freiTEXT | Christian Lange-Hausstein

Wenn ein Plan funktioniert

Ich kann außerhalb unserer Sitzungen halt nur mit niemandem darüber reden. Das ist das, was es schade macht. Es gibt nur die wenigen Tagebucheinträge, ich habe sie nicht einmal verschlagwortet, deshalb muss mein Biograph, aber das ist auch erst, wenn ich schon tot bin, deshalb muss mein Biograph da auch erstmal draufkommen, also in welchem Zusammenhang diese Tagebucheinträge stehen. Da steht ja nirgendwo Volksbühne oder Lederer oder, wie heißt sie, die kleine Maus, die jetzt einen auf Sprecherin mit großgeschriebenem "I" macht, als wäre sie keine Frau – die Deutschen sind wirklich krass – mit ihrem devoten Schmusi da neben sich, das konnte ich ja damals, als das Konzept entstand, da war ich fünfundzwanzig, sowas in dem Dreh, da konnte ich das doch nicht wissen, dass das jetzt genau dieser Lederer ist und diese Maus und ihr Schmusi. Damals war nur abstrakt klar, wenn man etwas Neues haben will, dann muss es einen Knall geben, die Leute sind zu faul, um sich einzubringen, wenn alles schon irgendwie okay ist. Alles irgendwie schon okay, das akzeptieren die, da lehnt sich keiner gegen auf.

Ich meine. Also mir tut das ja auch leid. Schauspieler entlassen, Bühnenpersonal. Das sind ja Existenzen, die da dranhängen. Nicht nur materiell, auch ideell, die haben sich ja alle miteinander und mit ihrer Intendanz identifiziert. Das war ja gewachsen. Da zerstören sie ganze Leben, wenn sie die entlassen, ganze Familien. Die eine hat ihren Mann verloren, meine Assistentin hat mir davon berichtet. Die hätte jetzt ein Engagement in Bochum haben können und da hat der Mann gesagt, sowas macht er nicht, der Sohn kommt in einem halben Jahr in die Schule, da kann man auch nicht nochmal die Kita wechseln und dann ist es doch besser, konsequent zu sein. Und buff. Da war er draußen, ein Kunstsammler, im Brotberuf Radiologe. Der hatte natürlich auch einen guten Anwalt- wegen dem Sohn. Und verheiratet waren sie auch nicht, sondern immer so so-ein-Behördenakt-macht-meine-Liebe-auch-nicht-echter-mäßig. Schauspielerin und Kunstsammler in Mitte halt. Und dann hat das mit dem Engagement in Bochum doch nicht geklappt und dann stand sie da. Da schlucken sie natürlich, wenn sie von so einem Schicksal hören. Da bekommen sie auch Zweifel. Da muss man dann schon auch nochmal, how do you say, tief in die Argumentenkiste greifen, damit man da nicht schwach wird und sagt Hey, ihr seid alle Teil einer Inszenierung, sondern dichthält und weitermacht. Aber im Ernst, wenn du schon Künstler sein willst, dann kannst du dich nicht mit so lapidaren Fragen wie deiner Existenz aufhalten. Ich meine. Bis zur Selbstverleugnung.

Ich leide ja auch. Dieser silberne Bart. Dieser Künstlerschal. Jeden Morgen dieser Scheitel, meinen sie, der sieht von allein so dynamisch geworfen aus? Verzeihen sie die Frage, das ist übergriffig, beim Recap unserer letzten Sitzung ist mir aufgefallen, dass ich das öfter mache, ich will das verbessern. Aber wirklich: Haben sie das Interview mit mir bei Kulturzeit in 3sat gesehen? Können sie sich vorstellen, sowas zu sagen und dann nicht zu sagen, Hey, nur ein Spaß, haha, sondern mit "Ich danke ihnen" das Gespräch zu beenden und dann denken die Zuschauer das alle. Kamera aus, die Moderatorin macht einfach mit Flüchtlingskrise weiter, die Leute schalten ab und denken, der Typ macht da jetzt echt einen auf Disney Land, Dance Performance, ich meine, schon das Wort, Dance Performance.

Jedenfalls von den Lebenden, die zwischen jetzt und dem Aufschrei meines Biographen, wenn er die Erkenntnis hat, sterben, von diesen Lebenden wird niemals einer erfahren, dass das eine Installation ist, dass diese Inszenierung einem Plan folgt, dass ich mit alledem die Bande links und rechts auf dem Lebensweg der sogenannten Bevölkerung so sehr verengen will, dass die, wie heißen die Mitglieder von einem Volk auf Deutsch, jedenfalls dass die Menschen wieder in Fahrt kommen, das Heft selbst in die Hand nehmen, aufstehen, besetzen, eigene Spielpläne erstellen, an sich selbst, an den Mitgliedern ihrer Gruppe lernen, wie schwer es ist, in Abstimmungsprozessen zu bestehen, sich auf Stücke zu einigen, Schauspieler zu finden, die allen entsprechen, ein Bühnenbild zu bauen, den Vertrieb unter Gästen zu organisieren, die kein Geld haben und den Beteiligten irgendwann doch etwas zu zahlen, damit sie sich konzentrieren können, darauf Kunst zu machen, die aus dem Volk heraus, dem Volk das lahm geworden ist, auf die Bühne gekotzt wird, als Abwehrreaktion, bevor das Schlimmste passiert, rosa, Glitzer, Musical, und zwar ernst gemeint.

Das alles abzuwenden wird sie Kraft kosten, man wird den Schweiß riechen, die Hitze der Scheinwerfer wird ihn in den Zuschauerraum tragen. Und dann: Man konsolidiert sich, alles wird bleiben, wie es war, bis ich kam und den Leuten zeigte, dass sie es so wollen, und sie werden nicht mehr müde sein, sondern voller Eifer mit sich selbst und dem Erhalt dessen, was sie immer schon hatten und aufs Neue lieb gewonnen haben, so sehr beschäftigt sein, dass sie die einsame Stimme des FAZ-Feuilletonisten, der geleitet von dem Motiv, dem ganzen Klamauk etwas entgegenzusetzen, darauf kommt, dass man mir doch Danke sagen müsste, sie werden diese Stimme überlesen, ich werde nirgendwo twittern, dass ich es liebe, wenn ein Plan funktioniert und irgendwo zwischen unendlichem Glück, dass mein Plan funktioniert und dem Hass der Welt, die doch meine ist, die Welt der Kunst, die mich verachten muss, dort werde ich verweilen, verlassen von denen, die mich auf der letzten Stufe der Umsetzung meines Plans gegen sich ausgetauscht haben, werde ruhiger werden, ein bisschen traurig sein, und froh.

Christian Lange-Hausstein

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freiVERS | Nina Beer

Kohle, Glas

Nimm das Stück Kohle
und ziehe
eine Zäsur entlang der Stirn
teile mir Brauen und Augen,
die nicht mehr sehen ohne zu erinnern
teile den Mund,
der nicht mehr spricht ohne zu richten
teile die Schatten entlang feiner Linien
hinab, hinab;
Nimm das Stück Glas

Nina Beer

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freiTEXT | Katherina Braschel

fragment.

An erleuchteten Fenstern in dunklen Gassen steht ein Mensch und rührt in Tassen, die aus bleihaltiger Tonerde geformt, durchsichtig sind.
Er gießt die Topfpflanze vor seinem Fensterbrett mit Fäden seines Speichels, die er aus Taschen zieht, welche außen angenäht, falsch wirken.
Mit gleitenden Bewegungen seiner geschärften Fingerkuppen kratzt er Windmühlen in sein Fensterglas. Der Wind pfeift durch sie hindurch. Moll. Fis.
Es geht die Legende, der Mensch fresse Kinder. Und als Kinderersatz, weil diese so schwer zu kriegen sind, lässt er sich Kinderattrappen aus Kaugummi anfertigen. Kleine, süße Kirschen sind die Augen, welche er, so sagt man, mit einem Zeh belegt.
Der Mensch am Fenster hat seine Zähne verloren. Er wollte ein Mosaik legen und die gelblich-weißen Eckchen mit Rostlöser fluten. So weit kam es aber nie, denn mitten in seinem Schneidezahn fand er kleine Käferlarven, welche ihn so zum Nachdenken brachten, dass er auf Tage vergaß, an etwas anderes zu denken. Als die Larven geschlüpft und in seine Ohrmuschel eingezogen waren, kehrte er mit seiner Schaufelhand die restlichen Zahnecken unterm Teppich hervor und streute sie wie Oregano über seinen Bauchnabel. Dort wachen sie über seinen Schlaf, den er gewissenhaft um 13:52 einzunehmen pflegt. Der Mensch schläft mit der gleichen tonlosen Konzentration, mit der er täglich die Zeitung zerschneidet. Von links unten bis rechts oben braucht es genau neun dunkelgrüne Blutstropfen, die mit einem leichten Knarren auf den Griff der Heckenschere fallen, wenn der Mensch zum nächsten Schnitt ansetzt. Das Grün des Blutes vermischt sich mit der Druckerfarbe der Zeitung und färbt seinen Morgenkaffee petrol. Mit dem Auge eines alten Teddybärs, das der Mensch vor langer Zeit im Körper einer toten Bettwanze fand, schabt er den Kaffeesud aus der Tasse und in seinen Schritt. Und wenn er nun an den Fenstern in den dunklen Gassen steht und rührt, zieht er manchmal ein kaffeesudgebräuntes Schamhaar zwischen seinen Beinen hervor und pflanzt es in seine Topfpflanze. Dort formt es mit seinen Vorgänger_Innen ein drahtig-weiches Bett für die langen Speichelfäden aus den Taschen.
Der Mensch bohrt seinen Ringfinger in die Taschen, bis er seine zernarbten Knie fühlt, an die er Christbaumkugeln gehängt hat. Den Glitzerstaub, der eine Schneelandschaft darstellen sollte, hat er vorher abgeleckt und unter seinen Zehennägeln verstaut, wo der Mensch auch einen Vorrat an Antipasti aufbewahrt.

Katherina Braschel

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freiVERS | Cornel Köppel

gucklöcher

große augen das knochenbein
streicht papillonskills ans
bein was für ein steiß wo nicht
mal der plot so richtig topt
borgen wir uns einen cyborg
ein rosa unicorn zum trost
ein capricorn flake(d) away
waten wir ins off off
und on geht anders der pupillen
mann hinterm pappkarton löchert
einblicke in den dunkelraum

 

Cornel Köppel

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freiTEXT | Monika Jarju

Austragen

An der Haltstelle warten schon viele Leute. Der Bus kommt nicht. Plötzlich rennen alle los. Ein schwangerer Mann springt auf meinen Rücken, er lässt sich von mir tragen. Man hat ihn entlassen, als er schwanger wurde und das Arbeitsamt zahlt ihm kein Geld, erzählt er mir. Es sei denn, er findet eine Leihmutter, die das Kind gebärt. In meiner Dachwohnung, in der ich erst seit einer Woche wohne, verlangt er zu essen & zu trinken, duschen will er auch & schöne Handtücher. Das erinnert mich an etwas, woran ich mich nicht mehr erinnere.

Monika Jarju

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freiVERS | Leontine Köhn

Komische Natur vom Ineinanderhineinfließen

Prächtig
schummerst Du
die Maske über den Kopf gestülpt.

Crescendo: Krawall,
sie entlarven Dich.

Improvisationsgewitter auf dem Lügenberg.
Es regnet in Dich hinein,
Du läufst über.

Kurzschluss,
Explosion von Wahrheit.

Bitterer Geschmack Deiner Selbstbeherrschung,
endloser Flur fehlender Aufmerksamkeit.
Deserteur Deiner Gefühle.

Leontine Köhn

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freiTEXT Spezial | Poetry aus Südafrika

Poetry from the far south. Unser Korrespondent in Südafrika, Sasa, hat erfreuliches zu berichten: An der Universität Stellenbosch bei Kapstadt versuchten sich Schüler*innen in einem Poetry Slam mit ersten literarischen Gehversuchen. Ausgehend vom German Department der Universität traten in zwei Runden die Deutsch-Lernenden gegeneinander an. Die Gewinnerin der Gruppe der SprachanfängerInnen, Kesia Abrahams, lernt seit einem halben Jahr Deutsch. In der Fortgeschrittenen-Gruppe haben Karen Rebeski und Paula Freers mit ihrer Performance gewonnen. Beide Siegertexte haben wir hier als Nachlese.

Der Poetry Slam fand heuer bereits zum fünften Mal statt und zum ersten Mal in Kooperation mit der Deutschen Schule Kapstadt. Erstmalig war auch ein Star-Gast anwesend: Fabian Navarro. Zweck des Slams ist es, den Studierenden die Möglichkeit zu bieten, ihren Gedanken und ihrem literarischen Talent Raum zu geben. Sie sollen einfach die Möglichkeit haben, das Spiel mit der Sprache mit anderen Menschen zu teilen. Es wurden auch zwei Schreibworkshops angeboten, an dem die Studierenden teilgenommen haben.


 

Hallo! Ich bin Kesia, aber jeder nennt mich Kee.
Ich bin fünf Jahre alt.
Ich wollte Karate machen, aber Papa sagte, ich muss Ballett machen.

Hallo! Ich bin Kesia, aber jeder nennt mich Kes.
Ich bin dreizehn Jahre alt.
Ich liebe Fußball, aber meine Schule hat kein Mädchen-Team.

Hallo! Ich bin Kesia, aber jeder nennt mich Kay.
Ich bin 17 Jahre alt.
Ich wollte der Armee beitreten, aber es ist keine Karriere für eine Dame.

Sie sagen zu mir, ich sollte ich selbst sein, aber wie kann ich, wenn sie diese Wände um mich stellen.

Kesia Abrahams

-

-

Bin ich?

Ich bin weiß…
warum?
Ich bin nicht auf die Welt gekommen und habe gesagt ich…bin…weiß
das hat sich jemand ausgedacht und sich nichts dabei gedacht.
und ich hab es akzeptiert, toleriert und…weitergegeben.

ich bin schwarz…
so nennt mich die Welt
mir wurde beigebracht mich schwarz zu nennen
und dir wurde beigebracht mich schwarz zu nennen
das ist meine…Marke, die hab ich nie hinterfragt…ich bin mit ihr geboren

ich bin anders und du bist anders und wir haben andere Marken als andere Menschen
wir haben diese…Marken so…hingenommen, angewendet und nie daran gezweifelt
…und das ist das Problem,
Marken sind nicht du und Marken sind nicht ich.
wer wir wirklich sind…liegt…unter der Haut,
…verdeckt…
Marken sind nur Marken.

Ich hab nur eine Frage:
wer würdest du sein, wenn man dir keine Marke gegeben hätte
wärst du schwarz…weiß…mexikanisch, amerikanisch, asiatisch…indisch?

nein, wir wären eins wir wären zusammen
wir würden nicht länger mit diesem…Fehler leben
Menschen schwarz und weiß zu nennen

Karen Rebeski und Paula Freers

 

"Unser Ziel ist es, mit unseren Gedichten Menschen zu erreichen und zum Nachdenken anzuregen. In unseren Gedichten sprechen wir hauptsächlich ernste Themen wie Rassismus oder Feminismus an. Wir wollen als gute Vorbilder voran gehen und zeigen, dass diese Themen keinesfalls Tabuthemen sind." - Karen Rebeski und Paula Freers

-

Das Muss muss gar nichts müssen

Meine Noten müssen höher sein
Mein Gewicht muss niedriger sein
Mein Bauch flacher
Mein Portemonnaie dicker
Meine Haut dunkler
Meine Zähne weißer
Mein Herz stärker
Meine Emotionen schwächer
Meine Freunde hässlicher
Mein Gesicht schöner
Mein Erscheinungsbild makelloser
Meine Wahrnehmung fehlerhafter
Meine Haare länger
Mein Rock kürzer

WILLKOMMEN IN UNSERER GESELLSCHAFT!

Du wirst verurteilt für das, was du trägst
Welche Musik du hörst
Wie du aussiehst
Wie du dich verhältst
Mit wem du zusammen bist
Und für eigentlich jede deiner anderen persönlichen Eigenschaften
Genieße dein Aufenthalt...

Wenn ein Mädchen ``Ugg´´ Stiefel und Starbucks mag
ist sie klischeehaft und übertrieben

Wenn sie ein niedriges Selbst-wert Gefühl hat
sie muss lernen sich selbst zu lieben

Wenn sie Make-up trägt
ist sie falsch und unnatürlich

aber wenn sie kein Make-up trägt
ist sie für die Männer unwürdig

Wenn sie karierte Hemden, große Brillen und schwarzen Kaffee mag
ist sie ein Möchtegern hipster und unerträglich

wenn sie Sex mag
ist sie notgeil und billig

wenn sie keinen Sex mag
Dann ist sie nicht willig

Wenn sie Comics liest und Videospiele spielt
ist sie ein Außenseiter, für die Gesellschaft gestorben

Wenn sie ein zu hohes Selbstwertgefühl hat
ist sie eingebildet und von Überheblichkeit verdorben

Wenn sie an Politik interessiert ist
ist sie eine verrückte Selbst-Justiz Kämpferin

enthält sie sich politischen Themen
dann ist sie egoistische Anti-Aktivistin

Wir bringen Mädchen bei
unauffällig zu sein, nicht frei
wir sagen ihnen
Ihr dürft gut verdienen
aber nicht zu viel
Ihr müsst nach Erfolg streben
Aber nicht euer ganzes Leben
Sonst verdrängt ihr den Mann

Weil ich weiblich bin
wird von mir erwartet
nach ,,Glück‘‘ zu streben
Ein neues Leben zu erwägen
dieses mit Mann, Kind und Karriere zu prägen
Entscheidungen zu treffen , keine Möglichkeiten zu Umwegen
im Kopf behaltend dass das das Wichtigste ist
jetzt frag ich mich ob das wirklich richtig ist
ob das die Definition von modernem Feminismus ist
das wir dies Mädchen erzählen und Jungs nicht

Als Mädchen musst du schön sein und intelligent sein
du musst dich schminken aber natürlich bleiben
du musst bescheiden und selbstbewusst sein
du musst klassisch und schlicht sein, aber auffallen

Als Mädchen musst du emanzipiert, rasiert und weiblich sein
du musst abenteuerlustig und aufgeschlossen sein, aber bodenständig bleiben
du musst dich gesund ernähren und Sport treiben
du musst dich vom Mann beschützen lassen, aber selber Stärke erweisen

Als Mädchen musst zu elegant und vorzeigbar sein
du musst lustig und unterhaltsam sein, aber seriös bleiben
du musst emotional und erreichbar sein
du musst erfolgreich sein, aber nicht erfolgreicher als der Mann

Als Mädchen musst du unterwürfig und gehorsam sein
du musst zierlich sein, aber nicht zerbrechlich
du musst dünn sein aber Kurven haben
du musst klein sein aber nicht zu klein
du musst lachen und weinen aber bloß nicht zu oft
du musst, aber...du musst gar nichts!

An all die Mädchen und an all die Frauen
die uns heute zuschauen - habt Vertrauen
es ist an der Zeit, die Realität umzubauen
lasst ab vom utopischen Traum, perfekt zu sein
gebt auf, allen Erwartungen der Gesellschaft zu entsprechen
euch für tausend und aber tausende unbekannte Gesichter zu zerbrechen
zu verbiegen, dem aufgezwungenen Wunschbild zu erliegen, jemand anderes zu sein
bringt den Wahn nach dem Kleinkarierten vollends zum Erliegen
zeigt die vielen Seiten der Schönheit- von der ihr Teil seid
seid die Mädchen und die Frauen, die Töchter, Schwestern und Mütter
denn nichts ist stärker, als der Welt entschlossen eure wahren Gesichter zu zeigen

Karen Rebeski und Paula Freers

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Beitragsbild: Kesia Abrahams

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freiVERS | Enno Ahrens

Immer im Jetzt

verlegen über unseren Unverstand
ziehen wir Schlüsse ins Ungefähre
quer durch Streuobstwiesen

auf luftigen Planken schunkeln wir
durchs Öhr unserer Apfelträume

Gedanken mit Jojo-Effekt verrieseln
durch gläserne Tarnkappen-Uhren
verläuft unser Dasein im Sand

Enno Ahrens

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freiTEXT | Tessa Schwartz

Fort

Ich höre sein Lachen, durch die verschlossene Tür des Wohnzimmers hindurch. Die anderen stimmen darin ein, laut, gewalttätig. Wenn die anderen gegangen sind, wenn er im Bett liegt, schläfrig vom Alkohol, werde ich das Wohnzimmer betreten. Ich werde vor dem Geruch, der Mischung aus Alkohol, Schweiß und ungewaschener Kleidung zurückweichen, meinen Atem anhalten, hineingehen, das Fenster öffnen und aufräumen. Während ich das tun werde, werde ich mich selbst sehen, wie ich ihm hinterher räume, und ich werde mich fragen, warum ich das tue. An der Garderobe hängen ihre Mäntel. Ihr Geruch nimmt den des Wohnzimmers vorweg. Ich nehme meinen Mantel vom Garderobenhaken, damit er nicht ihren Geruch annimmt. Ich stehe im Vorzimmer, meinen Mantel in der Hand haltend. Ich könnte ihn anziehen, die Haustür öffnen, sie leise hinter mir zuziehen und fortgehen. Ich stehe im Vorzimmer und weiß, dass ich nicht fortgehen werde. Es ist ein Wort ohne Ziel, ohne Ankommen. Fortgehen gibt es nicht. Ich stehe im Vorzimmer und der Geruch ihrer Mäntel nimmt mir den Atem. Ich öffne die Haustür, gehe zur Garderobe, nehme einen Arm voll Mäntel, versuche, sie von meinem Körper fernzuhalten, an ausgestreckten Händen trage ich sie vor die Haustür, lege sie auf den Boden, gehe zur Garderobe zurück, nehme die restlichen Mäntel, lege sie vor die Haustür. Die Garderobe ist jetzt sauber, und ich hänge meinen Mantel daran. Dann gehe ich ins Badezimmer. Ich drehe den Schlüssel von innen zwei Mal im Schloss herum. Ich setze mich auf den Badewannenrand. Ich beginne zu warten. Ich habe noch keine Angst.

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freiTEXT | Markus Anton

die idee ewigwährender erniedrigung in vier stockwerken

ende dann tatsächlich die idee ewigwährender erniedrigung und erneut sie flüstert kennst du die geschichte vom typen der aus dem fenster springt sagt wird schon gutgehen ich bin der luftwiderstand gegen den es anzukämpfen gilt ich schmeichle deiner haut erkälte dich und sie öffnet das linke fenster nur geht in die knie bläst schluckt küsst vier dann erinnerungen mindestens die farbe des himmels leuchtet nicht sekundenweise oder die kosmische expansionsrate ist deutlich größer als die wahrscheinlichkeit dich zu überleben und ich werde lernen schmerzen zu empfinden zitat anfang denn nur wer schmerz empfindet ist bereit die tragweite eines gedankens wie liebe zu begreifen zitat ende ich bin fertig mit euch rosengärten baumalleen oder dem geruch von sommerasphalt nach kurzen regenschauern haarmuskeln meiner haut oder urinstinkten euch hatte ich nie viel zu berichten drei und sie tänzelt streichelt und ich messe ihre zuneigung in kilometern pro stunde oder sie presst ihren atem in meine kleine menschenseele ich bin die fleischgewordene reproduktionswut meiner eltern bin ödipuss schwanzstück oder lenny mcleans rechter haken in der visage seines vaters zwei du bist ein guter junge auf die knie auf die knie oder was willst du dagegen unternehmen und ich täusche ohnmacht vor etwas mehr als ein feiner charakterzug der mich mein restliches leben lang begleiten wird ich kämpfe nicht mehr gegen dich an verprochen und ich sehe dich ein letztes mal vielleicht und sie schließt fürsorglich das fenster wird schon gutgehen eins und meinetwegen erkälte mich vorhang

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