich seine Schuhe an- oder auszuziehen

Hast du unten den Schieber raufgegeben
ist manchmal oben aus der Wohnung
zu hören, wenn die Wohnungstür schon
offen ist
Ist er unten, könnte jeder, der es
versucht, die Tür einfach aufdrücken
und
den Kranz einfach mitnehmen
Auffallen
würde es erst am nächsten Morgen
beim Schlüpfen in die Schuhe,
die nach der Nacht
immer ganz kalt sind
Ein Kaufhaus-Kranz würde wahrscheinlich
viel eher vermisst werden

Martin Troger

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03 | Hannah Bründl

Der Platz der Birke

  1. Proklamation.
  2. Die Birke wurzelt welttief. Strukturelle Ursachen verformen sie, ein rhizomartig
  3. verwobener Untergrund aus knorrigem Wurzelnetz. Die Birke bricht sich an den
  4. Felsbrocken im Boden. An dem Ort, zu dem sie verdammt ist. Die Birke ist radikal,
  5. sie weigert sich. Ein Kompendium an Verweisspielen.
  6. Sie ist es leid.
  7. Emphase.
  8. Die Birke wächst vor dem Fenster. Sie ist größer als das Leben. Ihre hellgrünen Blätter
  9. eingerollt; Dass es um das Bahnbrechen gehen wird. Um das Entzünden und hoch
  10. Schwirren. Um das Verklammern mit wanderlustigen Idealen. Um die Leere zwischen
  11. zwei Stämmen. Als eine Projektionsfläche pflanzlicher Ängste.
  12. Die Bäume kommunizieren miteinander. Ihre Formulierungen von Zucker und
  13. Botenstoffen pumpen sich durch verschlungene Äste. Pulsierend. Ein zuverlässiges
  14. Signum einer verzweifelten Einsamkeit. Wer ganz unten in der Nahrungskette
  15. festgehalten wird, muss kreativ werden, um seine Lücken füllen zu können.
  16. Die Birke hat Sitzfleisch. Zerrissene Knospen ziehen sich zurück. Der Stamm reißt auf.
  17. Es erscheint nur konsequent, dass sich alles geändert hat.
  18. Rückhall.
  19. Die Birke ruft einen Raum an Warnsignalen auf.
  20. Ihre Einsamkeit erstickt sie in Wolken und Wind, ihr Narbengewebe bernsteinfarbenen Eiter produzierend.
  21. Sie schweigt dazu.
  22. Entschweben.
  23. Der Schlüssel der Birke ist die Reise in ihrem Inneren. Die Reise in ihrem Inneren und
  24. die Schuppen der Fruchtstände. An den Fruchtständen kleben die kindlichen
  25. Birkensamen. Von September bis Oktober schweben die Samen der gefangen
  26. gehaltenen Bäume in abgesprochener Ästhetik davon. Die gläserne Herbstluft
  27. zerkratzend. Sonne einfangend. Die Natur macht einmal im Jahr eine Ausnahme.
  28. Aufatmen können. Die Birke bewahrt ihre kindheitliche Samenkapsel-Reise in ihrem
  29. Birkenherz auf. Eine Zeitebenen verbindende Reflexion.
  30. Ein Aufbruch mit geschlossenen Augen.
Hannah Bründl

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1 | Katherina Braschel

puttenstuckgebet

es ist:
vierundzwanzig
mal brust angehalten
den aufgestoßenen röchelatem hinunter
fingerkuppen geschluckt
rillenzerschnitten
morgendlich
jeder mittagsruf
ein blutbad

es ist:
vielmehr zeitschriftenapokalypse
heimwegsgut an streusteinen
aufgeschürft
bis dialysefreier
knochenmarksvergleich
eine eintagsbeschau
glutwein in
stangenware
absolutionsheischerei

es kann:
noch nicht sprechen.

es ist:
eine dellenwand
ein hautschuppenfest
eisglasur
gegenüber
ein jubelchor
eine ikealandmine
der kerzenlose
zimmerbrand
die schattenarme
fleckenwütig
um die tafel geschlungen

es kann:
noch nicht singen.

es ist:
goldgezierter maskenverdruss
in auswurfslacke
merinowollen
kyrienbeton
im heilsbringerwund

Katherina Braschel

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freiVERS | Silke Gruber

Wir, nachts

Nur
eine halbe Sekunde
bevor du schlafend
kaltblütig
ihren Körper zertrümmern wirst
nimmt eine Mücke
ihre Henkersmahlzeit an
deiner Schulter:
fremd
diese Stelle
denke ich
an der mein Kopf ruhen
sollte und weine
um das arme Tier
mich in den
Schlaf

Silke Gruber

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freiVERS | Dagmar Falarzik

Grasland. Ein Wasserturm dahinten
und Häuser drumherum, wie ein Kranz.
Der ewige Wind, Staub in der Luft,
kein Mensch weit und breit.

Abends wenn das Grasland leuchtet,
der Wind sich legt und die Hitze sinkt,
hört man manchmal Gesang
und nachts heulen die Coyoten.

 

Es weltet, sagt Herr Heidegger.
Das sind sie Wirks, sagt Herr Dürr.
Vergiss alles drumherum, sagt Herr Husserl.

Die Weissen quatschen zu viel,
denkt der Indianer und schweigt.
Er fährt den Philosophen in die Prairie raus
und lässt ihn da ohne Nahrung und Wasser
vier Tage lang stehen.

 

Völlig hineingerutscht, von der Vorstellung absorbiert,
ist die Realität auf ein Minimum reduziert,
während eine Parallelwelt den Raum überlagert.

Nachdem sich auch die Parallelwelt aufgelöst hat,
bleibt nur noch Bewegung, die sich durch abstrakte,
optische Ungewissheiten auszeichnet.

Dagmar Falarzik

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freiVERS | Miriam V. Lesch

Spontandichtung

#59

Ausgehöhlt
ich existiere noch
an den
Rändern
jeder will mich
unbedingt
füllen nur
womit
so viel Gleichzeitigkeit
kann nichts
Sein.

 

#58

Du lässt warten
das ist nicht neu und
fancy
diese Jacke so
was konnt ich schon mit
fünfzehn
nicht
cool sein hab
Schnaps gekippt ja
richtig
es fehlt mir
wie beim ersten Mal
an Geduld
für deinen Lifestyle
das du
mich magst
Glaub’s doch selber.

Miriam V. Lesch

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freiVERS | Thomas Ballhausen

Versuch über das Rauschen

„Veränderung durch Wörter ist Dichtung.“
Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1&2

Das Rauschen kann in seinem Naturzustand nicht beobachtet oder beschrieben werden, die Sprache geht ihm voraus.

Für das Rauschen gibt es keine Erklärungen oder Gebrauchsanweisungen, bloß warnende Empfehlungen hinsichtlich Verhaltensweisen, Ausbreitungsgrad und Formen der Übertragung.

Im Rauschen findet sich etwa ein Hundertstel eines länger zurückliegenden sehr lauten Beginns.

Rauschen und Raum stehen in einer schwierigen Beziehung. Das Rauschen findet deshalb vor allem zwischen Zeilen und in Pausen statt.

Rauschen kennt keine Handlungen oder Absichten, es löst sie aber wie beiläufig aus.

Es ist nicht ratsam, das Rauschen zu verdünnen.

Das Rauschen hat keine Farbe. Gerüchten nach ist es vielleicht weiß.

Es gibt bislang keine vollständige Auflistung der im Rauschen enthaltenen Allergene. Das Rauschen kann Spuren von Nüssen, Spänen und Dornen enthalten.

Das Rauschen ist nicht geeignet, um Katzen zu trocknen.

Je nach Dosierung können alle Sinne vom Rauschen kurzfristig beeinträchtigt oder auch dauerhaft verändert werden.

Man kann natürlich versuchen das Rauschen zu imitieren, aber bestenfalls wird man es ein wenig nachahmen. Alle bislang unternommenen Versuche waren lächerlich.

Vom Rauschen muss man sich erfassen und eine Zeit lang tragen lassen.

Das Rauschen ist keine Entschuldigung für irgendetwas. Vielleicht gibt es hin und wieder eine schlechte Erklärung ab.

Das Rauschen kennt keine Wehmut für das Ende des vergangenen Jahrhunderts. Das Rauschen kennt nur Immer und Überall.

Das Rauschen ist Gegenwart und Wirklichkeit.

 

Thomas Ballhausen

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freiTEXT | Manon Hopf

wir haben noch den Schwindel einer Reise in den Beinen als wir schon im Feld stehen, aus dem tiefen Wein Erinnerungen ziehen die noch nachts in unsren Hosen halten, wüste Klettenköpfe sind am Schienbein, in den Kniekehlen ein Ziehen, Beugenwollen, wir sind groß geworden auf den Wegen senken wir die Blicke, suchen unsre Erde, unsre Gräser zwischen Kieselsteinen, Schotter, die Augen, die den Händen näher waren, jetzt ein Kopfumblicken sind, ein Sehen ohne Hand und Fuß, die Landschaft einsortierend, Nutzen, Schönheit die ein Nutzen ist der malträtierten Seelen, sie lassen sich scheuchen vom einsilbigen Kirchturmläuten durch die dünnen Gassen wächst ein Holzgeruch, im Ofen liegt die Ruhe einer schwarzen Nacht, die mit uns in dicken Jacken auf der Dachterasse sitzt, sich nach dem weißen Rücken streckt des greisen Mont Ventoux

Manon Hopf

freiTEXT ist wöchentliche Kurzprosa. Freitags gibts freiTEXT.
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