freiTEXT | Christoph Steven

Die Briefträger

Wie du weißt, sagte eines Morgens die Mutter zu mir, kommen heute wieder die Briefträger. Sie hielt mir meinen besten Anzug entgegen, schnitt mir in Rekordzeit die Haare und schloss mich ein in mein Zimmer, wo ich warten sollte, bis ich gerufen wurde.

Kurze Zeit später hörte ich an ihrem aufgeregten Geschrei, dass sich die ersten Fahrräder näherten. Die Bäume leuchteten gelb, wenn die Briefträger angeradelt kamen und dann war die ganze Welt gelb. Lautes Fahrradgeklingel hallte über die Ebene und stieg uns gleich in den Kopf.

Kommt und trinkt, hörte ich die Mutter anschließend sagen, und tatsächlich stapften die Briefträger mit ihren großen Körpern, die schon fast die gelbe Farbe ihrer Uniformen angenommen hatten, die Treppe hoch, wo sie in unser bestes Zimmer geführt wurden. Ich konnte hören, wie sie murmelten, schmatzten und tranken aus großen Krügen, die wir speziell für sie angefertigt hatten.

Dann endlich wurde meine Tür aufgeschlossen und ich konnte nach unten zu den anderen. Die neuen Rekruten, die in den Familien zur Briefträgerreife herangewachsen waren, hatten Spalier zu stehen, hoch gewachsen waren viele, stramm stehen mussten sie. Ihnen gegenüber standen die Briefträger, die sich manchmal nervös ihre Hände an der gelben Uniform abwischten. Sie hatten blutunterlaufende Augen, große gelbe Zähne, mit denen sie die neuen Rekruten zerreißen konnten, wie es ihnen beliebte, so erzählten sie uns und die Fahrräder, mit denen sie ins Dorf kamen, tanzten, wenn sie sie nicht im Zaum hielten.

Einer sagte, dich haben wir doch schon letztes Jahr geprüft.

Der Junge ist madig, gab ein Briefträger schließlich zu Protokoll, zupfte an meinem Gesicht herum und schluckte beim Anblick meines Kopfes. Danach zogen die Briefträger wieder die Besten aus unserer Mitte, verschnürten das neue Personal zum Paket und stiegen schließlich fast zur selben Zeit auf ihre gelben Fahrräder, klingelten noch einmal wie auf ein Signal und stoben dann davon der Hügelkette entgegen, während wir treu hinter ihnen ausschritten. Nächstes Jahr, jubelten die Briefträger fast unisono im Chor. Wir schwangen unsere Taschentücher zum anhaltend lauten Geklingel der Briefträger, doch schon bald waren die gelben Uniformen aus unserem Blickfeld verschwunden.

Der Hals zu dick, der Kopf zu groß, die Hände nicht ebenmäßig, schrie meine Mutter dann, die die Beurteilungsgrundlagen der Briefträger über die Jahre verinnerlicht hatte. Sie schlug mit der flachen Hand gegen meinen Kopf, dass er wieder einen Zentimeter kleiner wurde, drückte mit ihren Händen gegen meinen Hals, bis ich glaubte zu ersticken und rieb mir Kräuter ins Gesicht, mit denen das weitere Wachstum des Kopfes unterbunden werden sollte.

Abends stieg ich dann ins Dachgeschoss unseres Hauses, drehte und wendete mich, um den Kopf in der ursprünglichen Form zu halten und starrte dann auf die Hügelkette, hinter der manchmal das blitzende Chrom der gelben Posträder aufleuchtete. Auch waren die Begrenzungsfeuer des Postbezirks gut zu erkennen und manchmal glaubte ich sogar, dass vom Berge eine gelbe Uniform zu mir herüberleuchtete. Das sind also die Menschen, die die Welt ausmachen, dachte ich und wurde von einem Moment auf den anderen traurig, weil ich nicht zu ihnen gehörte.

Schon fünfzig und noch immer zu nichts nütze. Das Geschrei der Mutter weckte mich aus allen Träumen. Ich wollte den Mund öffnen, um ihr zu widersprechen, doch die Mutter warf mit einem Holzscheit nach mir. Ich stand auf und dachte darüber nach, warum ich zu nichts nütze sein sollte. Meine Brüder und Schwestern waren nun schon lange von den Briefträgern geholt worden. Jeden Tag musste ich mir anhören, dass ich mich immer noch am heimischen Ofen wärmte und sie nicht. Dabei konnte ich mich kaum noch erinnern an die Geschwister, lange hatten wir nichts von ihnen gehört. Vielleicht sind sie tot, warf ich ein. Da bekam das Gesicht des Vaters einen geisterhaften Ausdruck und er spuckte mir den Auswurf seines Rachens gleich ins Gesicht. Die Mutter verdrückte eine Träne und sagte: Sie sind nützliche Mitglieder der Gesellschaft und du nicht. Für einen Moment stellte ich mir meine Schwestern und Brüder vor, wie sie tot in einem der Briefträgerhäuser lagen.

Am nächsten Morgen schlich ich mich noch vor dem ersten Licht aus dem Haus. Das Tal ruhte unter dem fahlen falschen Licht des Mondes, aus den Wäldern kamen unbekannte Geräusche. Zwischen den Bäumen raschelte es.

Als ich nach kurzer Zeit den Waldrand erreichte, waren die ersten Lichter im Dorf zu sehen, winzige Punkte, die vor meinen Augen tanzten. Ich schwang meinen Wanderstock und erklomm die steile Straße, die zum oberen Berg führen sollte. „Nur für Briefträger“ stand auf einem gelben Schild und schon bald wurde der Straßenbelag gelblich und in meinen Ohren klang, wohl von den Schritten der Straße, das Fahrradgeklingel der Briefträger. Ich musste mir die Ohren zuhalten, doch je höher ich kam, desto betörender wurden die Geräusche, die schließlich aus meinem eigenen Körper zu kommen schienen. In meinem Kopf fuhren nun Fahrräder, große Reifen stoben vor meinen Augen auseinander, ein dicker Briefträger mit Schnurrbart erschien in der Luft. Meine eigenen Körpergeräusche, mein Atem, mein Denken waren ein einziges Fahrradgeklingel. Der Himmel stieg als riesiger Reifen vor meinen Augen auf. Die Ohren wollten mir zerplatzen, die Eingeweide schienen aus meinem Körper zu treten, Blut trat mir aus Nase und Ohren, doch ich schleppte mich vorwärts. Das ist der sichere Tod, hörte ich jemanden sagen. Er tötet sich. In einiger Entfernung konnte ich die Dorfbewohner sehen, die sich am unteren Ende der Straße versammelt hatten. Ich kroch jetzt nur noch vorwärts, doch von oben waren schon die gelben Uniformen der Briefträger zu erkennen und ein blendendes gelbes Licht, das mir in die Augen stach. Es schien eins zu sein mit dem Himmel – fette Briefträger schwebten auf den Wolken und hielten sich den Bauch vor Lachen. Die Luft wurde kälter, ich kroch vorwärts, weit konnte es nicht mehr sein. Ich streckte eine Hand aus und sah schon einige Kiesel vor mir, die wir im Tal nicht kannten. Aber Gras gab es hier, aber da drüben war etwas, das ich nicht genau erkennen konnte. Mein Körper wollte sich auflösen, ich werde in der Luft zerrissen, dachte ich und einen Moment später hatte ich mich – wohl automatisch – aufgerichtet.

Vor mir lagen ein paar ärmliche Hütten. Einige waren verfallen, Scheiben waren eingeschlagen worden und in der Luft lag ein übler Gestank. Ein paar schäbige Briefträgeruniformen, deren gelbe Farbe verblasst war, hingen zum Trocknen auf einer Wäscheleine. Im gleichen Moment war die Luft von sinnlosem und albernem Fahrradgeklingel erfüllt. Ich machte einen Luftsprung, lächelte und lief befreit den Abhang hinunter, wo mich die Dorfbewohner empfingen und mit offenem Mund anstarrten.

 

 

Christoph Steven

 

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freiTEXT | Katharina Wurzer

Beziehungsweise

I

Jeder Moment ist eine Entscheidung, für und gegen etwas. Genauso gut wie ich hier mit Paul sitze, könnte ich jetzt mit Alex auf meinem Balkon sein oder alleine die Straße entlanggehen. Vielleicht würde ich mir dann ähnlich verloren vorkommen, unruhig und beobachtet, wobei mich Pauls besorgter Blick weniger stört als der neugieriger Nachbar_innen. Ich versuche zu lächeln, ein paar Sonnenstrahlen abzubekommen und mich aufzurichten, während ich Paul ein Getränk anbiete. „Soda mit Zitrone“, murmelt er, wohingegen mir mehr nach Wein oder Schnaps zumute ist. „Kennst du es, dich inmitten einer Menschenmasse einsam zu fühlen?“, frage ich, als ich aus der Küche zurückkomme. „Vor allem dann“, meint Paul: „Manchmal fühle ich mich alleine weniger einsam. Da höre ich zumindest noch meine eigenen Gedanken“. „Ich mag dich und deine Denkweise“, ich nehme einen Schluck meines Eistees und rücke meinen Sessel ein wenig näher zu meinem Freund, der den heutigen Nachmittag entspannt zu sehen scheint. Wie es wohl wäre, wenn Paul einmal nicht ruhig ist? Wenn ihn etwas oder jemand ärgert? „Streitigkeiten müssen sich auszahlen“, hat er letztens angemerkt: „Entweder man hat danach eine Lösung oder eine Veränderung. Im Idealfall führt die Lösung zu einer Veränderung“. Aber was ist schon ideal? Und warum streben wir Ideale an? Sogar Menschen sollen ideal für uns sein, uns guttun, keinen Kummer bereiten und auch sonst kompatibel sein. Nicht alle Menschen seien sexuell miteinander kompatibel, habe ich mir sagen lassen. In einem früheren Zeitalter habe man sich noch nicht alles von einem einzigen Menschen erwartet, stand in einem Standard-Artikel. Da sei gleich auf die Einwohner_innen eines ganzen Dorfes zurückgegriffen worden. „Monogamie ist ohnehin egoistisch. Man lebt nur einmal und da gehört Ausprobieren dazu“, höre ich Alex sagen, einen Verfechter offener Beziehungen: „Hast du manchmal Angst vorm Leben?“ „Manchmal habe ich Angst vor der Liebe, vor der Verletzlichkeit und davor, dass sie keine Entscheidung ist“, habe ich damals geantwortet und ihm in die Augen gesehen. Emotionslos, starr und ohne zu zwinkern. Anders als bei Paul, vor dem ich diese Angst erst recht nicht eingestehen kann.

„Ich mag dich auch“, meint er da plötzlich und greift nach meiner Hand. Schweigend sitzen wir hier. Er in seinem dunklen T-Shirt, der blauen Jeans und den Sneakers, ich mit meinem roten Sweater und der schwarzen Jeans, die langen Haare zu einem Zopf zusammengebunden. Wir hören die Nachbarin mit ihrem Kind schimpfen, einen Hund bellen und den aufkommenden Wind wehen. „Ist dir kalt?“. Ich schüttle den Kopf und lehne mich vorsichtig an mein Gegenüber. Der Geruchssinn soll eine Rolle spielen, in wen man sich verliebt, fällt mir ein. Dabei riecht Paul gar nicht besonders aufregend, einen Hauch nach irgendeinem Duschöl, ein wenig nach der Zitrone, die im Glas vor ihm liegt, und nach dem Essen, das er zu Mittag gekocht hat. Pilzgulasch mit Semmelknödeln, wobei ich Semmelknödel relativ geruchsneutral in Erinnerung habe. „Ich mag deine Stimme“. Paul zieht mich an sich und streicht mir mit einer Hand übers Gesicht. Sie fühlt sich warm an und vertraut, ohne dass er das zuvor je gemacht hätte. Ohne dass er gefragt hat, was für Paul eher untypisch ist. Er sieht mich an und lässt mich los. „Kannst du diesmal länger bleiben?“. Ich nicke und wünsche mittlerweile, doch zu etwas Stärkerem gegriffen zu haben. „Abgesehen davon sind wir in meiner Wohnung. Schön, dass du dich schon so wie zu Hause fühlst“. Ich lache, vielleicht aus Nervosität oder weil diese Situation etwas Absurdes hat. Erst gestern habe ich an dieser Stelle mit Moritz getanzt und ihm klar gemacht, dass ich seine Gefühle nicht erwidere. Dass ich nur einen schönen Abend wollte, Ablenkung von mir selbst, Spaß bis zu weiteren Momenten, in denen mir weder meine Zerbrechlichkeit noch seine Anhänglichkeit bewusst waren. Was ist Untreue schon, wenn man sich nicht einmal selbst treu sein kann? Was für das Leben gilt, gilt auch für die Liebe. Niemand ist darin alleine. Ziele werden gesetzt, mit anderen geteilt und wieder verworfen. Zurückgeworfen, weggeworfen in einen Eimer aus Erinnerungen, die sich wie Fallobst zersetzen und verschlossen werden. Wenn du Glück hast, findest du den Schlüssel nicht mehr. Wenn du Pech hast, geht dein Weitblick verloren.

II

„Wenn ich dich sehe, vergesse ich vieles um mich“, beginne ich zaghaft und frage mich zugleich, wie lange es Lia schon ohne Zigarette aushält. Sie zieht ihre Beine zum Oberkörper, richtet ihren Zopf und sieht auf ihre Armbanduhr. Wie lange wir wohl schon hier sitzen? „Ich kann bald nicht mehr. Wieso schaffen wir es nicht über Wesentliches zu sprechen? Oder wieder über etwas anderes wie sonst auch?“. „Lia, was erwartest du dir?“. Sie steht auf, zündet sich eine Zigarette an und weicht meinem Blick aus. Ihr Verhalten verunsichert mich nur noch mehr. „Ich weiß es nicht“, ihre Stimme klingt freundlich, als sie sich wieder hinsetzt: „Ich weiß nur, dass ich in dich verliebt bin und mich das alles hier fertig macht“. „Soll ich dich in den Arm nehmen?“. Lia seufzt, steht erneut auf und kommt mit einer Flasche Wein sowie zwei Gläsern retour: „Angenommen wir gehen eine Beziehung ein. Wie soll die für dich aussehen?“. „Mir ist es wichtig, Zeit miteinander zu verbringen, über alles sprechen, gemeinsam lachen und weinen zu können. Ich möchte gegenseitige Unterstützung, sich mal Glück für einen Termin zu wünschen, einfach als Begleitung mitkommen. Das hört sich alles ziemlich langweilig an, oder?“. „Ein bisschen wie ein altbewährtes Konzept. Sind Beziehungen nicht Konstrukte, die aus den eigenen Erwartungen und Vorstellungen gebaut werden? Die ohne Kompromisse ohnehin nicht funktionieren?“. Es stört mich, dass sie von Funktionen spricht, von Konstrukten und Konzepten. Sie, die gerade noch bei ihrer Verliebtheit war, und ihren Kopf an meiner Schulter hatte. „Ich weiß nicht, ob das etwas für mich ist“. „Hast du es denn nie ausprobiert? Was war mit Georg?“. Ich schenke uns Wein ein und achte auf ihre Bewegungen, die von sanft zu ruckartig wechseln. Der Hund hat aufgehört zu bellen, der Wind bläst weniger stark, erwischt Lias und mein Haar. Es gleitet zur Seite, ohne dass mit ihm gespielt worden wäre. „Ich habe mich eingeengt gefühlt. Er wollte mich für sich alleine. Ohne ihn ausgehen war da manchmal schon zu viel. Ohne ihn auf Urlaub fahren wäre gar nicht denkbar gewesen. Es gab Tage, an denen ich nur noch weg wollte. Weg von ihm, in die Arme eines anderen oder einer anderen. Ich bin bisexuell. Stell‘ dir mal die Reaktion vor als er es erfahren hat“, Lia wird ruhiger und reicht mir jetzt erneut ihre Hand. „Eva hat mir nicht geglaubt, dass ich sie liebe, weil ich asexuell bin“. „Wie fühlt sich das für dich an?“. „Ich habe keine Ahnung wie es ist, sich zu jemandem sexuell hingezogen zu fühlen. Sich Sex zu wünschen oder einfach nur vorzustellen. Es gibt in meiner Welt so viel Interessanteres, über das ich nachdenke. Kunst, Geschichte, meine Arbeit“. „Manchmal überdeckt es anderes“, setzt Lia fort: „Wenn Emotionen und körperliche Anziehung miteinander einhergehen, ist der Sex irgendwie schöner. Nicht, dass ich ein Problem mit Asexualität hätte. Was hältst du von einer offenen Beziehung?“.

Wir sprechen über Definitionen und sind uns nicht einig, was emotionale Exklusivität betrifft. „Als Erster von etwas zu erfahren ändert doch nichts. Warum ist dir das wichtig?“, meint Lia achselzuckend.

Je mehr Wein ich trinke, desto trüber werden meine Gedanken. Lia riecht nach einem blumigen Parfüm, geht auf und ab, um schließlich ins Wohnzimmer zu gelangen und eine CD aufzulegen. „Ist es nicht egal, wie wir es nennen, solange es für uns beide passt?“. „Aber das tut es doch noch gar nicht“, widerspreche ich ihr, während eine Mischung aus Alternative und Indie bereits meine Stimme übertönt. „Paul, wir diskutieren seit beinahe über einer Stunde“, erinnert mich Lia: „Lass‘ uns das Gespräch später fortführen, wenn wir darüber nachgedacht haben. Immerhin wissen wir jetzt, woran wir sind“.

Kurz nachdem ich einwillige, sitzen wir bei Nudeln mit Gemüsesauce. Lias Küche ist beinahe so chaotisch wie sie selbst. Einem Stuhl fehlt ein Bein, das Salz hat sie vorhin auf der Theke verstreut. Versalzen ist dafür nichts. „Lia“, versuche ich, aber sie winkt ab und macht sich an den Abwasch. Der Schaum des Geschirrspülmittels überdeckt unsere Teller und das Besteck, das weiter nach unten rutscht. „Das war zu viel“. Ich hoffe, sie meint das Spülmittel.

 

Katharina Wurzer

 

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freiTEXT | Daniel Klaus

Duschgels

Es ist nicht so, dass ich sie klaue. Ich finde sie. Und dann bekommen sie in meinem Badezimmer ein neues Zuhause.

Angefangen habe ich damit auf Campingplätzen während eines Interrail-Urlaubs. Da war ich siebzehn. Und nach dem Urlaub habe ich zuhause weitergemacht: Beim Sport, in der Sauna, im Schwimmbad, im Fitnessstudio. Es ist erstaunlich, wie viele Männer in der Umkleidekabine ihr Duschgel einfach vergessen. Und es sind immer wieder Duschgels dabei, die mit Duftkombinationen aufwarten, auf die ich nie gekommen wäre. Lebkuchen und Orange zum Beispiel. Es ist jedes Mal ein kleines Abenteuer, wenn ich ein neugefundenes Exemplar ausprobiere. Mein exotischstes Duschgel habe ich vor zwei Monaten beim Kiesertraining in der Ostseestraße eingesteckt. Es kommt aus Japan und ist voll mit für mich unverständlichen Zeichen. Es riecht sehr gut, aber ich kann nicht sagen, nach was es riecht, weil ich keinen vergleichbaren Geruch kenne. Es riecht sehr langsam. Und so fühlt es sich auch auf der Haut an: Wie ein japanischer Film, der nur aus wenigen, langen Kameraeinstellungen besteht.

Seit einigen Jahren hebe ich die leeren Duschgelpackungen auf. Ich bringe es einfach nicht mehr übers Herz, sie wegzuwerfen, weil ich mit jeder einzelnen von ihnen eine gemeinsam verbrachte Zeit verbinde. Sie sind wichtige Erinnerungsstücke für mich. Meine Sammlung ist mittlerweile so groß, dass ich ein eigenes Regal für sie gekauft habe. Es hat eine raffinierte Hintergrundbeleuchtung, und ich stehe oft vor dem Regal und betrachte meine Duschgels, so wie andere gerne in ihren alten Photoalben blättern.

Mir ist schon klar, dass es nicht viele Menschen gibt, die diese Leidenschaft nachvollziehen können. Aber es ist wirklich eine harmlose Leidenschaft. Ich bin einfach nur ein gutriechender Mann Mitte dreißig, der sich seit knapp zwei Jahrzehnten kein Duschgel mehr gekauft hat.

 

Daniel Klaus

 

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freiTEXT | Wolfgang Wurm

 Strategie.

Zwar hatte auch er öfter mit dem Gedanken gespielt, aber ihn niemals ausgesprochen, denn diese Entscheidung war ihm noch immer eine Nummer zu groß. Als sie ganz behutsam die Überlegung ins Gespräch einfließen ließ, nach all den Jahren vielleicht doch zusammenzuziehen, verspürte er sofort eine Enge, die ihn bedrohte. Dennoch schien es ihm klüger, seine Scheu für sich zu behalten, und er bat sie nicht, das Thema aufzuschieben, sonst hätte ja er die Initiative ergreifen müssen, um es abermals auf die Tagesordnung zu bringen. Schon wäre es um sein Prinzip geschehen gewesen, sie auf gut Glück vorschlagen zu lassen, was er sich insgeheim wünschte.

 

Wolfgang Wurm

 

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freiTEXT | Olav Amende

95 Jahre: Stimmen

I

Lange hatte das Haus im Schlaf gelegen, sagt er. Lange dichtete es die Zeit nach draußen ab. Eine alte Dame kam zu uns. Sie stieg durch das Treppenhaus. Sie sprach: Es hat sich nichts verändert. Es ist dieselbe Farbe. Es ist dasselbe Holz, das meine Hand streift. Es wäre das Gefühl von damals, wäre ich noch …

Die Musikerin zieht eine Etage tiefer. An die eierschalenfarbene kahle Wand klebt sie ein Notenblatt mit dem Titel Mondschein-Walzer.

Über den Pflaumenbaum klettern Kinder auf die Garagendächer, ernten Holunder. In dem Sonntagskuchen duften Blüten.

Die Stille im Dachstuhl. Das Knarren der Treppe.

In der Badewanne schaukelt das Löschwasser. In die Badewanne, in den Eintopf rieselt das Stroh.

Im Keller bricht ein Rohr. Nun treffen sich die Nachbarn wieder. In Ketten schöpfen und reichen sie sich die Eimer von Hand zu Hand.

II

Leipzig, den 02. Juni 1923
Das Mitteldeutsche Braunkohlen-Syndikat beabsichtigt nach den in doppelter Ausfertigung beifolgenden Plänen auf dem an der Richterstraße in Leipzig-Gohlis gelegenen Flurstück Nr. 3587/3588 ein Beamtendoppelhaus zu errichten.
Wir erlauben uns dazu erläuternd folgendes zu bemerken: Das Haus soll aus Erdgeschoss, zwei Obergeschossen und ausgebautem Dachgeschoss bestehen und je zwei zus. also acht Wohnungen enthalten und gänzlich unterkellert werden. Die Trennung der Wohnungen in den einzelnen Geschossen geschieht je durch zwei Leichtwände mit entsprechend ausgefülltem Zwischenraum. Es sind zwei Haustreppen aus Eiche mit unterseits verschalten und verputzten Läufern vorgesehen, die an den Eingangsseiten liegen …

Das Kind legt sich flach auf die Steine im Keller. Es presst die Hände fest an die Ohren. Eine Welle erreicht es. Eine Welle, so rot, so warm – viel zu heiß.

Das Holz der Stuhllehne quillt. Von der Diskokugel im Garten löst sich ein Paillettenstreifen. Aus einem Handtäschchen baumelt eine Perlenkette.

Der Professor trägt neue Schriften heran, legt sie auf den schwankenden Stapel.

Durch die Dachrinne drückt sich der Regen.

Der Nachbarschaftsverein GOASE präsentiert Hoppel – eine Skulptur von Matthias Garff. Es wird Kaffee und Kuchen geben!

III

Es war eine Bucht für Gestrandete wie mich, spricht er. Für Menschen, die sich aus dem Geschehen fallen ließen, um zu sich zu kommen; um zu ruhen.

Guter Mond, du gehst so stille / In den Abendwolken hin, / Bist so ruhig, und ich fühle …

Durch eine schmale Klappe schiebt sich eine orangene Katze.

An den Fenstern flackern Kerzen, in die Wand sickern Klänge. Jedes Haus lebt, sagt er.

Im Waschhaus kochen sie die Zuckerrüben. Ein Mädchen zieht den Löffel aus dem Zuber.

Ein Besucher des Gartenfestes zieht ein Buch aus einer Kiste.

IV

Das Knarren der Treppe. Es scheint mir dasselbe zu sein wie vor 80 Jahren. Damals setzten wir uns in den Garten, vor die Stechpalme. Jene, vor der wir auch heute stehen. Wir Kinder setzten uns vor die Pflanze und spielten Doktor. Denn die Palme stach.

Die Welle kommt. Die Welle brennt sich in den Stein. Ein Walzer verhallt.

Die Kirschen fallen. Die Birnen fallen. Die Äpfel, Zwetschgen, Pflaumen fallen.

Der Vater reißt die Tür auf. Vom Volkssturm desertiert. Das Mädchen erinnert sich an einen Verschlag in der Schräge des Daches.

Lange kratzt der Arzt am Kalk der Badewanne, dann winkt er ab. Er entfernt die Gardinenstange, stößt auf hohlen Ziegel, blickt ins Freie.

Unbekannte Arbeiter kommen, stellen ein Gerüst auf, verschwinden.

V

Dann kam der Tag der Aktivierung. Wir mussten erwachen.

Durch das Beet streichen die Hühner. Im Feuer knackt das Holz. Der Musiker legt das Kinn auf die Violine.

Am Baugerüst rankt die Erbse. Am Baugerüst rankt der Wein. Die Pappeln bilden neue Triebe. Die Kätzchen platzen. Die Samen fliegen. Wirbelnder Schnee im Sommer.

Nachts stehen brennende Kerzen in den Fenstern des Paares, das die Partei nicht außer Landes lässt.

Auf dem Balkon positioniert sich der Schauspieler.

Unter einem weißen Laken steckt ein lehmfarbenes Wesen. Die platten Füße schauen heraus. Ein Dutzend Menschen haben sich unter bunten Wimpeln im Vorgarten versammelt. Ein Kind spielt Tischtennis mit seinem Vater. Ein Bewohner des Hauses steht auf dem Zaunpfeiler, ruft Sonntagsspaziergänger herbei. Wir dürfen Ihnen präsentieren: Hoppel! Das Laken wird gelüftet; ein Widderkaninchen blickt in die Runde.

VI

Wir entrümpelten die Keller und füllten den Lkw mit Heizkörpern, Waschmaschinen, Benzinkanistern, Autobatterien, Rohren, Fahrrädern, Fernsehern, Matratzen. Wir brachen Wände auf, entfernten die Zäune.

Da platzt die Frontscheibe, da bricht das Rohr, da explodiert…

Ein Kind schwingt sich an den Wäschepfahl. Rost splittert. Der Pfahl zerknickt.

Die alte Frau schiebt den Bohnerbesen hin und her.

Der Arzt schiebt dem Arbeiter ein Päckchen Kaffee in die Manteltasche. Dieser holt die Westantenne aus seinem Barkas. Wir stellen sie unters Dach, sagt er. Das wird flimmern, aber du kannst empfangen.

In den Wintern zieht das Paar in das warme Zimmer der einstigen Magd. In den umliegenden Zimmern glänzen Eiskristalle.

VII

Im Flur hängen hundert Drucke, Zeichnungen, Aquarelle. Hundert Menschen drängen sich. Mit Pinseln streichen sie die Buchstaben auf das Plakat, stellen die Hollywoodschaukel auf die Straße.

Guter Mond, du gehst so stille …

Die Kinder zeichnen mit Kreide Gesichter auf die Platten. Durch die Ritzen des Dachbodens dringt die Flugasche. In den Gärten faulen die Zaunbretter.

Ein Arbeiter der Hausverwaltung erscheint. Er zieht einen Ziegel ins Dach, dann geht er.

Ein Mann wischt sich den Ruß aus dem Gesicht.

VIII

22. September 1939. Betrifft Luftschutzmaßnahme.
In dem uns gehörenden Doppelgrundstück, N22, Richterstraße 4-6, beabsichtigen wir einen Durchbruch der Brandgiebelmauer im Keller vornehmen zu lassen. Es soll damit eine Verbindung zwischen beiden Häusern im Alarmfalle geschaffen werden, damit ohne Gefahr eine beiderseitige Hilfe gewährleistet ist.
Wir bitten um Veranlassung und Genehmigung.

Auf den grünen Stuhl steigt die orangene Katze. Staub erglänzt. Die Katze öffnet die Klappe, verschwindet.

Die Hausgemeinschaft versammelt sich zu einem ersten Plenum.

Im Treppenhaus hallen die Stiefel. Im Treppenhaus schlägt sie den Bohnerbesen gegen die Leiste. Im Eingang klappert der Briefkasten.

Ich habe den Ochsenkopf unter das Dach gestellt, sagt der Arzt. Ich habe ihn durch den Schornstein gezogen, antwortet der Assistent.

Der Sturm tost. Das Glas des Gewächshauses flattert. Fetzen einer Folie fliegen durch die Luft, verfangen sich in den Büschen. Ein Baum kippt, eine Scheibe platzt. Hoppel wankt. Regen fließt über das schwarze glänzende Auge des Kaninchens. Die Skulptur fällt. Die Haut bricht, die Platten knacken, das Linoleum birst.

IX

Ein Chor hebt an: …

Die Musikerin streift winters durch das Gestrüpp. All these things happen in one second and last forever. Sie tanzt zur Violine am Feuer.

Die Gräser und Quecken wachsen. Aus dem Nichts erscheinen Birken, Kastanien.

Der Sturm hebt die Blätter vom Stapel, durch die Zimmer wirbeln die Schriften.

Der Putz bröckelt von den Wänden.

X

Die Stille unter dem Dach.

Dann brennen alle Häuser. Dann explodiert der Garten. Dann reißen die Bomben Krater so breit wie das Kinderzimmer, so weit wie Schlafsäle, so tief wie … Die Pappeln beben. Der Druck reißt das Geäst in die Höhe.

Das Holz der Stuhllehne reißt. Das Holz des Stuhlbeines bricht.

Ein windschiefer Schornstein. Die Hausverwaltung antwortet schriftlich: Es besteht keine Gefahr.

XI

Was wir uns wünschen, ist Gemeinschaft. Was wir wollen, ist Geborgenheit.

Leise dringen die Klänge des Walzers ins Gemäuer, während sie unten im Garten die Tafel aufbauen, zum Essen laden.

Im Wind rauschen die Pappeln. Ein Huhn pickt ein Korn. Eine Elster schiebt sich durch die Birke.

Der Schauspieler wendet sich nach links, wendet sich nach rechts. Seine Worte hallen im Garten:

Mephistoteles sich umsehend: Doch wie? – Wo sind sie hingezogen? / Unmündiges Volk, du hast mich überrascht! / Sind mit der Beute himmelwärts entflogen; / Drum haben sie an dieser Gruft genascht! / Mir ist ein großer, einziger Schatz entwendet: / Die hohe Seele, die sich mir verpfändet, / Die haben sie mir pfiffig weggepatscht. / / Beim wem soll ich mich beklagen? / Wer schafft mir mein erworbenes Recht? / Du bist getäuscht in deinen alten Tagen, / Du hasts verdient, es geht dir grimmig schlecht!

Sie schlagen ein Loch in die Wand, reichen die Korbmöbel aus der alten in die neue Wohnung; dann mauern sie die Wand zu.

XII

Vier Menschen machen sich im Garten an alten Paletten zu schaffen. Sie hebelt mit einer Zinkenhacke die Leisten ab; er klopft die Klötzer von den Brettern – die Klötzer landen in der Feuerschale. Ein Dritter zieht die Nägel aus den Brettern. Im Hintergrund sägt der Vierte. Sein Sohn spaziert zwischen den Tomatenpflanzen. Eine Schaufensterpuppe mit elfenbeinweißer Haut und kahlem Haupt sitzt im mohnroten Kleid auf dem Gerüst und hält ihnen eine Perlenkette entgegen.

Guter Mond, du gehst so stille / In den Abendwolken hin, / Bist so ruhig, und ich fühle, / Daß ich ohne Ruhe bin!

Sie schaufeln den Phosphorbrei in die Eimer. Die Kinder tragen den brennenden Schutt aus den Häusern. Mit Wasser, Sand, Erde löschen sie die Flammen ab.

Eine alte Frau holt Post aus dem Briefkasten. Jeden Tag öffnet sie ihn, zur selben Stunde.

Vom Blech der Eimer tropft das Wasser auf die Dielen. Die Frauen nehmen die verstaubte Wäsche vom Dachboden, hängen sie in die Flure.

XIII

Das Haus schläft. In seinem Schoß ruhen die Kinderträume. Da kehrt der Vater mit Bonbons fürs Töchterchen nach Hause. Da packt ein Paar seine Koffer. Da gesellt sich eine alte Dame mit Postkarten zu ihrem Gatten. Bedächtig schleichen die Seelen durch die Räume. An den Fenstern verlöschen die Kerzen.

 

Olav Amende

 

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freiTEXT | Sigune Schnabel

Die Zeit bleibt Kind

I

Es gab Menschen, in denen die Zeit schlief. Sie blinzelte morgens einmal in die Dunkelheit des Körpers, drehte sich um und schloss die Augen erneut. Der Atem ging so gleichmäßig und leis, dass ihre Anwesenheit aus den Köpfen verschwand.

Mit fünf Jahren hatte Johanna geglaubt, gänzlich von den Misslichkeiten des Lebens befreit zu sein. Damals hatte ihr Bruder eine eiternde Wunde auf dem Handrücken, die täglich versorgt werden musste. Johanna schaute angewidert zu, wie der Verband gewechselt wurde, und sagte sich im Stillen: Mir würde so etwas nicht passieren.

Erst als sie zur Schule ging, erkannte Johanna, dass die Zeit stärker war als sie. Ihre Großmutter ging ins Badezimmer und stellte den Fuß auf einem Hocker ab. Krampfadern überzogen das Bein vom Knie abwärts, schlängelten sich wie Flussbetten entlang und hatten beinahe die Dicke von Johannas kleinem Finger.

Sie hob ihr Kinderbein zu ihrer Großmutter empor und stellte es daneben. „Schau mal“, sagte sie und zeigte auf ihre Adern. Blau hoben sie sich vom Fuß ab. Ob sie einmal Krampfadern würden? Großmutter zwängte sich den Stützstrumpf über und antwortete: „Bestimmt.“

II

Später wurde die Zeit ein Strom. Je älter Johanna wurde, desto reißender stürzten die Jahre das Flussbett hinab. Früher, als sie noch ein kleines Mädchen war, bewegten sie sich in feinen Wellen, und an manchen Stellen blickte Johanna bis zum Grund. Heute sah sie nur treibende Blätter und aufgewirbelte Gischt.

Damals bestand ein Tag aus einem riesigen Sack. Sie sammelte und sammelte, und immer blieb noch Platz. Nachts füllte sie den Rest in anderen Welten. Dann trat ein Mann aus der Tür der schlechten Träume, die sich in der Wand am Fußende ihres Bettes befand, bäumte sich auf und sprach mit finsterer Stimme: „Ich bin der Schokoladenfresser!“ Leider war Johanna nicht schlagfertig und mutig genug, ihm die Reste vom letzten Osterfest anzubieten. Ihr kam nicht einmal der Gedanke, dass sie selbst gar nicht aus Schokolade bestand und somit außer Gefahr war, gefressen zu werden.

Mit den Jahren wurden die Säcke immer kleiner, und die alten befanden sich schon so weit hinten, dass Johanna nicht mehr zu ihnen durchdrang. Nur manchmal, wenn sie müde war, geriet sie für Sekunden in einen Bereich zwischen Traum und Wachen, in dem Erinnerungen wohnten. Gerüche und Orte vereinten sich in diesem Moment. Ihre Füße befanden sich plötzlich auf Straßen, die sie als Kind entlanggelaufen war, in Ecken, die ihr gänzlich entfallen waren. In solchen Augenblicken merkte sie, dass ihr Leben in ihr ruhte. Sie waren ein müder Nachklang der einstigen Fähigkeit, die Welt mit allen Sinnen zu erleben. Ein Echo der Kindheit und zugleich ein Tor.

III

Früher schrieb Johannas Mutter jedes Jahr einen langen Brief an die Verwandtschaft. Die Kinder durften diese Seiten nicht lesen, wussten aber, dass es um sie ging, was sie wütend machte. Einmal fanden Johannas Bruder und sie Schnipsel im Papierkorb, die unverkennbar von einer Kopie stammten. Jeden einzelnen breiteten sie auf dem Wohnzimmerboden aus. Ihre Mutter störte sie nicht bei ihrer Tätigkeit, denn sie glaubte offenbar nicht an den Erfolg. Bei manchen Teilen sah man sofort, dass sie zusammenpassten. Dann gab es diese weißen Randbereiche, auf denen sich nur einzelne Striche befanden, die nahezu jeden Buchstaben fortführen konnten. Immer wieder probierten die Kinder aus, die Teile zusammenzusetzen. Am Ende schafften sie es. Es entstand ein Text.

Sekunden im Halbschlaf waren manchmal solche Puzzleteile. Mit viel Geduld ließ sich von ihnen einmal der Text der Kindheit ablesen. Das nächste Mal wollte Johanna ihn luftdicht in Flaschen verstauen und in ein Boot tragen, ihn vor dem reißenden Fluss schützen.

IV

Bei Paul war die Zeit kein Fluss. Schon früh rannte sie in seinem Körper auf und ab. Ein unbändiges Kind, das gegen die Zellen trommelte; das noch nicht gelernt hatte, Spuren zu verwischen und Scherben zu beseitigen. Manchmal erschrak es einen Augenblick, das Kind; vielleicht, weil ein Glas auf den Kacheln zersprang. Doch dann rannte es weiter umher, bis der nächste Gegenstand zu Bruch ging.

Manchmal sah Johanna vor sich, wir sie mit Paul durch den Sand lief. Die Sandalen baumelten in seiner linken Hand. Johanna trieb es immer weiter, bis zum hintersten Zipfel der Insel, an dem das Vogelschutzgebiet begann. Auf einmal war der Weg überflutet. Wellen umspülten ihre Fahrräder, die sie oben abgestellt hatten. Paul stieg ins knietiefe Wasser. Hinterher lachten sie, froh, dass sie sich rechtzeitig auf den Rückweg begeben hatten.

Wenn Paul auf dem Stuhl saß, wollte Johanna sagen: „Steh auf!“ Doch niemand konnte die Zeit in seinem Innern bremsen. Wie gern hätte Johanna ihn wie ein Fahrrad aus dem Meer gezogen.

V

Die Pflegerin schob ein großes Gestell heran. Sie musste aufpassen, dass es nicht anstieß. Dann ließ sie es herunter, gerade so tief, dass sie Paul daran befestigen konnte.

Als sie es wieder nach oben kurbelte, schwebte er in einer Schaukel. Zwischen den Armlehnen des Rollstuhls ließ sie ihn herunter, so passgenau, dass er in Sitzposition landete. Jedes Mal konnte Johanna nur zuschauen, wie die Zeit jede Regung von Paul nahm.

VI

Die Fähigkeit der Hingabe war abhandengekommen. Johanna schlüpfe in einen Raum, in den keine Berührungen reichten. Müdigkeit legte sich in ihre Sätze, ließ sie schwer werden und langsamer klingen. Sie versuchte, ihre Unsicherheit durch Verstand zu tarnen, zerschnitt ihr Leben in kleine Stücke und setzte es schlüssig zusammen, legte es auf einen Teller und sagte: „Sieht es nicht schön aus?“ Paul verzog das Gesicht.

VII

Johanna hatte gedacht, sie würden es schaffen, nichts zu erwarten. Nicht mehr zu spüren, wie sie dahinter verschwanden. Aber sie hatte sich geirrt. „Ich will dich noch einmal von vorne verlieren“, dachte sie und schaute aus dem Fenster. Sie saß an Pauls Bett und sah zu, wie er immer weniger wurde. Wie seine Hände, seine Stimme ihm entglitten. Sie hatte Angst vor seinem Verschwinden, denn es lag außerhalb ihrer Ordnung. Außerhalb der Regeln ihrer Welt. Es ließ sich nicht erklären und beherrschen. Geradezu absurd in einer aufgeklärten Zeit. Lag hier nicht das größte Versagen, wenn nicht sogar ein Verspotten aller Errungenschaften?

VIII

Seit Pauls Körper ihm entglitt, war Johanna aus dem Takt geraten. Bei jedem Versuch, sich zu halten, fehlte das Gerüst, die Grundlage. Also fiel sie in sich hinein, bis sie sich nicht mehr auffinden konnte, so tief. In der Leere tauchte ihr altes Leben wieder auf, als Nordlicht. Wenn sie danach griff, stürzte sie weiter, denn die Farben hatten keine Substanz.

Sie konnte Paul nur zusehen, wie sich etwas um ihn auflöste; nichts war mehr möglich, außer in den Leerstellen zu versinken.

Ein Teil von Paul hatte sich in Johanna verankert. Wo er sich lockerte, riss er etwas auf. Ihre Wurzeln waren wund geworden an der Luft. Wie lange war es her, dass sie die Grenzen zwischen sich verloren hatten? Dass sie sich überschnitten und ineinander rankten? Auch auf Johannas Seite starb etwas.

IX

Manchmal hielten sie sich am Immergleichen, denn es täuschte sie über das Ende hinweg. Ihr Denken beruhigte sich in dem Schein von Beständigkeit. Sie ahmten die Tage nach, als könnten sie so die Zeit anhalten. „Glaubst du nicht auch, dass sie hinter Gewohnheit verschwindet? Dass sie ganz still wird, wenn wir sie in einen Rahmen pressen?“, fragte Johanna, doch sie sprach es nicht aus.

Und sie dachte weiter: „Kennst du die Angst vor der Zeit? Eine Wohnung, ein Möbelstück aufzugeben, weil dann auch ein Stück von dir verschwindet; ein Abschnitt beendet ist, der aus dir herausfällt und eine Lücke hinterlässt? Du haftest noch daran, zu einem kleinen Teil, und fühlst, wie sich ein Loch in dir bildet, ohne diesen Gegenstand. Die Zeit zerstört dich zunächst nur langsam, doch du wirst immer kleiner, bevor du etwas Neues werden kannst. Nein, selbst das ist nicht von Bestand. Bald wird dir die Fähigkeit zu werden abhandenkommen. Bleibst du dann ohne dich zurück? Weißt du, was ‚ohne dich‘ bedeutet?“ Johanna wusste es nicht.

X

Manchmal nahm sie ein kleines Stück Leben und warf es in die Leerstellen. Doch es verlor den Glanz, wenn es so einsam und zerschnitten an der falschen Stelle lag.

 

Sigune Schnabel

 

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freiTEXT | Elísa Lovísa

Lebensretter

Kondome in allen Farben kleben unentrollt auf einer Glaskugel, die von innen beleuchtet ist und sich dreht. Dazu ertönt Musik von ausschließlich schwulen Künstlern, von António Variações bis hin zu Gaahl von Gorgoroth. Die bunten Schatten gleiten über die Wand und verbreiten dabei frivole Tanzatmosphäre.

Es ist mein 18. Geburtstag und ich befinde mich auf der Ausstellung meiner zehn Jahre älteren Schwester. Es stimmt nicht ganz, dass es ihre Ausstellung ist – sie gehört zu einem kleinen Künstlerkollektiv, das hier für zwei Monate seine gesammelten Werke zeigt. Ich bin stolz auf sie.

Ihr Freund und Kollaborateur Haq schenkt mir Sekt nach und singt aus vollem Hals das Lied von Judas Priest mit, das gerade läuft. Die Stimmung ist erstaunlich ausgelassen dafür, wenn man bedenkt, dass sich bei der Eröffnung vor zwei Tagen ein kleiner Skandal ereignet hat. Nun, es war eher einen Tag später, denn eine der anwesenden Journalistinnen hat sich bei der Pressebegehung der Räume nichts anmerken lassen und am nächsten Morgen einen empörten Artikel in ihrem Blatt drucken lassen, der ordentlich Aufsehen erregt hat. Jetzt strömen die Leute nur so in das bescheidene Kunsthaus unserer kleinen Stadt.

Ich habe mich ohnehin gewundert, warum das Kollektiv um meine Schwester ausgerechnet hier ausstellen will, das ist doch viel zu abgefahren für dieses Provinznest, wo in der Regel nur die Arbeiten von Rentnerinnen gezeigt werden, die einen Kurs in impressionistischer Malerei besucht haben. Gelegentlich auch Schwarz-Weiß-Fotos von Schülerprojekten, in denen ein Lehrer seinen Schützlingen beigebracht hat, wie man den Film selbst entwickelt.

Das hier war eher etwas, das man in Berlin oder Köln vermuten würde. Aber das Kollektiv beharrte darauf und meine Schwester sprach sogar davon, dass es besonders hier nötig wäre. Jeder solle Zugang zu Kunst haben, meinte sie, und fügte etwas vage hinzu, dass die Inhalte nicht rein für Großstädter wären und auch hier sicher Menschen berühren würden. Sie sollte Recht behalten haben.

Am Tag nach der Eröffnung war nun also der Teufel los, der ganze Landkreis schien von der Ausstellung gehört zu haben, über sie zu sprechen, sie sehen zu wollen – trotz des meiner Meinung nach eher einfallslosen Titels „Re:Produktion“, der nicht danach klang, als könne er unsere Mitbürger zu Scharen ins Kunsthaus locken.

Der tatsächliche Höhepunkt der bisherigen Resonanz aber war der Brief, den jemand wohl noch in der Nacht unter der Tür durchgeschoben und den die Aufsicht heute Morgen beim Aufschließen erst gefunden hatte.

Er wird gerade an der Wand angebracht, mitten im Raum, der dem Projekt gewidmet ist, für das meine Schwester hauptverantwortlich zeichnet und das „Innigkeiten“ heißt.

Eigentlich liegt im Kollektiv das Urheberrecht immer bei der Gruppe. Genau dieses Projekt aber war so persönlich, dass meine Schwester fast ganz allein daran gearbeitet und dafür den Künstlernamen „Roe v. Wade“ gewählt hat. Was wie ein exzentrischer Adelsname klingen mag, ist in Wahrheit die Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA, der dort damals die Abtreibung legalisiert hat. Und davon handelt ihr Projekt. Unglücklicherweise war sie auf dem Bild zu sehen, das in der Zeitung abgedruckt war, allerdings nur mit diesem Künstlernamen, an den übrigens auch die Morddrohung gerichtet ist, die nun als vielsagendes Zusatzexponat die Ausstellung bereichert.

Auf die Frage meiner Mutter, ob sie damit nicht zur Polizei gehen wolle, winkt meine Schwester ab. Sie wirkt alles andere als eingeschüchtert und sieht die Nachricht eher als Beweis dafür, wie wichtig die Ausstellung sei, wie sehr sie es geschafft habe, die Menschen an wunden Punkten zu treffen. Auch wolle sie keinesfalls der Absicht nachgeben, sie zum Schweigen zu bringen. Sie kündigt sogar an, weitere Morddrohungen an derselben Wand zu sammeln, sollten noch mehr eintrudeln. Diese Reaktion, die ihrer Auffassung nach ausgezeichnet die Widersprüchlichkeit sogenannter „Pro Life“-Aktivisten einfängt, rundet das Gesamtwerk noch besser ab.

Zum diesem gehören unter anderem eine Modellstadt voller Abtreibungskliniken, zwischen denen die schwangere Maria in Begleitung von Josef auf Modelleisenbahnschienen hin und her pilgert, ohne Einlass zu erhalten, während im Hintergrund das Lied „Mary Never Wanted Jesus“ von Thee Majesty läuft. Des Weiteren lässt sich in der Mitte des Raumes ein großer Globus finden, dessen Kontinente dicht an dicht gedrängte Playmobilmännchen bevölkern, während seine Ozeane komplett mit Plastikteilchenmosaiken überzogen sind. Darüber schwebt ein Storch mit einem Bündel im Schnabel.

Es gibt eine kleine Wackelkopffigur des aktuellen Papstes, die mit einer Sprechblase verkündet, dass allen Frauen, die von ihrem Partner zu einer Abtreibung gezwungen wurden, vergeben wird, während ein Pappmaché-Jesus sich nebendran um den Andrang an vom Papst ignorierten und zurückgelassenen Frauen kümmert. An einer Wand thront über einer altarähnlichen Vorrichtung ein ikonenhaft stilisiertes Gemälde von Kristina Hänel, jener Ärztin, die angeklagt wurde, weil sie über Abtreibungen aufklärte, und die auf dem Bild das selige Lächeln einer Heiligen trägt.

Außerdem hängt da noch eine chinesische Flagge, vor der eine Waage steht, eine Schale befüllt mit Männlichkeitssymbolen, die andere, deutlich schwerere, mit dem weiblichen Pendant, entsprechend der dortigen Abtreibungsstatistik. Eine Klanginstallation mit einem Chor brasilianischer Frauen, die dafür beten, dass ihre Abtreibung unentdeckt bleibt, kann man sich ebenfalls anhören.

Meine Schwester eben – die ganze Welt muss repräsentiert sein, zumindest annähernd.

Zitate zum Thema Schwangerschaftsabbruch aus der ganzen Weltliteratur wie aus internationalen Geschichts- und Gesetzesbüchern zieren die Wände; Adichie, Márquez und zig andere.

Aber das sind die politischen, die offensichtlichen Werke. Ohne die ginge es nicht, meint meine Schwester, und mich beschleicht das Gefühl, sie hat kein Vertrauen in die Interpretationsfähigkeit der Leute hier – vielleicht zurecht. Allerdings wunderte ich mich anfangs sehr, ist ihr Stil doch sonst eher subtil, scheut geradezu jede Erwähnung tagesaktueller Themen und Namen, verwehrt sich allem Konkreten, meidet das allzu leicht Verständliche.

Und zwischen den aufmerksamkeitsheischenden Werken verstreut liegen diese Inseln der Introspektion, die persönlicheren Exponate meiner Schwester.

Von ihrer eigenen Abtreibung vor sechs Jahren hat sie mir vor Kurzem erst erzählt; unsere Eltern wissen es schon längst. Bemerkenswert an ihren Erlebnissen, ihrer Erzählung war vor allem der Umstand, dass die meisten beteiligten Frauen – Frauenärztin, Abtreibungsärztin – sich laut meiner Schwester eher als unsensibel bis repressiv erwiesen, während die Männer – der Berater bei Pro Familia, der Narkosearzt – wesentlich verständnisvoller, urteilsfreier und warmherziger reagierten. Warum das so war, darüber kann man allerhand Mutmaßungen anstellen, aber meiner Schwester erschien dieser Fakt sehr erwähnenswert.

In den Bildern, Installationen und Skulpturen, die inmitten der Provokationswüste stehen, liegen all die Leeren und Erblühungen, die meine Schwester seit der Zeit mitgemacht hat, ihre Verknüpfungen zu dem Ereignis mal mehr, mal minder stark. Das Wahnsinnige daran ist, dass ich diese spüren, nachfühlen kann, durch ihre Geschichten, durch ihre Kunst. Wie ein Echo kommt es bei mir an, ein Echo, dessen Schwingungen mich umwerfen.

Der Bauch als Körperhöhle, Lebensraum, Gefängnis. Verengung der Welt, Verengung des Seins, Reduktion auf ein paar wenige Organe. Allumfassende Angst, ungeheures Wachsen um einen herum von Aufgaben, Erwartungen, Druck und Zwängen. Die Verbindung bleibt tot, körperlich vorhanden, doch nicht fassbar, keine Vorfreude, keine Mamamutation, kein Rühren einer neuen Wesenshaftigkeit. Nichts. Zukunftssorgen, Geldsorgen, Planetensorgen, erdrückende Machtlosigkeit, und das Selbst ist immer noch zu schwach, um ein weiteres, ein anderes Bewusstsein zu erschaffen, zu halten, zu leiten. Welt- und Lebensfülle schwinden.

Die Entscheidung kostet Mut und Überwindung, Stigmata, die bluten, Hinterfragen der Beseelung aller Dinge, eines Jenseits, einer Transzendenz. Diese Unklarheiten, die schon immer welche waren und es auch bleiben werden.

Danach jedoch: weinende Wiedergeburt, Erleichterung, himmelhochjauchzend! Befreiung, Wärme, Dankbarkeit. Möglichkeiten, die erwachen, daneben Trotz – Kampf mit der Meinung der Leute, die richten, die nicht wissen, die Schuld suchen und Ausreden, um ihrem Hass freien Lauf zu lassen. Was gegen den eigenen Willen geschieht, soll gut sein, gottgewollte Überforderung. So oder so nichts als Strafe.

Es gibt Monate, wo sie nach Gefühl ringt, gegen die vernichtende Feindlichkeit, die Bitterkeit und Vorhaltung der Leute, sie kämpft um jede Empfindung.

Aber sie hat sich behauptet, sich gerettet, hat gelernt, dankt denen, die ihr das Leben wiedergeschenkt haben, ist in der Zeit gewachsen und erstarkt.

Kontrovers mag es sein, aber meine Schwester sagt genau das: Dass der Akt der Abtreibung der Moment war, in dem sie sich selbst gebar, die Auslösung eines tiefgreifenden Entwicklungsprozesses, das Ergreifen von Kontrolle und Selbstbestimmung mehr als je zuvor. Ein Ergründen der eigenen inneren Umstände. Und davon zeugen ihre Exponate.

Es überrascht mich, wie viele ältere Frauen da sind, die überaus emotional reagieren – manche, weil sie damals zu mitunter gefährlichen Abtreibungspraxen gezwungen wurden, manche, weil sie dies heimlich allein unternommen hatten, aber ihr Geheimnis mit niemandem teilen konnten, und manche, weil sie gezwungen waren, Familien zu gründen und ihnen dadurch viele Chancen verwehrt blieben, viele ihrer Träume platzten. „Kostenlos, sicher, legal“ war früher eben noch undenkbarer als heute.

Meine Schwester steht wie eine Triumphsäule inmitten ihrer sichtbar gemachten Verletzlichkeiten, ihrer Erschöpfungen und Erschaffungen, beobachtet die Menschen, die sich in diesen selbst erkennen und sie mit ihren Gefühlsregungen umbrausen, umtosen, bestürmen.

Sie ist mehr als zufrieden, sie ist im Frieden mit sich, vertraut sie mir an, und sogar mit den Absendern der Drohbriefe. Sie weiß, dass diese vermutlich keinen Fuß in die Ausstellung setzen und wahrscheinlich nie ihre Meinung ändern werden. Aber ihre Haltung spricht von anderen Ängsten, die dem Kollektiv Inspiration für die nächste Ausstellung geliefert haben. Meine Schwester sprüht momentan vor Tatendrang und Revolutionslust, Ideen vermehren sich stündlich. Der Angstabbau, der Schamnachlass, die Besinnung auf die eigenen Kräfte – in ihr knospen hundert neue Welten, alte erglühen wieder. Sie war so klein und schwach und verunsichert zwischendurch, erzählt sie mir, und jetzt ragt sie ins Leben, überblickt alles, weitsichtig, klarsichtig, clairvoyant.

Ein neuer Künstlername für ein neues Projekt ist geboren, meine Schwester strahlt, sie will und wird aufgehen wie eine verschlossene Blüte, eine goldgießende Sonne.

Lächelnd drückt sie sich an mich und überreicht mir mein Geschenk: ein Ring aus rotem Glas mit vier weißen Streifen, ein Rettungsring. Er ist ein Symbol: die Zusicherung von Hilfe und Unterstützung, die Erinnerung an meine eigene Stärke, und zugleich Dank, denn der Gedanke an mich und meine Zukunft hat sie durchhalten lassen, die Vorkämpferin, die Mutentbrannte.

 

Elísa Lovísa

 

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freiTEXT | Anne Büttner

Buttermenschen

„Entschuldige, ich muss Dir das einfach sagen: Du hast unglaublich schöne Flanken! Wirklich. Fiel mir gleich auf, als Du zugestiegen bist.“ Adjektivlos schaut sie mich an. „Das hörst Du sicher öfter, oder? Dass Du atemberaubende Flanken hast." „Ehrlich gesagt, nicht so oft, nein." Erstaunlich eigentlich, denke ich und antworte entsprechend. „Ist ja nicht so, dass perfekte Flanken alltäglich sind. Entweder haben die Menschen den Blick für das Schöne oder den Sinn für Komplimente verloren. Beides nicht vertretbar, wenn Du mich fragst.“ Sie fragt mich nicht.

Das frühzeitige Verebben eines nicht zustande gekommenen Gesprächs ist eine mir vertraute Situation, mit der ich umzugehen weiß. Normalerweise würde ich einen letzten, bewundernden Blick auf ihren komplimentierten Bereich werfen und mich dann bis zum Erreichen des Zielbahnhofs meinem Larvenbestimmungslexikon widmen. Normalerweise. „Oh“, sage ich und meine damit die Jubiläumsausgabe, in die die Schönbeflankte sich vertieft hat. „Du interessierst Dich für mikrobiologische Prozesse?“ Sie nickt. „Dann darf ich also hoffen, dass Du auch auf dem Weg nach Neuruppin bist?“ Neuruppin und Hoffnung in einem Satz, passiert mir sonst eher selten. „Zum Käferlarvensymposium?" Erneutes Nicken. „Tja, dann", gebe ich mich geheimnisvoll und ihr Gelegenheit, nachzuhaken.

(Gelegenheit 1)

(Gelegenheit 2)

(Gelegenheit 3)

„Tja dann“, wiederhole ich, „dann bin ich wohl weiter dran, was?“ Keine Regung ihrerseits. „Okay. Also bin ich.“ „Bist was?“, fragt sie. „Na - weiter dran“, antworte ich. „Mit fragen. Man ist solang dran, bis man daneben liegt oder das Rätsel gelöst hat.“ Es gehört nicht viel dazu, ihre Körpersprache als Desinteresse zu deuten. Immerhin keine gänzliche Ablehnung. Das schürt Hoffnung. Und noch glüht mein Gesprächsfunke. „Lustig, dass ausgerechnet der Ptilinus Pectinicornis auf dem Umschlag abgebildet ist. War mein allererster Käfer, weißt Du.“ Weiß sie natürlich nicht. Woher sollte sie. „Siehst Du, hier.“ Ich halte ihr meinen Unterarm hin. Sobald sie das dort tätowierte Ebenbild von Sir Arthur bewundern würde, denke ich im Konjunktiv, werde ich ihr im Indikativ erklären, was es damit auf sich hat. Nun gut, ich würde es ihr auch erklären, wenn sie nicht bewundert. Wenn sie einfach nur fragt. Oder fragend blickt. Oder blickt. Okay, beschließe ich, ich erkläre es ihr, ohne dass sie etwas dafür tun muss.

„Darf ich vorstellen: Sir Arthur. So sah er aus, als ich ihn fand. Mutters Putzfimmel. Ein strahlender Tag für den Haushalt, ein schwarzer Tag für Sir Arthur und mich. Von wegen, Käfer könnten in so einem Staubsaugerbeutel noch eine ganze Zeit überleben, wie Abraham in Moby Dicks Bauch. Ich hoffe, Sir Arthur war auf der Stelle tot und musste sich nicht zwischen all den Fusseln, Flusen Krümeln und anderen Klack-Klacks quälen, aus denen ich ihn barg. Zumindest sieht er friedlich aus, oder?“ Ich betrachte noch einmal sein Bild. „Ja. Doch. Friedlich.“, bestätige ich meine Einschätzung und krempele den Ärmel wieder runter. Sie hatte wirklich genug Zeit, einen Blick darauf zu werfen.

Wie aus dem Nichts schiebt sie ihr linkes Hosenbein nach oben. Herrjeh, schöne Fesseln hat sie auch noch. „Da“, sagt sie und tippt auf das tätowierte Wimmelbild aus Punkten und Stäbchen an ihrem wohlgeformten Knöchel. „Meine Lieblingsmikroben in tausendfacher Vergrößerung.“ „Gibt es etwas Bedeutenderes, das zwei Fremde auf der Fahrt nach Neuruppin miteinander teilen können?“, frage ich und meine es ernst.

„Vielleicht schon“, gibt sie, ebenfalls ernst, zu bedenken und sendet folgende Signale:

  • hungriger, beinahe gieriger Blick
  • dezent geöffnete Lippen, mit der Zunge selbstvergessen umfahren
  • leicht gerötete Wangen
  • sichtbares Pulsieren der Halsschlagader
  • mir zugeneigter Oberkörper

Obwohl Flirten nicht meine Königsdiziplin ist, weiß ich, die Zeichen zu deuten und rutsche auf meinem Sitz vor. Die Nervosität versuche ich mir nicht anmerken zu lassen. Als ich mich gerade zu ihr beugen und ihr das geben will, wonach ihr offensichtlich ist, holt sie mich mit einem „Hoffentlich richtige Butter und keine Margarine?“ in das Wurstbrot-Hier zurück. „Ach, das meinst Du." So, wie sie mein Proviantpaket auf dem Klapptischchen zwischen uns fixiert, ahnt sie wohl nicht, was ich eben vorhatte. "Nein. Ist richtige Butter. Und richtige Wurst und richtige Landgurke auch.“

Ich bedeute ihr, sich an den Broten zu bedienen. „Ach super, danke!“ Um unser zartes Band zu stärken, greife ich mir trotz Völlegefühls auch eins. „Es gibt ja Buttermenschen und Margarinemenschen. Obwohl letztere gar keine richtigen sein können. Meine Meinung.“ Meine auch, wie ich ihr mit Nicken und aufgestelltem Daumen zu verstehen gebe, während ich mit der anderen Hand versuche, mein Brot so zusammenzudrücken, dass ich beim Abbeißen nicht den kompletten Rohschinken runterziehe. Ich wünschte, ich hätte mich für einen weniger komplizierten Belag entschieden oder sie sich wahlweise für den gleichen.

Stattdessen hat sie sexy Teewurst und ich ein kulinarisches Desaster. „Mal ehrlich, was ist das für ein Leben? Kompromiss wählen, statt sich für das einzig Richtige zu entscheiden? Sowas zieht sich ja durch. Das hört ja bei Ersatz-Butter nicht auf. Nehmen wir beispielsweise ..." Kaugeräusche überlagern ihr Beispiel. Hätte ich nicht noch immer mit dem Schinken zu kämpfen, würde ich nachfragen. „Während Margarinemenschen also noch Probleme suchen und hadern, haben sich Buttermenschen schon entschieden. Und zwar richtig." Erneut beißt sie in ihre Teewurststulle. Gerade so, als sei die ein Apfel und dies ein TV-Spot für Zahngesundheit. Ob ihre Makellosigkeit ihr manchmal ähnlich lästig ist, wie mir aktuell der Rohschinken? „Müsstest Du doch genauso sehen. Bist ja schließlich auch ein Buttermensch.“ Egal jetzt - ich ziehe den Schinken vom Brot und schlinge runter. Sie hat mich tatsächlich soeben zum Buttermensch geadelt. „Nehmen wir dieses Oder-Spiel. Kaffee oder Tee. Winter oder Sommer. Katze oder Hund. Berg oder Meer. Jetzt oder später. Später oder nie. Und oder oder? Solche Spiele fallen nur Margarinemenschen ein. Für Buttermenschen gibt es kein Oder. Kein X, wo ein U ist, keine Birne im Apfelgewand." Ich bewundere ihre Tiefgründigkeit und Entschiedenheit ebenso, wie ihre Flanken und Fesseln.

„Ah. Hier ist noch was frei", tönt es da unangenehm aus der Schiebetür unseres Zugabteils, das leider keine Zweier-Suite sondern ein Sechs-Personen-Abteil und damit auch anderen zugänglich ist. In diesem Fall dem verhutzten Störer, der sich geräuschvoll auf den Sitz neben mir fallen lässt. Ausgerechnet, als sie und ich kurz davor waren, einander ewige Liebe zu schwören oder uns wenigstens unsere Namen zu verraten, platzt er rein. Tatsächlich ist seine Hutzigkeit das einzig Besondere an ihm. Ansonsten lässt sich ganz objektiv feststellen, dass er über sehr viel Gesicht, sehr wenig Behaarung und einen zweckmäßigen Körper verfügt und dass er ein typischer Weder-Noch ist, was in diesem Fall dem Mängelexemplar eines Sowohl-als-Auchs entspricht. Beeindruckend unangenehm, wie er versucht, um ihre Aufmerksamkeit zu buhlen. Nicht in der Lage, ihr Desinteresse zu erkennen oder zu akzeptieren, monologisiert er unablässig über sich und ähnlich Unspektakuläres. Während sie ihn dabei entweder gar nicht oder versehentlich ansieht, befasse ich mich mit folgender Rechnung: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit W, in einem beliebigen Abteil X eines beliebigen Zuges Y auf eine Person Z zu treffen, die nicht nur die weltschönsten Flanken und Fesseln hat, sondern zudem Interesse I an der Lösung "für das vieldiskutierte Problem, dass es beim Verschrauben der Pins immer zu Beschädigungen durch den Flansch kommt beziehungsweise, haha - aufgemerkt, kam", wie der Verhutzte uns wissen lässt. Die Interessenwahrscheinlichkeit liegt meiner Berechnung nach bei beruhigenden minus Null Prozent.

„Oh", oh-t er in ihre Richtung, „Du interessierst dich für Prozessleittechnik im Alltag?" Sie nickt. Davon hat sie mir nie erzählt. Vielleicht braucht sie ihre kleinen Geheimnisse. Aber woher weiß er es dann, frage ich mich. Antwort gibt die von mir bislang unbemerkte Ausgabe der aktuellen `Prozessleittechnik im Alltag`, die, bei Hinschauen erkennbar, in der Seitentasche ihres Rucksacks steckt. „Dann darf ich hoffen, dass du auch auf dem Weg nach Groß Twülpstedt zum Dichtungstechnikkongress bist?", fragt er und birst fast vor Begeisterung.

„Das wär ja nicht zu fassen, wär das ja nicht. Ich meine, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit W, in einem beliebigen Abteil X eines beliebigen Zuges Y eine Person Z zu treffen, die sich für exakt dasselbe Spezialgebiet interessiert, wie man selbst?" Statt die Lösung zu verraten, würde ich ihm gern klarmachen, dass das hier nicht das Flanschen-für-Interessierte-Abteil ist und wir auch nicht auf großer Fahrt zum Dichtungstechnikkongress sind, sondern Buttermenschen auf dem Weg nach Neuruppin. Sie antwortet ähnlich. "Eventuell auf dem Rückweg, je nachdem, wie Neuruppin wird." „Wie soll Neuruppin schon werden? Es ist und bleibt Neuruppin. Dann sehen wir uns also in Groß Twülpstedt." Was für ein selbstgefälliger Fatzke. Kennt er Neuruppin? War er schon mal da? Nie war mir Neuruppin näher als jetzt. „Darauf sollten wir uns zubroten. Magst Du?" Obwohl die Frage nicht mir gilt, lehne ich dankend ab. „Leider war die Margarine leer - aber es schmeckt auch mal ohne, oder?" Margarine, schmecken und oder in einem Satz. Das Glück sorgt für Wiedergutmachung, denke ich und hoffe ausnahmsweise, dass sie ihm zugehört hat. "Zum Anstoßen reicht`s allemal, was?" Anscheinend meint er es ernst. „Danke. Aber ich bin so satt wie lange nicht mehr", höre ich sie sagen. Und dann schenkt sie mir ihr schönstes Buttermenschenlächeln. Auch auf die Gefahr hin, noch Schinken zwischen den Zähnen zu haben, lächle ich zurück. Lieber Schinken im Zahn, als Margarine im Herzen.

 

Anne Büttner

www.anne-buettner.de

 

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freiTEXT | Lisa Gollub

Als die Leiter fiel

Der erste Fall von der Leiter geschah Mitte August. Niemand hätte es vorhersehen können außer die Person, die fiel, und das war der Vater. Er stieg mit klobigen Straßenschuhen auf die Leiter, holte etwas aus der Kammer oberhalb der Garage, ließ den Gegenstand von oben auf die Wiese plumpsen und stieg dann verkehrt von der Leiter. Auf einer der unteren Sprossen blieb er mit dem Absatz seiner Schuhe hängen, sprang ab und landete mit Kopf, Händen und Knien auf den unebenen Fliesen. Er richtete sich mühevoll auf, hielt eine Hand an den Kopf, die andere ans Knie, beide waren blutig. Geht schon, dachte er sich und holte die Gartenschere aus der Garage. Auf dem Rückweg in den Garten tropfte schon Blut von der Stirn übers Kinn auf sein Arbeitshemd. Papa, was ist los?, rief der Sohn, als er ihm begegnete. Und da war es schon geschehen. Der Vater klappte auf dem Rasen zusammen. Ruf den Notarzt!, rief der Sohn zum Nachbarn, der zu Gast war, schnell!

Geht schon, sagte der Vater wieder bei Bewusstsein, als der Notarzt eintraf, aber der Sohn hielt ihn auf dem Boden. Geht nicht, sagte der Arzt dann, Sie haben eine Platzwunde am Kopf und Abschürfungen auf Händen und Knien, Verdacht auf Gehirnerschütterung, wir nehmen Sie jedenfalls mit. Alle Beschwörungen des Vaters gingen ins Leere. Es sei alles nicht so schlimm, er sei nur von der Leiter gehüpft, weil es nicht anders ging, es sei ja eigentlich nicht viel passiert, jeden Tag fallen Leute von der Leiter. Der Notarzt hörte ihn an und bereitete dann die Liege vor, denn beim Aufstehen schwankte der Vater ordentlich.

Die Tochter war gerade auf der Autobahn unterwegs, als der Bruder anrief. Der Papa ist umgekippt!, sagte er, wir fahren ins Landesspital. Was passiert sei, wollte sie fragen, aber da war die Leitung tot, und sie dachte: Schlaganfall oder Herzinfarkt. Sie änderte die Route und fuhr geradewegs zum Landesklinikum. Die Fahrt dauerte quälend lange. Und der Bruder war nicht mehr zu erreichen.

Die Rettung brachte den Vater in die Notfallambulanz des Landesspitals. Er wurde geröntgt und genäht und sollte zur Beobachtung über Nacht bleiben. Die Tochter stürzte herein, als der Vater die Dokumente entgegennahm. Auf seinem Gesicht lag ein mildes Lächeln, und der Bruder sagte erleichtert zu seiner Schwester: Fast nichts passiert!, worauf der Vater entgegnete: Hab ich doch gesagt!

Am nächsten Tag wurde der Vater entlassen. Verkrustetes Blut überzog einen Teil der Stirn und auch Arme und Beine. Ich bin komplett schmerzlos, sagte der Vater wie zum Spaß zur Mutter, die ihn besucht hatte. Die Mutter rügte ihn mit Blicken und Worten. Wie so etwas passieren könne, rückwärts die Leiter heruntersteigen, herunterspringen! Man müsse auf ihn aufpassen wie auf ein Kind. Sie verließ das Wohnzimmer und holte aus dem Medizinschrank Ringelblumensalbe. Dann sagte sie zu ihm: Dass du sie auch verwendest!

Einen Tag später taten sich Mutter und Sohn zusammen und verräumten die Leiter umständlich in der Garage. Auf die an der Wand befestigte Vorrichtung steckten sie zusätzlich zur Leiter Ketten und Seile, davor stellten sie den Rasenmäher und die Autoreifen. Als die Mutter vorschlug, sie könnten die Leiter versperren, antwortete der Sohn: Der Papa ist erwachsen. Es vergingen einige Tage, ehe der Vater wieder ordentlich hantieren konnte. Bald wurden die Nähte gezogen und die Abschürfungen schienen gut zu verheilen. Nicht kratzen!, ermahnte der Sohn den Vater, wenn er an den Krusten kratzte. Dann erheiterte der Vater sich zu sagen: Das weiß ich schon.

Bald bekam die Tochter von der Mutter einen Anruf. Sie lebte in der Stadt und war nur alle Zeiten mal am Land. Im Grunde konnte man sagen, sie hatte sich vollkommen von ihrer Familie emanzipiert. Die Mutter trug vorwurfsvoll vor, was sie über die Verhältnisse zu sagen hatte. Dass der Vater meistens ganz allein sei, dass sie zu selten nach ihm sehe, dass es gar nicht hätte passieren dürfen, dass der Vater von der Leiter fällt. Die Tochter hörte sich das an und antwortete, dass das nicht in ihrer Macht stehe.

Bald war der Vater wieder fit. Er setzte gemeinsam mit dem Gärtner Blumen, grub Wurzeln verdorrter Bäume aus, montierte einen Sichtschutz am Maschendrahtzaun. Er war ganz in der Tat. Anfang September stieg er zum ersten Mal seit seinem Unfall auf die Leiter. Mühevoll hatte er sie aus der Garage hervorgeräumt, geputzt und aufgestellt. Zur Demonstration seiner Gesundheit hatte er den Nachbarn bestellt, der ihm zusah, als er die Leiter erklomm. Von oben winkte er herab, und der Nachbar sagte händeringend: Seien’S bloß vorsichtig! Kaum war er wieder am Boden, lachte er wie ein Kind, das sich freut, eine Aufgabe gemeistert zu haben. Alles halb so schlimm, sagte der Vater.

Als er zum zweiten Mal von der Leiter fiel, war der Vater allein. Er platzierte die Leiter an einer anderen Stelle der Hausmauer, um die Satellitenschüssel zu justieren, denn der Fernseher hatte ausgesetzt. Als er ganz oben war, überkam ihn Schwindel. Er hielt sich fest, aber trotzdem schien sich alles zu bewegen. Er bemühte sich, so schnell wie möglich herunterzusteigen, und dann, fast war er da, stürzte er rücklings auf die Wiese. Wie eine umgedrehte Schildkröte lag er auf dem Rücken, die Wiese war hart und hatte den Sturz kaum abgefedert, und als er aufstand sagte er sich, wie immer, wenn etwas passiert war: Nichts passiert!

Am Wochenende kam die Familie zusammen. Der Vater saß mit steifem Rücken auf der Wohnzimmer-couch und trank seinen Kaffee. Die erste, die Verdacht schöpfte, war die Mutter. Sie beobachtete ihn einige Zeit, und dann sagte sie nicht ohne Vorwurf: Warst du wieder auf der Leiter? Der Vater verneinte, wie man eine Frage verneint, die man nicht gestellt bekommen will. Wortlos ging die Mutter hinaus und holte die Kette aus der Garage und das Vorhängeschloss vom Gartentor. Damit kettete sie die Leiter an die Winterreifen. Genauso wortlos setzte sie sich zurück ins Wohnzimmer.

Als er im Laufe des Nachmittags in die Garage kam, entdeckte der Vater die angekettete Leiter. Er stand einen Augenblick da und betrachtete das Werk. Dann griff er in die Schlüsselschublade, in der sich alle Zweitschlüssel des Haushalts befanden, probierte mehrere von ihnen, bis einer passte und machte die Leiter frei. Bald stand sie wieder an der Wand, fern von Satellitenschüssel und anderen Gründen, auf eine Leiter zu steigen.

Er hielt Ausschau und entdeckte hinter dem Fenster, über das die Leiter reichte, seine beiden Kinder. Sie standen einander gegenüber. Der Sohn schien etwas zu erzählen, über das die Tochter schon erwartungsvoll lachte. Dann lachten beide. Und dann lagen sie einander vor Lachen in den Armen. Der Vater war versucht, ebenfalls zu lachen, aber es blieb bei einem Lächeln. Mit Bedacht stieg er auf die Leiter, er hatte wieder die Straßenschuhe an und das Arbeitshemd mit rosa Flecken auf Brust und Bauch, in Richtung der Schwerkraft, dachte er, als er an sich herabblickte. Dann hörte er die Terrassentür, und im selben Moment rafften seine Kinder im Haus die Vorhänge und blickten ihn ungläubig durchs Fenster an. Es ist die Zeitspanne, in der man versucht, aus der gegebenen Information Schlüsse zu ziehen, und, kann man es nicht, zu handeln, ganz gleich, ob es hilft oder nicht. Die Mutter stürzte in den Garten, die Kinder öffneten die Fenster und versuchten den Vater wie die Feuerwehr von der Leiter ins Haus zu hieven. Indes stand die Mutter hilflos vor der Leiter, schrie, wedelte mit den Armen, flehte den Vater an, er möge herabsteigen. Aber der Vater stand mit einer Festigkeit und Sturheit auf der Leiter, knapp eineinhalb Meter über dem Boden, und ließ sich nicht bewegen, auf den Boden zu kommen. Stattdessen lächelte er seiner Familie wie aus einem Passfoto entgegen und umklammerte die Leiter umso mehr.

Zuerst hielt die Tochter inne. Ruhig stand sie am Fenster und schaute ihren Vater an. Sie sah die Furchen auf der Stirn, die jetzt geglättet waren, das arglose, halb schadenfrohe Lächeln, das sie manchmal selbst nach dem Zähneputzen aufsetzte. Was wollte der Vater sagen?, fragte sie sich. Da hielt auch er Bruder inne und blickte sie an. Die Mutter hatte sich inzwischen in die Hosenbeine des Vaters verkrallt und versuchte ihn unter noch größerer Gefahr auf den Boden zu ziehen. Aber still war es geworden. Die Kinder schwiegen und der Vater stand unverändert starr und wortlos auf der Leiter. Die Mutter schnaufte, hing mit den Fingern noch an der Hose, kämpfte mehr mit sich selbst, als mit dem Vater, und letztlich, als sie auf den Boden plumpste, musste sie einsehen, dass es allein dem Vater oblag, von der Leiter herunterzukommen oder nicht.

Die Fenster wurden geschlossen. Der Vater stand noch einige Zeit auf der Leiter, aber ohne Publikum macht auch das größte Kunststück keinen Spaß. Er drehte sich um hundertachtzig Grad, nahm Sprosse um Sprosse, sprang von der letzten ab und landete sicher er auf dem Rasen. Im nächsten Augenblick sauste die Leiter an ihm vorbei und fiel klirrend auf die Wiese. Nichts passiert!, dachte sich der Vater heiter und saß bald wieder auf der Wohnzimmercouch.

 

Lisa Gollub

 

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ausufern

gletscherwasser getrunken
auf travertin gebissen
den pfad am falschen ende
aufgesäumt das geröll
rund gewaschen von wo das
alles herkommt dieses geschiebe
ohne jahrringe das tosen
des schmelzwassers
das gebleichte holz
wie angeschwemmte knochen
ausgestorbener tiere flusswärts
zum gegenwert der trockenlegung

 

Cornel Köppel

 

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