2 | POEDU: Emma

Türchen öffne dich

Meine Süßigkeit ist eine Maus
Die Maus isst Zucker
Und wird zum Pfau
Der Pfau geht durch die Straße
Auch
Die Frau
Sagt: Schau
Ein Pfau
Die Männer rufen an im Zoo
Die Wärter kommen angebraust
Der Pfau, der rennt und spuckt
Den Zucker aus
Zurück ist sie, die kleine Maus
Die huscht hinein ins
Türchen zu
Ruh

 

Emma (8 Jahre alt)

 

POEDU | Poesie von Kindern für Kinder. Monatlich gibt ein*e Autor*in online einen poetischen Anstoß.

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Die Aufgabe kam diesmal von Sabine Schiffner:

Erstelle ein Gedicht für ein Türchen von einem Adventskalender, den Du Deiner/m besten Freund:in schenken willst. Mach ihr/ihm also ein Geschenk aus süßen Worten. Schreibe über Deine Lieblingssüßigkeit, oder denk Dir doch einfach eine neue Süßigkeit aus, eine lustige, eklige, oder eine Zaubersüßigkeit.

 

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Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
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1 | Leonie Höckbert

Mehrfamilienhausfassade

 Später in der Nacht sind oft nur die Fenster der höheren Stockwerke noch hell. Einen Blick in die Fenster auf Höhe des Eingangs kann nur werfen, wer bereits nach Einbruch der Dunkelheit auf der Plastikbank am gegenüberliegenden Straßenrand Platz nimmt. Vielleicht wohnen unten eher ältere Leute, die die Treppen in den fünften Stock nicht mehr schaffen würden. Vielleicht lassen die Menschen unten die Lichter aus, damit Passanten nicht durch die dünnen Gardinen direkt mit neugierigen Blicken auf ihre Esstische springen können. Vielleicht wohnen auch nur zufällig weiter oben die Nachteulen, Schichtarbeiter, Schlaflosen und Rumtreiber. Links und rechts des Treppenhauses hat jede Wohnung drei Fenster, von denen eins immer zur Küche gehört. Nach neun brennt in den Küchenfenstern am seltensten Licht. Dafür hängen dort meistens keine Gardinen oder sie sind beiseitegeschoben. In einer Wohnung steht der Kühlschrank direkt am Fenster und seine Tür verdeckt einen guten Teil davon, wenn sie geöffnet wird. Sie wird oft geöffnet, vermutlich um immer wieder Kleinigkeiten rauszunehmen, in der Wohnung wohnen zwei oder drei Leute zusammen, Studierende vermutlich, manchmal kocht auch jemand, aber eher selten, und die anderen beiden Fenster scheinen nicht den Blick auf ein Wohnzimmer freizugeben, ihre Poster und Kleiderschränke wirken mit Betrachtungsabstand wie in Jugendzimmern, als hätten die Bewohnenden nur diese paar Quadratmeter für alle ihre Selbstausdrucksbedürfnisse.

Ein Fenster im zweiten Stock ist ein Kinderschlafzimmer, meistens ist das Licht aus, wenn die Dunkelheit kommt, unterbrochen nur von wenigen Minuten, in denen manchmal jemand das verschlafene Kind zum Fenster trägt, wahrscheinlich in der Absicht, es wieder in den Schlaf zu wiegen, aus dem es von rastlosen Träumen gerissen wurde. Die Elterngesichter, deren Blick ohne Ankerpunkt auf die gegenüberliegende Fassade trifft, wirken immer erschöpft, aber nie angestrengt. Valerie bewundert das, wenn sie die Beiden zufällig sieht. Meistens geht auch deren Wohnzimmerlicht lange vor vielen anderen des Hauses aus. Zwischen Valeries Füßen sammeln sich ihre ausgetretenen Zigaretten. Die hässlichen städtischen Bänke aus Plastik, das immer an irgendeiner Stelle von Jugendlichen mit dem Feuerzeug angebrannt und schmelzdeformiert wurde, haben den Vorteil, auch nachts nicht besonders kalt zu werden, anders als schickere Bänke aus Metall.

Eins weiter oben, auf der anderen Treppenhausseite gibt es noch andere Eltern. Valerie kennt ihre Gesichter nicht so gut, die Kinder sind schon älter und werden nicht mehr ans Fenster getragen. Sie kennt dafür ihre Stimmen, die hört man im Treppenhaus oft streiten, manchmal mit den Kindern, meistens miteinander, sie schreien sich mit der Rückhaltlosigkeit längst aufgegebener Schamgrenzen an, sie weichen den Blicken der Nachbarn im Treppenhaus nicht aus, Peinlichkeit ist lange zurückgelassen hinter ihrer Wut aufeinander. Durch die Wände, vom Echo des Treppenhauses verzerrt wie eine Megafondurchsage unter Wasser, ist nie auszumachen, worüber sie streiten, nur die erdrückende Atmosphäre des Nicht-Ausweichenkönnens schwappt unter der Wohnungstür hindurch. Manchmal weint eins der Kinder schrill und Valerie denkt, dass man sich einmischen muss, tut es aber nie. Die Wohnung der Familie sieht schon von außen zu voll aus, in den Fenstern hängen Dekoelemente, Traumfänger, auf den Scheiben kleben Windowcolor-Bilder, drinnen stapeln sich Kisten auf den Schränken, um den letzten Raum unter der Decke noch auszunutzen. Valerie stellt sich vor, wenn man die Fenster eines Raums öffnete, würde alles rauspurzeln, was drinnen zu viel ist: die ganzen Sachen, für die kein Platz ist und die ganzen Bedürfnisse, für die kein Raum bleibt. Sie fragt sich, ob dort deswegen auch im Sommer die Fenster immer geschlossen sein werden. Und hofft zugleich, hier nicht mehr zu sitzen, wenn der Winter vorbeigeht.

Das Fenster, das im ersten Stock im Schnitt am längsten hell bleibt, liegt in der Wohnung rechts von der Eingangstür. Dort lebt ein älterer Mann allein. Vielleicht hat er nachts Schwierigkeiten zu schlafen oder er ist einfach gerne lange wach. Sein Fernseher flackert heller auf die Gehwegplatten als das mürbe Licht seiner einzigen Energiesparlampe. Im Fenster sitzt manchmal eine Katze und starrt rüber zu Valerie, sie schauen einander in die Augen und Valerie kann nicht lesen, ob ihr Blick sagt: Ich verstehe dich, ich bewahre dein einsames Geheimnis – oder ob er sagt: Ich werde dich verraten, eines Tages werde ich dich im Treppenhaus verraten. Womöglich beobachtet die Katze sie auch nur aus Langeweile oder weil es ihr sympathisch ist, dass Valerie raucht, der alte Mann vor dem Fernseher raucht auch, Valerie hat ihn tagsüber schon mit dem Aschenbecher am offenen Fenster stehen sehen und nachts verdichten sich manchmal kleine Rauchschwaden in der Ecke, in der der Mann vor dem Fernseher zu sitzen scheint. Wenn die Katze nicht auf der Fensterbank liegt, liegt sie sicher auf seinem Schoß und bildet eine schnurrende Barriere gegen die Einsamkeit, gegen die auch die bekannten Gesichter im Fernsehprogramm nicht immer ankommen können.

Wenn Valeries Hände nicht von der Winterkälte zu steifgefroren wären, würde sie sich gerne Notizen machen, wer wann wie lange wach bleibt, wer zuletzt das Licht löscht und was sie über die Menschen dieser Wohnungen und deren Tageslichtleben weiß. Sie nährt den Verdacht, dass die traurigeren Geschichten hinter den schlaflosesten Fensterlidern wohnen. Aber vielleicht sind das auch nur die Räume, in die sie am liebsten schaut, die Leben, in die sie sich am liebsten projiziert aus ihrem Schutzraum aus Halbdunkelheit heraus. Heute wird sie nicht erfahren, wer zuletzt das Licht ausmacht, denn fast unterm Dach leuchtet ein Fenster auf, das sie nach drinnen winkt. Im vierten Stock hat Alexanders Wecker geklingelt und obwohl sie das von hier unten nicht sehen kann, weiß Valerie, dass er eben seine Arbeitskleidung für die Frühschicht zusammensucht. Sie zieht an ihrer letzten Zigarette, drückt sie zwischen den anderen aus und sammelt alle Stummel des Abends in der hohlen Hand, um sie in die Hausmülltonne zu werfen, bevor sie reingeht. Drinnen muss sie im Treppenhaus noch eine Weile stehenbleiben und Hände und Gesicht aufwärmen, damit Alexander nicht fragt, der verschlafene Alexander, der damit rechnet, dass sie wie immer um diese Zeit von der Spätschicht nach Hause kommt, der keine Ahnung hat, dass Valerie den Job gekündigt hat. Ein Teil von ihr bleibt draußen auf der Bank sitzen, schaut sich selbst in die Fenster und weiß schon genau, wie ihre Geschichte ausgehen wird.

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Leonie Höckbert

.https://www.mosaikzeitschrift.at/tag/Sigune-Schnabel

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freiVERS | Julo Drescowitz

5,0

Du liegst
neben mir
im Bett
und du
fährst dir
auf diese
Art durch die
Haare
wie du es
immer tust,
und deine Arme
sind wie
Äste
und deine
Hände
würde ich unter
Millionen
erkennen;
und ich spüre die
Hitze und
Nässe
unter unserer
Bettdecke
und wir trinken
dieses
Billigbier
aus Dosen
es heißt:
5,0
und die Dosen
sind eiskalt
mit
Kondenstropfen
am Blech;
und wir trinken
das kalte
Bier
und du
fährst dir
durch die
Haare
und
sagst
die eine
Hälfte
deiner Familie
tränke,
weil sie die
Welt
nicht verstehen
würde,
und die andere
Hälfte
deiner Familie
sei tot
weil sie
sie
irgendwann
von Grund auf
verstanden
hätte;
und dann
schweigen wir
einen Moment,
und es ist
dunkel
in meinem
Zimmer
und kühle
Herbstluft
zieht durchs
Fenster
herein
und ich rieche
unsere
Haut
deine
Haare,
und du
trinkst und
lachst und
sagst
du würdest
einfach
nicht
wissen
wohin
du
gehörst

.

Julo Drescowitz

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freiTEXT | Chris Lauer

Der Gebetsbaum

Wenn Marion in ihrem Schlafzimmer steht, sieht sie auf einen Innenhof hinaus. Der Innenhof gehört zu einem anderen Haus, oder vielleicht auch zu keinem, das weiß Marion nicht. Der Boden ist uneben und die Mauern krumm; Marion stellt sich den Innenhof immer vor wie eine Zahnkrone, die man auf den Kopf gedreht und zwischen die Häuser gesteckt hat, damit der herunterhängende Himmel nicht blank da steht. Irgendwann hat ein Baum angefangen, in der Mitte des Innenhofs zu wachsen. Im Frühling ist dieser Baum ein Ostereierbaum, im Sommer ein Papiergirlanden- oder Weißewäschebaum, im Winter ein Lichterkettenbaum, nur im Herbst hat der Baum, der seine Blätter verliert, keinen Namen. Um dem Baum auch im Herbst einen Namen zu geben, haben Menschen begonnen, Gebete an den Baum zu hängen. Die Gebete flattern als bunte Stoffstreifen im Wind. Marion hört sie bei geschlossenem Fenster, wenn sie in ihrem Schlafzimmer steht, mit hellen Stimmen durcheinander reden. Ein Wort hat Marion noch nicht verstanden. Sie sieht nur, dass je leichter der Baum durch das Verlieren seiner Blätter wird, desto schwerer wird er an Gebeten. Beim ersten Schnee ist der Baum dann so schwer an Gebeten, dass er gekrümmt da steht und kein Vogel mehr Platz hat, um sich auf einen seiner Äste zu setzen. Dann kommt jemand vorbei und sammelt die Gebete ein. Manchmal ist es eine Frau und manchmal ein Mann. Die Frau oder der Mann knoten jedes Gebet einzeln wieder auf und verstauen es in einer Tasche. Für die Gebete, die an den oberen Ästen hängen, müssen sie oder er auf eine Leiter steigen und mit ausgestreckten Armen das Gebet vom Ast entfernen. Nie aber wird dabei ein Gebet zerschnitten. Marion fragt sich, wohin die Gebete verschwinden, was eigentlich mit den Gebeten passiert, die gesprochen werden, wenn der Baum kein Gebetsbaum, sondern ein Ostereier-, Papiergirlanden-, Weißewäsche- oder Lichterkettenbaum ist. Vielleicht fühlen diese Gebete nicht den Wind, der sie immerzu in Bewegung hält, vielleicht sind sie nicht bunt, vielleicht können sie nicht über die Haut gleiten, wie Stoff über die Haut gleitet, und vielleicht sprechen sie nicht mit hellen Stimmen durcheinander. Vor allem müssen diese Gebete einfachere sein, denkt Marion, denn sie brauchen nicht eine Zeit lang angebunden zu werden, so wie man einen störrischen Hund anbindet, bevor man ihn frei laufen lassen kann.

Gerade hängt der Baum wieder voll mit Gebeten und Marion entscheidet sich in diesem Augenblick dazu, zwei weitere anzubringen. Eins für den Baum, denn irgendwann ist Marion klar geworden, dass der Baum zwar die Gebete vieler anderer Leben trägt, er aber nie ein eigenes wird hinzufügen können. Das andere Gebet möchte sie für sich selbst dort anknoten. Marion ist sich unsicher, ob es gegen die Regeln des Gebetsbaums verstößt, aber für ihre Gebete möchte sie keine Stoffstreifen benutzen, sondern ihre beiden Schnürsenkel. Die Schnürsenkel sind mintgrün und viel länger als die anderen Stoffstücke, die an dem Baum hängen, obschon ihre Gebete kurz sind. Da Marion ihre Schnürsenkel nicht entzweischneiden möchte, entschließt sie sich dazu, mit ihnen Schleifen zu binden. Warum Marion keine Stoffstreifen, sondern ihre Schnürsenkel zum Befestigen der Gebete benutzt, hat einen einfachen Grund: Marion trägt den Kampf, den sie mit sich ausficht, in den Beinen. Zunächst hat ihr das erlaubt, ihren Alltag zu ordnen. Einmal morgens und einmal abends, dann dreimal, viermal, fünfmal am Tag. Wenn es Marion nicht gut ging, weil sie essen wollte, ihr dieser Wunsch aber große Angst machte, meldeten sich ihre Beine. Ihr Beine sagten ihr, dass sie gerne laufen würden. Und Marion hielt das für eine gute Idee, denn anstatt dass sie mit sich selbst zusammenarbeitete, ließ sie einfach ihre Beine zusammenarbeiten. Das ging am besten, wenn die Beine ihre Aufgabe ganz schnell und ohne Pause ausführten. Dann bekam Marion das Gefühl, dass überhaupt kein Kampf mehr da war; dass so wie ihre Beine zwei und doch eins waren, auch sie zwei und doch eins war. So lief Marion eine Runde nach der anderen im Park. Sie lief so viele Runden im Park, dass die Muskeln in ihren Beinen anschwollen und mehr Platz in ihren Ober- und Unterschenkeln da war. Sie konnten jetzt nicht mehr nur Marions Kampf, sondern auch ihren Verstand aufnehmen. Dann musste Marion gar nicht mehr nachdenken, wo sie abzubiegen und welche Strecke sie zu laufen hatte, das ging dann ganz von alleine. Aber nach langer Zeit merkte Marion, dass ihr Alltag gar nicht mehr dadurch geordnet wurde, dass sie Runden lief, und dass der Hunger nicht dadurch verschwand. Trotzdem konnte Marion gar nicht mehr aufhören mit laufen. Sie lief Schuhpaar um Schuhpaar kaputt, bis sie plötzlich fürchtete, auch sich selbst kaputtzulaufen. Deswegen fädelt Marion gerade ihre Schnürsenkel aus und geht nach draußen. Eine kalte Brise wirbelt Blätter auf; die Gebete schnalzen laut mit der Zunge, sonst bleiben sie still. Marion schaut in den Himmel hinauf. Er hängt durch, als ob jemand sich in ihn wie in eine Hängematte gelegt hätte. Da sagt sie sich: Diese Nacht wird es Schnee geben. Sie bindet zuerst den ersten Schnürsenkel fest, dann den anderen. Sie braucht gar nicht lange dafür. Dann geht sie zurück ins Haus. In der Nacht steht sie in ihrem Schlafzimmer und schaut hinaus. Sie fragt sich, wie viel Schnee es braucht, um den ganzen Innenhof einzuschneien. Vielleicht so viel, wie es Gebete braucht, um eine Hängematte zu füllen, denkt sie. Dann schläft sie ein. Als sie am nächsten Morgen erwacht, sind die Rollladen noch hochgezogen. Es hat geschneit. Mintgrün.

 

Chris Lauer

 

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freiVERS | Claudia Dvoracek-Iby

momentan

momentan
brauche ich nur
die paar Momente
um auf meine weiße Wand
zu starren

und die Momente davor
um auf dich
um auf dich
um auf dich
im Sonnenlicht
zu schauen

mehr braucht es nicht
um deinen Schatten
um deinen Schatten
um deinen Schatten
auf meine weiße Wand
zu bannen

mehr brauche ich nicht
momentan

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Claudia Dvoracek-Iby

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freiTEXT | Leonie Höckbert

Junimond

Janni träumt von der perfekten Trennung. Sie träumt davon, dass alles ganz unkompliziert sein kann. Wie in Filmen und Serien. Wo Paare, die jahrelang zusammen waren, sich einfach eines Abends an den Küchentisch setzen können und sagen können: Das war’s. Und dann geht einer von beiden und die andere bleibt am Küchentisch zurück und gießt sich ein Glas Wein ein und trinkt es nachdenklich, aber nicht unbedingt todtraurig, aus. In manchen Filmen, besonders in französischen, findet Janni, besprechen die in Trennung befindlichen Paare sogar ganz am Ende noch ganz Wesentliches, sagen dem Anderen nochmal ein paar ernste Worte über die Persönlichkeit oder das Verhalten oder das Leben und Beziehungen im Allgemeinen und dann entsteht daraus gar kein Streit oder tiefe Verletzung und Beleidigung, sondern ein wertschätzender Austausch, an dessen Ende sich die Trennung wie der ganz richtige Schritt für beide anfühlt. So soll das für Janni sein. Ohne Tränen. Wenigstens, bis die Szene im Film vorbei ist. Sie sehnt sich nach dem Moment nüchterner Klarheit, in dem beide Parteien zugleich erkennen: Aus uns wird nichts mehr. Wir sollten nachts kein Bett mehr teilen. Wir sollten morgens keinen Kaffee mehr füreinander machen. Die Formulierung eine Szene machen erscheint Janni sinnlos. Eine Szene nach ihren Vorstellungen wäre gerade das Gegenteil von dem, was gemeint ist.
Ihre Trennungsgeschichte hat in der fünften Klasse angefangen und ihre Standards gleich zu Beginn hoch angesetzt. Jonas aus der Parallelklasse hatte ihr in der großen Pause ein KitKat Chunky White gekauft. In der nächsten großen Pause hatten sie Händchen gehalten und sich nach der Schule darauf geeinigt, miteinander zu gehen. Ungefähr drei Wochen lang hatten sie Händchen gehalten und Schokoriegel geteilt, bis Jonas nach der Schule sagte, er wolle nicht mehr zusammen sein. Seine Freunde fänden, sie sollten sich küssen, aber er habe keine Lust da drauf. Janni hatte auch eigentlich keine Lust da drauf und genug Taschengeld, um sich selbst KitKat zu kaufen. Sie sagte okay, wir machen Schluss, und Jonas rannte zu seinen Freunden und mit ihnen zum Bus. Statt Enttäuschung hatte Janni eine gewisse Erleichterung gefühlt.
Eine Beziehung überhaupt anzufangen, ist die entscheidende Voraussetzung für eine gelingende Trennung, deswegen sucht Janni immer wieder auf Dating-Plattformen nach Männern, von denen sie sich trennen kann. Jannis erste Beziehung im Studium ging zwei Jahre lang und als sie sich trennte, war es furchtbar, voller Tränen und Vorwürfe, Gemeinheiten und Selbsterniedrigung. Danach nahm sie sich vor, zu üben.
Sie betrachtet sich selbst auch als eine Art Trainingseinheit für ihre Kurzzeitpartner. Wie ein Kurs im Fitnessstudio oder bei der Volkshochschule. Wer mit ihr fertig ist, oder besser – mit wem sie fertig ist, der kann sich als weitergebildet betrachten und ist dementsprechend gewappnet für die nächste Beziehung. Dass eine Beziehung bestenfalls nicht vom Ende her anfängt, kommt Janni nicht in den Sinn. Heiraten ist für sie nur der Auftakt zu einer Trennung mit mehr Schritten.
Sie probiert verschiedene Methoden aus. Eine Trennung über Textnachricht kommt ihr zwar nicht so moralisch verworfen vor wie immer behauptet, ist aber auch nur die Fälschung des Gefühls, nach dem sie sucht. Sie hat es probiert und obwohl das für sie ruhig und überlegt abgelaufen ist, fehlt ihr die Perspektive des Verlassenen, der natürlich trotzdem völlig verzweifelt sein könnte. Die Trennung muss im Gespräch passieren. Am besten spontan, nicht von langer Hand geplant. Aus einem Impuls heraus, der den Partner auch ganz plötzlich erkennen lässt, dass sie wirklich nicht zusammenpassen. In einem nachlässig im Schlafzimmer versteckten Notizbuch dokumentiert Janni ihre Versuche. Es liegen immer einige Monate oder wenigstens Wochen zwischen den einzelnen Einträgen, um überhaupt einen gewissen Spannungsaufbau für die Trennungsübung sicherstellen zu können. Trotzdem sind zwei Versuche mit der etwas peinlichen Notiz versehen, dass die Internetbekanntschaft, der Janni die Trennung unterbreitete, bei diesem Anlass überhaupt das erste Mal davon gehört hat, dass sie zusammen gewesen wären.
In inzwischen einigen aktiven Jahren Forschung und Proben brachte sie es auf ungefähr zwölf ernstzunehmende Datensätze. Davon war genau eine Trennung auch nur in die Nähe einer soliden Filmszene gekommen. Da waren sie zu zweit nach sechs Monaten regelmäßiger Treffen in einem gerade aufblühenden Sommer in den Park gegangen und hatten so lange schweigend auf einer Parkbank gesessen, dass unumstößlich klar geworden war, dass alle weiteren Treffen drückende Stille wären, sie hatten sich nach sechs Monaten einfach nichts Neues mehr zu sagen. Er sagte, es wäre nicht unangenehm, mit ihr zu schweigen, aber er würde dabei auch nichts Besonderes fühlen. Janni bestätigte. Sie nahmen sich an der Hand und schwiegen noch, bis es dämmerte. Danke, dass du es angesprochen hast, sagte Janni, bevor sie in verschiedene Richtungen aufbrachen. Danke, dass du keine Szene gemacht hast, sagte der Mann, der in sechs Monaten anscheinend gar nichts über Janni gelernt hatte.
Einer ihrer Partner hat gefleht, sie solle ihn nicht verlassen. Drei haben sich von ihr getrennt, bevor sie ihre letzten Worte gut sortiert hatte. Zwei haben sie nach einigen Monaten geghosted und so ein auf andere Art besonders unbefriedigendes Ende geschaffen. Einem Mann hat sie zuvor von ihrer Sehnsucht nach der perfekten Trennung erzählt und als sie es dann versucht hat, hat er sich an das Gespräch erinnert und ist zynisch geworden. Die Rahmenbedingungen stimmen oft nicht, die Orte sind falsch oder die Dinge, die gesagt werden, unpassend; das Gefühl von entromantisierender Ernüchterung ergibt sich nicht, wird oft überschattet von Jannis Erleichterung, eine ihr längst unbequem gewordene Übungsbeziehung endlich ihrem Zweck zuführen zu können. Viel zu oft wurde geweint. Das ist besonders falsch, dieser Schmerzausdruck, der eine unmittelbare Schuldzuweisung enthält. Wer sich gegenseitig nichts vorhält, sollte nicht heulen, findet Janni.
Auf der Arbeit klickt sie sich den ganzen Tag durch Excel-Tabellen. Neben ihr auf dem Schreibtisch liegt ihr Handy, stummgeschaltet, und leuchtet immer wieder auf, wenn sie eine Nachricht von Tinder oder Bumble bekommt. In der Phase nach einer Trennung wirft sie Netze in alle Richtungen aus, unterhält vier, fünf Konversationen parallel. Erst seit ein paar Wochen arbeitet sie in der Datenanalyse, es ist ihr erster Vollzeitjob, sie lernt viel für ihre eigenen Daten und notiert sich oft Analyseverfahren für den Privatgebrauch. Der Job ist ruhig genug, um nebenher fast identische Nachrichten an mehrere potentielle Trennungsübungspartner zu schicken.
Als der Chef sie Montag morgens ins Büro ruft, ist es das erste Mal, dass Janni den Raum wieder betritt seit ihrem Bewerbungsgespräch. Der Chef bietet ihr einen Kaffee an und einen der Stühle am Schreibtisch, keinen der gemütlichen Sessel in der Ecke. Als der Kaffee vor ihr steht, vor ihm nur ein Espresso, klappt er seinen Laptop zu und sagt, er wolle nicht drumherum reden. Ob sie sich bei ihnen in der Firma wohlfühle? Janni nickte, etwas überrascht von der Frage. „Wir haben nicht den Eindruck“, sagt der Chef und nippt am Espresso. „Sie bringen sich wenig ein und scheinen Schwierigkeiten mit dem Teamgeist unserer Einrichtung zu haben.“ Wer ist eigentlich „wir“, denkt Janni, während sie nichts sagt. „Leider muss ich ihnen mitteilen, dass wir aus Gründen der Wirtschaftlichkeit Stellen in ihrem Arbeitsbereich einsparen müssen. Das bedeutet, dass wir uns von Ihnen verabschieden müssen, so leid es mir tut.“ Er trinkt seinen Espresso in einem Zug leer. „Können Sie das nachvollziehen?“ „Ja“, sagt Janni, obwohl sie das eigentlich überhaupt nicht nachvollziehen kann. „Sie sind noch in der Probezeit. Daher gilt ihre Kündigung fristlos. Ich möchte Sie bitten, ihren Platz aufzuräumen.“ Er steht auf und reicht ihr die Hand. „Und ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute auf ihrem weiteren beruflichen Weg.“
Janni lässt ihren Kaffee unberührt stehen und geht zurück zu ihrem Platz, wo ihre letzte Aufgabe noch auf dem Bildschirm offen ist. Es dauert nur wenige Minuten, ihr Handy, ihren Thermosbecher und ihre wenigen anderen privaten Gegenstände in ihre Tasche zu packen und alle privaten Daten vom Rechner zu löschen. Ihre Kollegen scheinen in Mittagspause zu sein, jedenfalls nickt Janni auf dem Weg raus nur der Empfangsdame zu, die als einzige auf ihrem Platz sitzt. Es ist alles ganz unkompliziert. Die perfekte Trennung, denkt sie anerkennend. Und wartet mit den Tränen, bis sie auf der Straße steht.

 

Leonie Höckbert

 

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freiVERS | Stefanie Adamitz

flugversuche. eine utopie.

in jeder wohnung wackeln blätterschatten
rauschen blätterzucken
zappeln kleine schattenkinder
sprühen chancen, setzen samen
wuchern üppig feuchte zonen
decken sanft mit licht
was noch nicht

in jeder wohnung wohnt ein komposthaufen
nahrhaft prall und weit und breit
gefüllt mit euren sanften blicken
und tiere atmen schlafes wind
der eine trägt. wohin?

in jeder wohnung wächst ein pflanzenkeim
keimt jeden tag ein neues sein
kein reim,
eine braucht nur sein.
sein weichstes und innerstes
ein pelz aus dir

in jeder wohnung traut eine sich jetzt
ICH zu sagen
das ist deine stimme:
ich bin in jeder wohnung
ich bin ein wort, das dir gefällt
das du sagst und dann im hall
schnallst du seine flügel an

aus jeder wohnung starten flugversuche
wachsen schanzen wacklig in den wind
jedes haus ein igel mit gespreizten stacheln
worte schallen, treiben auf
flieg hoch hinaus und
nimm mich mit

ich bin ein wort im zappelnden wind
im blätternen rauschen
bin ich schatten und licht
bin ich keim und kompost
bin ich zappeln und wind

in jeder wohnung wackel ich blätterschatten
rausche zuckend
und zappel kleine schattenkinder
bin der pelz, der um dich liegt
und dein schatten,
vor dem du dich erschreckst
und lachst

.

Stefanie Adamitz

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freiTEXT | Sonja Kittel

Approximation

Sie sitzt mit angezogenen Knien auf einem Stuhl und wartet. Der Hund hat sich am Boden eingerollt und schließt sich dem Warten an. Zwei Feuerkäfer krabbeln an seiner Schnauze vorbei. Einen Moment bleibt sie noch sitzen, hofft, dass doch ein Einfall kommt, ein Anfang. Stattdessen tippt sie etwas in die Suchmaschine, verliert sich in den Nachrichten des Tages. Bald klappt sie den Laptop zu, geht ins Haus und beginnt die Abendroutine. Nicht verhasst, nicht einmal unangenehm, nur Routine, die sie ein weiteres Mal nicht durchbrechen kann.

Markus lief die Treppe hinunter und raus aus der Tür. Er drehte sich nicht um, blieb nicht stehen, wurde nicht langsamer. Er hatte sich viel vorgenommen für diesen Abend. Schon am Anfang der Woche hatte er begonnen sich vorzustellen, wie es ablaufen würde. War Dialoge in seinem Kopf durchgegangen und Musik, die sie hören würden, hatte die Begrüßung in verschiedenen Varianten durchgespielt. Ein Händedruck oder eine Umarmung, die ein bisschen zu lang dauert.

Die ersten Sätze sind geschafft. Der erste Absatz fertig. Plötzlich ist er aus ihrem Kopf gepurzelt. Weitere fügen sich unaufgefordert hinzu. Sie hat eine vage Ahnung, in welche Richtung es gehen könnte. Es fühlt sich nicht euphorisierend an. Es ist kein Flow. Viel mehr ermahnt sie das Trommeln und Schnaufen der Waschmaschine, dass sie bald geleert werden will.

Markus hatte Robert vor zwanzig Jahren kennengelernt. In einer Vorlesung über „Approximation“. Sie hatten begonnen sich kleine Zahlenrätsel zu stellen. Markus hatte das Papierkügelchen-hin-und-her-schieben an seine Schulzeit erinnert und die Vorlesung war fast zu schnell vorbei gewesen. Sie hatten sich in die Mensa gesetzt und gemeinsam Mittag gegessen – Kohlrabicremesuppe, Lasagne, Erdbeerkuchen – gefolgt von stundenlangem Austausch über gute und schlechte Entscheidungen im Leben. Dieser Tag war der Anfang einer Freundschaft gewesen, die sie durch das Mathematikstudium trug.

Fast eine Woche hat sie nichts geschrieben. Jetzt legt sie dem Hund das Geschirr an und geht mit ihm raus. Durch den Wald, an der Kletterwand vorbei, die heute einsam da steht, und weiter bis zur kleinen Kapelle. Dort setzt sie sich auf eine Bank. Der Hund bleibt stehen und hechelt. Die Schwarzkiefern knacksen und krachen unter der Hitze des Sommertags. Sie wollte immer schreiben. Es ist das, was ihr am meisten Spaß macht. Es ist das eine Kontinuum, das sich durch ihr Leben zieht. Sie zwingt sich, an den Text zu denken.

Sie wohnten zusammen, sie radelten zusammen, sie reisten gemeinsam nach Andalusien und wanderten durch die Sierra Nevada. Sie betranken sich am Ende jeder missglückten Beziehung und stießen auf jede neue Liebe an. Sie gingen auf Tocotronic-Konzerte, brüllten „Hi Freaks“ in die Nacht hinaus und dann war plötzlich alles vorbei. Der Abschluss des Studiums riss ihre Welt auseinander und teilte sie in zwei neue, deren Umlaufbahnen einander nicht tangierten. Robert zog nach Zürich, wo er als Doktorand an der Technischen Hochschule forschte. Markus entschied sich fürs Lehrerdasein, lange Sommerferien und geregelte Tage. Am Anfang telefonierten sie noch ab und zu, dann begann die Verbindung immer loser zu werden, bis sie irgendwann riss.

Sie hat ihr Notizbuch herausgenommen und schreibt schnell ihre Gedanken auf. Lange waren die Seiten leer geblieben. Sie jetzt mit Buchstaben, Worten, Sätzen zu füllen macht sie glücklich. Sie streichelt dem Hund über den Kopf, steckt das Büchlein ein und geht weiter. Ein leichter Wind kommt auf. Die Luft knistert. Der Hund beginnt zu zittern. Er spürt das nahende Gewitter. Erst im Alter hat er begonnen Angst davor zu haben. Heute dreht er hechelnd und zitternd seine Runden, wenn der erste Donner grollt. Sie geht schneller, läuft schon fast. Als sie das Gartentor öffnet, landen die ersten Regentropfen. Sie setzt sich auf den Teppich und krault den Hund. Sie klappt den Laptop auf und schreibt.

Acht Jahre hatten sie nichts voneinander gehört. Dann war da diese Feier. Das Geburtstagsfest einer gemeinsamen Freundin. Markus wollte gar nicht hingehen, hatte sich aber nach zwei einsamen Bier auf seinem Balkon doch einen Ruck gegeben. Als er den Garten des Heurigen betrat, berührte ihn die Szenerie. Bunte Lampions erhellten die gerade eintreffende Nacht. Die Gäste saßen dicht nebeneinander auf den Bänken, Weingläser, Zigaretten, Gesten zwischen den Händen. Es spielte ein Lied, das er einmal geliebt hatte, und er quetschte sich zwischen die feiernden Körper und ließ sich mitreißen in eine längst vergessen geglaubte Vergangenheit. Dann sah er ihn. Robert saß zwischen zwei ehemaligen Kommilitoninnen und lachte. Ein Lachen, das er so oft gehört hatte, dass es ihm zu einer zweiten Heimat geworden war. Jetzt verursachte es ein brennendes Ziehen zwischen seinen Rippen.

Sein erster Impuls war, sich zu ducken, zwischen den Tischen und Bänken hindurch zu krabbeln, unbemerkt zu entkommen. Doch schon hatte Robert ihn entdeckt, stand auf und ging zu ihm rüber. Er nahm ihn in den Arm, zog ihn neben sich auf die Bank. Er war vor ein paar Tagen nach Wien gekommen. Hatte gehofft, Markus hier zu treffen. Die anfängliche Befangenheit wich schnell dem intensiven Gespräch, das sie von Anfang an verbunden hatte. Die Bänke leerten sich, doch Markus bemerkte es nicht, weil er fokussiert war auf einen Menschen, den er so lange nicht mehr gesehen hatte und der ihm trotzdem sofort nah war, näher als zuvor.

Sie öffnet ihr E-Mail-Programm und ordnet Mails in verschiedene To-Do-Ordner. Neben sich sieht sie den Stapel Briefe liegen, der darauf wartet bearbeitet zu werden. Sie öffnet einen nach dem anderen. Der Hund legt sich brummend auf die Seite und streckt sich. Als sie nichts mehr davon abhalten kann, wendet sie sich wieder dem Bildschirm zu und schreibt.

Markus und Robert redeten die ganze Nacht. Sie schlossen nahtlos an das an, was sie gehabt hatten. Gute und schlechte Entscheidungen in ihrem Leben, Zahlenrätsel, „Hi Freaks“. Als sie auseinandergingen, war trotzdem alles anders. Markus konnte nicht aufhören, an Robert zu denken. Alles in ihm zog auseinander. Er wollte zurück in diese Nacht, zurück an die Seite von Robert, zurück in das Gespräch.

Markus lag auf der Couch und starrte sein Handy an. Wartete auf eine Nachricht, verzehrte sich nach einer Nachricht. Doch es kam nichts. Er schaltete den Fernseher an. Zappte von Programm zu Programm. Schaute wieder aufs Handy. Nichts. Er tippte ein paar Worte in sein Telefon, löschte sie wieder. Er schloss die Augen, versuchte, zu verstehen, was passiert war. Dann schrieb er doch eine Nachricht: „Hey, war schön gestern. Wie lang bist du noch da?“ Erst ein Häkchen, dann zwei, dann blau. Keine Antwort. Markus wurde wütend. Er schaltete das Handy aus und ging unruhig in seiner Wohnung hin und her. Aus seinem Verlangen wurde Zorn. Er hasste Robert. Er hasste ihn dafür, dass er damals weggegangen war. Er hasste seine Forschungsambitionen, sein Fernweh, sein Lachen.

Als er abends das Handy wieder einschaltete, war die Antwort da. „Ja, war schön. Bin noch bis Ende der Woche da. Komm doch Freitag vorbei. Ich koche was.“ Die Wut war so schnell verschwunden, wie sie gekommen war. Seine Finger kribbelten, sein Gaumen kitzelte. Markus biss sich auf die Zunge, um dem ein Ende zu setzen, das er sich nicht erklären wollte. Er zwang sich dazu, nicht gleich zurückzuschreiben. Fünf Minuten später machte er es doch. Er käme gerne. Er freue sich. Er setzte sich an den kleinen Tisch auf seinem Balkon, rauchte eine Zigarette und begann sich vorzustellen, wie es ablaufen würde.

Der Hund kratzt an der Tür. Sie lässt ihn in den Garten, setzt sich gleich wieder an ihren Text. Die Push-Nachrichten auf ihrem Handy hat sie deaktiviert, später das Handy ganz abgeschaltet. Sie tut es endlich. Sie schreibt einen Text, sie hält eine Deadline ein. Sie weiß jetzt, dass sie es schaffen wird.

Die Tage vergingen zu langsam und viel zu schnell. Am Freitag machte Markus dann alles so, wie er es schon so viele Male in seinem Kopf durchgegangen war. Nach der Arbeit eine Runde laufen, duschen, das hellblaue Hemd mit Rundkragen. Ein Glas Wein für die Nerven. Er setzte sich in die Straßenbahn, lehnte den Kopf an die Scheibe und betrachtete die Menschen draußen. Bei Robert angekommen klingelte er, öffnete die Tür, als das Surren erklang, und stieg die Treppen hinauf. Mit jeder Stufe schlug sein Herz schneller.

Die Tür stand offen. Robert rief ihm aus der Küche zu, er solle es sich schon mal bequem machen. Das Essen – Kohlrabicremesuppe, Lasagne, Erdbeerkuchen – begleiteten Gespräche über Roberts Forschungsprojekte und Markus‘ Alltag als Lehrer. Markus bat Robert um ein bisschen Musik. Er schaltete das Radio ein. Sie gingen auf den Balkon eine rauchen, schauten auf die gegenüberliegende Hauswand, konnten das Gespräch zum ersten Mal nicht am Laufen halten. Markus ging ins Badezimmer und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Er schaute sein Spiegelbild an und versuchte, ihm und sich Mut zu machen.

Als er aus dem Badezimmer trat, stand Robert vor ihm. Er hatte Markus Jacke in der Hand. Er wolle ihn nicht rausschmeißen, aber morgen müsse er früh raus. Der Rückflug nach Zürich, vorher das Apartment räumen. Markus nahm seine Jacke wie in Trance. Er zog seine Schuhe an, öffnete die Tür und stand schon auf dem Gang, als Robert ihn nochmal zurückzog. Einen kurzen Moment zögerten beide und schauten sich an. Dann drückten sie sich kurz. Schön war es gewesen, ihn wieder zu sehen, und er solle doch ab und zu etwas von sich hören lassen. Markus lief die Treppe hinunter und raus aus der Tür. Er drehte sich nicht um, blieb nicht stehen, wurde nicht langsamer.

Sie klappt den Laptop zu, es ist geschafft. Für heute hatte sie sich die Deadline gesetzt. Entweder du schreibst diese Geschichte fertig, oder du vergräbst deinen Traum in einem tiefen Loch und holst ihn nie wieder hervor. Am Abend wird sie ihren Geburtstag feiern. Sie hat viele Menschen eingeladen, einige davon hat sie schon lange Zeit nicht mehr gesehen. Als sie den Garten des Heurigen betritt, berührt sie die Szenerie. Bunte Lampions erhellen die gerade eintreffende Nacht.

 

Sonja Kittel

 

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freiVERS | Eline Menke

Warte nicht

bis die Tage wie Türen an
unsere Sprache schlagen.

Im Zugwind fällt mein
Wort ins Schloss.

Du hast die Fenster des
Schweigens geöffnet,

scheuchst Erinnerung wie
einen Dieb aus dem Haus.

Er lässt seine Beute
unter dem Birnbaum

fallen, ich lese sie mit
dem Fallobst auf.

.

Eline Menke

.

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freiTEXT | Susanne Schmalwieser

du kadaver wolltest zuckerbäcker werden

mein grosser vorsatz wäre
nicht wie eine verrückte dir zu verfallen
er ist schon immer gewesen nicht verrückt zu sein wie das blutgetriebene muttertier
einen anzug tragen und ein paar stunden lang vergessen dass die haut darunter sich ablöst dass ich ein reptil bin wenn man mich
(nur als solches behandelt)
als ein solches klassifizierbar macht
ich also zerlegbar bin in meine einzelteile du also zerlegbar bist in deine einzelteile
dass dort drüben sie dir gerade
vielleicht ja einen zahn ausschlagen oder das blut ausschlagen den schädelknochen anhand der zu erwartenden bruchlinien spalten ohne die friedliche sorgfalt des sezierbestecks und dass du schreist wie eine schlachtsau

wir sind verschiedener mütter oder bloss weil einmal ein paar menschen mit dem geodreick und der landkarte ein spiel überlegt haben jetzt durcheinander jetzt verschieden
meine heimat der abdruck eines whiskeyglases im atlas
deine ausgebrannt ein historienort ein zigarrenfleck
kein fensterglas mehr in den häusern die jetzt mit vielen dunklen augen starren wo sie kein blick mehr fasst

es ist die flugzeugstille und du mir wie in irgendeinem traum dahingerafft
oder vor mir ausgerollt wie strudelteig
irgendein gratis wlan erkenne ich wieder und in deiner wohnung ist mir alles fremd geblieben
ein stempel im reisepass ein paar digitalisate unserer polaroidbilder ein kochrezept das mir nie recht gelingen will
natürlich hat der vater recht behalten dass ich einen ganzen menschen nicht besitzen kann

kölsches schokolademuseum und die reisegruppen die sich mir in den bauch stossen
machete im glassturz
(interaktiver creative space)
als ob wir erleben um es auszustellen
oder als knochensammlung ausgestellt zu werden
grabbeigaben oder auf der flucht noch hastig
nach dem handy gegriffen, ein paar münzen und dem
hochzeitsfoto der grosseltern
historische einblicke eine multimedia
experience du hast noch versucht anzurufen
anzurufen als man dich analogisiert
(zu staub oder in alle deine pixel zerfallen)

ist ja normal dass ich dich noch etwas hin und her spüle wie mundwasser zu weit hineingerutscht zu spät dich auszuwürgen
heimlichmanöver
kein wunder dass mir oder wem du mehr gewesen bist schaudert vor dem leeren sarg dieser schreckensfantasie
und weil du erdnüsse nicht verträgst hab ich schon manchmal viel abstrakter gefürchtet dass du sterben musst

diese mayaschen 5 tage nach dem ende aller monate
sogar die zeit ist also erfunden worden
analytisch betrachtet gibt es nichts
bis auf das ende einer prophezeiung
aztekische schattengestalt auf rot, in der hand eine kakaofrucht vor saftigkeit beinahe berstend
historisch gesehen gibt es uns alle immer wieder
du kadaver wolltest zuckerbäcker werden
ich in der schokoladenfabrik gedenke deiner hülle in eine fahne gewickelt von ein paar engerlingen kompostiert vermutlich irgendwann
einer aussaat zugestreut, vielleicht einem weizenfeld,
vielleicht nach noch ein zwei metamorphosen einer zuckerrübe oder einer theobroma
(einem gott dich über dem nachtisch zu zermalmen)

ich will alles nur nicht ein letztes mal so tun als wäre es mir peinlich
wenn du mich mit der hand am oberarm nimmst und in eine richtung drängst bloss nicht überlegen müssen wann unser letzter streit und ob mein letztes wort an dich zu streng gewesen ist nicht jedes wort bereuen
das ich an dich verschwendet habe wo ich doch einfach hätte sagen
wie schön du mir bist oder schweigen können
ich stell mir deine tagträume vor
du hast eine liste gemacht mit wünschen für die kremierung

stell dir vor der himmel bräche später
und was du tätest mit einem letzten tag in deiner alten welt
stelle vor der himmel bräche nie

ein blechschiff voll augen mich in der trauer zu bestaunen
oder gaffend in diesem gefühlszwischenraum
der sich meistens auftut wenn du leben musst
oder noch leben darfst
und die jännerkälte in spitzen vektoren auf dich zufährt, die spitzen unters fleisch fährt
ein land vor dem ofen erdacht unter frostbeulen geschaffen worden;
als ob wir nicht nach dem minutenlangenkreisen auf der weltuhr
(einmal mit den körpern)
etwas neues zu erzählen vermögen

 

Susanne Schmalwieser

 

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