freiTEXT | Carolina Reichl
Plus, Minus, Notizen
mit L. zusammenbleiben:
+ er liebt dich
+ du liebst ihn
+ du kannst mit ihm lachen, über alles und nichts
- ihr streitet zu viel
+ ihr streitet eigentlich nur, wenn ihr betrunken seid
- er trinkt zu oft und zu viel
+ er sagt, er will sich ändern
- er hat schon oft gesagt, er würde sich ändern
- deine freundinnen sagen, du verdienst was besseres
+ deine eltern mögen ihn
+ seine mama mag dich
+ seine freunde sagen, du tust ihm gut
+ ihr seid seit 6 jahren zusammen
+ er ist dein erster freund
- er ist dein erster freund
- du fragst dich manchmal, wie es wäre, mit jemand anderem zusammen zu sein
+ du kannst bei ihm sein, wie du bist
- er sagt, deine oberschenkel wären fester geworden
+ der sex
+ die neue wohnung
- seine eifersucht
+ er sagt, er will dich nicht verlieren
+ er sagt, er kann sich eine zukunft mir dir vorstellen
+ du bedeutest ihm viel, ohne dich fühlt er sich leer
- er hat dich bitch genannt
+ er ist kreativ
+ er ist ehrgeizig
+ du kannst ihn glücklich machen
- das glück ist nie von dauer
+ er sagt, du bist was besonderes
+ du weißt, es fällt ihm nicht leicht, sich zu öffnen, aber für dich versucht er’s trotzdem
+ so offen wie mit dir spricht er sonst mit niemandem über seine vergangenheit
- er ist unpünktlich
- er entschuldigt sich für seine unpünktlichkeit nicht
- wenn du weinst, wird er wütend
+ er schenkt dir blumen
+ er mag dieselben serien wie du
+ er kocht gerne
- du hasst es, wenn er in seiner nase bohrt und glaubt, du merkst es nicht
+ du magst, dass seine augen unterschiedlich sind, das eine grün, das andere blau
- er hat dich betrogen
- er hat es nicht zugegeben, als du ihn danach gefragt hast
+ es ist nur einmal passiert, sagt er, und er war betrunken
+ es tut ihm leid
+ er sagt, es war ein fehler
+ er sagt, dass es für alles eine lösung gibt
- was, wenn er wieder fremdgeht?
- was, wenn du ihm nicht verzeihen kannst?
+ du kannst mit ihm über alles reden
+ er hört dir zu, wenn dich was bedrückt
+ er vertraut dir
+ du bist die einzige, die weiß, dass er antidepressiva nimmt
+ er sagt, er kann sich nicht vorstellen, mir jemand anderem so glücklich zu sein
- du hast angst, dass es dir irgendwann zu viel wird
+ er gibt dir selbstbewusstsein
+ er sagt, du gibst seinem leben sinn
+ du kannst an dir arbeiten, wenn du genug an dir arbeitest, wird alles wieder gut
- du schreibst diese liste nicht zum ersten mal
+ er liebt dich
+ du liebst ihn
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freiVERS | Magdalena Resch
EINS
Blätter kitzeln einander
und tanzen im
Windestakt
durch den
Nebelnieselregen.
Ader für Ader.
Wie oben so unten.
So halten die vergrabenen
Wurzeln
die flatternde
Leichtigkeit
die mit einer
nadeldicken Ader
an der Starrheit des
Stammes hängt.
EINS.
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freiTEXT | Jan David Zimmermann
Onkel Fritze
Schmerz ist das stärkste Mittel der Mnemotechnik. – nach F. Nietzsche
Haarmann hat sich aufgerichtet. Er hat sich aufgerichtet und hat die Teerbrocken ausgehustet, die jeden Morgen auszuhusten sind. Immer, ausnahmslos… ja, jeden verdammten Morgen das durch das Rauchen verursachte Aushusten von Teerbrocken. Zumindest fühlen sich diese klumpigen Rachenablagerungen so an wie Teer, dachte Haarmann nun in der Dämmerstimmung des Morgengrauens.
Er hat sich aufgerichtet, sein feister Körper hat sich in der Mitte also rechtwinkelig geknickt, wobei ihm die abgewetzte dünne Decke wie eine zweite Haut von der breiten Brust um den Bauch rutschte. Dann hat er die Beine ausgestreckt und die Arme ebenfalls. Warum macht man das?, hat sich Haarmann wohl gefragt, warum streckt man sich in der Früh? Versucht der Körper etwas loszuwerden, was in der Nacht in ihn fälschlicherweise hineinkam?, klang es in seinem Ohr. Haarmanns Lippen haben unter dem vom Polster der Nacht aus der Ordnung gebrachten englischen Schnurrbart kurz gezuckt. Er hat neben sich eine zweite, zerwühlte Decke gesehen, aber neben ihm lag niemand. Ihm war eigenartig zumute. Und nun war es ihm auch wie ein Déjà-vu, in der Früh so aufzuwachen und sich dies zu denken, die Lippen zucken zu spüren, die zerwühlte Decke zu sehen, und sich eigenartig zu fühlen, ein leichtes Grausen zu fühlen, das um ihn waberte. Er hat nun genauer in das Halbdunkel der Frühe geschaut, angestrengt hat er versucht, Neues zu entdecken, herauszufinden, warum ihn das leichte Grausen befiel. Da ist ihm plötzlich im Dämmerdunkel das konstante Sehfeld aufgerissen und ebenjene schwarzen kleinen Kristalle sind durch den Raum geschwebt, die entstehen, wenn man sich zu lange nach unten bückt und anschließend schnell wieder aufsteht. Warum zerbröselt mir die Sicht derart, wenn ich mich aber doch gar nicht nach unten bücke und dann schnell wieder aufstehe, sondern nach wie vor im Bett sitze?, hat Haarmann sich gefragt und ihm war noch seltsamer zumute als zuvor. Der entblößte schwammige Brustkorb ist nun auch zusätzlich von der kalten Luft angegriffen worden, die das undichte Fenster mit der dünnen Scheibe einströmen ließ. Einem innerlichen Frösteln folgte also, mehr oder weniger, aber eher mehr, ein äußeres Frösteln. Langsam beruhigte sich sein Sehfeld wieder etwas. Haarmann hat die Arme links und rechts neben sich in die quietschende und durchgelegene Matratze gestützt, hat einen dunklen Fleck in die Grobkörnigkeit seiner Decke geschaut, die noch um seine Füße geschlungen war. Dachte, er hat dort etwas gesehen, hat aber nicht gewusst, ob es nur das zu lange Starren auf einen Fleck war, das ihn dort, auf seiner Decke etwas vermuten ließ. Die Dämmerung des Morgens entstellt die Dinge, klang es in seinem Ohr. Haarmann hat genickt und die allgemeine Grobkörnigkeit der Dinge und Gegenstände bemerkt und sich nun wieder hinlegen wollen, hat sich die Hautlappen der glatzigen Decke geholt und seine Brust wieder bedeckt, den Kopf in die Kissen gesenkt. Auf den Plafond starrend war er nun aber wach und musste an Hildesheim denken, es strömte nun unaufhaltsam auf und in ihn ein; die Schwere der Dinge in der Nacht kann bisweilen von einer noch größeren Schwere der Dinge in der Früh abgelöst werden, klang es in seinem Ohr. Er musste nun an das Kranksein denken, er erinnerte sich an die Worte des Arztes und konnte sich an dessen von Schweißperlen umkränzten Mund erinnern, als dieser damals die Diagnose aussprach. Haarmann musste nun also das Wort Jugendirresein in sein Bewusstsein lassen, musste also am Ende sich in einem kranken Zustand und seine Krankheit und alles damit Zusammenhängende in sein momentanes Bewusstsein eindringen lassen, ohne Unterlass. Das Wort Jugendirresein penetrierte seine Gedanken und zerhackte die Wohlgeformtheit seiner Gedanken, zerrieb die Syntax seiner Gedanken, zerstob die Semantik seiner Gedanken, zersetzte die Logik seiner Gedanken. Ein Summen und Surren dieser losen, zerbrochenen, nunmehr wirren Gedanken. Nun hörte er in all diesem dröhnenden Gedanken-Strömen die Jungen sprechen, die Puppenjungs, wenn sie ihn zärtlich „Onkel Fritze“ nannten. Dieses „Onkel Fritze“, das sie von sich gaben, wenn sie sich um Haarmann geschlungen hatten, mit ihm so im Bett lagen, ihn dann küssten und so weiter. Dieses Bild stach nun in Haarmanns Kopf, flackerte auf.
Haarmann hat sich daher wieder vollkommen aufgerichtet, so als könnte er dadurch den Gedanken entkommen, so als gäbe es die Gedanken und Bilder nur in einer bestimmten Position. Haarmann hat sich also aufgerichtet, hat sich im schweißverwetzten Bett herumgedreht, sich mit erhöhtem Oberkörper die Decke noch fester um die Beine geschraubt, die zweite Decke lag nach wie vor zerwühlt neben ihm und er fragte sich nun endgültig, was es mit ihr auf sich hatte, wo er doch alleine war. Im langsam sich erhellenden Zimmer konnte er nun eigenartige Flecken auf dieser Decke erkennen. Er fasste einen Entschluss und begann, auf die zweite Betthälfte zu kriechen. Haarmann ist nun also im morgendlich erhellten Raum mit von seiner eigenen Decke umschlungenen Beinen zu der anderen Betthälfte gekrochen, ist an und über die zerwühlte zweite Decke gekrochen und hat schließlich beim Lüpfen der anderen Decke das Blut bemerkt, das sich in dieser Betthälfte befand und das Laken darunter getränkt hatte. Haarmann hat die Augen entsetzt aufgerissen und ist weiter bis zur Bettkante gekrochen.
Da hat er am Boden einen liegen sehen, hat gesehen wie die Morgensonne, nunmehr endgültig in das Zimmer eingedrungen, auf den Körper des toten Jungen fiel. Haarmann sah den nackten und schönen Körper des Puppenjungen, sah aber gleichzeitig dessen zerwühlte Kehle; zerwühlt wie Decken in der Früh.
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freiVERS | Dörthe Huth
In Gesellschaft des Wassers
Du betest für Regen
in der Hoffnung
dass er singt
wie ein krächzender Vogel
während der Dürre des Sommers
im Tanz der Tropfen fühlt sich
das Leben leichter an
glaubst du
umschlossen von dumpfer Stille
halte ich das Gleichgewicht
und spiele toter Mann
mit geöffneten Augen
fixiere ich die Wolken
damit die Vorzeichen
nicht aus dem Blickfeld verschwinden
die schweren Wolken ziehen vorüber
Regen fällt nicht.
.
.
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freiTEXT | Dana Schällert
Denk mal
Niemals hätte sie das gedacht.
Wo sie doch so gegensätzlich sind.
Gegensätzlicher kann man gar nicht sein, denkt sie. Denkt sie.
Sie denkt. Allein das ist bemerkenswert, denkt sie. Das muss ER gewesen sein. Denk mal, denkt sie.
Man kommt wohl nicht drumrum, wenn man sich in wen verliebt, der ein Denkmal ist. Sein Sein ist die Arbeit, denkt sie. Er arbeitet Tag und Nacht, denkt sie, während sie nichts tut. Rumsteht. Rumsteht und nichts tut, außer Kleider zu tragen. Mal dick und warm, mal luftig und kühl, gemustert oder uni, es bleibt Stoff, aus dem keine Träume sind.
Sie hat weder Augen noch Mund, ihr ganzer Körper verharrt im Status der Andeutung. Ihre Hand ist leicht erhoben und nicht voll gestreckt, eine Geste von Eleganz und Überdruss, sie hat sie nicht selbst geformt. Formwerk anderer ist ihre Haltung, ihr ganzer Leib, Kunststoff wie die Gewänder, ihre Kugelgelenke drehen sich um eine Welt, die eine Glasscheibe ist. Dahinter steht sie nämlich, in einem Zwischenraum. Hinter der schmalen Stellwand, die ihren Rücken umsäumt, liegt die kunstlichtbeschienene Verkaufsfläche, gefüllt von Aufreihungen kleidförmiger Identitätsvorschläge in den Farben der Saison, deren verkaufsträchtigstes Exemplar sie selbst als Botschafterin zu tragen auserkoren worden ist. Das ist ihr Platz. Hier. Vor unsichtbarem Hintergrund, hinter besagter Scheibe. SALE steht vor ihrer Stirn. Es könnte ihr Name sein.
Schaut ihn an. Augenlos, hirnlos, wortlos. Schaut ihn an und denkt auf einmal.
Denk mal, sagt etwas an ihm. Wie er abgehoben da oben steht auf dem Turm anderer Figuren mit der Kelle in der Hand. Sein Körper ist vom Schuften gebogen, auch steht er nicht aufrecht und stolz wie sie, die innen hohl ist, sondern schräg, als könnte ihn bereits ein leichter Wind hinfortreißen. Sein metallener Blick aber ist so fest und stark wie die Hände, die die Kelle umgreifen, wie die weit gespreizten Beine, die in den Boden gegossen scheinen, weil sie es sind. Seine Kleidung ist nicht aus Stoff, das ist in Bronze gegossener Marmor. Das ist ewig, das ist nicht Saison, das ist die stehengebliebene Zeit. Das ist Geschichte, genau wie seine unmoderne Kopfbedeckung, die was mit seiner Arbeit zu tun haben muss. Niemals wird ein Wind ihn hinfortwehen, denkt sie. Niemals. Das ist Geschichte. Was war, steht fest. Stünde ich dort, ach, aber ich bin ja hinter Glas, ich bin ja …
Sie weiß, er schwarz. Er weiß, sie nicht. Nichts weiß sie. Aber denk mal, sagt er wohl, denkt sie. Denk doch mal. Denk, was sein könnte. Du könntest sein. Ich könnte sein. Alles könnte anders sein. Wir könnten sein. Könnten abhauen, denk doch mal. Und sie starrt hinaus, Gedanken verloren, die sie gerade gewann und sehnt sich. Ich bin ja …, ich könnte ja … Denk mal, sie sehnt sich. Steht hinter dem Glas des internationalen Modekonzerns und sehnt sich. Nach mehr. Nach Wahrheit. Nach Körper und Schweiß und Sex und Luft. Nach Veränderung. Denkt, dass er längst müde sein muss. Von so viel Arbeit. So viel Geschichte, die in seinen Adern zur Ewigkeit gefror, dass sie kein Hirn mehr zum Denken bringt. Wie sie, so harrt er aus, vor Bewegung längst steif geworden, steif wie sie, denkt sie, die sie nie in Bewegung kam. Hart und starr, beide, da muss es was anderes geben, denkt sie. Es muss mehr geben.
Wie käme Regung in meine Beine?, denkt sie. So wie das Denken in mein Hirn kam? Aber wie war das? Wie war das nur? Und wie könnte …? Liebe, denkt sie, Hoffnung, vielleicht, Glaube, oder was in der Art. Denk mal, ich habe ein Herz, denkt sie. Erkennt es aufgeregt, auf einmal, spürt den Rhythmus der Popmusik im Store kräftig in sich verzweigenden Adern pulsieren. Starrt hoch zu ihm, fragt sich: Und du? Könntest du? Willst du? Heut ist Ausverkauf. Rufen wollt ich dich, denkt sie, aber hab keine Worte, denkt sie, tastet nach den stummen Lippen und erstarrt, als sie merkt, dass sie sich bewegt hat, als sie merkt, wie die Kugeln rotieren, wie der Boden rotiert. Und als die Glassplitter auf die Straße klirren, da dreht er plötzlich, erschrocken hat er sich, dreht da oben den Kopf, ein Riss durchzittert den Stein, die Kelle schöpft Mut im Fall. „Jetzt!“
Inspiriert von der Skulptur „Turm der Arbeit“ von Jürgen Weber in der Innenstadt von Salzgitter Lebenstedt (Deutschland). Diese visualisiert die Stadtgeschichte Salzgitters. An ihrer Spitze steht der „Probennehmer“, eine große männliche Figur mit einer Gießkelle in der Hand. Umsäumt wird das auf einem Platz stehende Monument von Geschäftshäusern, in denen vor allem internationale Modekonzerne residieren, deren Schaufenster sich zum Platz hin öffnen.
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freiVERS | Helmut Blepp
Novizen
Leben verstehen
den Dunst durchschauen
lieben ohne Not
Frost aufhalten
Einfach zuhören
bei triefendem Himmel
sich zurücknehmen
angesichts der Trauergesänge
Dauer ruht
in den Irrwegen
zwischen Tag und Nacht
Hilfe im warmen Wort
Da draußen
suchen sie uns
und wir suchen mit
noch unbeholfen
.
.
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freiTEXT | Stefan Volkmann
Verlorene Kokons
Mein Fenster ist offen, ich döse. An der Bushaltestelle stehen französische Mädchen, warten, sprechen und lachen. Ich erinnere mich an Karens und meinen Wochenendausflug nach Straßburg. Es war Herbst, auf den Brücken und Quais lagen Blätter. Wir gingen Hand in Hand, umarmten und küssten uns. Wenn ich jetzt daran denke, fühlt es sich an wie die Erinnerung eines Fremden oder als hätte es mir jemand in einer Kneipe erzählt. Ich saß auf dem Place Kléber auf einer Bank, zwei Teenagerinnen schauten auf ein Handy und lachten. Acht in schusssicheren Uniformen steckende Soldaten patrouillierten langsam – ihre Maschinengewehre schussbereit – an uns vorbei, spähten in alle Richtungen und suchten Terroristen. Eine aus einem Maschinengewehrlauf sich lösende Kugel hätte mich treffen sollen, mein Leben wäre in einem roten Faden auf den Boden geronnen und aus mir rausgetropft. Plätschern von Springbrunnen, der sonnige Himmel, Karen hätte mir ihre neuen Schuhe nicht zeigen können, sie wären für meine Beerdigung nicht geeignet gewesen, zu fröhlich, lebendig und silbern. Wir bummelten zum Hotel, duschten uns und schliefen miteinander, goldene oder rote Blätter wehten aus meinem Körper in ihren oder aus ihrem in meinen, wir häuteten uns, um einander näher zu sein, aber sie hatte schon was mit Sascha. Warum habe ich sie, oder wir uns, verloren? Weil ich nicht mal mich halten kann? Karen sieh, ein ängstlicher Kahn versinkt. Ich sinke, seit ich denken kann, mir meiner Umwelt bewusst bin, aber mache trotzdem weiter, als sänke ich nicht. Leben ist vom ersten Atemzug an ein Weitermachen, ein Kampf. Ich rutschte die Rutsche runter, kletterte ein sternförmiges Netz aus Tauen oder Seilen hoch und sprang in den Sand, aber verstauchte meinen Knöchel oder schürfte ein Knie auf. Jemand wird gebracht, ein anderer geholt, Kleinkindergesichter kommen und gehen, verziehen sich zu Grimassen, entspannen sich zu Gesichtern, verformen sich zu Fratzen, und so fort. Ich spielte mit Jungs und Mädchen, überall standen Frauen, mit oder ohne anderen Frauen, schoben Kinderwägen vor und zurück, hockten sich hin und beugten sich vor. Haare fielen über Dekolletés, ich scheiterte bei meinen Versuchen, ihre Blicke zu deuten. Blaue, grüne, braune und graue Augen wurden schwarz, sobald ich sie anschaute, rote oder rosa Lippen grau, schwarze Augen steinern. Ich stehe zwischen Statuen im Park, bin ein Mensch, ein Mann, ein Kind, aber will eine Statue sein, oder sitze als nackter König – Grünspan auf der Haut, in der Krone, am Geschlecht – im Kettenkarussell. Es dreht und dreht sich, aber ich komme nicht raus. Die Frauen vom Spielplatz werden älter, fegen Blätter zusammen und gehen nach Hause. Kompost wievieler Herbste fault in meinem Schoß? Ich sitze im Tretauto, rase die Kindergartenautobahn lang und will endlich raus, aber ein Schneepflug nach dem anderen rauscht an mir vorbei, Kabinenlichter blinken rechts und links, türmen Matschberge vor mir auf. Ich müsste einen Tunnel graben, um irgendwo hinzukommen, sehe fahles Licht oder Nebel, durch den oder in das orangene Schneepflüge rutschen. Sie schlittern wie in einer weißen Kugel durch mein Schütteln oder stecken fest. Blonde Haare wehen im Zwielicht, rote Fingernägel winken aus halb geöffneten Fenstern, gespreizte Strumpfhosenbeine dampfen unter Lenkrädern. Herzatemwolken tragen Sonnenbrillen. Ich trete und trete, aber komme nicht raus, als wäre ich festgewachsen. Alles wiederholt sich, die Welt läuft auf Schienen, Kinder hängen wie frisch gewaschene Wäsche an Leinen, zittern körper- und kopflos im Wind. Ich verlasse meine Wohnung, laufe durch den Gleisdreieckpark zur Agb¹ und sitze am Ufer. Pferdeschwänze joggender Frauen und Mädchen pendeln rhythmisch von links nach rechts oder von rechts nach links und messen meine Zeit. Frauen und Mädchen öffnen ihre Zöpfe, Haare fallen und strömen ins Gras, meine Zeit ist abgelaufen, nimm dein Rennrad, tritt in die Pedale, es fährt rückwärts, du weißt nicht wohin, siehst nicht, dass ein Lkw in dich rein fährt, bleib, wo du nicht mehr zuhause bist, auf der Straße liegen und stirb. Ich verheddere mich in den Haaren der Frauen und Mädchen, mit denen ich geschlafen, die ich geliebt habe, ihre Haare wachsen weiter um mich, aber die Frauen und Mädchen sind lange fort und mit anderen Männern und Jungs zusammen. Ich ersticke in Kokons, die niemanden wärmen, bin in meinen Nestern aus Haaren, die ich gebaut habe, auf dass die Liebe – oder Karen – zu mir zurückkehren, aber sie kehren nicht zurück, nie flügge geworden. Habe Milch gesabbert, Haare verklebt und stecke in meinen Nestern, die keine Kokons sind, fest, schaue wippenden Pferdeschwänzen, die meine Stunden zählen, hinterher, und will ein neues Nest, einen neuen Kokon, aber keine Frau, kein Mädchen schenkt mir mehr ihre Haare, alle joggen den Kanal lang oder fahren in Schneepflügen an mir vorbei und spucken auf den fetten Alten, der in seinem roten Tretauto sitzt, das vor einer grünen Ampel steht und nicht anspringt, runter, schlaf ein, träum süß, stirb lang.
¹ Amerika-Gedenkbibliothek in Berlin
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freiVERS | Michael Pietrucha
Kleine Tode
I.
Dich über Worte aus Charakteren beugen,
die deinem Verstand ganz unbekannt sind
(wie Kanji).
Der Blick bricht
in kleinste Kaskaden
verfestigte Wasserfälle
Fontänen.
Baum um Baum anders,
ein Mischwald,
nur von Bestimmten für Bestimmte
gesetzt,
eine Augenweide mit Tuschezweigen.
II.
Umziehen oder Ausziehen,
doch noch in der Wohnung
sein.
Erinnerung für Erinnerung
(von dir),
Nutzgegenstand für Nutzgegenstand
abwägen
und von Hand zu Hand gereicht
sehen,
fühlen
wie viel du nicht brauchst und
übrig bleiben.
III.
Liebe machen,
lieben,
kommen und
deinen eigenen Körper wieder
anlegen können.
.
.
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freiTEXT | Ann-Christin Kumm
Nachmittags/abends
– Ich habe auch Angst vor dem Dunkeln. Und vor kleinen Tieren.
– Mit vielen Beinen.
– Ja.
– Insekten und Spinnen.
– Genau…
– In der Zelle war eines, ein Käfer. Er ist über meine Haut gelaufen, wie eine Erinnerung, dass da noch Leben war.
– Das tut mir so leid.
– Ich möchte eigentlich kein Mitleid.
– Das muss schrecklich gewesen sein.
– Wir haben uns angefreundet.
– Oh.
– …
– Aber krass, dass man die Frage nach Angst sofort beantworten kann.
– Ja… Manchmal habe ich Angst vor meinen Träumen. So sehr, dass ich nicht schlafen will.
– Das kenne ich gut.
– In meinen Träumen muss ich immer wieder fliehen, muss aufspringen und aus dem Raum rennen, ich habe keine Zeit, etwas mitzunehmen, jemandem Bescheid zu sagen. Es sind immer dieselben Bilder.
– Bei mir auch. Also, andere natürlich. Aber immer wieder dieselben Bilder.
– Was für Bilder?
– Dass mich jemand umbringen will. Ich laufe und hinter mir das Brüllen und ich bin zu langsam, stolpere, renne weiter.
– Ist das eine Erinnerung? Ist es wahr?
– Es ist wahr. Also, ich habe das so erlebt, damals. Und es kommt wieder. In den Nächten kommt es wieder.
– Wenn man weiß, was Todesangst ist.
– Ja!
– Dabei habe ich sonst keine Angst vor dem Tod, im Gegenteil.
– Ich wollte immer leben.
– Immer?
– Immer.
– Hm.
– Ich habe mir immer gesagt: Irgendwann kommst du hier raus. Irgendwann bist du alt genug. Und dann kommst du raus.
– Und jetzt bist du hier.
– Ja.
– Du BIST rausgekommen.
– Ja… Und du auch.
– Ich auch.
– Nach diesen Träumen muss man immer sofort das Fenster öffnen.
– Kaffee machen.
– Sich an die Welt erinnern…
– Sich in die Welt zurückbringen.
– Ja! Es hilft auch, wenn ich nicht alleine bin. Wenn A. bei mir ist. Wenn ich aufwache, und da atmet jemand neben mir.
– Ah. Okay.
– Auch wenn ich nicht weiß, ob A. und ich wirklich zusammen sind.
– Was meinst du, wirklich zusammen?
– So, dass ich weiß, es bleibt so.
– Ich habe mich noch nie von jemandem angezogen gefühlt. Ich dachte erst, es wären Männer, aber das ist es nicht. Es interessiert mich einfach nicht. Sex, Romantik, das alles.
– Das ist doch voll in Ordnung.
– Für dich vielleicht. Aber die Leute stellen Fragen, dauernd.
– Das stimmt…
– Meine Eltern haben mir jeden Tag gesagt, wann ist es so weit. Wann willst du anfangen. Sollen wir dir eine aussuchen.
– Im Ernst?
– Glaubst du mir nicht?
– Ich glaube dir.
– Ich habe dann den Kontakt zu meiner Familie abgebrochen.
– Ah.
– Es ging nicht mehr. Sie sagten, sie würden in Schwierigkeiten kommen, wenn ich mich melde. Und ich wollte ihr Gelaber nicht hören.
– Und jetzt?
– Nichts. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist.
– Denkst du, sie sind tot?
– Manchmal. Manchmal finde ich das eine angenehme Vorstellung.
– Ich glaube, das verstehe ich. Ich wünschte, ich könnte einfach wegziehen, ganz weit weg. Und mich nie wieder melden.
– Allein? Oder würdest du A. mitnehmen?
– Ich weiß es nicht. Das klingt schrecklich…
– Ich wüsste auch nicht, wen ich mitnehmen, wem ich meine Nummer geben würde.
– Würdest du sie mir geben? Entschuldige.
– Schon okay. Eigentlich will ich gar nicht. Ich bin genug ausgewandert für ein ganzes Leben.
– Willst du hierbleiben? Also, ich meine. Für immer.
– Jedenfalls will ich gerade nicht woanders hin. Klar gibt es hier viele Probleme, aber die gibt es überall.
– Ja…
– …
– Ich schon. Ich will weg.
– Weit weg?
– Ja. Dahin, wo niemand mich kennt. Wirklich niemand.
– Ja.
– Vielleicht würde ich A. mitnehmen.
– Ja.
– Ich weiß nur nicht, wohin.
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freiVERS | Martin Dragosits
Es gilt
Sammelt Worte
In euren Taschen
Kalendersprüche
Textpassagen
Achtet auf die Nebensätze
Ihre Kinderreime
Körperhaltung
Ihren Blick dabei
Glaubt nicht
Es wäre übertrieben
Wenn ihr Kanten
deutlich seht
Zieht sie mit
Dem Finger nach
Malt sie mit dickem
Filzstift in die Luft
Seid bereit
Licht zu setzen
Weite
Unabhängig
Spielerische Elemente
Handbewegt
Über euren Kopf
Zu halten
Sammelt
Schwerelose Nahrung
Und bleibt
Sprungbereit
.
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