freiTEXT | Elísa Lovísa
Lebensretter
Kondome in allen Farben kleben unentrollt auf einer Glaskugel, die von innen beleuchtet ist und sich dreht. Dazu ertönt Musik von ausschließlich schwulen Künstlern, von António Variações bis hin zu Gaahl von Gorgoroth. Die bunten Schatten gleiten über die Wand und verbreiten dabei frivole Tanzatmosphäre.
Es ist mein 18. Geburtstag und ich befinde mich auf der Ausstellung meiner zehn Jahre älteren Schwester. Es stimmt nicht ganz, dass es ihre Ausstellung ist – sie gehört zu einem kleinen Künstlerkollektiv, das hier für zwei Monate seine gesammelten Werke zeigt. Ich bin stolz auf sie.
Ihr Freund und Kollaborateur Haq schenkt mir Sekt nach und singt aus vollem Hals das Lied von Judas Priest mit, das gerade läuft. Die Stimmung ist erstaunlich ausgelassen dafür, wenn man bedenkt, dass sich bei der Eröffnung vor zwei Tagen ein kleiner Skandal ereignet hat. Nun, es war eher einen Tag später, denn eine der anwesenden Journalistinnen hat sich bei der Pressebegehung der Räume nichts anmerken lassen und am nächsten Morgen einen empörten Artikel in ihrem Blatt drucken lassen, der ordentlich Aufsehen erregt hat. Jetzt strömen die Leute nur so in das bescheidene Kunsthaus unserer kleinen Stadt.
Ich habe mich ohnehin gewundert, warum das Kollektiv um meine Schwester ausgerechnet hier ausstellen will, das ist doch viel zu abgefahren für dieses Provinznest, wo in der Regel nur die Arbeiten von Rentnerinnen gezeigt werden, die einen Kurs in impressionistischer Malerei besucht haben. Gelegentlich auch Schwarz-Weiß-Fotos von Schülerprojekten, in denen ein Lehrer seinen Schützlingen beigebracht hat, wie man den Film selbst entwickelt.
Das hier war eher etwas, das man in Berlin oder Köln vermuten würde. Aber das Kollektiv beharrte darauf und meine Schwester sprach sogar davon, dass es besonders hier nötig wäre. Jeder solle Zugang zu Kunst haben, meinte sie, und fügte etwas vage hinzu, dass die Inhalte nicht rein für Großstädter wären und auch hier sicher Menschen berühren würden. Sie sollte Recht behalten haben.
Am Tag nach der Eröffnung war nun also der Teufel los, der ganze Landkreis schien von der Ausstellung gehört zu haben, über sie zu sprechen, sie sehen zu wollen – trotz des meiner Meinung nach eher einfallslosen Titels „Re:Produktion“, der nicht danach klang, als könne er unsere Mitbürger zu Scharen ins Kunsthaus locken.
Der tatsächliche Höhepunkt der bisherigen Resonanz aber war der Brief, den jemand wohl noch in der Nacht unter der Tür durchgeschoben und den die Aufsicht heute Morgen beim Aufschließen erst gefunden hatte.
Er wird gerade an der Wand angebracht, mitten im Raum, der dem Projekt gewidmet ist, für das meine Schwester hauptverantwortlich zeichnet und das „Innigkeiten“ heißt.
Eigentlich liegt im Kollektiv das Urheberrecht immer bei der Gruppe. Genau dieses Projekt aber war so persönlich, dass meine Schwester fast ganz allein daran gearbeitet und dafür den Künstlernamen „Roe v. Wade“ gewählt hat. Was wie ein exzentrischer Adelsname klingen mag, ist in Wahrheit die Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA, der dort damals die Abtreibung legalisiert hat. Und davon handelt ihr Projekt. Unglücklicherweise war sie auf dem Bild zu sehen, das in der Zeitung abgedruckt war, allerdings nur mit diesem Künstlernamen, an den übrigens auch die Morddrohung gerichtet ist, die nun als vielsagendes Zusatzexponat die Ausstellung bereichert.
Auf die Frage meiner Mutter, ob sie damit nicht zur Polizei gehen wolle, winkt meine Schwester ab. Sie wirkt alles andere als eingeschüchtert und sieht die Nachricht eher als Beweis dafür, wie wichtig die Ausstellung sei, wie sehr sie es geschafft habe, die Menschen an wunden Punkten zu treffen. Auch wolle sie keinesfalls der Absicht nachgeben, sie zum Schweigen zu bringen. Sie kündigt sogar an, weitere Morddrohungen an derselben Wand zu sammeln, sollten noch mehr eintrudeln. Diese Reaktion, die ihrer Auffassung nach ausgezeichnet die Widersprüchlichkeit sogenannter „Pro Life“-Aktivisten einfängt, rundet das Gesamtwerk noch besser ab.
Zum diesem gehören unter anderem eine Modellstadt voller Abtreibungskliniken, zwischen denen die schwangere Maria in Begleitung von Josef auf Modelleisenbahnschienen hin und her pilgert, ohne Einlass zu erhalten, während im Hintergrund das Lied „Mary Never Wanted Jesus“ von Thee Majesty läuft. Des Weiteren lässt sich in der Mitte des Raumes ein großer Globus finden, dessen Kontinente dicht an dicht gedrängte Playmobilmännchen bevölkern, während seine Ozeane komplett mit Plastikteilchenmosaiken überzogen sind. Darüber schwebt ein Storch mit einem Bündel im Schnabel.
Es gibt eine kleine Wackelkopffigur des aktuellen Papstes, die mit einer Sprechblase verkündet, dass allen Frauen, die von ihrem Partner zu einer Abtreibung gezwungen wurden, vergeben wird, während ein Pappmaché-Jesus sich nebendran um den Andrang an vom Papst ignorierten und zurückgelassenen Frauen kümmert. An einer Wand thront über einer altarähnlichen Vorrichtung ein ikonenhaft stilisiertes Gemälde von Kristina Hänel, jener Ärztin, die angeklagt wurde, weil sie über Abtreibungen aufklärte, und die auf dem Bild das selige Lächeln einer Heiligen trägt.
Außerdem hängt da noch eine chinesische Flagge, vor der eine Waage steht, eine Schale befüllt mit Männlichkeitssymbolen, die andere, deutlich schwerere, mit dem weiblichen Pendant, entsprechend der dortigen Abtreibungsstatistik. Eine Klanginstallation mit einem Chor brasilianischer Frauen, die dafür beten, dass ihre Abtreibung unentdeckt bleibt, kann man sich ebenfalls anhören.
Meine Schwester eben – die ganze Welt muss repräsentiert sein, zumindest annähernd.
Zitate zum Thema Schwangerschaftsabbruch aus der ganzen Weltliteratur wie aus internationalen Geschichts- und Gesetzesbüchern zieren die Wände; Adichie, Márquez und zig andere.
Aber das sind die politischen, die offensichtlichen Werke. Ohne die ginge es nicht, meint meine Schwester, und mich beschleicht das Gefühl, sie hat kein Vertrauen in die Interpretationsfähigkeit der Leute hier – vielleicht zurecht. Allerdings wunderte ich mich anfangs sehr, ist ihr Stil doch sonst eher subtil, scheut geradezu jede Erwähnung tagesaktueller Themen und Namen, verwehrt sich allem Konkreten, meidet das allzu leicht Verständliche.
Und zwischen den aufmerksamkeitsheischenden Werken verstreut liegen diese Inseln der Introspektion, die persönlicheren Exponate meiner Schwester.
Von ihrer eigenen Abtreibung vor sechs Jahren hat sie mir vor Kurzem erst erzählt; unsere Eltern wissen es schon längst. Bemerkenswert an ihren Erlebnissen, ihrer Erzählung war vor allem der Umstand, dass die meisten beteiligten Frauen – Frauenärztin, Abtreibungsärztin – sich laut meiner Schwester eher als unsensibel bis repressiv erwiesen, während die Männer – der Berater bei Pro Familia, der Narkosearzt – wesentlich verständnisvoller, urteilsfreier und warmherziger reagierten. Warum das so war, darüber kann man allerhand Mutmaßungen anstellen, aber meiner Schwester erschien dieser Fakt sehr erwähnenswert.
In den Bildern, Installationen und Skulpturen, die inmitten der Provokationswüste stehen, liegen all die Leeren und Erblühungen, die meine Schwester seit der Zeit mitgemacht hat, ihre Verknüpfungen zu dem Ereignis mal mehr, mal minder stark. Das Wahnsinnige daran ist, dass ich diese spüren, nachfühlen kann, durch ihre Geschichten, durch ihre Kunst. Wie ein Echo kommt es bei mir an, ein Echo, dessen Schwingungen mich umwerfen.
Der Bauch als Körperhöhle, Lebensraum, Gefängnis. Verengung der Welt, Verengung des Seins, Reduktion auf ein paar wenige Organe. Allumfassende Angst, ungeheures Wachsen um einen herum von Aufgaben, Erwartungen, Druck und Zwängen. Die Verbindung bleibt tot, körperlich vorhanden, doch nicht fassbar, keine Vorfreude, keine Mamamutation, kein Rühren einer neuen Wesenshaftigkeit. Nichts. Zukunftssorgen, Geldsorgen, Planetensorgen, erdrückende Machtlosigkeit, und das Selbst ist immer noch zu schwach, um ein weiteres, ein anderes Bewusstsein zu erschaffen, zu halten, zu leiten. Welt- und Lebensfülle schwinden.
Die Entscheidung kostet Mut und Überwindung, Stigmata, die bluten, Hinterfragen der Beseelung aller Dinge, eines Jenseits, einer Transzendenz. Diese Unklarheiten, die schon immer welche waren und es auch bleiben werden.
Danach jedoch: weinende Wiedergeburt, Erleichterung, himmelhochjauchzend! Befreiung, Wärme, Dankbarkeit. Möglichkeiten, die erwachen, daneben Trotz – Kampf mit der Meinung der Leute, die richten, die nicht wissen, die Schuld suchen und Ausreden, um ihrem Hass freien Lauf zu lassen. Was gegen den eigenen Willen geschieht, soll gut sein, gottgewollte Überforderung. So oder so nichts als Strafe.
Es gibt Monate, wo sie nach Gefühl ringt, gegen die vernichtende Feindlichkeit, die Bitterkeit und Vorhaltung der Leute, sie kämpft um jede Empfindung.
Aber sie hat sich behauptet, sich gerettet, hat gelernt, dankt denen, die ihr das Leben wiedergeschenkt haben, ist in der Zeit gewachsen und erstarkt.
Kontrovers mag es sein, aber meine Schwester sagt genau das: Dass der Akt der Abtreibung der Moment war, in dem sie sich selbst gebar, die Auslösung eines tiefgreifenden Entwicklungsprozesses, das Ergreifen von Kontrolle und Selbstbestimmung mehr als je zuvor. Ein Ergründen der eigenen inneren Umstände. Und davon zeugen ihre Exponate.
Es überrascht mich, wie viele ältere Frauen da sind, die überaus emotional reagieren – manche, weil sie damals zu mitunter gefährlichen Abtreibungspraxen gezwungen wurden, manche, weil sie dies heimlich allein unternommen hatten, aber ihr Geheimnis mit niemandem teilen konnten, und manche, weil sie gezwungen waren, Familien zu gründen und ihnen dadurch viele Chancen verwehrt blieben, viele ihrer Träume platzten. „Kostenlos, sicher, legal“ war früher eben noch undenkbarer als heute.
Meine Schwester steht wie eine Triumphsäule inmitten ihrer sichtbar gemachten Verletzlichkeiten, ihrer Erschöpfungen und Erschaffungen, beobachtet die Menschen, die sich in diesen selbst erkennen und sie mit ihren Gefühlsregungen umbrausen, umtosen, bestürmen.
Sie ist mehr als zufrieden, sie ist im Frieden mit sich, vertraut sie mir an, und sogar mit den Absendern der Drohbriefe. Sie weiß, dass diese vermutlich keinen Fuß in die Ausstellung setzen und wahrscheinlich nie ihre Meinung ändern werden. Aber ihre Haltung spricht von anderen Ängsten, die dem Kollektiv Inspiration für die nächste Ausstellung geliefert haben. Meine Schwester sprüht momentan vor Tatendrang und Revolutionslust, Ideen vermehren sich stündlich. Der Angstabbau, der Schamnachlass, die Besinnung auf die eigenen Kräfte – in ihr knospen hundert neue Welten, alte erglühen wieder. Sie war so klein und schwach und verunsichert zwischendurch, erzählt sie mir, und jetzt ragt sie ins Leben, überblickt alles, weitsichtig, klarsichtig, clairvoyant.
Ein neuer Künstlername für ein neues Projekt ist geboren, meine Schwester strahlt, sie will und wird aufgehen wie eine verschlossene Blüte, eine goldgießende Sonne.
Lächelnd drückt sie sich an mich und überreicht mir mein Geschenk: ein Ring aus rotem Glas mit vier weißen Streifen, ein Rettungsring. Er ist ein Symbol: die Zusicherung von Hilfe und Unterstützung, die Erinnerung an meine eigene Stärke, und zugleich Dank, denn der Gedanke an mich und meine Zukunft hat sie durchhalten lassen, die Vorkämpferin, die Mutentbrannte.
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freiTEXT | Anne Büttner
Buttermenschen
„Entschuldige, ich muss Dir das einfach sagen: Du hast unglaublich schöne Flanken! Wirklich. Fiel mir gleich auf, als Du zugestiegen bist.“ Adjektivlos schaut sie mich an. „Das hörst Du sicher öfter, oder? Dass Du atemberaubende Flanken hast." „Ehrlich gesagt, nicht so oft, nein." Erstaunlich eigentlich, denke ich und antworte entsprechend. „Ist ja nicht so, dass perfekte Flanken alltäglich sind. Entweder haben die Menschen den Blick für das Schöne oder den Sinn für Komplimente verloren. Beides nicht vertretbar, wenn Du mich fragst.“ Sie fragt mich nicht.
Das frühzeitige Verebben eines nicht zustande gekommenen Gesprächs ist eine mir vertraute Situation, mit der ich umzugehen weiß. Normalerweise würde ich einen letzten, bewundernden Blick auf ihren komplimentierten Bereich werfen und mich dann bis zum Erreichen des Zielbahnhofs meinem Larvenbestimmungslexikon widmen. Normalerweise. „Oh“, sage ich und meine damit die Jubiläumsausgabe, in die die Schönbeflankte sich vertieft hat. „Du interessierst Dich für mikrobiologische Prozesse?“ Sie nickt. „Dann darf ich also hoffen, dass Du auch auf dem Weg nach Neuruppin bist?“ Neuruppin und Hoffnung in einem Satz, passiert mir sonst eher selten. „Zum Käferlarvensymposium?" Erneutes Nicken. „Tja, dann", gebe ich mich geheimnisvoll und ihr Gelegenheit, nachzuhaken.
(Gelegenheit 1)
(Gelegenheit 2)
(Gelegenheit 3)
„Tja dann“, wiederhole ich, „dann bin ich wohl weiter dran, was?“ Keine Regung ihrerseits. „Okay. Also bin ich.“ „Bist was?“, fragt sie. „Na - weiter dran“, antworte ich. „Mit fragen. Man ist solang dran, bis man daneben liegt oder das Rätsel gelöst hat.“ Es gehört nicht viel dazu, ihre Körpersprache als Desinteresse zu deuten. Immerhin keine gänzliche Ablehnung. Das schürt Hoffnung. Und noch glüht mein Gesprächsfunke. „Lustig, dass ausgerechnet der Ptilinus Pectinicornis auf dem Umschlag abgebildet ist. War mein allererster Käfer, weißt Du.“ Weiß sie natürlich nicht. Woher sollte sie. „Siehst Du, hier.“ Ich halte ihr meinen Unterarm hin. Sobald sie das dort tätowierte Ebenbild von Sir Arthur bewundern würde, denke ich im Konjunktiv, werde ich ihr im Indikativ erklären, was es damit auf sich hat. Nun gut, ich würde es ihr auch erklären, wenn sie nicht bewundert. Wenn sie einfach nur fragt. Oder fragend blickt. Oder blickt. Okay, beschließe ich, ich erkläre es ihr, ohne dass sie etwas dafür tun muss.
„Darf ich vorstellen: Sir Arthur. So sah er aus, als ich ihn fand. Mutters Putzfimmel. Ein strahlender Tag für den Haushalt, ein schwarzer Tag für Sir Arthur und mich. Von wegen, Käfer könnten in so einem Staubsaugerbeutel noch eine ganze Zeit überleben, wie Abraham in Moby Dicks Bauch. Ich hoffe, Sir Arthur war auf der Stelle tot und musste sich nicht zwischen all den Fusseln, Flusen Krümeln und anderen Klack-Klacks quälen, aus denen ich ihn barg. Zumindest sieht er friedlich aus, oder?“ Ich betrachte noch einmal sein Bild. „Ja. Doch. Friedlich.“, bestätige ich meine Einschätzung und krempele den Ärmel wieder runter. Sie hatte wirklich genug Zeit, einen Blick darauf zu werfen.
Wie aus dem Nichts schiebt sie ihr linkes Hosenbein nach oben. Herrjeh, schöne Fesseln hat sie auch noch. „Da“, sagt sie und tippt auf das tätowierte Wimmelbild aus Punkten und Stäbchen an ihrem wohlgeformten Knöchel. „Meine Lieblingsmikroben in tausendfacher Vergrößerung.“ „Gibt es etwas Bedeutenderes, das zwei Fremde auf der Fahrt nach Neuruppin miteinander teilen können?“, frage ich und meine es ernst.
„Vielleicht schon“, gibt sie, ebenfalls ernst, zu bedenken und sendet folgende Signale:
- hungriger, beinahe gieriger Blick
- dezent geöffnete Lippen, mit der Zunge selbstvergessen umfahren
- leicht gerötete Wangen
- sichtbares Pulsieren der Halsschlagader
- mir zugeneigter Oberkörper
Obwohl Flirten nicht meine Königsdiziplin ist, weiß ich, die Zeichen zu deuten und rutsche auf meinem Sitz vor. Die Nervosität versuche ich mir nicht anmerken zu lassen. Als ich mich gerade zu ihr beugen und ihr das geben will, wonach ihr offensichtlich ist, holt sie mich mit einem „Hoffentlich richtige Butter und keine Margarine?“ in das Wurstbrot-Hier zurück. „Ach, das meinst Du." So, wie sie mein Proviantpaket auf dem Klapptischchen zwischen uns fixiert, ahnt sie wohl nicht, was ich eben vorhatte. "Nein. Ist richtige Butter. Und richtige Wurst und richtige Landgurke auch.“
Ich bedeute ihr, sich an den Broten zu bedienen. „Ach super, danke!“ Um unser zartes Band zu stärken, greife ich mir trotz Völlegefühls auch eins. „Es gibt ja Buttermenschen und Margarinemenschen. Obwohl letztere gar keine richtigen sein können. Meine Meinung.“ Meine auch, wie ich ihr mit Nicken und aufgestelltem Daumen zu verstehen gebe, während ich mit der anderen Hand versuche, mein Brot so zusammenzudrücken, dass ich beim Abbeißen nicht den kompletten Rohschinken runterziehe. Ich wünschte, ich hätte mich für einen weniger komplizierten Belag entschieden oder sie sich wahlweise für den gleichen.
Stattdessen hat sie sexy Teewurst und ich ein kulinarisches Desaster. „Mal ehrlich, was ist das für ein Leben? Kompromiss wählen, statt sich für das einzig Richtige zu entscheiden? Sowas zieht sich ja durch. Das hört ja bei Ersatz-Butter nicht auf. Nehmen wir beispielsweise ..." Kaugeräusche überlagern ihr Beispiel. Hätte ich nicht noch immer mit dem Schinken zu kämpfen, würde ich nachfragen. „Während Margarinemenschen also noch Probleme suchen und hadern, haben sich Buttermenschen schon entschieden. Und zwar richtig." Erneut beißt sie in ihre Teewurststulle. Gerade so, als sei die ein Apfel und dies ein TV-Spot für Zahngesundheit. Ob ihre Makellosigkeit ihr manchmal ähnlich lästig ist, wie mir aktuell der Rohschinken? „Müsstest Du doch genauso sehen. Bist ja schließlich auch ein Buttermensch.“ Egal jetzt - ich ziehe den Schinken vom Brot und schlinge runter. Sie hat mich tatsächlich soeben zum Buttermensch geadelt. „Nehmen wir dieses Oder-Spiel. Kaffee oder Tee. Winter oder Sommer. Katze oder Hund. Berg oder Meer. Jetzt oder später. Später oder nie. Und oder oder? Solche Spiele fallen nur Margarinemenschen ein. Für Buttermenschen gibt es kein Oder. Kein X, wo ein U ist, keine Birne im Apfelgewand." Ich bewundere ihre Tiefgründigkeit und Entschiedenheit ebenso, wie ihre Flanken und Fesseln.
„Ah. Hier ist noch was frei", tönt es da unangenehm aus der Schiebetür unseres Zugabteils, das leider keine Zweier-Suite sondern ein Sechs-Personen-Abteil und damit auch anderen zugänglich ist. In diesem Fall dem verhutzten Störer, der sich geräuschvoll auf den Sitz neben mir fallen lässt. Ausgerechnet, als sie und ich kurz davor waren, einander ewige Liebe zu schwören oder uns wenigstens unsere Namen zu verraten, platzt er rein. Tatsächlich ist seine Hutzigkeit das einzig Besondere an ihm. Ansonsten lässt sich ganz objektiv feststellen, dass er über sehr viel Gesicht, sehr wenig Behaarung und einen zweckmäßigen Körper verfügt und dass er ein typischer Weder-Noch ist, was in diesem Fall dem Mängelexemplar eines Sowohl-als-Auchs entspricht. Beeindruckend unangenehm, wie er versucht, um ihre Aufmerksamkeit zu buhlen. Nicht in der Lage, ihr Desinteresse zu erkennen oder zu akzeptieren, monologisiert er unablässig über sich und ähnlich Unspektakuläres. Während sie ihn dabei entweder gar nicht oder versehentlich ansieht, befasse ich mich mit folgender Rechnung: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit W, in einem beliebigen Abteil X eines beliebigen Zuges Y auf eine Person Z zu treffen, die nicht nur die weltschönsten Flanken und Fesseln hat, sondern zudem Interesse I an der Lösung "für das vieldiskutierte Problem, dass es beim Verschrauben der Pins immer zu Beschädigungen durch den Flansch kommt beziehungsweise, haha - aufgemerkt, kam", wie der Verhutzte uns wissen lässt. Die Interessenwahrscheinlichkeit liegt meiner Berechnung nach bei beruhigenden minus Null Prozent.
„Oh", oh-t er in ihre Richtung, „Du interessierst dich für Prozessleittechnik im Alltag?" Sie nickt. Davon hat sie mir nie erzählt. Vielleicht braucht sie ihre kleinen Geheimnisse. Aber woher weiß er es dann, frage ich mich. Antwort gibt die von mir bislang unbemerkte Ausgabe der aktuellen `Prozessleittechnik im Alltag`, die, bei Hinschauen erkennbar, in der Seitentasche ihres Rucksacks steckt. „Dann darf ich hoffen, dass du auch auf dem Weg nach Groß Twülpstedt zum Dichtungstechnikkongress bist?", fragt er und birst fast vor Begeisterung.
„Das wär ja nicht zu fassen, wär das ja nicht. Ich meine, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit W, in einem beliebigen Abteil X eines beliebigen Zuges Y eine Person Z zu treffen, die sich für exakt dasselbe Spezialgebiet interessiert, wie man selbst?" Statt die Lösung zu verraten, würde ich ihm gern klarmachen, dass das hier nicht das Flanschen-für-Interessierte-Abteil ist und wir auch nicht auf großer Fahrt zum Dichtungstechnikkongress sind, sondern Buttermenschen auf dem Weg nach Neuruppin. Sie antwortet ähnlich. "Eventuell auf dem Rückweg, je nachdem, wie Neuruppin wird." „Wie soll Neuruppin schon werden? Es ist und bleibt Neuruppin. Dann sehen wir uns also in Groß Twülpstedt." Was für ein selbstgefälliger Fatzke. Kennt er Neuruppin? War er schon mal da? Nie war mir Neuruppin näher als jetzt. „Darauf sollten wir uns zubroten. Magst Du?" Obwohl die Frage nicht mir gilt, lehne ich dankend ab. „Leider war die Margarine leer - aber es schmeckt auch mal ohne, oder?" Margarine, schmecken und oder in einem Satz. Das Glück sorgt für Wiedergutmachung, denke ich und hoffe ausnahmsweise, dass sie ihm zugehört hat. "Zum Anstoßen reicht`s allemal, was?" Anscheinend meint er es ernst. „Danke. Aber ich bin so satt wie lange nicht mehr", höre ich sie sagen. Und dann schenkt sie mir ihr schönstes Buttermenschenlächeln. Auch auf die Gefahr hin, noch Schinken zwischen den Zähnen zu haben, lächle ich zurück. Lieber Schinken im Zahn, als Margarine im Herzen.
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freiTEXT | Lisa Gollub
Als die Leiter fiel
Der erste Fall von der Leiter geschah Mitte August. Niemand hätte es vorhersehen können außer die Person, die fiel, und das war der Vater. Er stieg mit klobigen Straßenschuhen auf die Leiter, holte etwas aus der Kammer oberhalb der Garage, ließ den Gegenstand von oben auf die Wiese plumpsen und stieg dann verkehrt von der Leiter. Auf einer der unteren Sprossen blieb er mit dem Absatz seiner Schuhe hängen, sprang ab und landete mit Kopf, Händen und Knien auf den unebenen Fliesen. Er richtete sich mühevoll auf, hielt eine Hand an den Kopf, die andere ans Knie, beide waren blutig. Geht schon, dachte er sich und holte die Gartenschere aus der Garage. Auf dem Rückweg in den Garten tropfte schon Blut von der Stirn übers Kinn auf sein Arbeitshemd. Papa, was ist los?, rief der Sohn, als er ihm begegnete. Und da war es schon geschehen. Der Vater klappte auf dem Rasen zusammen. Ruf den Notarzt!, rief der Sohn zum Nachbarn, der zu Gast war, schnell!
Geht schon, sagte der Vater wieder bei Bewusstsein, als der Notarzt eintraf, aber der Sohn hielt ihn auf dem Boden. Geht nicht, sagte der Arzt dann, Sie haben eine Platzwunde am Kopf und Abschürfungen auf Händen und Knien, Verdacht auf Gehirnerschütterung, wir nehmen Sie jedenfalls mit. Alle Beschwörungen des Vaters gingen ins Leere. Es sei alles nicht so schlimm, er sei nur von der Leiter gehüpft, weil es nicht anders ging, es sei ja eigentlich nicht viel passiert, jeden Tag fallen Leute von der Leiter. Der Notarzt hörte ihn an und bereitete dann die Liege vor, denn beim Aufstehen schwankte der Vater ordentlich.
Die Tochter war gerade auf der Autobahn unterwegs, als der Bruder anrief. Der Papa ist umgekippt!, sagte er, wir fahren ins Landesspital. Was passiert sei, wollte sie fragen, aber da war die Leitung tot, und sie dachte: Schlaganfall oder Herzinfarkt. Sie änderte die Route und fuhr geradewegs zum Landesklinikum. Die Fahrt dauerte quälend lange. Und der Bruder war nicht mehr zu erreichen.
Die Rettung brachte den Vater in die Notfallambulanz des Landesspitals. Er wurde geröntgt und genäht und sollte zur Beobachtung über Nacht bleiben. Die Tochter stürzte herein, als der Vater die Dokumente entgegennahm. Auf seinem Gesicht lag ein mildes Lächeln, und der Bruder sagte erleichtert zu seiner Schwester: Fast nichts passiert!, worauf der Vater entgegnete: Hab ich doch gesagt!
Am nächsten Tag wurde der Vater entlassen. Verkrustetes Blut überzog einen Teil der Stirn und auch Arme und Beine. Ich bin komplett schmerzlos, sagte der Vater wie zum Spaß zur Mutter, die ihn besucht hatte. Die Mutter rügte ihn mit Blicken und Worten. Wie so etwas passieren könne, rückwärts die Leiter heruntersteigen, herunterspringen! Man müsse auf ihn aufpassen wie auf ein Kind. Sie verließ das Wohnzimmer und holte aus dem Medizinschrank Ringelblumensalbe. Dann sagte sie zu ihm: Dass du sie auch verwendest!
Einen Tag später taten sich Mutter und Sohn zusammen und verräumten die Leiter umständlich in der Garage. Auf die an der Wand befestigte Vorrichtung steckten sie zusätzlich zur Leiter Ketten und Seile, davor stellten sie den Rasenmäher und die Autoreifen. Als die Mutter vorschlug, sie könnten die Leiter versperren, antwortete der Sohn: Der Papa ist erwachsen. Es vergingen einige Tage, ehe der Vater wieder ordentlich hantieren konnte. Bald wurden die Nähte gezogen und die Abschürfungen schienen gut zu verheilen. Nicht kratzen!, ermahnte der Sohn den Vater, wenn er an den Krusten kratzte. Dann erheiterte der Vater sich zu sagen: Das weiß ich schon.
Bald bekam die Tochter von der Mutter einen Anruf. Sie lebte in der Stadt und war nur alle Zeiten mal am Land. Im Grunde konnte man sagen, sie hatte sich vollkommen von ihrer Familie emanzipiert. Die Mutter trug vorwurfsvoll vor, was sie über die Verhältnisse zu sagen hatte. Dass der Vater meistens ganz allein sei, dass sie zu selten nach ihm sehe, dass es gar nicht hätte passieren dürfen, dass der Vater von der Leiter fällt. Die Tochter hörte sich das an und antwortete, dass das nicht in ihrer Macht stehe.
Bald war der Vater wieder fit. Er setzte gemeinsam mit dem Gärtner Blumen, grub Wurzeln verdorrter Bäume aus, montierte einen Sichtschutz am Maschendrahtzaun. Er war ganz in der Tat. Anfang September stieg er zum ersten Mal seit seinem Unfall auf die Leiter. Mühevoll hatte er sie aus der Garage hervorgeräumt, geputzt und aufgestellt. Zur Demonstration seiner Gesundheit hatte er den Nachbarn bestellt, der ihm zusah, als er die Leiter erklomm. Von oben winkte er herab, und der Nachbar sagte händeringend: Seien’S bloß vorsichtig! Kaum war er wieder am Boden, lachte er wie ein Kind, das sich freut, eine Aufgabe gemeistert zu haben. Alles halb so schlimm, sagte der Vater.
Als er zum zweiten Mal von der Leiter fiel, war der Vater allein. Er platzierte die Leiter an einer anderen Stelle der Hausmauer, um die Satellitenschüssel zu justieren, denn der Fernseher hatte ausgesetzt. Als er ganz oben war, überkam ihn Schwindel. Er hielt sich fest, aber trotzdem schien sich alles zu bewegen. Er bemühte sich, so schnell wie möglich herunterzusteigen, und dann, fast war er da, stürzte er rücklings auf die Wiese. Wie eine umgedrehte Schildkröte lag er auf dem Rücken, die Wiese war hart und hatte den Sturz kaum abgefedert, und als er aufstand sagte er sich, wie immer, wenn etwas passiert war: Nichts passiert!
Am Wochenende kam die Familie zusammen. Der Vater saß mit steifem Rücken auf der Wohnzimmer-couch und trank seinen Kaffee. Die erste, die Verdacht schöpfte, war die Mutter. Sie beobachtete ihn einige Zeit, und dann sagte sie nicht ohne Vorwurf: Warst du wieder auf der Leiter? Der Vater verneinte, wie man eine Frage verneint, die man nicht gestellt bekommen will. Wortlos ging die Mutter hinaus und holte die Kette aus der Garage und das Vorhängeschloss vom Gartentor. Damit kettete sie die Leiter an die Winterreifen. Genauso wortlos setzte sie sich zurück ins Wohnzimmer.
Als er im Laufe des Nachmittags in die Garage kam, entdeckte der Vater die angekettete Leiter. Er stand einen Augenblick da und betrachtete das Werk. Dann griff er in die Schlüsselschublade, in der sich alle Zweitschlüssel des Haushalts befanden, probierte mehrere von ihnen, bis einer passte und machte die Leiter frei. Bald stand sie wieder an der Wand, fern von Satellitenschüssel und anderen Gründen, auf eine Leiter zu steigen.
Er hielt Ausschau und entdeckte hinter dem Fenster, über das die Leiter reichte, seine beiden Kinder. Sie standen einander gegenüber. Der Sohn schien etwas zu erzählen, über das die Tochter schon erwartungsvoll lachte. Dann lachten beide. Und dann lagen sie einander vor Lachen in den Armen. Der Vater war versucht, ebenfalls zu lachen, aber es blieb bei einem Lächeln. Mit Bedacht stieg er auf die Leiter, er hatte wieder die Straßenschuhe an und das Arbeitshemd mit rosa Flecken auf Brust und Bauch, in Richtung der Schwerkraft, dachte er, als er an sich herabblickte. Dann hörte er die Terrassentür, und im selben Moment rafften seine Kinder im Haus die Vorhänge und blickten ihn ungläubig durchs Fenster an. Es ist die Zeitspanne, in der man versucht, aus der gegebenen Information Schlüsse zu ziehen, und, kann man es nicht, zu handeln, ganz gleich, ob es hilft oder nicht. Die Mutter stürzte in den Garten, die Kinder öffneten die Fenster und versuchten den Vater wie die Feuerwehr von der Leiter ins Haus zu hieven. Indes stand die Mutter hilflos vor der Leiter, schrie, wedelte mit den Armen, flehte den Vater an, er möge herabsteigen. Aber der Vater stand mit einer Festigkeit und Sturheit auf der Leiter, knapp eineinhalb Meter über dem Boden, und ließ sich nicht bewegen, auf den Boden zu kommen. Stattdessen lächelte er seiner Familie wie aus einem Passfoto entgegen und umklammerte die Leiter umso mehr.
Zuerst hielt die Tochter inne. Ruhig stand sie am Fenster und schaute ihren Vater an. Sie sah die Furchen auf der Stirn, die jetzt geglättet waren, das arglose, halb schadenfrohe Lächeln, das sie manchmal selbst nach dem Zähneputzen aufsetzte. Was wollte der Vater sagen?, fragte sie sich. Da hielt auch er Bruder inne und blickte sie an. Die Mutter hatte sich inzwischen in die Hosenbeine des Vaters verkrallt und versuchte ihn unter noch größerer Gefahr auf den Boden zu ziehen. Aber still war es geworden. Die Kinder schwiegen und der Vater stand unverändert starr und wortlos auf der Leiter. Die Mutter schnaufte, hing mit den Fingern noch an der Hose, kämpfte mehr mit sich selbst, als mit dem Vater, und letztlich, als sie auf den Boden plumpste, musste sie einsehen, dass es allein dem Vater oblag, von der Leiter herunterzukommen oder nicht.
Die Fenster wurden geschlossen. Der Vater stand noch einige Zeit auf der Leiter, aber ohne Publikum macht auch das größte Kunststück keinen Spaß. Er drehte sich um hundertachtzig Grad, nahm Sprosse um Sprosse, sprang von der letzten ab und landete sicher er auf dem Rasen. Im nächsten Augenblick sauste die Leiter an ihm vorbei und fiel klirrend auf die Wiese. Nichts passiert!, dachte sich der Vater heiter und saß bald wieder auf der Wohnzimmercouch.
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freiVERS | Cornel Köppel
ausufern
gletscherwasser getrunken
auf travertin gebissen
den pfad am falschen ende
aufgesäumt das geröll
rund gewaschen von wo das
alles herkommt dieses geschiebe
ohne jahrringe das tosen
des schmelzwassers
das gebleichte holz
wie angeschwemmte knochen
ausgestorbener tiere flusswärts
zum gegenwert der trockenlegung
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freiTEXT | Matthias Becher
Styx
Auf der Rolltreppe befinden sich erheblich zu viele Menschen, um die Fahrt nicht als direkten Eingriff in Leas Privatsphäre zu werten. Die von Körperausdünstungen und sich auflösenden Bremsbelägen geschwängerte U-Bahnluft drängt spürbar gegen Fahrtrichtung den Treppenschacht hinauf, geradewegs in Leas Nase. Abartig. Sie wünscht sich, die Treppe genommen zu haben, weiß gar nicht, warum sie es nicht getan hat, und befindet sich nun in einem idiotischen Menschenauflauf, dem das Rechts-Stehen-Links-Gehen-Prinzip offensichtlich fremd ist. Sie ist festgesetzt.
Ihr linker Unterarm liegt auf den schwarzen Gummihandlauf – so konnte sie zumindest noch wenige Zentimeter von ihrem Stufenpartner wegrutschen –, doch aus nicht nachzuvollziehenden Gründen ist die Geschwindigkeit des Handlaufs minimal schneller als die der Treppe, sodass Lea alle paar Meter den nackten Unterarm mit einem leise schmatzenden Geräusch anheben und in eine angenehmere Position bringen muss, bevor ihr Oberkörper so weit nach vorne gezogen wird, dass ihre Nase in der Frisur des Vordermanns landet.
Kurz verschränkt sie die Arme vor der Brust, aber dann ruckelt die Treppe und Lea denkt daran, wie sie als Kind einmal auf einer Kaufhausrolltreppe hinfiel und die metallenen Zähne am Ende sich etwas von ihrem Babyspeck einverleibt haben. Es war eigentlich nur ein kleiner Hautfetzen, aber in ihrem Kinderkopf formte sich dich Sicherheit, gerade noch einmal mit dem Leben davongekommen zu sein. Unbewusst wandert die Hand wieder auf das klebrige Gummi.
Ein Tropfen fällt ihr auf den Arm, Lea zuckt zusammen und schaut reflexartig an die Decke, die im Schneckentempo an ihr vorüberzieht, kann aber keinen Ursprung lokalisieren. Die Flüssigkeit ist irgendwie zu dunkel, fast schwarz. Als Lea sie mit den Fingerkuppen berührt, ist es für eine Sekunde so, als könnte sie den Tropfen als Ganzes verschieben wie Regen auf einem Lotusblatt, erst dann bricht die Oberflächenspannung.
Auf den Zehenspitzen versucht Lea, das Ende der Rolltreppe zu sehen, so lange kann die Fahrt doch nicht dauern. Sie sieht jedoch nichts außer einer schier endlosen Menge von Hinterköpfen, unbewegt und gleich ausgerichtet. Ihr umherschweifender Blick findet wenige Fixpunkte, die Plastikrahmen an den Wänden zeigen alternierend das gleiche Motiv: Dr. Eckart von Hirschhausens neue Glückswortspielfolter auf Tour, zwei Wochen später gefolgt von Chris de Burgh. Beide grinsen debil in dem Wissen, dass sie fürstlich dafür bezahlt werden, in den großen Hallen des Landes den Menschen das zu geben, wofür sie gekommen sind: Durchhalteparolen und die Bestätigung, dass doch alles gar nicht so schlimm ist.
Eine Abweichung von dieser Reihung gibt es an genau einer Stelle, wo auf die Wand zwischen die Entertainment-Klone ein Sticker geklebt wurde. Der Aufkleber sieht aus wie ein Namensschild aus amerikanischen Filmen, in denen jemand zu den Anonymen Alkoholikern geht. Ein blaues Feld trägt den weiß ausgesparten Schriftzug HELLO, MY NAME IS, gefolgt von einem Blanko-Feld. Darauf hat der Urban Artist mehr oder weniger kunstvoll die Buchstaben Styx getagt. Der Aufkleber ist an drei der abgerundeten Ecken beschädigt, konnte jedoch nicht erfolgreich entfernt werden.
Die omnipräsente Aluminiumverkleidung spiegelt das gelbliche Licht der Leuchtstoffröhren und verzerrt die Körperformen der Reisenden. Monströse Schenkel und deformierte Hände, disproportionale Köpfe und weichgezeichnete Konturen bilden ein gespenstisches Wimmelbild im Treppenschacht.
Unruhe dringt von weiter hinten zu Lea und als sie sich umsieht, kann sie gerade noch die Hand wegreißen, bevor eine Person mit hoher Geschwindigkeit knapp an ihr vorbeirauscht. Der Ausbrecher gleitet auf dem schmalen Steg zwischen Handlauf und Wand herunter, doch kurz nachdem er an Lea vorbeirutscht, passiert das Unvermeidliche: Sein Sneaker weicht von der Ideallinie ab und die linke Ferse verkantet am Gummilauf. Er hebt ab, kracht mit dem Kopf an eine von Hirschhausen-Ikone und fällt zurück in die geregelte Bahn der Treppe.
Kurz bewegen sich die Köpfe und Oberkörper der anderen Treppennutzer, während der Gefallene in den kaum vorhandenen Zwischenräumen auf den Boden sinkt. Dann herrschen wieder stoisches Nach-Vorne-Schauen.
Lea kann nicht ausmachen, was mit dem Ausreißer passiert, aber es sieht nicht so aus, als würde sich jemand um ihn kümmern. Gerade ist sie auf der Höhe, an der sein Kopf gegen den die Wand geschlagen ist, Blutspritzer verfeinern das manische Lächeln des Glücksdoktors. Es ist einfach, glücklich zu sein. Schwer ist nur, einfach zu sein, zitiert die Masse unerwartet im Chor und verfällt dann wieder in Schweigen.
Instinktiv drückt Lea den Not-Aus-Knopf, der gerade an ihr vorüberzieht. Die Treppe kommt zum Stehen und das Licht geht aus. Wassersprinkler an der Decke schalten sich ein und innerhalb von Sekunden ist Lea vollkommen durchnässt. Ein Bach bildet sich, der die Stufen hinunterfließt, ihre Ballerinas durchweicht und binnen kurzer Zeit auch ihre Knöchel umspült. Panisch reißt sie den Knopf aus seiner Arretierung. Flackernd gehen die Lampen an, die Rolltreppe bewegt sich wieder und das Wasser, das bei Licht betrachtet die ekelhafte schwarze Flüssigkeit ist, versickert langsam in den durchlässigen Stufen. Fröstelnd schaut sich Lea um, sie ist die einzige, die von der Horror-Episode überhaupt Notiz genommen hat. Sie wischt sich die restlichen Tropfen von den Armen, wringt Haare und Kleid aus, um dann wieder in Gedanken bei dem Gestürzten zu landen, dem ihre Aktion sicher eher geschadet hat.
Sie drückt sich weiter nach vorne, schiebt sich zwischen den regungslosen nassen Gestalten voran, gewinnt nur langsam Raum. Es wirkt, als wollten die Gestalten sie wirklich zurückhalten. Doch immer, wenn sie sich umdreht, sind die Mitfahrer bewegungslos. Lea fixiert den ihr am nächsten Stehenden, baut sich vor ihm auf und schaut ihm direkt in die Augen. Dieser nimmt sie nicht wahr, guckt apathisch durch sie hindurch und blinzelt sehr langsam und regelmäßig. Er stinkt.
Alle haben hier den gleichen Gesichtsausdruck und obwohl sie sich in Statur, Kleidung und Gesichtszügen unterscheiden, sind sie dennoch wie uniformiert. Alle tragen Kopfhörer und wenn Lea raten müsste, würde sie auf Chris de Burgh in Dauerschleife tippen.
Auf dem Treppenboden befinden sich aufgeweichte Pappbecher und Fastfoodreste, die sich so weit auftürmen, dass Lea weniger gehen kann als waten muss. Tauben fliegen wie Aasgeier auf und ab, kreisen unter der Leuchtstoffsonne, suchen nach einem Landeplatz, von dem aus sie die Abfälle ungestört ausweiden können. Die Blicke des Chors richten sich auf das nächste Medizinkaberettplakat, geschlossen intoniert er: Shit happens. Mal bist du Taube, mal bist du Denkmal.
Schließlich erreicht Lea den Verunglückten, der zwar an einer frischen Platzwunde am Kopf zu erkennen ist, ansonsten aber wie die anderen steht und sich nicht weiter abhebt. Das Blut ist bereits geronnen und er hat offensichtlich keine ernsteren Verletzungen davongetragen.
Dann geht ein Zucken durch seinen Körper, erst rebelliert das Zwerchfell, die Schultern zittern, ein Röcheln folgt, dann ein vorsichtiges Husten, das sich in einen regelrechten Anfall steigert. Als es vorbei ist und der Gebeutelte die Hand vom Mund nimmt, hält er eine Münze darin. Kurz schaut er sie an, der Grauschleier vor seinen Pupillen lüftet sich. Seine Hand schließt sich um die Münze und wie auf ein Signal hin, das Lea verpasst hat, heben die Umstehenden ihn hoch, lagern ihn auf ihren Händen und reichen ihn nach oben hin weiter, als wäre er vollkommen gewichtslos, als würde die hochgereckte Faust mit der Münze darin ihn nach oben ziehen.
Lea schaut ihm nach, doch er ist schnell außer Sichtweite und sie kann es nicht ertragen, so stehenzubleiben und in all die stumpfen Augenpaare zu blicken. Also dreht sie sich um und starrt auf den Hinterkopf ihres Vordermanns. Wieder ruckelt die Rolltreppe, doch Lea fühlt sich nicht mehr dazu verpflichtet, den Handlauf zu benutzen. Ihr Körper nimmt die Unregelmäßigkeit unbeteiligt auf, als die Schockwelle der Erschütterung von den Füßen bis in den Kopf läuft, die Zähne kurz aufeinanderschlagen lässt und dann verschwunden ist.
Wie lange ist sie nun schon auf dieser Treppe? Es können Sekunden oder Stunden oder Tage sein. Wie ist sie überhaupt hergekommen? Sie sucht nach ihrem Handy, doch ihr Kleid hat keine Taschen und ihre Handtasche muss von der Flut weggespült worden sein.
Mittlerweile hat sie den Eindruck, dass nicht die Treppe selbst sich bewegt, sondern nur die Wände um sie herum wie eine Leinwand im Loop vorbeiziehen. Immer, wenn die Erschütterung kommt, ist die Leinwandrolle einmal durchgelaufen und beginnt wieder von vorne. Von Hirschhausen, de Burgh, von Hirschhausen, de Burgh, von Hirschhausen, de Burgh, der Aufkleber HELLO, MY NAME IS Styx, an dem drei Ecken abgefetzt sind.
Das kann natürlich Zufall sein, die Sticker sind schließlich dafür gemacht, in größeren Mengen verklebt zu werden. Trotzdem ist Lea sich sicher, dass sie ihn bald wiedersehen wird und macht sich darauf gefasst, die vierte Ecke zu bearbeiten, um ganz sicher zu gehen. Sie schwört sich, die Plakate zu zählen und die Abstände zwischen den Aufklebern, aber nach dem achten von Hirschhausen verliert sie den Überblick, als der Chor murmelt: Du willst anders sein? Andere gibt es schon genug.
Es gibt keine Exit-Strategie. Erst einmal abwarten. Ein Tropfen schwarzes Wasser fällt auf ihre Schulter, sie nimmt es hin. Dann wird Lea bewusst, dass auch sie Kopfhörer trägt, aus denen 80s-Rock erklingt: Don’t pay the ferryman / until he gets you to the other side. Und alle drei Minuten und zweiundfünfzig Sekunden ruckelt die Treppe und ein neuer Durchlauf beginnt.
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freiTEXT | Marcus Jensen
Buch Fes
Es hatte nun die Welt einerlei Zunge. Das Tor auf dem Schirm aber stand wüst und leer. Miguel Varoum ließ Mauszeiger und Buchstabenbrett sprechen, und das Volk Fes antwortete und verkündete ihm: Siehe, dein Name ist unversehrt, und dein Scheidewort gehorcht unseren gemeißelten Gesetzen. Aus Name und Scheidewort begab sich also der Zugang, und er war gut. Miguel Varoum fand Herberge und machte sich die Einstellungen untertan, seine Zeitleiste war gekommen. Er befreundete sich mit Giselher Okumbo, und Giselher Okumbo befreundete sich mit Zazie Thornsdottir, und Zazie Thornsdottir befreundete sich mit Kwame Li Feng, der da schaffte beim Schreibtisch von Halga Bmbam im Schweiße seines Angesichts, und Kwame Li Feng befreundete sich mit Are Friends, dem sein eignes Antlitz gefiel, und Are Friends befreundete sich mit Brünhild da Silva, die hatten vierundvierzig gemeinsame Freunde und waren ein Fleisch und schämten sich nicht. Brünhild da Silva wollte sich mit Ivan Singh befreunden, der aber verwarf ihr Sinnen. Ivan Singh bildete sein Linsengericht ab und gab es hinein, und es gefiel sieben Personen. Zazie Thornsdottir gab Unliebsames hinein und wart deabonniert von Miguel Varoum, der sonst keiner Frucht widersagte und seinen gereckten Daumen schließlich nun aber auch Otta Serpens gewährte, die da hineingegeben hatte: Lobet das Volk der Dviter und ihre zweihundertachtzig Zeichen.
Dies war den Erzengeln unter dem erlassenden Firmament ein Gräuel, auf dass sie die Ihren in die Finsternis trieben. Das Volk Fes und all seine Vervielfältigungen wurden unstet.
Es war ein großes Heulen und Zähneklappern.
Nacht und Tag schufen einen Anstupser.
Da ereigneten sich Neubeginn und Scheidewortabfrage.
Und Zazie Thornsdottir, die einst deabonniert wart, sprach: Meine Befreundeten, ihr sollt nicht länger auf euren Bäuchen kriechen und Erde fressen, denn Miguel Varoum wird verflucht sein siebenundsiebzigmal. Dies belohnten die Erzengel. Und Zazie Thornsdottir gab dreihundertdreiundfünfzig Preisungen oder Verdammungen des Wetters hinein, und sie erkannte Giselher Okumbo, der fünfhundertfünfundsechzig bewegte Bilder von kleinen behaarten Tieren hineingegeben hatte, und sie schrieb die Beziehung in ihre Zeitleiste, und alles, was Odem des Lebens hatte, fand daran Wohlgefallen. Zazie Thornsdottir und Giselher Okumbo machten einen Kasten, den nannten sie Seite und füllten hinein die Geschlechter aller ihrer derer aus dem Volke Fes, die niemals den trügerischen Reizen fremder Netzwerkungen gefolgt waren, und es gefiel den Erzengeln, auf dass sie die Wahren mit blauen Haken versorgten als Zeichen ihres Bundes und den Treuen frohlockende Sticker schenkten, funkelnd und gelb.
Miguel Varoum musste achthundertdreiundneunzig schmerzende Stürme des Unrats erdulden. Aber seine Reue war tief, indes er rief: Was habe ich getan? So wurde er fromm und hütete sich fortan. Und Zazie Thornsdottir verzieh ihm und fügte ihn hinzu, und prachtvoll anzuschauende Antwortranken vieler Freunde sprossen unter ihren Eingaben gleich den Wasserfällen von Kom’ndahre.
Nun begab es sich, dass das Volk der Dviter sich zusammenrottete im Tale Silicohn und auf Rache sann und auszog, doch die Erzengel trieben ihm das Volk Gugelpluss zu, da fand ein Gemetzel statt nahe der Senke Lingt-Inn, und beide Völker rieben sich auf bis in die dritte Generation, was gefiel dem Volke Fes, und es erhob sich großer Jubel, na und so weiter.
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freiTEXT | Stefan Reiser
Verkaufstalent
Ein darstellender Künstler, der sich durch ständiges Hinterfragen seiner künstlerischen Tätigkeit das Leben unnötig schwer machte, lernte eine bildende Künstlerin kennen, deren größte Sorge nicht auf die Qualität ihrer Arbeit bezogen war, sondern allein auf deren Vergütung. Hingegen war sein Selbstbewusstsein insbesondere auf die Tatsache gestützt, dass er für seine Kunst - ob sie ihm nach eigenem Urteil nun gelungen war oder nicht – immer einen Abnehmer gefunden hatte, mühelos. Eine Zusammenarbeit schien also folgerichtig. Schon bald brachte er die Künstlerin in eine Situation, von der sie nie zu träumen gewagt hätte: Beinahe täglich kamen Offerten von privaten Sammlern, renommierten Galerien und Auktionshäusern in London und New York; die Nachfrage nach ihren Werken überstieg das Angebot um ein Vielfaches; Kritiker bezeichneten die Preisentwicklung als überraschend, Neider die Künstlerin als überschätzt. Grundlegend für die Verkaufserfolge des darstellenden Künstlers war - das bestätigte sich bei jedem Geschäft -, dass er von den Werken der Künstlerin, ja von bildender Kunst im Allgemeinen, nicht die geringste Ahnung hatte.
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freiTEXT | Sebastian Franz
Leipheim-West
Stahlgraue Sonnenstrahlen brechen an der Wohnblockwand. Dein Red-Bull-geschwängerter Atem kondensiert in der Morgenluft, und wir teilen noch den letzten Rest, um auszuharren. Zwei Schluck Smirnoff, drei Züge Luckies, alles was wir haben. Das war damals schon so. Damals sind wir oft hier hergekommen. Damals waren die Schaukelbretter noch aus Holz. Doch ihr Abstand beträgt noch immer exakt zwei Armlängen. Dein Rechter plus mein Linker. Im Wind kann ich kaum hören, was du mich fragst, deshalb lächele ich nur. Du lächelst zurück. Wir sind uns einig. Das war damals schon so.
Damals, als du Jahrgangsbeste warst und dein Vater mich fast durchs Abi hat fallen lassen. Als wir doch nicht zusammenkamen, weil du mich auf Abschlussfahrt mit der Schwedin erwischt hattest und ich so zum Glück niemals mit diesem Bastard von Mathelehrer gemeinsam frühstücken musste.
Alva.
Wie so oft nach der Night Lounge, sitzen wir jetzt auf unserer Schaukel, umgeben von ockermelierten 24-Parteien-Blocks und der Südumfahrung Leipheims. Zwischen alter US-Air-Force-Grundschule und ehemaligem Mannschaftsunterkunftsgebäude 5, wo alles zum ersten Mal geschah: Knutschen, rauchen, kiffen, saufen, ficken, kotzen. Und du warst ein jedes Mal dabei.
Ich stoße mich vom Boden ab und frage mich, ob das noch Sand ist oder mittlerweile eine Melange aus Dönerfleisch, Galle und Wodka-O.
…Wenn wir kommen, bist du Opfer tot… scheppert aus deinen Handyboxen und ich muss grinsen. Scheiß auf Schule, scheiß auf Uni, das ist wie Fahrradfahren, nein, wie zu Fuß zu gehen.
…Ich brauch´ nur ein Blatt Papier, um in der Juice zu stehen… Ich kenne noch jedes verdammte Wort. Ich kenne verdammt nochmal dich und könnte heulen vor Romantik.
Ein altersschwacher Transporter müht sich am Leipheim-West-Schild vorbei auf die Südumfahrung. Leipheim-West. Warum ist das eigentlich im verdammten Süden Leipheims? Heißt ja auch Südumfahrung und wir Gymnasiasten haben die alten Kasernen früher die Southside genannt. Außerdem ist das hier einfach Süden - wie Süden auf einem scheiß Kompass. Wer denkt sich überhaupt einen Namen aus, für die Kreisverkehrsausfahrt der Umgehungsstraße einer 7000-Einwohner-Stadt? Drecks CSU. Nachdem die Kupplung ein letztes Mal stottert, höre ich dich zwischen zwei Zügen sagen: „Du hattest es mir versprochen. Du bist echt ein Arschloch.“
Toni hatte mir in der zwölften Klasse auch was versprochen. Dass er das Abi mit mir durchzieht und dann weg von hier. Das Koksen sei ein Ausrutscher gewesen. Und jetzt? Ich kann genau sehen, wie blaues Licht durch die versifften Vorhänge im vierten Erdgeschossfenster wabert, male mir aus, wie seine Körperhülse vor der Playstation verkommt. Ein Leben zwischen Steinofen Original und Methadonstelle. Der Junge hat mal Jugend forscht gewonnen, also hier in Bayern. Trotzdem konnte man auf sein Versprechen nur soviel geben, wie auf deine Einladung nach München, in eure Giesinger Mansardenwohnung, die zumindest groß genug für das erste Kind sei, wenn dein Consultinghurensohn nicht mehr jede Woche auf das Projekt in Düsseldorf muss.
Im Augenwinkel erkenne ich Gerda, die ihre erste Runde dreht.
„Da ist kein Pfand drauf“, rufe ich.
„Dann räumt euren Scheiß selber weg!“
„Leck mich!“
Die Alte flucht etwas in die letzten Nebelfetzen und verschwindet dann irgendwo.
Glasklare Sonnenstrahlen wärmen die Wohnblockwand. Wir kennen uns seit der ersten Klasse, hassen uns seit der ersten Klasse, lieben uns seit der ersten Klasse und ich frage nur:
„Kommst du nächstes Jahr wieder aufs Klassentreffen?“
„Nur, wenn du mich nicht küsst.“
„Versprochen.“
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freiTEXT | Julia Knaß
Vergessene Orte
„Auf uns, hatte man ja vergessen, abgelegt, unser Tal, keine ordentlichen Straßen, hin, auf uns, da hat keiner geschaut, war allen egal, was mit uns passiert, wir waren ja nicht wichtig, früher, nichts haben wir gehabt, das können Sie sich jetzt gar nicht mehr vorstellen, da bleibt die Jugend dann nicht, wenn es keine Arbeit gibt, auf uns, haben sie vergessen und dann ist er gekommen, da hat sich dann was geändert, da wurde dann endlich was für uns getan. Da hatten wir dann jemand, ihn, der auch auf uns gedacht hat, das darf man nicht vergessen, das muss man auch verstehen, dass das nicht alles so einfach war. So wie sie ihn jetzt schlecht reden, dass stimmt ja so alles nicht, das muss man doch auch sehen, dass er jemand war, der auf uns gedacht hat, das darf man wirklich nicht vergessen, das nicht“, aber sonst, ja, sonst soll man die Vergangenheit ruhen lassen, so sagt diese Talbewohnerin, die sich mit ihrer Wehklage an das Dirndl in dieser Geschichte wendet, also an unser Dirndl. Sie sagt ihm auch, unser Dirndl sei noch viel zu jung, um das zu verstehen, die ganze Geschichte. Aber nicht nur die Talbewohnerin, nein, wirklich alle in diesem Land sagen, dass man das jetzt endlich alles vergessen solle. Wollen selbst nicht vergessen werden, ja, aber die Vergangenheit, die soll man doch bitte in Frieden ruhen lassen, nicht? Die hat doch schon genug mitgemacht, die muss man doch jetzt nicht immer und immer wieder ausgraben. Aber wo, wo ruht sie denn, die Vergangenheit? Ja, wo haben wir sie denn, begraben? Wir wissen es doch eigentlich alle ganz genau, wo, alle wissen wir es ganz genau, weil wir jeden Tag darüber gehen, jeden Tag von neuem über die Leiche. Aber wir versuchen, das zu vergessen, versuchen, uns genauso zu vergessen, so wie die Orte vergessen sind, die Orte, die wir unsere Herkunft, unsere Heimat, unsere Ursache nennen müssen.
„Wo hat es dich hinverschlagen?“,
schreibt der Thomas dem Dirndl und es antwortet: „It’s kind of a funny story“, obwohl es das nicht ist und „in deine Heimat“, obwohl sie das für ihn ja doch nicht ist. Es ist jetzt dort, wo man noch immer mit Stolz darüber singt, wie man damals mit Blut die Grenze schrieb und er glaubt dem Dirndl zuerst nicht, weil er es dann doch so gut kennt und weiß, dass das nicht so vorgesehen war, nicht der Plan vom Dirndl: seine Heimat. „Was machst denn in Kärnten? Was machst du denn?“ und es erzählt ihm, dass es nicht so einfach war, nach dem Studium einen fixen Job zu finden und dass es sich einfach überall beworben hätte und so wäre es hier gelandet.
Früher oder später müssen wir darüber reden, warum das Dirndl ihm wieder geschrieben hat und über das Verhältnis der beiden zueinander. Tatsächlich ist es so, dass es hin und wieder an ihn gedacht hat und dass es dann wissen wollte, ob er das auch noch tut: an es denken. Das weiß es nun, weil er dem Dirndl nicht nur geantwortet hat, nein, er hat ihm sofort geantwortet und er hat es auch sofort gefragt, ob sie sich wiedersehen können, weil er zufällig bald in seine Heimat fahren würde. Das freut das Dirndl und es versucht, die Spinnweben und die Weberknechte aus seiner Wohnung zu entfernen, weil die sich ausbreiten, alles einnehmen, sobald es mal nicht hinschaut. Sonst versucht es nicht einmal mehr, dagegen anzukommen, gegen die klebrig gespannten Fäden, gegen den Staub, gegen den Dreck.
Hier bleibt nichts
unbemerkt. Als der Thomas mit seinem Wagen die Auffahrt hochfährt, kann unser Dirndl beobachten, wie sich die Vorhänge der Nachbarin bewegen, gleich wie sich die Vorhänge bewegen, wenn es in der Früh zur Arbeit fährt, wenn es am Abend von der Arbeit nach Hause kommt, wenn es im Winter Schnee schaufelt. Keinen Schritt kann es hier setzen, ohne dass es jemand weiß. Für unser Dirndl geht es ja noch, es ist nur aus einem fremden Bundesland gekommen. Es wird nur mit Blicken verfolgt, das wird es wohl aushalten, unser Dirndl. Anders ist es, wenn man aus einem fremden Land kommt, dann bleibt kein Schritt undokumentiert, mit Fotos, mit Videos, mit Postings im Internet: „Haben’s das gesehen, jetzt war schon wieder die Rettung bei der Unterkunft“ – „Haben’s das gehört, die sollen junge Frauen angegriffen haben“ – „Das sind ja alles Kriminelle, die sie da ins Land gelassen haben, die sollten besser in ihren Heimatländern im Osten bleiben, wo genug Platz ist, aber das versteht das linke Gsindel in Wien ja nicht, dass man da was dagegen tun muss, als guter Bürger, als Österreicher. Die passen nicht in unsere Kulturlandschaft, die Flüchtlinge.“ – „Die Wölfe, die passen nicht in unsere Kulturlandschaft. Da muss man ja was tun, als guter Jäger, als Österreicher. Aber das verstehen die Gutmenschen in Wien ja nicht, dass man da was dagegen tun muss, das sind wilde Raubtiere, die sie da ins Land gelassen haben, die sollten besser in ihren Heimatländern im Osten bleiben, wo sie genügend Platz haben.“ – „Haben’s das gehört, die sollen junge Kälber auf der Alm angegriffen haben“ – „Haben’s das gelesen, jetzt war schon wieder ein Wolfsriss in dem Wald“. Wenn man von einem fremden Land kommt, dann wird jeder Schritt verurteilt, nichts bleibt hier, nicht? Auch der Thomas ist nicht geblieben, er hat es nicht ausgehalten, deswegen ist er nach Wien gegangen.
Sie haben nicht darüber gesprochen, wie lange er bleiben kann, aber er hat seine Tasche mit und später, als sie sich hinlegen, schaut er einen Film, während es einschläft, genauso als hätten sie einen gemeinsamen Alltag. Und am nächsten Tag richtet es das Frühstück am Balkon, weil es warm genug ist. Der Thomas fragt das Dirndl, wie es das aushält, weil er könnte das nicht mehr. Und es meint, naja, es ginge schon. Unser Dirndl weiß schon, es müsste viel stärker widersprechen, wenn die Leute hier sagen, dass Homosexuelle nicht heiraten dürfen sollten oder wenn sie witzeln, dass man nach #metoo ja nichts mehr sagen dürfe und dann einen sexistischen Schmäh nach dem anderen reißen. Am Anfang, da hatte es noch dagegengehalten und erklärt und dagegengehalten und erklärt. Aber seit es hier ist, verändert sich die Sprache schleichend, vergessene Wörter fluten vermehrt zurück in die Köpfe. Darin ertrinkenden Gehirnen ist es wieder möglich, laut zu sagen: „Meine Wohnung will ich aber nur an Inländer vermieten“, weil es ist ja auch möglich, laut zu sagen, dass man geflüchtete Menschen konzentriert halten wolle, nicht? Weil „dass ist ja schon so lange her, das hat ja nichts damit zu tun, da denkt doch keiner mehr dran, an diese Zeit, das haben doch schon alle vergessen, da wird man gewisse Wörter doch schon wieder sagen dürfen.“ Und geflüchtete Menschen, die werden schon nach wie vor untergebracht, aber am liebsten weit weg von den Ortskernen, abgelegen, sind ja gut um die sinkenden Bevölkerungszahlen aufzubessern, aber sichtbar wolle man sie nicht haben, vergessen wolle man, dass die da sind. Unser Dirndl hat längst damit aufgehört, den Mund aufzumachen, weil es zu mühsam ist, weil es ja doch nichts bringt, weil es dem Dirndl schon lange nur mehr ums eigene Überleben geht. „Manchmal hoffe ich, dass ich eines Tages laut schreien werde“, sagt es. Aber wir wissen alle, dass unser Dirndl keine Stimme hat dafür. Das Dirndl ist einfach keine Kämpferin, das Dirndl will das alle es mögen, das Dirndl ist schwach und ruhig und nett. Das Dirndl ist ja ein liebes Mäderl, „das viel zu gut ist für die Welt“. Immer will es allen gefallen, unser Dirndl, deswegen lässt es sich auch alles gefallen.
Er schaut in die Sonne,
während er unserem Dirndl zuhört, und dann fragt er es: „Was können wir tun, damit du nach Wien kommst, Lisa?“ Weil er weiß schon, dass das auch der Plan vom Dirndl war: seine Stadt. Und wir wissen noch immer nicht viel über ihr Verhältnis zueinander, aber wir wissen, dass er vorher zum Dirndl gesagt hat, „wenn du in Wien wärst, könnten wir jeden Tag miteinander verbringen, meine Liebe“, und wir wissen, dass das viel bedeutet. Unser Dirndl stellt sich diese Welt vor, in der es bei ihm ist, sieht sich mit ihm gemeinsam zur U-Bahn rennen und das Dirndl muss lächeln, weil es so schön wäre. Zugleich wissen wir, weiß es, das wird nicht geschehen, nur er weiß es in diesem Moment nicht und er weiß auch noch nicht, dass er es vergessen wird, so wie er seine Heimat vergessen will. Unser Dirndl wird so zum Vergessen sein, wie es diese Orte hier schon sind. Es gehört hier vielleicht nicht hin, aber es gehört eben auch nicht in seine Stadt, weil es eben nicht gehört und nicht gehört wird.
Auch Sie, geschätzte Lesende,
werden unser Dirndl wieder vergessen, Sie werden vergessen, dass Sie je von ihm wussten, Sie werden vergessen, weil es ja „zum Vergessen ist“ werden Sie sich sagen, „es ist zum Vergessen“. Hin und wieder werden sie ans Vergessen erinnert, weil es in Österreich ja zum guten Ton gehört, dass Journalistinnen und Autoren und Journalisten und Autorinnen in regelmäßigen Abständen in die Peripherie fahren, mit dem Auftrag, sie wollen verstehen, mit dem Auftrag, das müsse man zeigen, wie schlimm das alles noch immer sei, sonst könne man es ja nicht verändern. „So schlimm ist das, unfassbar ist das, wie das 2019 noch immer möglich sein kann“. demographische Abwanderung, Alkohol, Rechtsruck, Alkohol, Hass auf Ausländer, Alkohol, Leerstände, Alkohol, Volksfeste, und dann schreiben sie vielleicht eine Reportage, nicht? Über vergessene Dörfer und Städte, am besten über einen Ort mit einem sehr, sehr rechten Bürgermeister, einem Nazi, nicht? Oder über ein Dorf, an dem es die meisten Rechtswähler, also sehr viele Nazis auf einem Haufen, in Österreich, dem Naziland, gibt, nicht? Dann erscheinen diese Reportagen, anschaulich bebildert, in Hochglanzmagazinen und die Leute, die sich von den Dörfern, also den Nazihorten, entfernt haben, können das lesen und sich moralisch erhaben fühlen, über die ganzen Nazis, und der Journalist oder die Journalistin bekommt einen hübschen Preis dafür verliehen, für diese detailgetreue Beschreibung der Nazis, für diese authentische Schilderung der Nazis, weil da muss man ja mal ganz genau hinschauen, auf die Nazis, nicht? Genauso zum guten Ton gehören Romane, in denen man sein Herkunftsland, also das Naziland, basht, in denen man ganz subtil Keller, am besten Nazikeller, einflechtet in die Geschichte. Und Nazis, Nazis, Nazis, Nazis und die katholische Kirche, also die Nazikirche, vergleicht. Man muss THOMAS BERNHARD IN A NUTSHELL sein, man muss die beste Bernhard-Imitation ever abliefern, in Österreich, dem Nazireich, man muss auf Nazi-Österreich herabsehen, man muss Nazi-Österreich verachten, und dann bekommt man auch dafür vielleicht einen feschen Preis verliehen, am besten den GROSSEN nazi-österreichischen Staatspreis, nicht? Weil staatliche Preise und Förderungen nimmt man dann schon trotzdem an, ja, man sagt sich, man leistet ja was für Österreich, das Nazireich, und für die österreichische Kultur, die Nazikultur. Man sagt sich, man trägt ja zur Bildung der Nazis bei, man trägt ja dazu bei, dass die Leute, also die Nazis, nicht aufs Vergessen vergessen. Man sei ein Bildungsträger, und dadurch ändert sich vielleicht ja was, wenn man die Bildung nur oft genug trägt, wenn man Bildung nur immer weiter anhäuft, solange bis die Leute, also die Nazis, darunter begraben sind. Da hat die Literatur dann plötzlich großen Einfluss auf die Wirklichkeit, wenn’s grad ins Konzept passt, nicht? Aber was die Beschreibung von Frauen und Beziehungen angeht, na, da schreibt der österreichische Autor dann doch lieber sexistisch und a bisserl übergriffig, weil wissen’s eh, alles andere, über moderne Beziehungskonzepte, über einvernehmlichen Sex, das wollen Sie, verehrte Leser, wollen die Leute, also die Nazis, ja net lesen. und ist doch gut, ist doch gut, wenn’s da dann drüber lachen können, wenn Mann Frauen wie Dinge benutzt, ist ja nur ein Text, ist ja nur ein Text, das hat ja nichts mit der Realität zu tun, das hat ja keinerlei, nicht die geringsten Auswirkungen auf die Wirklichkeit, nicht?
Wir sollten nie vergessen,
dass wir für Geld alles tun würden, ich, du, wir, jeder einzelne in diesem Land. Wir sollten nie vergessen, dass wir für Geld alles schreiben würden, ich, du, wir, jeder einzelne in diesem Land. Wir sollten nie vergessen, aber vergessen ist das Einzige, was wir gelernt, das Einzige, was wir wollen.
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freiTEXT | Tessa Schwartz
Flocken
Rosalía setzt einen Fuß auf den Boden, sacht. Die winzigen Steinchen auf dem Zement erst wie Flocken an ihrer bloßen Sohle, dann körnig. Als der Fußboden Form unter ihrem Fuß annimmt, als die Kühle des Zements sich von der Zehenspitze zur Ferse hin ausbreitet, fest, hält sie in der Bewegung inne. Schon entfernt sich die Sohle wieder vom festen Grund, wird emporgehoben in eine Luft, die sich nach nichts anfühlt. Der Schaukelstuhl wippt zurück. Er hält Rosalías Füße in ständiger Bewegung, ruhelos, nur ihr Kopf bleibt still im Raum stehen. Ihr Blick fixiert die Wand. Inmitten des Gewirrs abblätternder Farbschuppen, neben dem Gemälde, das einzige Bild in der Wohnung, Benno hatte es vor Jahren einem Straßenkünstler abgekauft, auf halber Höhe ein schwarzer Punkt. Ein Loch im Putz oder ein Insekt. Rosalías Blick starr. Falls es ein Insekt ist und sich entschließt, seine sechs dürren Beinchen in einem fein aufeinander abgestimmten, nie durcheinander geratenden Rhythmus zu heben, vorwärts zu bewegen, wieder zu senken, dabei den plumpen Körper mit sich zu ziehen, falls sich der schwarze Punkt bewegt, wird Rosalía es sehen. Ihre Augen sind scharf. Benno hatte ihr stets Komplimente für ihre Augen gemacht, davon gesprochen, wie tief sie ihn mit sich hinab zögen, wie hoch mit sich hinauf, und sie hatte erwidert, dass er sich vorsehen solle vor ihren Augen, denn nichts, was er tue, würde ihnen entgehen, woraufhin er bekräftigte, dass er ihre Augen liebe und er niemals etwas tun würde, sie zu trüben, und ja, er sei froh, dass sie scharf seien, denn dann würden sie sehen, dass er ein guter Ehemann sei. Und setzte eine Miene auf, die Unschuld und Verschmitztheit auf eine Art miteinander verschmolz, wie nur Benno es vermocht hatte, und dann lachten sie beide, sie mit rauchiger, er mit kichernder Stimme, und auch sein Kichern hatte sie geliebt.
Ihre scharfen Augen sind der Grund, warum Rosalía nicht so leben könnte wie ihre Nachbarin Lucía. Lucía ist übrig geblieben wie Rosalía, die Kinder in der Stadt, und hätte eines von ihnen angeboten, zu Rosalía zurückzukehren, jetzt, hätte sie sich gefreut und ihm dann die Tür vor der Nase zugeschlagen. Lucías Tür steht immer offen, um einen verirrten Windhauch anzulocken, ihn dazu zu bringen, von der Tür durch die Küche durch das Schlafzimmer zum geöffneten Fenster hinaus zu wehen und dabei ein wenig von dem Flimmern der Hitze mit sich zu nehmen, von der Hitze und von den Staubkörnchen, die auf den Sonnenbalken tanzen, welche das rissige, schräg gestellte Holz der Fensterläden in die Wohnung lässt. Auch Rosalías Wohnungstür steht tagsüber offen, so dass sie, wenn sie sich im Schaukelstuhl weit nach vorn und zur Seite beugen würde, direkt in Lucías Küche blicken könnte. Lucía hat überall Fotos aufgestellt, Fotos von Manuel mit Lucía, Manuel allein, Manuel, als er jünger war, Manuel, wie er zuletzt ausgesehen hatte. Rosalía könnte das ihren Augen nicht antun.
Die trockene Luft riecht nach nichts. Sie bietet keinen Widerstand für Fußsohlen, keinen Reiz für die Nase. Nur den Augen gibt sie etwas. Tanzenden Staub und Hitzeflimmern. Ein Flimmern, das die Welt in Bewegung versetzt, als könnte es etwas aus dem Nichts der Luft hervorbringen. Da taucht Benno im Türrahmen des Schlafzimmers auf. Er betritt den Zementboden der Küche, seine Füße sind bloß, er muss in diesem Augenblick dasselbe sich von den Zehen zur Ferse hin ausbreitende Gefühl an den Sohlen haben wie Rosalía, im nächsten Moment schon hebt er den Fuß wieder an, macht einen Schritt, noch einen, ist am Küchentisch jetzt, dreht an den Knöpfen des Transistorradios, dreht, bis die vertrauten Töne von Gitarre, Trompete und Laute die Küche erfüllen, wendet sich zu Rosalía um, blickt sie an mit dieser Miene aus Unschuld und Verschmitztheit, die nur er aufzusetzen vermag, dann tritt er an den Schaukelstuhl heran, sie ergreift seine ausgestreckten Hände, und schon schwingt er sie durch die Küche, als wären sie jung, ihre Füße wirbeln über den Zementboden, so leicht, dass sie ihn kaum berühren, nur Flocken an den Sohlen, nichts Festes, sie drehen sich, bis sich das Radio, der Tisch, die Spüle um sie herum drehen, bis alles sich dreht, und dann sinkt Rosalía in den Schaukelstuhl zurück. Die Luft flimmert nicht mehr. Die Küche ist leer. Wenn Rosalía lang genug auf einen schwarzen Punkt starrt, fängt er irgendwann an, sich zu bewegen.
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