freiTEXT | Carolina Reichl
Herr Pechmann
Ich beginne und beende meine Stunden auf die Minute genau. Nur mit Herrn Pechmann überziehe ich immer. Er hat einen schönen Mund und eine angenehme, tiefe Stimme, der man gerne zuhört.
„Ich glaube, ich bringe Unglück“, sagt er. „Wenn ich jemanden mag, dann wird die Person schwer krank oder hat einen Unfall und stirbt. Das war bei meinen Eltern so, bei meiner letzten Freundin und bei drei Arbeitskollegen, mit denen ich mich gut verstanden habe. Ich will nicht, dass das wieder passiert. Darum habe ich mich von allen abgekapselt. Manchmal vergehen Monate, ohne dass ich mit jemandem spreche.“ Herr Pechmann beginnt zu weinen. Er ist ungefähr in meinem Alter und ein wenig abgemagert, wodurch seine markanten Wangenknochen schön zur Geltung kommen.
„Ich hätte gerne Freunde. Zumindest einen – aber was, wenn dann wieder etwas Schlimmes passiert?“
Frau Hammer ist meine nächste Patientin. Sie ist Anfang zwanzig und geht in Wahrheit nur in Therapie, weil das gerade alle ihre Freundinnen machen. Sie hat eine nazistische Persönlichkeit, aber keine richtigen Probleme. Sie erzählt mir von Männern, die sie wollen, aber die sie nicht will. Dass sie Wirtschaft nur studiert, weil ihre Eltern das wollen. Dass sie am liebsten nach Bali auswandern und Yogalehrerin werden würde.
Ich lasse sie reden. In Gedanken bin ich bei Herrn Pechmann. Er ist seit sechs Wochen mein Patient. Schritt für Schritt zeigt er mir mehr von seinen Narben und was sich darunter verbirgt.
Würde ich daran glauben, dass es Seelenverwandte gibt, dann wäre Herr Pechmann meiner. Ich verstehe ihn. Auch ich lasse seit Jahren niemanden an mich heran, um nicht enttäuscht zu werden.
„Er macht die Tür nicht zu, wenn er aufs Klo geht. Ich glaube, ich werde mich nicht mehr bei ihm melden“, sagt Frau Hammer. Ich nicke.
Herr Pechmann sagte vorhin, dass Mittwoch der schönste Tag der Woche für ihn ist, weil er da zu mir kommen kann. Er spürt die besondere Verbindung, die zwischen uns ist.
„Es gibt da eine Frau, mit der ich gerne ausgehen würde“, sagt er bei der nächsten Sitzung. „Aber ich trau mich nicht, sie zu fragen.“
Mir wird heiß, ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen.
„Warum nicht?“
„Vielleicht sagt sie nein.“
„Vielleicht sagt sie auch ja.“
„Ich will nicht zurückgewiesen werden.“
„Ich glaube nicht, dass sie das tun würde.“
„Dann ist es offensichtlich, wen ich meine?“
Ich nicke.
„Und Sie glauben, dass ich bei Mia eine Chance habe?“
Ich sehe ihn irritiert an.
„Ich meine die Patientin nach mir.“
„Frau Hammer?“, frage ich und erschrecke mich selbst über meine schrille Stimme. Er nickt.
„Wir unterhalten uns hin und wieder im Wartezimmer.“
Ich kenne Frau Hammer gut genug, um zu wissen, dass sie sich nicht für ihn interessieren wird. Sie ist viel zu wählerisch.
„Versuchen Sie’s doch einfach.“ Ein gebrochenes Herz ist immer ein guter Gesprächsstoff.
Wir sprechen alles im Detail durch. Zwischen uns gibt es keinen Filter, durch den seine Worte gezogen werden. Er sagt mir gerade aus dem Bauch heraus, was er denkt. Ich bin die Einzige, mit der er so spricht, die Einzige, die sehen kann, wie kaputt er wirklich ist. Mia weiß nichts von seiner Einsamkeit und seinen Verlustängsten. Wüsste sie davon, hätte sie sich nicht mit ihm getroffen.
„Zum Schluss hab ich sie geküsst“, sagt er und blickt daraufhin zu Boden. „Zu mehr war ich nicht bereit.“
Ich atme erleichtert auf, sage, er soll sich nicht unter Druck setzen.
Ich bin mir sicher, dass sie bald das Interesse verlieren wird, so wie sonst auch. Dennoch gebe ich ihm eine Reihe von schlechten Ratschlägen.
„Ich glaube, ich mag ihn“, sagt Mia zwei Wochen später.
„Und es gibt nichts, was Sie an ihm stört?“, frage ich.
Sie schüttelt den Kopf.
„Auch nicht der Altersunterschied?“
„Nein.“
„Und seine introvertierte Art?“
„Nein.“
„Gut“, sage ich. Dann frage ich, wie es auf der Uni läuft. Geht so, sagt sie. Sie hat Stress, weil sie eine wichtige Prüfung nicht bestanden hat.
Ich verschreibe ihr Medikamente mit starken Nebenwirkungen. Dazu gehören Gewichtszunahme und Depression. Niemand mag jemanden, der dick und schlecht gelaunt ist.
Herr Pechmann sagt mir, wie toll ich bin. Ohne mich hätte er sich nie mit Mia getroffen.
Er sagt: „Ich war schon lange nicht mehr so glücklich.“
Und dann: „Ich möchte die Therapie beenden.“
Ich denke: Jetzt dreht er durch.
Ich schnappe nach Luft, strenge mich an, die Fassung zu bewahren. Er ist krank, er weiß nicht, was er sagt.
„Ich kann die Therapie doch beenden, oder?“
Ich merke, wie ich schneller atme. Das ist die Panik, die in mir hochkriecht. Ich blinzle, hoffe, dass er die Tränen in meinen Augen nicht bemerkt.
„Selbstverständlich, Sie sind freiwillig hier.“
Unfassbar, wie schnell man den Verstand verliert, wenn es einem gut geht.
Frau Hammer hat ein wenig zugenommen. Trotzdem ist sie eine junge, hübsche Frau. Sie begreift gar nicht, wie gut es ihr geht. Denn obwohl sie jetzt einfach mit Herrn Pechmann glücklich sein könnte, sagt sie: „Ich fühle mich in letzter Zeit nicht gut.“
Da sage ich: „Ich kann Ihnen nicht mehr helfen. Sie sind seit drei Jahren bei mir und wir machen keine Fortschritte. Es ist besser, Sie suchen sich eine neue Therapeutin.“
Damit hat sie nicht gerechnet.
„Vielleicht brauche ich mehr Medikamente?“
Ich sage, ihre Medikamente wären schon stark genug.
Sie will fragt, was sie hat, Depression, Borderline oder vielleicht noch etwas Schlimmeres.
„Ich weiß es nicht“, sage ich und schicke sie vor die Tür.
Ich wollte nicht, dass es soweit kommt. Aber ganz unfroh bin ich nicht.
Herr Pechmann schluchzt. Ich verstehe nicht alles, was er sagt. Ich höre nur Krankenhaus und zu viele Tabletten. Sie ist nicht gestorben, aber fast.
Ich setze mich neben ihn und lege meine Hand auf seine.
„Haben Sie Mia schon besucht?“
Er schüttelt den Kopf.
„Das ist meine Schuld. Ich halte mich lieber von ihr fern, damit ihr nicht noch was passiert.“
Ich stimme ihm zu. Dann vereinbaren wir die nächste Sitzung.
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freiVERS | Marco de las Heras
Das Flaschendrehen hört niemals auf.
Blieb sie da stehen und zeigte zu mir, wütend
als hätte ich mich jahrelang im Sitzkreis
in einer solch' verstohlenen Art und Weise positioniert
damit sie mich nicht treffen kann:
Gestern starb mein Vater.
Seltsam regungslos lag er da im Zimmer, es war still;
eine Schnake störte meine Trauer.
Sie kam nach jedem Anlauf meiner Tränen
aus dem Hinterhalt, wie ein schiefer Geigenton im Ohr.
Als ich sie dann endlich müde rastend
an der Wand entdeckte, zog ich den Schuh aus,
holte mit ihm Schwung und erinnerte
während ich die Schnake auf der Stelle tötete
das Gewicht in meinen Fingerkuhlen von schweren, biergefüllten Plastiktüten
den Augenblick, als wir zusammenstießen
und siehe da: Aus der Schnake drang der Lebenssaft
klebte an der Wand.
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freiTEXT | Simon Loidl
Es war nichts
Wir saßen in Blickweite der Bar und warteten auf unser Essen. Wir sprachen kaum, denn wir hatten uns schon den ganzen Tag über unterhalten. Ich beobachtete die anderen Personen in dem Lokal, doch da gab es nicht viel zu sehen. Ein Mann ging an uns vorbei in Richtung des vorderen Teils, wo sich die Bar befand. Er blickte sich um, als wäre er ebenfalls zum ersten Mal hier. Weder vor noch hinter der Bar war jemand zu sehen. Plötzlich blieb der Mann stehen. Er schien etwas auf dem Boden zu betrachten, aber ich konnte nicht sehen, was. Nach ein paar Sekunden bückte er sich und hob etwas auf, das er in die Höhe hielt: eine oder zwei Spaghettinudeln, die offenbar beim Abräumen eines Tellers hier gelandet waren. Ich verstand nicht, weshalb der Mann die Nudeln aufgehoben hatte. Während er seine Hand, in der er immer noch die Speisereste hielt, wieder senkte, näherte sich in seinem Rücken, vom Eingang des Lokals her, eine Frau. Sie ging direkt auf ihn zu. Sie sprach ihn an. Ich hielt den Atem an, gespannt, wie sich der Mann aus der Situation herausmanövrieren würde, mit vom Boden aufgehobenen Nudeln ertappt zu werden. Ich weiß nicht, warum, aber ich war mir sicher, dass er die Nudeln in die Hosentasche stecken würde. Eine andere Möglichkeit sah ich nicht, wenn er nicht erklären wollte, weshalb er mitten in einem Lokal stand und Nudeln in der Hand hatte, die offensichtlich nicht seine waren. Doch der Mann machte weder das eine noch das andere. Er drehte sich um und grüßte die Frau. Dann wandte er sich zur Bar, legte die Nudeln in einen Aschenbecher, nahm diesen und trug ihn durch eine Tür, die hinter der Bar in eine Küche oder einen Abstellraum führte. Mir wurde klar, dass der Mann hier arbeitete. Ich begann wieder normal zu atmen, wandte meinen Blick von der zu Ende gegangenen Szene ab, blickte mein Gegenüber an und hob die Schultern.
„Was ist?“, fragte sie mich.
Ich schüttelte den Kopf.
Es war nichts.
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freiVERS | Johannes Bruckmann
Kaltes Feuer
Wir fügen immer noch ein Scheit hinzu und sprechen davon, dass das Holz aus uns sein möge
Wir fügen immer noch ein Scheit hinzu und sprechen davon, dass es unser Feuer sein möge
Wir fügen immer etwas hinzu, auf dass das Feuer in unseren Farben brennen möge
Aber immer ist es noch nicht unser Feuer
Immer zünden wir das Feuer noch nicht an
Das Feuer brennt noch nicht in unseren Farben
Wir beargwöhnen das Feuer, das noch nicht brennt
Früher haben wir auch Scheite abgetragen
Heute fügen wir nur noch Scheite hinzu
Und zünden das Feuer nicht an
Die Scheite werden immer größer, immer schwerer
Wir können die Scheite nur noch gemeinsam tragen
Weil das Feuer nicht brennt, fügen wir noch mehr Scheite hinzu und Scheite hinzu
Wir fügen verzweifelt immer noch etwas hinzu
Die Scheite werden immer größer, immer schwerer
Du willst das Feuer nicht entzünden, es hat zu lange nicht gebrannt
Die Scheite sind feucht und modrig geworden unter der Last der immer neuen Scheite
Wir leben von dem Feuer, das noch nicht brennt, das nicht mehr brennen wird
Aber wir fügen immer noch mehr Scheite hinzu
Wir können sie nur noch gemeinsam tragen
Niemand soll wissen, dass das Feuer nicht brennt, wir geben vor, dass das Feuer brennt
Dass das Feuer in unseren Farben brennt, dass es unser Feuer ist
Wir ersticken in dem kalten Feuer
Wir ersticken unter den schweren Scheiten, wir vermodern unter den schweren Scheiten
Wenn sich das Feuer entzündet, dann verbrennt es unsere Leichen
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freiTEXT | Tara Meister
Das Freie
Wir lernen uns kennen an einem Abend, in einer Gasse. Sie steht zwischen zwei Mülltonnen und ich stelle mich dazu, es ist die Rückseite eines kleinen Bio-Ladens mit Café, es hat längst zu, wir sind hier, um Abgelaufenes abzuholen, uns verbindet die dafür entworfene App. Weil ich so etwas noch nie gemacht habe, weil Leute vorbeigehen und uns mustern, schwitzen meine Hände. Ich mustere Marlene, deren Blick in die Ferne gerichtet ist, war der Name tatsächlich Marlene? Sie trägt einen bunten, samtigen Body mit wilden Pflanzen darauf, er ist tief ausgeschnitten, zwischen ihren Brüsten ist der Kopf eines Schlangentattoos zu sehen. Um ihren Hals eine Kette, deren Anhänger in ihrem Ausschnitt verschwindet, als hätte die Schlange ihn gefressen. Marlene ist groß gewachsen, kurvig und war bestimmt schon einmal hier. Alles oder etwas an ihr zieht mich magisch an. Es kommen noch zwei andere und Stefan- der damals mein Freund war- der gar keine Lust darauf hat, das sieht man ihm an. Ich habe es vorgeschlagen, er sagt dann nicht ja und nicht nein, er kommt vorwurfsvoll mit. Während der Ladenbesitzer kommt, während er ein paar Sätze mit uns wechselt, uns mit ins Lager nimmt und dort Papiertüten mit Essen verteilt, sehe ich Stefan an und merke, dass er Marlene, nicht ansieht. Es ärgert mich, ich wünsche mir, dass sie seinen Blick anzieht wie meinen, dass er sieht, was schön ist. Wütend drücke ich ihm weiche braune Bananen in die Hand. Ich bemerke Schweißflecken auf seinem blauen Hemd, das auf einer Seite aus seiner Hose gerutscht ist. In diesem Moment finde ich ihn erbärmlich, ich starre auf Marlenes Haar auf dem Weg nach draußen. Die Tür schließt sich, wir gehen ein paar Schritte weiter zu einer Grünfläche und beginnen dort das Essen zu verteilen. Stefan sieht mit etwas Abstand zu, ich bin innerlich seltsam erschüttert von diesem Abend, Marlene wühlt in den Papiersäcken. Sie wühlt und wühlt als würde sie nach einem Schatz graben. Wie eine Piratin, denke ich, und dass ich gerne wenigstens Steuermann wäre und ich sage Stefan, dass er doch mit dem Moped schon vorausfahren soll, ich würde nachkommen, ich habe keine Lust mehr nachzukommen. Mit vollem Rucksack, einer Flasche Wein in der einen und einer goldenen Dose Sardinen in der anderen Hand geht Marlene los, ich frage in welche Richtung sie muss, ich sage, ich auch, sie wirkt nicht begeistert. Gemeinsam gehen wir ein paar Straßen weiter und dann den Kanal entlang und ich weiß nicht mehr, was ich mir erhofft habe. Marlene bleibt für einen Moment stehen, um die Dose zu öffnen und das Öl abzugießen, dann essen wir im Gehen die Sardinen und spucken die abgebissenen Köpfe in den Fluss, der sie vielleicht raus aus der Stadt trägt. Während wir ein bisschen reden, merke ich schließlich, dass da etwas Dunkles, Unerfülltes ist. Ob mich das angezogen hat, frage ich mich.
„Wie heißt du nochmal?“, frage ich sie.
„Marlene.“
Es ist ein weiter Weg in Marlenes Leben.
Ich war keine Ausnahme, wie alle anderen auch habe ich sie im Laufe der Zeit immer wieder verloren.
Vor drei Jahren, erfahre ich irgendwann, ist sie in Wien angekommen, hat begonnen Psychologie zu studieren, nach einem Semester gemerkt, dass es nicht das Richtige war und einfach weiter gemacht. Immer noch ist das Studium unsichtbar, die Bücher in ihrem Regal sind allesamt Thriller, die Prüfungen schreibt sie von anderen unbemerkt.
Auf allen Fotos und jetzt gerade lacht sie, hält sie mich mit den Augen fest. Sie hat die lauteste Stimme in der WG, aber sie schweigt viel. Ich schlafe mit ihrem Mitbewohner und höre sie spät nachts zur Toilette schlurfen.
Manchmal sehe ich sie tagelang nicht und wenn dann die Türe aufgeht, sind ihre Schritte langsam. Über den Winter ist sie schwerer geworden.
„Wir wollten doch segeln gehen.“
„Heute nicht. Vielleicht morgen, wenn der Wind geht.“
Oft steht sie unruhig im Raum. Wolken, die sie nervös machen, fettige Pfannen wütend, aber kein Schwamm und keine Kerze machen die Wohnung zu einem Ort, an dem sie sein möchte. Wochenlang ist sie hungrig und still.
Aber jetzt ist Frühling und morgen, wenn der Wind geht, nimmt sie mich mit an die Donau, auf das Segelboot.
Ich gehe schlafen, sie sitzt noch länger dort am Tisch. Morgen, denke ich und in meinen Ohren rauscht es.
Am nächsten Tag erzählt sie, dass sie spät nachts ein Geräusch gehört hat, zwischen zwei und drei Uhr, sie war lang wach und ist spät aufgestanden. Es hätte jemand etwas Großes aus dem Fenster geworfen. Und dass sie sich heute doch nicht nach Segeln fühlt.
Mit einer Einkaufstasche verlasse ich das Haus, da liegt vor mir auf dem Gehsteig in einer glitzernden Lache ein toter Fisch.
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freiVERS | Roland Grohs
Brüche
Ihre Haut ist brüchig geworden.
Wir verkeilen uns,
wie Bauklötze, die ein Kind gegeneinander hämmert.
Das Bett ein Bauklotz, sie ein Bauklotz, ich ein Bauklotz.
Ehe wir fertig sind, möchte ich aufstehen,
träume von einer glatten Oberfläche, um zu puzzeln.
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freiVERS | Christl Greller
und sind wir frass
und holt der fuchs das süße kitz im gras,
der böse fuchs.
nein, mutterfähe,
wir lernen: und füttert sie im bau.
und adler holt den fuchs,
ist böse. nein,
wir lernen: adlerjunge brauchen fraß.
naturgesetz ist: eines lebt vom andern.
mein liebes, mein geliebtes kind.
und lebt in deinem kopf etwas, das
von dir frisst und
wächst in deinem hirn auf deine kosten.
dein streichel-lieber kopf. und lebt darin
und frisst und wächst was,
nicht zu tilgen mehr, im kopf auf
deine kosten.
wir lernen - naturgesetzlich, eines lebt
vom andern.
ich habe es gelernt.
will’s nicht verstehen.
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freiTEXT | Jasmina Cavkunovic
orpheus
Unter lauten Regentropfen hatte ich geschworen, dich zu vergessen – der Fairness halber, wie man sagt. Doch auf dem Weg zum Kino sah ich deine Straße wie ein flüchtiges Panorama aus dem U-Bahn-Fenster, und vergaß, was ich vergessen sollte.
Ich denke zurück an kalte Jännertage, wo ich mein Handy nach der Arbeit an mein Herz hielt, als ich deine Nachricht auf dem Bildschirm sah. Auf dem Weg zur Straßenbahn fühlte ich mich wie ein kleines Kind an seinem ersten Schultag – aufgeregt, das Gerät wie eine Schultüte fest umklammernd, als liefe es davon, wenn ich es nicht täte. Erbittert waren noch Monate später die Kämpfe mit der Schwerkraft, wenn ich meinen Daumen über dem Anrufsymbol neben deinem Namen schweben ließ, und obgleich ich sämtliche Schlachten gewann, glänzte ich auf einer jeden Siegesfeier durch Abwesenheit. Heute spüre ich die rechteckige Form meines Handys durch die Manteltasche an meinem Oberschenkel, während meine rechte Hand die linke hält. Die Beschriftung des Massagestudios in deiner Straße verläuft sich unterdessen in der wachsenden Distanz.
Weichgezeichnet waren wir, und weichgezeichnet haben wir die Linien, die unseren Zufluchtsort markierten. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es unseren Ort noch gibt, doch manchmal stolpere ich heute noch über Drahtseile, die ebendort am Boden liegen, wo du mich zum letzten Mal gehalten hast. Und du, versuchst du je das Gefühl von meiner Hand in deiner zu übertünchen, als wäre es Parfüm auf verschwitzter Haut? Sitzt du je auf deinem Dach und denkst über den Anfang unseres neu begonnenen Endes nach? Ist der Himmel je wieder so rosarot gewesen wie an jenem Montagabend im September? Langsam kehrt der Winter ein, es ist vermutlich besser so.
Schändlich mein Gedanke, unsere Karte sei interessanter gewesen als unser Gebiet. Absurd die Idee, unter der babyblauen Decke, die du mochtest, unser Wunderland nachzubilden, mit Serotonin-Modellen aus Kunststoff. Wenn ich in Träumen nach dir greife, bleibt mir nichts als Ruß auf meinen Händen; und wenn ich wach bin, spüre ich deinen Schatten an meinen Füßen – du hast ihn drangenäht, ehe du verschwandest. Ein bisschen Dunkelheit habe ich aus dem Hades mitgenommen, sie ist mein heiligster Besitz, habe ich festgestellt, und zugleich meine größte Last.
Du bist ein Blutfleck, eine Zäsur in meiner Geschichte. Deine Straße ruft noch immer meinen Namen, hörst du’s auch? Ich habe mich umgedreht, ich hab’ mich umdrehen müssen, einmal mehr. Ich werfe meine hundert Ehrenworte über Bord, unfähig zu vernehmen, wohin sie treiben.
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freiVERS | Enno Ahrens
Nachts
trage ich fantastische Krawatten
gefertigt aus selbsterlegter
Klapperschlange die Rassel
dazu verdeckt im Saum
Meine Schuhe sind krokodilledern
das Jagdmesser mit Griff
vom Elfenbein aus
reinen Gedanken
Sie sind lichtscheu
wie blutrünstige Vampire
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freiTEXT | Norbert Schäfer
Siebrecht
Gemessenen Schrittes begab er sich zum Komposthaufen und ließ einen Armvoll Efeuzweige und Blätter fallen, die sich gleichmäßig über die Schichten von feuchten Gras- und Moosresten, trockenen Blütenblättern und Zweigen verteilten. Das meiste blieb oben liegen, nur wenige Zweige rutschten seitlich hinab. Die Blütenstände waren ausgebildet, aber über die Beeren hatten sich schon die Drosseln und Amseln hergemacht. Efeu war so eine vitale Pflanze! Man kam mit dem Nachschneiden kaum hinterher. Und giftig obendrein. Nie bearbeitete er die Efeuhecke ohne seinen Mundschutz. Margarete kannte sich gut in diesen Dingen aus und hatte ihn von Anfang an auf die gesundheitlichen Gefahren hingewiesen.
Die Sonne meinte es gut heute – sie wärmte ungewöhnlich stark für einen April-Nachmittag. Siebrecht schwitzte ein wenig in seiner Gartenkluft. An seinem linken Hosenbein der kastanienbraunen Cordhose waren Spuren von Gartenerde zu erkennen. Er durfte nicht vergessen, sie abzubürsten, bevor er das Haus betrat. In dem kleinen Garten des Endreihenhauses in Köln-Müngersdorf fühlte er sich wohl. Und geschützt. Er trug derbe Arbeitshandschuhe über den langen Ärmeln seines schon ausgeblichenen karierten Holzfällerhemds. Die Stoffkappe mit dem Aufdruck des Blumenladens „FloraFit“ schützte seine Augen vor der Sonne. Nun, zumindest die Schutzmaske würde er jetzt ablegen können. Ruhig streifte er die Handschuhe ab, bevor er die Haltebänder der Maske hinter den Ohren löste. Er faltete den Stoff sauber und legte ihn auf die Bank.
Er vermisste sie.
Gegen die Sonne blinzelnd richtete Siebrecht einen letzten, kritischen Blick auf die Hecke. Einen etwa eine Handbreit heraus ragenden Zweig hatte er übersehen. Das hätte Margarete sicher nicht gefallen. Nein, das konnte er so nicht lassen. Bedächtig legte er den Mundschutz an, zog die Handschuhe über und machte dem widerspenstigen Spross den Garaus.
Unter dem Rhododendron hatte sich verrottendes Laub angesammelt. Den würde er nachher entfernen. Natürlich könnte er es auch sofort angehen. Das wäre kein Problem. Aber seine innere Uhr war im Laufe der Jahrzehnte präzise geworden. Er hatte ein untrügliches Gespür dafür, dass es Kaffeezeit war. Jetzt sollte der Duft von frischem Kaffee aus der offenen Terrassentür strömen. Wie freute er sich dann immer auf den Kuchen. Natürlich behielt er die liebgewordenen Rituale bei. Den Bienenstich hatte er schon am Vormittag beim Bäcker gekauft, und den Kaffee würde er jetzt selbst aufsetzen. Eine komplette Kanne – Siebrecht brachte es nicht übers Herz, nur eine halbe zu kochen. Lieber schüttete er den Rest weg. Er schlüpfte in die grauen Filzpantoffeln. Sie waren ein Geburtstagsgeschenk von Margarete und schonten den Fußboden. Sie war so praktisch veranlagt.
Langsam an einem Stück Bienenstich kauend dachte er über das kommende Osterwochenende nach. Die sonntägliche Ostermesse im Kölner Dom war für Margarete immer das Erlebnis des Jahres gewesen. Das prachtvolle Bauwerk, die vielen Menschen, die klare und schon wärmende Frühlingsluft und vor allem die andächtige, festliche Stimmung...
Siebrecht hatte sich dazu immer in seinen besten Anzug geworfen. Er machte sich eigentlich nicht sehr viel aus Religion, aber Margarete hatte ihm stets verdeutlicht, wie wichtig christliche Traditionen waren.
Ein junges Paar blickte ihn von dem Hochzeitsfoto auf dem Sekretär an. Wie weich Margaretes Züge darauf noch waren. Der Silberrahmen wies im Licht der durch die Terrassentür fallenden Sonnenstrahlen einen leichten Staubbelag auf. Staubwischen war immer seine Domäne gewesen – er würde sich heute Abend darum kümmern. Jetzt war erst einmal der Rhododendron dran. Siebrecht erhob sich ächzend und zog sich die Handschuhe über.
Der Boden unter dem Rhododendron war wieder schier. Mit beiden Armen griff Siebrecht sich einen Stoß Laub, den er auf dem Rasen zusammengeharkt hatte. Er mochte das Rascheln, wenn sich die trockenen Blätter über den Komposthaufen verteilten. Die Asseln und kleinen Spinnen, die hektisch das Weite suchten, störten ihn nicht. Er hatte ein Herz für Tiere, wenngleich sie sich aufgrund Margaretes Katzenhaarallergie nie eins angeschafft hatten. Hunde – tollpatschige, schmutzige Biester! – kamen für sie ohnehin nicht in Frage.
Mit dem rotkarierten Stoff-Taschentuch wischte er sich den brennenden Schweiß aus den Augen. Sein Blick fiel auf die Lücke zwischen dem Rhododendron und dem Flieder. Über den Zaun konnte er am Nachbarhaus vorbei einen Zipfel des Müngersdorfer Stadions erhaschen. Oder es mochte mittlerweile auch einen anderen Namen tragen. So ganz verstanden hatte er den Grund für diese Namensänderungen nie. Musste wohl Geld im Spiel sein.
Dort spielte am Wochenende häufig der EffZeh. Erste oder zweite Bundesliga – so genau wusste Siebrecht das nicht mehr. Die stiegen dauernd auf und ab. Früher, als Kind, hatte er oft und gerne gekickt. Er war nicht der schnellste, aber ein ganz passabler Verteidiger, wie er fand. Und Spaß hatte es gemacht, wenn ihn die anderen mitspielen ließen, was manchmal vorkam. Insbesondere wenn sie nur wenige waren.
Hin und wieder hatte er mit der Idee geliebäugelt, sich ein Spiel des Clubs im Stadion anzuschauen. Aber Margarete hatte ihn glücklicherweise rechtzeitig davon abgehalten. Letztlich wäre es eine reine Geldverschwendung gewesen. Solche Veranstaltungen waren laut, kulturlos und es wurde viel getrunken und gegrölt. Und es gab Prügeleien. So ein Stadionbesuch hätte letztendlich nur Scherereien gebracht – da hatte sie völlig Recht.
»Tag, Häär Siebräächt. Schön Wedder hugg.«
Zwischen dem Goldregen und dem Hibiskus zeigte sich die Gestalt der Nachbarin. Gisela Niewöhr – eine verwitwete Mittfünfzigerin. Mit gesenktem Blick inspizierte Siebrecht seine Fußspitzen. »Tag.«
»Wie gonn et Ehr Frau? Isse verreist?«
Er hob ein wenig die Lider und blickte verstohlen zu ihr herüber. Ihr Lächeln – ein wenig künstlich, wie er fand – wurde umrahmt von einem goldblonden, halblangen Pagenschnitt.
Die Haare waren natürlich gefärbt. Darauf hatte ihn Margarete schon vor Jahren hingewiesen. Nur Flittchen würden ihre Haare färben. Und dann auch noch als Witwe. Mit derlei Volk sollten und wollten sie keinerlei Umgang pflegen.
»Is auf Kur.« Eigentlich sah sie ja ganz freundlich aus, stellte er nach einem weiteren, vorsichtigen Blick fest. Aber das traf vermutlich für einige Frauen ihres Schlages zu.
»Ach, Se ärme Höösch. Da sin Se jaanz allein! Kann ich Ehr e bessche zor Hand gonn beim Huushald? Maache ich gään.«
Sie trug weder eine Arbeitskleidung noch eine Schürze, stattdessen ein gepunktetes blaues Kleid. Er fand, es stand ihr gut.
»Ich kütt zooräch.«
Margarete hatte ihr Haar nie gefärbt. Früher schimmerte es in seidigem Brünett. Später wurde es von ersten grauen Strähnen durchzogen, die dann langsam die Oberhand gewannen. In den letzten Jahren krönte ein akribisch gepflegter Dutt die mittlerweile grau gewordene Mähne.
»Wie Se wolle. Se künn gään hingerdren op e Liköörsche vörbeikünn. Schön Tag noch!«
Gisela Niewöhr zog sich wieder in ihre Wohnung zurück. Siebrecht atmete tief aus. Es fiel ihm ohne Margarete schwer, den nötigen Abstand zu aufdringlichen Nachbarn zu wahren. Ganz besonders zu Gisela, wie er die Witwe in Gedanken nannte. Obwohl... es könnte vielleicht ganz nett sein, sich bei einem Gläschen zu unterhalten. Wenn sie Limonade angeboten hätte... Siebrecht trank keinen Alkohol.
Nachdenklich stützte er sich auf seine Harke. In zehn Minuten würde ein Konzert des Wiener Symphonie-Orchesters im Fernsehen übertragen werden. Margarete liebte diese Sendungen. Und manche waren auch wirklich schön – das musste Siebrecht zugeben. Aber ohne sie wäre es nicht das Gleiche. Er beschloss, sich das Konzert nicht anzuhören.
Natürlich konnte er auch mal wieder die Eckkneipe „Zum Geißbock“ aufsuchen. Samstags wurden die Spiele live übertragen – man musste nicht ins Stadion gehen. Er war nur einmal da gewesen, als Margarete zu ihrer kranken Schwester gefahren war. Der Laden war gut besucht, aber nicht übervoll gewesen. Die Leute hatten schon etwas komisch geguckt, als er sich nur ein Wasser bestellt hatte. Aber außer ein paar gemurmelten, spöttischen Bemerkungen ließ man ihn unbehelligt. Margarete konnte ihm so einiges von Menschen erzählen, die sich buchstäblich um den Verstand, wenn nicht sogar um ihr Leben „gesoffen“ hatten, wie sie es nannte. Auch ihr verstorbener Onkel Herbert, den er persönlich nur dreimal gesehen hatte – bei der Hochzeit und zwei Geburtstagen, wenn er sich recht entsann – zählte dazu. Einzig und allein eine Flasche Kirschlikör, als Medizin zur Linderung ihrer überreizten Nerven, war erlaubt. Die Ärmste litt an manchen Tagen so sehr, dass ein Glas oft nicht ausreichte. Siebrecht wischte sich eine Träne aus dem Winkel seines rechten Auges. Glücklicherweise hatte er sich immer einer robusten Gesundheit erfreut.
Als er einen weiteren Schwung trockenen Laubs über den Komposthaufen leerte, bemerkte er es. Aus der untersten Schicht mit dem gemähten Gras ragte etwas hervor. Wie ein toter Ast. Mit fünf kurzen, dicklichen Zweigen.
Der Arm wirkte eingetrocknet, die Haut mittlerweile grau. Er versuchte, den goldenen Ring zu ignorieren, der noch an einem Finger steckte. Nie hätte er es gewagt, ihn abzuziehen. Nun... er hatte es versucht – aber der Finger war zu fleischig, er wirkte wie im Laufe der Ehe um den Ring weitergewachsen. Unauffällig blickte er um sich, aber von den Nachbarn war niemand zu sehen, und Gisela dürfte sich mit ihrem “Liköörsche“ trösten. Mit dem Außenrist seines rechten Schuhs versuchte er, die Extremität wieder unter die Grasklumpen zu drücken. Der Arm war schon sehr steif und rutschte immer wieder zurück. Siebrecht drückte und trat immer heftiger. Mittlerweile bearbeitete er ihn mit der Schuhspitze wie einen Fußball.
Es nützte nichts – wie zum Gruß schnellte der Arm immer wieder zurück.
Siebrecht seufzte. Das würde bestimmt Scherereien geben.
Schweren Schrittes begab er sich zur Kellertreppe, um die Säge zu holen.
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