freiVERS | Carlotta Frei
Überstand
Die Mühseligkeit des Arbeitenden spiegelt sich
im Eifer seiner Vernunft,
welche an Wänden klebt
wie Sprüche übers Leben,
an die man sich gern erinnert,
damit alles nicht so ernst erscheint
und immer denke ich an uns und unsere
Ernsthaftigkeit,ein Eingeständnis daran,
dass wir Menschen sind.
Trostlos und -spendend,
Energie und Sog,
ein Loch,
das Leben verlässt
und dem Tod entspringt oder andersrum?
Was war noch die Träne der Geweinten wert,
als sie fröhlich schien und wem haben wir dein Lachen zu verdanken?
Die zarten Falten, herrliche Streifen, behüten uns
wie eine warme Decke und Dankbarkeit dackelt
in Altersgruppierungen fort und fragt sich nicht,
wie wir auf diese Welt gekommen sind.
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freiVERS | Natalie Campbell
Zitronenbaumplantagen
Meine Lippen sind maulbeerblau,
unter den Nägeln klebt glitschiger Schneckenfilm,
von Pedralva weht Wüstenwind
lehmfarbene Sandpartikel
über sattgelbe Stoppelfelder, gespickt
mit schwarzen Krähenfedern.
Ein verkrustetes Korallenriff entsteht,
wo das Weizenmeer wogt.
Auf himmelblauem Tanzboden im Studio A
Arsenal ziehe ich sepiafarbene Spuren:
folge ihnen.
Dort, wo der Fluss eine Biegung macht
und Fische mit aufgedunsenen Bäuchen
ans Ufer schwemmt,
spiele ich dir ein Lied
von rot, gold und schwarz.
Sein tieferer Bedeutungsinhalt
entzieht sich deiner oberflächlichen Betrachtung,
und meine Erinnerungslücken treiben flussabwärts,
verborgen unter schwarzen Wassermassen.
Werden Sie endlich erwachsen!
Fordert mich meine Therapeutin auf
und darauf rasiere ich mir die Haare ab,
schmelze Strähne um Strähne ein,
vollziehe eine Metamorphose
von Wikingerbraut zur kindlichen Prinzessin
und betaste staunend den zarten Flaum.
Ich heuer dich an: für ein Kunstprojekt.
Nachts stemmen wir mit einem Presslufthammer
ausgewählte Hauptverkehrsknotenpunkte auf,
und pflanzen Zitronenbäume
in die gähnenden Krater.
Brich die Versiegelung! sprayen wir neongelb
auf Zugwaggone des städtischen Nahverkehrs.
Dann werden wir berühmt, über Landesgrenzen hinaus
und reich, das Geschäft floriert,
denn Autobahnen erweisen sich als fruchtbarer Boden
für Zitronenbaumplantagen.
Prinzessinnen kämmen ihr pinkes Haar
mit pinken Gabeln und essen am Abend
Topfenknödel mit Trüffelkern
auf flambierten Himbeeren
und verdauen das ganze
in ihrem pinkfarbenen Magen.
Wegen der Erderwärmung
speichern Wolken mehr Wasser
und wenn sie sich überm Garten entladen,
schlafe ich seelenruhig im Überschwemmungsgebiet.
Ich weiß, dass der Fluss weiß:
ich bin auf seiner Seite.
(Pocahontas war ohne den weißen Schnösel
eindeutig besser dran)
Auf der Suche nach dem Goldenen Schnitt
verliere ich mich in der fünfzähligen
Symmetrie von Seesternen.
So schön stand der Weizen noch nie,
don’t be apologetic!
Und wenn du dann fällst, fühlt es sich an, wie:
fliegen.
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freiVERS | Jakob Stoiber
sonnenkönige auf flammenden streitwägen (berge dersims in mir)
vor dem schönsten
urlaub:
ich komme um zu brennen
wer will mich aufhalten?
vor der zittrigsten
party
nacktes fleisch,
schaum und
linien zuhauf:
ich komme für den krieg
wer will mich aufhalten?
vor dem eintritt
in ein sonnenreich
das sich dreht
wie indische götter:
ich komme um zu sterben
wer will mich aufhalten?
hü!
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freiVERS | Alexander Rall
Alte Wege - Altes Land
ein paar altbekannte Wege
die ich gehe, der
jüdische Friedhof, den man nur
über eine Mauer erreicht, im Versteck
reicher Gärten, aus Stein
ein aufgeschlagenes Buch
Chiffren ausgewaschener Zeit
Spiele die nie zu Ende gespielt wurden
als Kind schlug ich den Tennisball
gegen die Wand mit kleinen Händen
gegen die Zeit - heute
lag er mitten im Herbst zwischen
gelb-roten Spuren, rau welk
abgespielt war sein Filz
alte Garagen offen ein Käfer
die Kotflügel abgefallen, rostig und halbtot
wie die Raupen und der Kran
im Stillstand des zukünftigen Bauens
da kommst du nicht mehr vor
in den neuen Geschichten
in lichten Fenstern, wie abgeschnitten
die Strassen - du brauchst nur
zu klingeln, alte Bekannte
sind immer noch da, verharren
grüßen und laden sich ein - wenn
du willst gehör ich dazu - rede
über den Match-Ball
den perfekten Volley, das
Stipendium im Ausland
das nächste Kind, den neuen Besitz, die
kranke Kasse ‚Anything goes‘
nicht weit das alte Land
Licht in den Bäumen
Gezwitscher in Gärten
faulendes Obst, Moor und Moos
massig im Schlaf
schau weiter in die Stille
blicklos das auftauchende Meer
eine Landschaft aus Dünen und Worten
gezeichnete Wege mit weichen
stampfenden Schritten im Sand
hinter geschlossenen
hellwach spiegelnden Augen
bis zum nächsten Zug
einatmen und aus
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freiVERS | Quentin Lennox McMahon
Strandspaziergang
Wir laufen am Strand und du hältst meine Hand
vor uns ist eine große Pfütze
"meine Beine sind zu kurz" sage ich mit gespieltem Trotz und du sagst
"nein, die Pfütze ist zu groß!"
vielleicht hast du recht, denke ich und gehe um die Pfütze herum, wir laufen weiter
und meine Gedanken fangen an zu spinnen
wenn meine Beine nicht zu kurz sind.. sondern die Pfütze zu groß
was wenn ich nicht zu klein bin, sondern das Regal zu hoch?
wenn ich nicht "zu gut für die Welt bin",
sondern die Welt zu böse, narzisstisch, kaputt?
wenn ich nicht zu bunt bin sondern der Rest zu trist und
wenn ich nicht zu träge bin sondern
die Erwartungen zu hart
"lehrjahre sind keine herrenjahre!"
schon klar
aber gefühlt nur einmal Lob im Jahr?
denn wenn ich alles geb' und auch das nicht genügt
wenn mein Bestes vom Besten nicht reicht
ist dann bei mir was falsch? oder vielleicht
bei denen ganz oben mit Glück und Ansehen
und ich mich nicht zusammenreißen und aufste'n
sondern sich was ganz anderes ändern muss
wir laufen zurück und ich lächle in mich rein
vielleicht reicht es ja doch ich selbst zu sein
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freiVERS | Martin Baumeister
der letzte sommer
schub um schub, feldbetten und
fertiggerichte.
die vignette klebt auf der
windschutzscheibe und
der busfahrer sagt, er muss für einen alten
mann auf der straße bremsen:
geh‘ nur. das wird dein letzter sommer sein.
unter den pinien ruhen die zelte, sie
bleiben ein unterschlupf für rucksäcke.
wir schlafen im freien
und trinken heimlich auf den steinen
abseits, am schotterweg.
später pflastern wir die wände der stadt
mit oliven aus der fletsche.
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freiVERS | Anika Hoffmanns
Kegeln gehen
Jeden Freitag Abend
marschierte der Club in die Stadt.
Über den Kirchplatz, rechts in die Gasse
zum hell erleuchteten Kolpinghaus.
Wie früher in den Sechzigern
malt sie sich heute die Lider blau an.
Schlüpft in ihr altes Lieblingskleid,
das kraftlos hängt wie ihr Haar.
Die Dauerwelle zur Feier des Tages
hat der Friseur ihr verwehrt.
Sie öffnet die Haustür, schließt sie wieder,
die Nachrichten fallen ihr ein.
Die leeren Straßen und die Sonntage
an denen der Pfarrer schweigt.
Aber trinken! Das kann sie noch,
im Kühlschrank steht billiger Sekt.
Und später beim dritten Doppelkorn
hat sie die Kugel in der Hand
und Holztäfelung unter den Fingern.
Es läuft ein Schlager im Radio,
der macht sie zur Königin.
Während sie blinzelt, keucht und schnieft
wiegt sie sich weiter im Takt der Musik.
Klirrend wirft sie mit leerer Hand,
beim ersten Versuch alle Neune.
Sie taumelt, reckt stolz die Arme empor,
die Scherben lässt sie liegen
wie jeden Freitag Abend.
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freiVERS | Johannes Bruckmann
Der Weg von der U-Bahn nach Hause und der Aufenthalt in der Wohnung
Weil ich
Ein U-Bahnfahrgast
Ebenso gut auch U-Bahnführer hätte sein können
Nahm ich mich vor mir selbst in Schutz
Bis ich
Den unterirdischen Blumenladen passierend
Spürte
Dass ich auch Florist hätte sein können
Statt U-Bahnführer statt U-Bahnfahrtgast
Aber dann
Als ich in mir einen Nachtwächter sah
Irrte ich mich in der Zeit
Ebenso
Als ich in mir einen sah
Der den linken Fuß vor den rechten setzt
Weil ich doch in diesem Moment
Den rechten vor den linken setzte
Erst in meiner Wohnung
Konnte ich nicht mehr alles sein
Konnte ich nicht mehr versehentlich auf neue Gedanken treten
Allerdings nur, bis ich mir den Klang des Telefons vorstellte
Und mich fragte
Was würde derjenige, der abhebt
Demjenigen antworten, der anruft
Würde derjenige sich als eine Castingagentur ausgeben?
Und würde es sich dabei um einen Scherz handeln?
Kämest du jetzt nach Hause
Dann könnte ich vielleicht am Ton deiner Stimme eine Antwort...
Dann könnte ich vielleicht an deinem Geruch...
Dann könnte ich vielleicht...
Aber dafür müsste es dich geben
Dürfte ich jedenfalls in Bezug auf dich
Keinem Irrtum unterliegen
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freiVERS | Andreas Hippert
Inkarnation
Mit Schwung
spannt der Turmfalke
über flüchtiger Feldmaus
den Bogen.
Zischend,
pfeilt
er hinab
auf die
Stoppelzeile.
Die Rückennaht trennt er,
den Felleinband schlägt
krallend er auf
Eingeweide durchblätternd
stößt er
vor
zum pulsierenden Herz.
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freiVERS | Klaus Roth
mittags
die tauben stieben auf
und wir erwachen
aus unseren tagträumen
am stadtbrunnen
die tauben stieben auf
und immer neue gespräche
entspinnen sich
über die asymmetrie
der verhältnisse
und das glück
dem wir nachjagen
seit jahren
mit flatterigen herzen
die tauben stieben auf
und hinterlassen
ihre unsichtbaren spuren
so sitzen wir so reden wir
so reden wir so sitzen wir
und geben einander ein alibi
für all unser versäumtes leben
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