24 | Stefan Heyer

Ein Stück Seife

In die Socken hatte er den Zettel getan. Mühe sich gegeben. Viel Mühe. Die schönste Schrift. Mit Bleistift und Lineal Linien gezogen auf dem Blatt. Vorgeschrieben jeden Buchstaben. Jeden Schwung. Auch beim Pfarrer war gewesen. Zum Beichten. Wie jedes Jahr. Es war schwierig, ihn zu finden. Gerne wollte er einen Christbaum. Doch es war keiner aufzutreiben. Nicht für Geld, nicht im Tausch. Wie immer würde er an Weihnachten in die Kirche gehen, zum Gottesdienst. Auch ein altes Spielzeug wollte er dem Pfarrer geben, für andere Kinder. Doch fand kein geeignetes. Früher hatte sein Großvater immer besondere Süßigkeiten gebacken. Hatte eine eigene Bäckerei gehabt. Jetzt gab es diese Backstube nicht mehr. Aber Großvater buk hin und wieder, wenn er Mehl bekam, Brot im Keller. Dort hatte er jetzt einen kleinen Ofen, hatte ihn selbst gebaut. Aus Ziegel. Tat seinen Dienst. Aber es war schwierig an Mehl zu kommen. Weihnachten würde auch dies Jahr schön werden, ganz bestimmt. Wie jedes Jahr. Auf den Zettel hatte er nicht viel geschrieben. Ein Stück Seife hat er sich gewünscht, sein Vater machte sie immer noch, auch wenn Olivenöl knapp geworden war, Lorbeer war noch seltener. Ein Stück Seife. Er träumte von einem Bad. Das Haus stand schon lang nicht mehr. Sie wohnten jetzt bei den Großeltern, die hatten mehr Glück gehabt. Bombenangriffe. Auch die Kirche hat es getroffen. Eingestürzt. Nur noch Schutt und Asche. Der Pfarrer lebt noch. Irgendwo würde die Heilige Nacht gefeiert werden. Freiwillig würde seine Familie die Stadt nicht verlassen. Nachts hatte er oft Angst. Schüsse. Raketen. Bomben. Da verkroch er sich ganz tief in sein Bett. Seine Großmutter erzählte dann immer von früher. Aleppo war eine schöne Stadt gewesen. Früher. Eine sehr alte Stadt. 4000 Jahre alt. Viele Menschen haben hier gewohnt, früher, vor dem Krieg. Seine ganzen Freunde sind geflohen. Oder tot. Oft hat er Hunger. Er wusste nicht, ob er die Toten beneiden sollte. Er hat sich ein Stück Seife gewünscht. Weihnachten würde schön werden. Bestimmt. Ganz bestimmt. Und Schnee hatte er sich gewünscht. Schnee für Aleppo. Dann wäre die Stadt wieder schön. Aleppo als Schneelandschaft, kein Staub mehr, keine Steinwüste. Alles wäre ruhig.

Stefan Heyer

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23 | Markus Grundtner

Das Streben nach Unglück

Wenn ich daran denke, wie ich damit umgehe, mir etwas zu wünschen und es tatsächlich zu bekommen, erinnere ich mich an die Nächte vor Weihnachten, als ich noch ein Kind war:

Das Kind schwingt sich auf sein Stockbett und schmiegt den Kopf in das weiche Kissen, um tief und fest einzuschlafen. Dann beginnt das Kind zu träumen. Es träumt von seiner Vorfreude auf Familie und Geschenke. Es träumt von einer Maschine, die das Vergehen der Zeit beschleunigt. Es träumt, wie es sich hellwach hin und her wälzt. Es träumt, dass es im Bett nur Unruhe findet. Es träumt von seiner feuchten Stirn und seinem trockenen Mund. Es träumt von seiner Decke, die einerseits zu dick und andererseits zu kurz ist.

Unerwartet nähert sich der erhoffte Moment dann doch. Das Kind träumt, wie seine Glieder nicht mehr zucken, sondern matt werden. Es träumt, wie sein Geist sich entspannt und zerfließt. Es träumt, wie seine Augen sich schließen und geschlossen bleiben. Das Kind träumt vom Einschlafen.

Der Glücksfall tritt ein. Doch dabei drängen sich Zweifel auf: „Einfach so, ganz plötzlich und unverdient? Das kann doch nur ein Trugbild sein.“ So vertraut das Kind seiner eigenen Gewissheit: „Tatsächlich schlafe ich gar nicht.“ Als der Schlaf im Traum kommt, nimmt das Kind den einzig logischen Ausweg aus seiner Angst, getäuscht zu werden, und erwacht so in eine Nacht, die noch lange andauert.

Inzwischen verlebe ich meine Tage nach diesem Muster. Ich fliehe vor Wünschen, von denen ich nicht glauben will, dass sie schon wahr geworden sind, damit sie sich endlich erfüllen.

Markus Grundtner

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ZZZ 7/12 | Ulrich Moebius

Geboren 1964 in Bonn, studierte Sonderpädagogik, Erziehungswissenschaften und Geschichte in Hamburg und Colorado, arbeitet seit 1992 als Lehrer in Berlin und lebt in Kreuzberg. Reist viel und gern. Schreibt Kurzgeschichten und Skizzen.

Ulrich ist Teil von Zweifel zwischen Zwieback, der Kurzprosa-Anthologie zur 20. Ausgabe des mosaik. Sein Text "Home sweet Home" ist einer von 12, die anonym ausgewählt wurden, sich in diesem Band zusammenfinden und im Herbst 2016 erschienen sind.

 

Home sweet home

Sein Blick blieb auf dem Display des Telefons hängen, als könnte von dort noch ein Nachsatz kommen. Arun hatte gerade mit seiner Mutter telefoniert. Es war das übliche Sonntags-Ritual. Wenn es irgendwie ging, rief Arun seine Mutter nach dem Frühstück an. Das passte meist. Seine Mutter versuchte dann im Haus ihres Bruders zu sein. Hier gab es seit einem Jahr einen Anschluss. Es hatte lange gedauert, bis sich Aruns Mutter daran gewöhnt hatte, mit ihm zu telefonieren. Sie war nicht ungestört bei ihrem Bruder, aber so konnten sie gut Kontakt halten. Seinen Schwestern fiel das leichter – sie schickten ihm mittlerweile Nachrichten über Skype, wenn sie in einem der Internetcafés der Stadt waren.

Aruns Mutter hatte sich anfangs schwer getan, aus der Distanz mit ihm zu reden. Die Zeitverschiebung betrug 5 Stunden. Sein Leben in Deutschland war ihr fremd. Es waren immer wieder die gleichen Fragen, die sie stellte.

Heute war es anders gewesen. Heute hatte sie nicht gefragt, heute hatte sie ihm erklärt, was sie für ihn geplant hatte, wenn er im Juli nach Battambang käme. Sie war in ihrem Eifer nicht zu bremsen gewesen. In ihrem Kopf hatte sie sich schon alles ausgemalt. Lange hatte sie auf diesen Tag gewartet.

Martin werkelte draußen im Garten, Arun sah ihn durch die Fenster in der Erde buddeln. Er war ganz eifrig dabei, Ordnung in den noch frischen Garten zu bringen. Mit kräftigen Armen grub er voller Tatendrang ein Beet um. Fast zwei Jahre wohnten Arun und er nun in diesem Reihenhaus in Teltow. Der Garten war Martins Sonntagsritual.

Arun spürte, dass er rausgehen und ihm helfen sollte, blieb aber am Telefon stehen.

Das Gespräch mit seiner Mutter wiederholte sich in seinem Kopf. Er versuchte die Worte zu begreifen. Warum hatte er ihr nicht widersprochen? Alles drehte sich. Wörter in Khmer, Deutsch und Englisch... und dann immer wieder ihr Name: Srey Leak! Srey Leak, das perfekte Mädchen. Hatte er sie schon einmal gesehen, so wie seine Mutter es gesagt hatte?

[...]

Auszug aus Zweifel zwischen Zwieback


22 | Andreas Haider

Weihnachtsgschicht 2016

In Idomeni kumt a kloans Kind auf’d Wöt,
in an koidn Zöt,
weis Boot wieda amoi voi is;

In Afghanistan flücht a junge Familie,
mit nix aussa eahn nocktn Lebn,
weis eahna des a nu nehma wion.

In Syrien haum a poar Terroristn
in an Weisnhaus
hundat Kinda ogschlocht;

Waun i heit de Zeidung lies -
Herbergssuche, Flucht, Kindamord -
es is eh fost wia im Weihnachtsevangelium;
wia vor zwatausnd Johr -
und de Menschheit wird net gscheida!

Andreas Haider

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21 | Valerie-Katharina Meyer

Die Bluse meiner Tante

Weisser Duft umhüllt das feine Fadengeflecht. Immer die Hände waschen, bevor du dich auf den Schoss setzt. So bleiben der Duft, die weissen Fäden unbefleckt. Und dann kommt die Geschichte, die mehr wie ein Lied ist. Das wissen deine Kinderhände. Sitzt du aber mit sauberen Händen im Schoss der Tante, so schmiegst du dich an das Kleid, drückst die Rotznase in das duftende Geflecht: Jasmin, Geborgenheit und Tante fügen sich zusammen. Kein anderes Stoffstück ist edler, feiner und zarter. Perlenstoff ist die Bluse für deine Kinderhände, und sie streicheln immer wieder darüber. Perlenstoff mit Zauberknöpfen. Sie umklammern ihn mit ihren schweissigen Fingern und wollen nicht mehr loslassen, warten auf die Geschichte, die mehr ein Lied ist. Für immer im Kokon der Tante eingehüllt sein - umspannt von der Geborgenheit der Stoffperlen, umflogen von der tiefen Stimme. Und die Tante singt ein Lied, das eigentlich eine Geschichte ist.

Valerie-Katharina Meyer

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20 | Sabrina Albers

Der Nebel In Mir

Mein Schmollen hat mir dieses Mal nur ein Rückfahrticket für den Zug eingebracht. Dass der ICE dabei überfüllt war und gar nicht bis in meine Stadt fuhr, war dir egal. Mir auch. Ich war mit Schmollen beschäftigt. Du sagst, du hast mich mehr als gern, und dafür kann ich dich nicht ausstehen. Du sagst, wir leben seit fünf Jahren so. Das ist wohl der Grund, warum ich keine Luft bekomme. Deine Nähe engt mich ein. Dein Fernbleiben noch viel mehr. An deiner Seite bin ich so inkonsequent, dass es schon wieder eine gewisse Konsequenz in sich birgt. Warum ich dich mag, weiß ich nicht. Warum deine Gleichgültigkeit mich wahnsinnig macht, noch viel weniger.
Du bist der Grund für alles und nichts. Die Lösung und das Problem. Jeden Satz wäge ich ab, aus Furcht, er könnte mich näher zu dir bringen, näher zum Abgrund. Wie es dir dabei ergeht, darüber wage ich noch nicht einmal nachzudenken. Doch ich habe eine Ahnung, dass es nicht viel anders ist.
Ich bewundere, dass du nie von deinem Weg abkommst, du magst keine Abhängigkeiten, nichts, was dich ablenkt. Ab und an gönnst du dir mich zum Zeitvertreib, als wäre ich die einzige Schwäche, die du dir gelegentlich leistest. Wenn ich wieder weg bin, hast du mehr Platz in deinem Bett, keine Klamotten mehr in der Wohnung verteilt, deine Ruhe zurück. Ich frage mich, ob du mich trotzdem ein bisschen vermisst, mein Kissen zum Einschlafen benutzt, dich fragst, wo ich gerade bin und mit wem. Als ob es neben dir jemand anderen gäbe.
Ich vertraue dir nicht, und das ist das Verrückte. Nach allem, was war, nach allem, was ist und sein wird, vertraue ich dir nicht. Das mache ich mir zumindest selbst glauben, obwohl ich genau weiß, dass ich diejenige bin, der man nicht trauen kann. Du hast es schon einmal versucht, ich bin weggelaufen. Und nun kostest du deinen Triumph über mich aus. Ich kann dich wirklich nicht ausstehen.
Die Fenster im Zug sind verschmiert, den typischen Nebel kann ich spüren, aber nicht sehen. Muss ich auch gar nicht. Ich weiß, dass er da ist. Dass er mich umgibt, seit der Minute, als ich letzte Woche beschlossen habe, zu dir zu kommen. Seitdem ist der Nebel und taucht alles um mich herum in Milch. Ich kann dich noch immer an mir riechen. Deinen Atem an meinem Ohr spüren. Deine Blicke sehen.
Deine Küsse kann nicht mehr schmecken, sie verblassen mit jedem Kilometer, den ich weiter von dir wegfahre. Was bleibt, ist dein Geruch auf meinem Körper und die Erinnerung an deine Blicke, fordernd und vorwurfsvoll. Ich vermisse dich schon jetzt. Und verfluche den Nebel. Es ist, als schicktest du ihn jedes Mal, um mich abzuholen. Wenn ich bei dir bin, kreierst du eine Zuckererbsenidylle, in der ich mich wohlfühle, mich ausruhe, du mir Sicherheit gibst, aber nur so viel, dass es gerade ausreicht, um mich in die Falle zu locken. Dann lässt du mich los und durch den Aufprall bekomme ich blaue Flecken, die mich Wochen später noch daran erinnern, dass du ebenso wenig weißt wie ich, welche Rolle ich in deinem Leben spiele. Ohne dich wäre mein Leben nicht so.
Ohne dich wäre mein Leben nicht so ...
Ob ich dich vermissen würde, ohne dich zu kennen? Die berüchtigte Sehnsucht nach einem unbekannten Ort? Ich erinnere mich noch genau an die Nacht, in der wir uns zum ersten Mal sahen. Vor dir tue ich gerne so, als wäre das nicht der Fall. Vielleicht, weil es dem Ganzen mehr Bedeutung gibt, wenn du es bist, der davon sprichst. Dann kann ich für einen Moment sehen, wie wichtig ich für dich bin. Das es stimmt, dass du mich mehr als gern hast. Dass ich mehr als ein bisschen Zerstreuung für dich bin. Nicht nur eine Laune, der man ab und an nachgeht.
Natürlich erinnere ich mich noch genau an unseren ersten Kuss, denn seit dieser Nacht trage ich vor dir keine Maske mehr. Ich legte meine ganze Verletzlichkeit vor dir offen, um zu sehen, ob du damit zurechtkommst, ob du stark genug bist, an meiner Seite zu sein. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass das Ergebnis mich so sehr erschrecken würde. Manchmal fordert man etwas heraus, ohne sich der Konsequenzen bewusst zu sein.
Zu dem Nebel mischt sich nun Regen. Ich musste den Zug wechseln, da er im Nirgendwo hielt und beschloss, keine einzige Station mehr weiterzufahren. Zwar hat der neue Zug saubere Scheiben, aber die Klimaanlage zwingt mich dazu, in meinem Mantel zu bleiben. Meine Haare riechen nach deinen Haaren, ich frage mich, wie das möglich ist. Meine Sentimentalität kotzt mich an. Du machst dich jetzt wahrscheinlich völlig zurecht über mich lustig. Du sagst, ich sei wie ein Kind. Immer dann, wenn ich meinen Willen nicht bekomme, wenn ich verschlafen bin, wenn ich gegen die Glasscheibe laufe, die du gelegentlich zu deiner Unterhaltung zwischen uns aufbaust. Und während ich dich dann trotzig anschaue und meine Beule am Kopf mit dem Eiswürfel aus meinem Havanna-Cola kühle, frage ich mich, ob du weißt, welch schönes Kompliment das ist. Wie du kann auch ich die meisten Menschen nicht ausstehen. Sie langweilen und lähmen mich. Dennoch suche ich immer nach der einen Kleinigkeit, die mich an ihnen erfreut, die mir zeigt, dass noch nicht alles verloren ist. Ich weiß, wie düster diese Welt sein kann und habe trotzdem noch genügend Naivität in mir, um das Schöne im Dunkeln zu sehen. Ist es das, was du an mir magst? Ich habe keine Ahnung, was es sonst sein soll. Was es ist, das eine Faszination über so lange Zeit aufrechterhält. Natürlich haben wir dazwischen andere gesehen, waren aus, aber am Ende gab es immer nur uns zwei. Wir haben Beziehungen beendet, als wären sie bedeutungslos, wir haben uns dem entledigt, was uns lästig war. Mir schien immer, als würdest du aus Vernunft handeln. Eine Trennung aus Vernunft. Wahrscheinlich weigere ich mich deshalb, dir mehr als das zu geben, denn irgendwann müsstest du feststellen, dass ich das wohl Unvernünftigste in deinem Leben bin. Würdest du mich einfach so wegstreichen können? Was würdest du dann tun?
Ich kann die Veränderung zwischen uns spüren, wir sind an dem Punkt, an dem ich nur verlieren kann. Das Interessante ist, dass die Veränderung nicht schleichend kam, nicht langsam zwischen uns wuchs, bis wir unfähig waren, sie zu fassen. Sie kam ganz plötzlich. Eben war sie noch nicht vorhanden, eine Sekunde später in deinem Blick. Wir schimpften uns zum Spaß, doch damit fügten wir uns keine Verletzungen zu. Das, was uns seit Jahren verletzte, war das Unausgesprochene zwischen uns. Das, was im richtigen Moment nicht gesagt wurde, das, was beabsichtigt im Raum stand, das, was im Nebensatz fiel und wie kleine Bomben auf unserer Haut explodierte. Wir begegnen einander vertrauensvoll misstrauisch. Die Frage ist einfach, ob wir einander Fluch oder Segen sind – oder schlicht nur das, was wir verdienen.
Ich werde dir zu anhänglich, deshalb gehst du auf Distanz zu mir. In ein paar Wochen wirst du für einige Zeit das Land verlassen. Du reist gerne mit wenig Gepäck, ein vorwurfsvoller Blick von mir passt da nicht rein, so viel Platz hast du für mich nicht übrig. Mir ist bewusst, dass normale Menschen in unserer Situation schon längst ein klärendes Gespräch gesucht hätten. Dinge müssen einen Namen haben, Beziehungen als solche zu erkennen sein. Für mich sind das Trivialitäten. Du hast einmal gesagt, ich solle den Moment genießen. Jetzt, da ich es tue, scheinst du mir nicht zu glauben. Dabei müsstest du doch wissen, wie sehr es mir gefällt, mit dir Zeit zu verschwenden.
Doch ich bin mir selbst genug, auch wieder alleine klar zu kommen. Ist es das, was du an mir nicht magst? Ich will doch nur im Moment sein. Irgendwann werden wir wieder andere Lippen küssen. Wir werden uns davon erzählen, als ob es das dazwischen - das Uns - nie gegeben hätte. Wir werden so tun, als freuten wir uns füreinander, und den anderen in Gedanken mit einem Messer töten. Ich werde meine Beziehung in dem Moment beenden, wenn er meine Freundschaft zu dir in Frage stellt, du deine, wenn sie deinen Plänen widerspricht. Dann haben wir wieder nur uns zwei und sind einmal mehr der Absurdität dieser Situation ausgesetzt. Alles andere wäre uns zu einfach. Zu gewöhnlich. Gar nicht wir.
Mein Zug irrt noch immer quer durch das Land und ich widerstehe der Idee, meine Haare im Waschbecken der Zugtoilette zu waschen. Der Geruch nach dir nervt mich. Ich wette, du hast mich schon längst wieder losgelassen, während ich noch mit deinem Geist kämpfe. Der Nebel wird immer dichter und ich starre mein Telefon an, um es zum Klingeln zu bringen, dabei weiß ich es doch besser. Du kannst telefonieren sogar noch weniger ausstehen als ich. Jedes Mal musst du dich zu einem Telefonat mit mir durchringen, doch wenn wir dann miteinander sprechen, all die Belanglosigkeiten miteinander teilen, so tun, als wären wir normal, genießen wir es. Du liebst es, meine Stimme zu hören, und ich plappere von all den Albernheiten meines Alltags. Und ich, die es mag, wenn man ihr Geschichten erzählt, lass dich von deinem erzählen.
Ich setze meine Kopfhörer auf und höre »Am I Only« von Black Rebel Motorcycle Club. Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich in deine Augen. Den warmen, forschenden Blick. Als würdest du mit deinen Gedanken ein Bild von mir machen und in deinen Erinnerungen abheften. Du schlingst deine Arme um mich, ziehst mich an dich und flüsterst meinen Namen, als wäre er ein Fluch, unter dem du leidest.
Eine Hand berührt meine Schulter. Ich schrecke auf und schaue verschlafen den Schaffner an, der mir sagt, dass wir an der Endstation angekommen sind. Ich nehme meine Reisetasche, steige hinaus in die Nacht und rieche an meinen Haaren, die nun gar nichts mehr von dir, sondern wieder alles von mir haben. Ich bin wieder ganz ich. Aber nur solange, bis du wieder vor mir stehst.
Oder ist es genau anders herum?

Sabrina Albers

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19 | Thordis Wolf

katzenjammer

Jeden Morgen fordert die Lautsprecherstimme in der U-Bahn die Passagiere zu Achtsamkeit auf. Unter ihnen ist auch Nati, ein Mensch, der grundsätzlich vorsichtig ist, sich an Regeln hält, auch wenn sie nur aus Lautsprechern kommen. Doch an diesem Morgen ist sie abgelenkt. Als Strafe dafür schlägt sich ein Ereignis durch den angesagten Spalt zwischen Bahnsteig und U-Bahntür hindurch. Der große Blonde peitscht ihr jetzt deswegen nervös seine Aufgebrachtheit ins verschwommene Gesicht. Immerzu verlangt er nach dem rechtmäßigen Einschreiten Vollzugsbeamter. Um deren Auftreten auf dem Tapet will er sich, in seiner hohen Person, selbst kümmern. Wären die Arme der Exekutive vor Ort erst einmal griffbereit, würde er seine Wahrnehmung in ihre Hände legen. Für den Fall, dass sie, Nati, unter seinem Schutz als Opfer stehend, nicht dazu in der Lage wäre. Das sei natürlich nachvollziehbar (im Wiener Untergrund lebt die Empathie, veranlasst durch oberirdischen Platzmangel). Er verfüge neben dem korrekt verorteten Herzen über einen schneidigen Blick für Gerechtigkeit. Das mache ihn zu einer verlässlichen Augenberichtsquelle, lässt er durchsickern. Alles, aber wirklich alles, habe er bis ins letzte Detail verfolgt! Deswegen, macht er jetzt von seinem Handy und dem Recht auf Zivilcourage Gebrauch und ruft die Polizei. Im rechten Gehörgang des großen Blonden fällt das erste Freitonzeichen mit dem Signalton sich öffnender Türen zusammen.

Dumpfes Geheul, Sirenen gefangen im Nebel Wiens, lassen für einen kurzen Moment den Adrenalinspiegel wieder ansteigen. Die letzten Ausläufer des Stresshormons versammeln sich zu einem kleinen Rinnsal, das er sich von der Stirn wischt. Kein Grund zur Panik, er ist safe. Blaulicht und Folgetonhorn, dafür muss mindestens eine Waffe im Spiel sein. Die Beute in seinen Händen ist außerdem nicht wichtig genug. Nicht für die. Für ihn schon. Vorsichtig öffnet er den Reißverschluss des schwarzen Neoprens. Ganz wie brave Kinder ihre Geschenke an Weihnachten auspacken. Verpackung intakt, Lachen aufgesetzt. Macbook wär nice. Lenovo würds aber auch tun, sonst. Das ist also sein Weihnachtsgeschenk. Ein paar Tage verspätet, aber: immerhin. Es schaudert ihn, er erschrickt beinahe. So ein gaylord ist er doch normalerweise nicht! Mit einem (nun) entschlossenen Handgriff zieht er den Inhalt hervor. Jetzt wird alles anders, sagt er zu sich und dem toten, gefrorenen Kätzchen aus der Laptoptasche.

An einem Tag vor Weihnachten:

Nati sitzt in einem Railjet R160, oder so. Der Zug bahnt sich, den Gleisen entlang, einen Weg vom berglosen Osten in den alpinen Teil Österreichs. Dort liegt ganz in weiß das Dorf, in dem Natis Verwandte schon ihre Ankunft herbeisehnen. Nati stimmt sich ein, der Winter macht es ihr leicht. Sie knabbert an Lebkuchenherzen, während vorweihnachtlicher Schnee seine schönsten Kristalle wehmütig vor die Gleise wirft. Jemand schält eine Orange. Sie rollt sich immer tiefer in das Weiß von draußen und ihre dicke Jacke ein. In diesem Moment glaubt sie an Jesus und nicht daran, dass irgendetwas sie aus diesem wohligen Zustand herausreißen kann.

Eine Grünholzfraktur des Herzens, eine Sternotomie am Ego, daraufhin die Verlegung in die Bundeshauptstadt, von der man sich erstklassige Betreuung, notfalls auch auf private Rechnung, erhoffte. Stattdessen: Heimweh, hinter Entscheidungen herhinkende Zweifel, Krankenstände noch vor Urlaubsanspruch und ungläubige Arbeitsinspektoren. Es war nicht leicht gewesen, das letzte halbe Jahr. Bilder mit Sprüchen zeigten nur vorübergehende Wirkung. Das Heimatkollektiv beschloss daher am Telefon: Nati braucht Aufheiterung langfristiger Natur: ein 8 Wochen altes Kätzchen soll es sein. Das war einfach in der Anschaffung. Die lästige Vorstellung bei einem Kassenarzt ersparte man sich ebenso wie die allfällig damit verbundene Rezeptgebühr. Es lebe die Alternativmedizin, denn: zu verschenken war das tapsige Geschöpf. Übriggebliebener Rest von einem vielversprechenden Wurf. Die passenden Utensilien waren paypal und amazon prime sei Dank schnell gefunden und nur wenig später, kurz nach dem Eintreffen des Therapeutikums, an Ort und Stelle zum Einsatz bereit. Aus Ermangelung an Erfahrung wurde es Kätzchen genannt und am Bauch gestreichelt. Während Kätzchen zuhause bereits sehnlichst auf Frauchen wartet, braucht Nati hingegen noch bis Salzburg, um zu realisieren, was sie vergessen hat.

Stunden später steht jemand an einem Bahnhof in Westösterreich. Es ist ein Verwandter von Nati, vorzugsweise der engste, es kann auch eine Frau sein. Der rücklings eingeparkte PKW stößt Abgaswölkchen die Schlucht hinauf, in der alle westösterreichischen Bahnhöfe liegen. Die Beine vertreten am eisglatten Bahnsteig ungeduldig Kieselsteinchen. Endlich fährt der Railjet mit den im Preis inkludierten Verspätungsminuten am Bahnsteig 1 (es gibt nur 3) ein. Außer einer kurzen, beinahe flüchtigen, Umarmung lässt die Kälte nichts zu. Die kuschelige Autowärme ist großzügiger. Man strahlt sich regelrecht an, gegenseitig. Froh dich zu sehen, froh wieder hier zu sein. Kurze, obligatorische Frage nach der Großstadt. Dabei nimmt man den Namen dieser Hoch- oder Hofburg des Fremden nicht richtig in den Mund. Der verträgt nur ortsübliche Kost. Bevorzugt wird das wiedergekäute Vokabular, am besten von vor drei Generationen. Das kennt man von Hofer: da bin ich mir sicher. Lässt sich auch im Chor gut sagen. Die Themen gehen einem auch nicht aus, es sind ja immer die gleichen. Ansonsten kann man immer noch den Bauernkalender nach dem Wetter in der Zukunft fragen. Doch jetzt ist Nati am Wort und sogleich wird sie überprüft. Ah, was war das? Hab ich mich da etwa verhört? Sind das beklagenswerte Veränderungen im Sprachstatus quo? Nati kooperiert, kennt sie doch diese Sicherheitsmaßnahme bereits von den Telefongesprächen.

Nur wenige Tage nach Weihnachten, wieder zurück im meltingpot Österreichs, wird sie nicht vorsichtig sein, nicht genug. Barbarisch, aber wahr: in einem unvorsichtigen Augenblick in der U-Bahn wird ein Fremder ihr die schwarze Tasche aus den Armen reißen.

Weihnachten ist Weihnachten. Unter einem rücksichtslos herangezüchteten und liebevoll gefällten (das Augenmerk auf den finanziellen Profit zielgerichtet) Nadelbaum versammeln sich Familien. Alte mit aufpolierten Plastikbeißerchen, weniger Alte mit Crocs an den Füßen liegend oder hochsteckfrisiert, Menschen wie Nati. Die aufgeblähten Schnitzelbäuche werden mit Wein, Martini Asti oder sonstigem zweitklassigen Alkohol beruhigt, eventuell After Eight zum ab- oder aufrunden. Kurzum: Überfluss neben einem Eimer Wasser, die Wunderkerzen neben dem Lametta. Better safe than sorry.

Kätzchen geht das Essen aus.

Was folgt ist Silvester. Dinner for one und der Donauwalzer leiten den Beginn der Deadline für vergangene Vorsätze ein. Es wird bei Fondue um Verlängerung angesucht. Dem Antrag wird mit Sektflöten inbrünstig stattgegeben. Man steht bis zum Hals in Euphorie und Winterkleidung am Balkon.

Kätzchen geht das Wasser aus.

Er fragt sich immer und immer wieder, wie die tote Babykatze in die schwarze Tasche kam. Die wildesten Vorstellungen, manche paranoid, manche vielleicht sogar ein wenig lustig, buhlen um seine Aufmerksamkeit. Jemand anderen fragen? Das geht nicht. Will er es überhaupt wissen? Er weiß es nicht. Er weiß nur, er muss aufhören, sich immer und immer wieder dieselbe sinnlose Frage nach diesem beschissenen Warum zu stellen. Eine tote, halbgefrorene Babykatze. Bläulicher Schimmer im weißen Fell, wie Gletschereis. Die Deutungshoheit der moralisch Überlegenen. Das macht ihn so wütend. Geht es nach ihnen, muss er es jetzt schaffen. this is a warnging. pursue your dreams and catch some fame, you fuckup.

needless to say: he failed.

An einem Tag nach Weihnachten:

Natis Herz schlägt wild um sich, bis in die Knochen hinein, als sich der Schlüssel mit einem Knacken im Schloss umdreht. Dann ist es ganz still in der Wohnung, Kätzchens Herztöne lange schon verstummt. Nati findet den kleinen leblosen Körper. Kein schöner Anblick. Sie will ihn gleich beseitigen. Doch wohin mit dem Häufchen Elend? In den Mülleimer? Nein, damit könnte Nati nicht leben. Kätzchen hat eine ordentliche Entsorgung verdient! Auch die Zwischenlagerung bis dahin soll dem Anlass entsprechend sein. Ein schönes Kühlhaus, in dem es friedlich neben Hunden liegen kann, vor denen es sich zu Lebzeiten bestimmt gefürchtet hätte. Das ist es, was Nati dem Kadaver schuldig ist. Und dann eine schöne Zeremonie, vielleicht mit Musik. Bis dahin: Kühlschrank? Aber dorthinein muss Nati doch die mitgebrachten Schüblinge legen. Die Oma hat ihr 5 Stück mitgegeben, rohe. Die muss man kühl lagern. Da hat eine tote Katze daneben nichts verloren. Kühlfach! Da ist der von Nati bei Gott erbetene Geistesblitz! Kätzchens toter Körper schmiegt sich beinahe perfekt in die Mulde neben dem halben Spinatquader. Im Eisschrank, in Natis Wohnung, geht das Licht aus.

Zwar eine halbe Stunde früher als üblich, aber immer noch im Dunkeln, steht Nati am nächsten Morgen auf. Das Tierkrematorium liegt beinah am Weg zum Büro. Um die Schuld bei Kätzchen tilgen zu können, wird sie den kleinen Umweg in Kauf nehmen. Die Suche nach einer passenden Transportmöglichkeit erweist sich zunächst als schwierig. Wie es aber der Zufall (oder wer auch immer) will, findet Nati eine Lösung: die Laptoptasche. Wasserdichter Neoprenstoff, Blickdicht, sogar schwarz. Beinah schön. Liebevoll nimmt Nati die gefrorene Babykatze aus dem Kühlfach und legt sie sachte in ihre vorletzte Ruhestätte. Unter dem Herzen trägt sie Kätzchen davon, hinein in den Untergrund der Stadt Wien, wo jeder (s)eine Fortsetzung finden kann.

Thordis Wolf

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18 | Wolfgang Wurm

Frohes Fest.

Dieser Autor sei ihm noch gar nicht bekannt gewesen, dabei sei er dem Klappentext nach zu urteilen sogar schon längere Zeit sehr erfolgreich, sagte er, als er sich für die unterhaltsame Lektüre bedankte, die er noch am zweiten Feiertag nach wenigen Zeilen wieder beiseite gelegt hatte. Und die staubtrockenen Plätzchen waren zu diesem Zeitpunkt bereits an die Wasservögel im Stadtpark verfüttert. Schließlich wollte auch er nichts als Frieden.

Wolfgang Wurm

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ZZZ 6/12 | Lea Wintterlin

Lea Wintterlin studierte Philosophie und Germanistik in Tübingen und Berlin. Sie besuchte regelmäßig Schreibkurse am Tübinger Studio Literatur und Theater und nahm 2013 am Autorenkolleg der FU Berlin bei Lukas Bärfuss Teil. Sie arbeitete in einem Waschsalon, als archäologische Grabungshelferin und seit 2015 als freie Rezensentin für das Philosophiemagazin.

Lea ist Teil von Zweifel zwischen Zwieback, der Kurzprosa-Anthologie zur 20. Ausgabe des mosaik. Ihr Text "Das Fahrrad" ist einer von 12, die anonym ausgewählt wurden, sich in diesem Band zusammenfinden und im Herbst 2016 erschienen sind.

 

Das Fahrrad

Manchmal habe ich das Gefühl, dass F sein Fahrrad mehr liebt als mich. Er kann sich noch genau an das Datum erinnern, an dem er es gekauft hat, aber der Tag, an dem wir zusammen gekommen sind, stellt ihn jedes Jahr wieder vor eine Herausforderung. Ich richte es meistens so ein, dass ich zwei Wochen, bevor es so weit ist, ab und zu davon spreche. Ich erwarte nichts Bestimmtes an unserem Jahrestag. Ich will gar keine Blumen oder Schokolade oder irgendein spezielles Abendessen oder so, alles was ich will ist ein kurzes Hochschauen aus dem ewigen Vorwärts des Alltagstrotts, ein Stehenbleiben vielleicht, ein Zur-Seite-gucken, wer da eigentlich neben einem läuft, wessen Hand man hält, ein kurzes „Hey, schön, dass du da bist. Schön, dass wir in diesem riesigen Leben aufeinandergetroffen sind, wir kleinen Mäuse, wir, wir beide.“ Ein kurzes Aufmerken. Mehr will ich gar nicht.

Der Tag, an dem F sein Fahrrad gekauft hat, war ein Donnerstag im Mai, der 24. um genau zu sein. So steht es in der Diebstahlversicherung, die er abgeschlossen hat. Seine größte Angst ist es, dieses Fahrrad zu verlieren. Es ist ein schönes Fahrrad, keine Frage, und teuer war es auch. Eines dieser neuen, hippen, ganz leichten, etwas altmodisch aussehenden Rennräder, mit so einem geschwungenen Lenker, wie heißt der denn gleich, nach irgendeinem Tier mit Hörnern. Ich mag das Fahrrad auch sehr, obwohl ich nicht darauf fahren kann, es ist zu hoch. Es gibt leider keinen Gepäckträger, auf dem F mich ab und zu mitnehmen könnte, alles Überflüssige wurde an diesem Fahrrad weggelassen, um Gewicht zu sparen. Es ist ganz leicht und F trägt es jeden Nachmittag, wenn er von der Arbeit kommt, nach oben zu uns in den vierten Stock, und jeden Morgen wieder herunter. Nachts steht es bei uns im Wohnungsflur.

Anderthalb Jahre ging es sehr gut mit dem Fahrrad. Wenn es Winter wurde, kaufte F sich Anstecklichter und dickere Reifen mit mehr Profil. Jedes Vierteljahr ölte er die Kette nach. Manchmal muckte das Fahrrad auf, aber er fand immer irgendwie eine Lösung, ich weiß nicht genau wie, mit Fahrrädern kenne ich mich nicht gut aus. Er schraubte daran herum, fluchte ein bisschen bei uns im Flur, wo das Fahrrad umgedreht auf einer Menge Zeitungspapier stand und nachher wusch F sich die ölverschmierten Finger im Bad und alles war wieder gut.

Aber dieses Jahr im April geschah etwas völlig Verrücktes.

[...]

Auszug aus Zweifel zwischen Zwieback


17 | Axel Görlach

n. - hommage an

meine stolze stadt platzt wieder
aus allen wursthautnähten, senfgesprenkelt
schlagen mäntel sich mit plastik
tüten durch zum glühweinstand

in meine stadt führen alle wege. zur zeit. meine stadt
ist nicht rom. meine stadt liegt nicht am meer. leider

doch in ihren buchten ankern
panoramabuskreuzer, bei flut
spült es hysterische mütter an
der hand hysterischer kinder
auf den weihnachtsmarkt, über meine stadt
fegen touristentsunamis

kyrie eleison! doch kein advent erbarmte sich je

am ende meiner flucht schimmert
auf den freiflächen mond
heller parks der einsame raureif unberührt
wie weißer sand auf atollen

über den ich wandle, der autobahnen ewiges
rauschen teile in rauschen & knacken
gefrorener hundekacke unter den camel boots

Axel Görlach

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