freiVERS | Unda Maris

Novemberhesperiden

Es war im drůsen Spätherbst
daß mal wieder so einiges gemağgolokkerte
und das Laub behehlebęnde
in die Gegend diffundierte

Im Prater wurstelte die Plebs
so vor sich hin, behelfmichnich, aber kregel

Keckernde Krähen behůdelten den Himmel
und schærwanzten die ein oder andere
Eulenspiegelei über die Szenerie

Melechnitòth lagen die Fahrgeschäfte im Südosten
beharnischt zwar, aber ohne Lach oder Sang

Hier und dort noch ein Echo
von glottermōgelndem Sprechmichdoch

Und in der Geisterbahn schließlich
— unheimlich ist es zu sagen —
ein von Mirespiłłiden verlassener Sarg

Unda Maris

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freiVERS | Michael Pietrucha

Samenkorn Zeit

Ich habe dir Zeit gegeben,
du hast sie mit den Augen geküsst,
habe sie unterwegs aufgehoben,
bevor sie unter meinem Schuh verschwunden wäre,
sie abgewogen; das Sonnenlicht von oben
und das Mikroskop hier unten sagten,
es sei ein Samenkorn, und geschoben
in ein Kuvert stecktest du es ein.

Ist denn das Samenkorn zu einer Ranke
auf deinem Fensterbrett gewachsen?

Michael Pietrucha

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freiVERS | Lütfiye Güzel

man lebt nicht jeden tag

-

eine spinne mit den augen

verfolgt

mit gutem gewissen

ihr netz nicht zerstört

dann obst von den bäumen

geschüttelt

& drei runden geweint

Lütfiye Güzel

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24 | Kinga Tóth

„Tür auf, Tür zu“

vater wäscht sich
mutter kocht
fremde an der tür
nachtkäfer surren
grillen draußen
fremde an der tür
man sagt nichts hier
wenn sie fliehen
pfeifen die hahnsirenen
‘drauf blieb der topf
kocht über leert sich
mutter vater
fremde

Kinga Tóth

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23 | Nicola Huppertz

tag vor heiligabend

zufällig
zwischen zwei eiligen schritten
lege ich den kopf in den nacken
und sehe wie sich die möwe
vom frühlingsmilden wind
davontragen lässt

ihr schmaler Körper
ohne gewicht
vor wolken aus hauchzarten
lamettafäden
am hellblau des himmels

während hier unten
zwischen läden und lichter-
ketten
noch immer die gesetze
der schwerkraft gelten
und die der saison

weshalb ich meinen blick abwende
und weiterhaste

der stillen zeit
entgegen

Nicola Huppertz

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22 | Stefan Heyer

Seine Freunde konnte er nicht fragen

Viel geblieben war nicht von Aleppo. Die meisten Gebäude zerstört. Auch seine Freunde waren weggegangen. Geflohen aus der Stadt. Oder gestorben. Geschossen wurde nicht mehr. Das war auch alles. Das Leben? Musste weitergehen. Letztes Weihnachten hatten sie in der zerstörten Kirche gefeiert. Es war kalt gewesen. Ohne Dachstuhl. Heizen hätte da nicht geholfen. Aber sie hatten gefeiert.

Sein Vater hatte Arbeit. Hatte Glück gehabt. Vater stellte immer noch Seife her.  Wenn er Olivenöl bekam. Und Lorbeer. War nicht leicht, die Sachen zu bekommen. Strom gab es wenig. Ein paar Stunden am Tag. Oft war der Strom plötzlich weg. Wasser gab es auch nicht immer. Das nervte am meisten. Das eine oder andere Haus wurde wieder aufgebaut.

Letztes Jahr hatte Jiro sich zu Weihnachten ein Stück Seife gewünscht. Was sollt er sich dieses Jahr wünschen? Seine Freunde konnte er nicht fragen. Es war kein Krieg mehr in der Stadt. War das jetzt Frieden? Sein Vater konnte es ihm nicht beantworten. Sie lebten. Sie hatten zu essen. Nicht immer. Manchmal hatte er Hunger. Eigentlich fast immer.  Wenn kein Wasser aus der Leitung kam, musste er immer Kanister schleppen.  In der Nähe gab es ein Kloster. Wenn er Hunger hatte, ging er manchmal hin. Die Schwestern hatten auch nicht viel. Doch sie gaben ihm immer etwas.

Mehl war immer knapp. Großvater würde gern mehr Brot backen. Doch sein Ofen blieb oft kalt. Holz gäbe es schon genug. Oder irgendetwas anderes zum Heizen. Doch Brot ohne Mehl konnte auch Großvater nicht backen. Süßigkeiten hatte er schon lange nicht mehr gebacken. Womit auch.  In den Geschichten von Großmutter war Jiro zuhause. Auch wenn das Elternhaus nicht mehr stand. Sie erzählte wunderschöne Geschichten, Märchen. Aleppo muss schön gewesen sein. Das Leben muss schön gewesen sein. Früher. Als es keinen Krieg gegeben hat.

Er hatte keine großen Träume.  Nachts war es jetzt immer still. Und dunkel. Schwarze Ruinenstadt. Überall zerschossene Häuser. Oft wurde er wach in der Nacht. Kroch zu Großmutter ins Bett. Liebte ihr weißes Haar. Vielleicht sollte er sie fragen, was er sich wünschen könnte zu Weihnachten. Jiro konnte lesen und schreiben. Zumindest ein bisschen. Er konnte jetzt wieder zur Schule gehen.  Es gab Container. Die Kirche war immer noch eine Ruine. Noch hatte sie keiner aufgebaut. Schnee würde es dieses Jahr wohl auch nicht geben. Großmutter erzählte ihm manchmal vom Schnee. Schnee müsste herrlich sein.

Stefan Heyer

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21 | Frederik Mork

fern & fern

Du bist
fern und fern
und zugeknöpft
von anderen Händen
mehr als das
durchbrichst du
alles in diesem Raum
vom damals wirren Denken
bis zum wirren Denken heute
von Erinnerungen
und Äußerungen
von Fragen bis zu
ganz anderen Fragen

Du bist
fern fern
zugeknöpft
aufgeknüpft
wartest bis die Strafe
die Bestraften holt
kommst nicht
bleibst fern
vieles wartet schon
auf deinen Platz
offene Ohren und Nähe

Frederik Mork

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20 | Kerstin Fischer

Winterfrage

Die Portraits in Öl stehen im Schnee der Stadt.
Ihre jahrhundertealten Blicke ziehen über die Graffitis der Häuserwände.
Dann lesen sie in den Weissagungen der Kälte.
Aber der Frost ist taub für jedes Gefühl. Er baut Nester in die Jacken der Obdachlosen,
bis sie winseln wie Hunde, die durch die Schatten im Rotlicht der Amsterdamer Straßen schleichen.
Die Tiere beobachten, wie es die Genitalien wund schlägt, das Licht, bei Nacht betrachtet.
Hinter den schweren Holztüren hallt indes das Gelächter der Verstorbenen.
Es macht die Gesichter bleich. Extasy ist en vogue.
Nuttenkrallen schlagen gegen die Scheiben.
Sie brechen das Eis in dem frierenden Hirn des Mannes
mit dem Muttermal über dem Auge, das er Igel nennt.
Er wirft seine schwarzen Ringe in den Rinnstein. Der Vorhang aus Filz ist geschlossen.
Die anderen warten im Eisregen.

Kerstin Fischer

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19 | Bas Lindgaard

Mara

In der Zwischenzeit
tauchte Mara auf
und erzählte mir
von höllischen Krämpfen.

Das Ende des Tunnels
kommt immer näher
und wahrscheinlich
erreichen wir es kotzend,
auf allen Vieren kriechend.

In der Zwischenzeit
erschien Mara
und erzählte mir
von den Krämpfen,
die ihn heimsuchten
und von dem Blut,
das er geschwitzt hat.
Man sah ihm an, dass er
dem Ende des Tunnels
immer näher kam
und wahrscheinlich
erreicht er es kotzend,
auf allen Vieren kriechend.

Ich sah ihn zuletzt meditierend,
auf einer pechschwarzen Lotosblüte,
bevor das Licht ihn verschlang.

Bas Lindgaard

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18 | Axel Görlach

spiel mir das lied

vom schafottschaf blut zerstäubt
als himbeerpulver am abendhimmel über dem Ehrenmal
darunter die doldenskelette des bärenklaus verkrallt
ins graue leuchtender taubendreck wie grobe
brocken von feindschnee auf bronze sing mir
von helden + herkunft ein lied das trügt bis es trägt
deiner ahnen gewicht ich hab nur das malmen
des kiefers geerbt den man meinem großvater
wegschoss ins russische jede wortformung seitdem
ein phantom schmerz doch sah ich dich moskau + deine
aufschneiende schönheit die flocken so zärtlich
hebt niemand sie auf mit den wimpern

Axel Görlach

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