freiTEXT | Sean Keibel
Meister des Heldentums
Wir bilden unsere Helden aus wie jede andere Zunft. Sie bekommen keine Sonderbehandlung, denn in Anbetracht der Bescheidenheit als höchste Tugend würde das nur ihren Charakter verderben. Ihre Berufsbekleidung, die sie auf ihrem Weg in den Betrieb meist schon am Leibe tragen, soll nicht nach Aufmerksamkeit lechzen. Hält man sie in den Straßen an, so ist ihr lächelndes Schweigen auf Anfrage – Sind Sie Held? – keine Koketterie. Ein jeder Bürger ist ausdrücklich angehalten, normal mit diesen Menschen umzugehen, auch wenn es schwerfällt, im Bruder, in der Schwester, im Onkel, in der Tante, im Schwiegervater, in der Schwiegermutter eben nicht mehr zu sehen als das; als Mitreisender im Zug muss man sich ihnen ja nicht zuwenden, aber wenn der Kontakt sich aufzwingt, darf man sich nicht blenden lassen vom strahlenden Heldentum, das einem ins Gesicht schlägt. Man darf nicht vergessen, dass sie ihre Heldenausbildung selbst gewählt haben; sich zu bewähren in der Not, sich gar aufzugeben, wenn es sein muss, und dabei ganz bescheiden zu bleiben und von sich aus niemandem von den eigenen Heldentaten zu erzählen, das bekommen sie ja im Berufsschulunterricht beigebracht, daraufhin werden sie trainiert, wie der Tischler in seinem Handwerk, wie der Maurer auch.
Wenn sie sich dann freigesprochen und frohen Mutes auf ihre Wanderschaft begeben, den Stock schwingend wie jeder andere Geselle und gehüllt in Tarnkleider, damit sie nicht auffallen, so sind sie nicht in Versuchung zu führen, keiner darf sie um Hilfe bitten, wenn Not am Mann ist, vielmehr müssen sie ihr Meisterstück von selbst erspähen und sich aus freien Stücken ohne Anleitung eines Anderen in die Aufgabe stürzen. Dies ist, offen gestanden, eine alte Sitte; später wird man ihnen genau sagen, wohin sie sich zu begeben haben und was sie dort tun sollen, was es ihnen, den Jüngeren, leichter macht Held zu sein; um die Älteren aber nicht zu brüskieren, deren Arbeitsalltag noch ganz anders war und ganz andere Qualitäten abverlangte – sie sitzen ja überdies in den Gremien, diese Älteren, und bestimmen mit über die Ausbildungsinhalte –, um sie also nicht zu brüskieren, belässt man einige der alten Sitten, damit die jungen Helden wissen, wie schwer es ihre Vorgänger einmal hatten und wie viel Respekt ihnen damit gebührt. Die Jungen nehmen es hin, sie nehmen es sogar auf und werden eines Tages vor den noch Jüngeren selbst darauf bestehen. Vorerst aber sind sie schließlich, nach sorgsam choreographierten Lehrjahren, Meister des Heldentums, die hoch gehandelt werden. Einige treten der Handelskammer bei und beteiligen sich an der Nachwuchsförderung.
Viele unserer Nachbarvölker neiden uns unsere Helden. Es sei ja alles viel zu durchorganisiert, blöken sie, eine Heldenreise könne nicht verordnet werden. In Wirklichkeit aber, da sind wir uns sicher, sind sie schon längst dabei, in aller Heimlichkeit ihre eigenen Helden zu produzieren. Freilich besorgt uns das nicht, denn wir haben den Vorsprung; was uns besorgt, betrifft unsere Bevölkerung, den einfachen Bürger, den es von allzu großer Verehrung, ja am besten jeglicher Verehrung unbedingt abzuhalten gilt, bevor er beginnt sich zu fragen: Wenn die Helden höher gehandelt werden als er selbst, weil sie sich für ihn, den Bürger, der also weniger wert ist, aufgeben würden – worin liegt ihr Wert dann eigentlich?
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freiTEXT | Tabea Baumann
Fünfzehn mal drei
Ich liebe dich
sage ich, und die Abwesenheit einer Antwort sagt mir alles. Ich nehme einen Schluck Tee, und verbrenne mir die Zunge, obwohl er schon seit Stunden in der Tasse ist.
Ich liebe dich
sagt sie, und küsst mich und für einen Moment bin ich König der unendlichen Weiten innerhalb einer Nussschale. Dann geht sie und die Nussschale schließt sich, wird wieder klein, bis ich mich nicht mehr bewegen kann und mir wünsche, eine Krähe würfe mich auf die Straße unter die Reifen eines silbernen Mercedes.
Ich liebe dich
brüllt er, und schlägt noch einmal zu, jede Silbe eingehämmert in die rötlichbräunlichgraue Masse, die einmal ein Gesicht war. Er weint dabei.
Ich liebe dich
tippt sie, und wartet darauf, dass die Ampel wieder grün wird. Sie schickt ein Herz-Emoji und fragt sich dabei, ob es ihrer Freundin auch aufgefallen ist, dass der Whatsapp-Feed nur aus Emojis und der Frage nach dem Abendessen besteht.
Ich liebe dich
flüstere ich, und denke dabei an eine andere.
Ich liebe dich
schneidet sie dem Baum in die Rinde, und verbringt dann den Rest des Tages damit, das Harz vom Messer zu kratzen. In zwei Jahren wird der Baum gefällt sein und ihre Freundin wird den Schlagzeuger geheiratet haben, über den sie sich gemeinsam lustig gemacht haben.
Ich liebe dich
denkst du, sagst es aber nicht, weil in jedem Paralleluniversum eine Version von dir existiert, die mutig ist, aber hier und jetzt gibt es nur dich.
Ich liebe dich
lacht er, und streichelt den Bauch seines Freundes, genau unter dem Nabel, wo seit einigen Wochen die ersten grauen Haare wachsen. Der Bauch ist weich und die Sonne lässt das Silber glitzern, als wäre es kostbar.
Ich liebe dich
keuchst du, und ich schaue an die Decke, die der Vormieter schlecht gestrichen hat und frage mich, warum es heute im Supermarkt keinen Fenchel gab.
Ich liebe dich
sagt der Mann am Nachbartisch zu seiner Tochter, vielleicht ist es aber auch seine Freundin. Sie lächelt ihn abwesend an und schraubt den Salzstreuer auf und zu, auf und zu, auf und zu.
Ich liebe dich
murmelt er, schon fast eingeschlafen, und wirft seinen Arm über dich, und du fühlst dich wie eine Eiche, die langsam vom Efeu erstickt wird. Dem Efeu vor dem Fenster ist das egal, der wächst weiter.
Ich liebe dich
sagt das Mädchen zu ihrer Freundin, die lacht und ihr ein Gänseblümchen in den Mund steckt, den bitteren grünen Stängel voran.
Ich liebe dich
gesteht der junge Mann der Barista, die ihn mitleidig ansieht und ihm seinen Kaffee in die Hand drückt. Er geht, und wirft den Becher vor der Tür in den Müll.
Ich liebe dich
sagt der Engel, und die alte Frau lächelt. Der Engel sieht aus wie ihr Mann, mit Flügeln aus Neonlicht.
Ich liebe dich
sage ich. „Ich dich auch“, sagst du.
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freiTEXT | Simon Probst
Der Mensch verabschiedet sich aus dem Holozän
Ich forsche an einem Institut für Abschiede von einem alten Planeten. Um einen Eindruck von meiner Arbeit zu geben, erzähle ich am besten eine der Geschichten, die ich sammle: Am Dienstag, dem fünften September 2023, wird ein Sarg aus Eis von Trägern in schwarzer Kleidung, mit Bergschuhen und verspiegelten Brillen gegen die Höhensonne im schönen Sommerhimmel, am österreichischen Großglockner beigesetzt. Symbol für die Pasterze, Österreichs größten Gletscher, der hier zu Grabe getragen wird. Ein katholischer Bischofsvikar und eine evangelische Pfarrerin halten gemeinsam die Zeremonie auf der Franz-Josefs-Höhe ab. Begleitet werden sie von vier Blasmusikern. Die traurige Melodie legt sich wie traumhafte Blumengebilde um das Eis. Im Hintergrund steht schweigend eine Bergkette, schmutziges weißes Haar auf den alten Häuptern. Fast könnte man meinen, sie halten Hüte in den gefalteten Händen.
Da es sich hier um einen Bericht und kein Märchen handelt, liegt in dem fast gläsernen Sarg nicht Schneewittchen. Niemand schlummert darin und wird durch ein Stolpern wieder zum Leben erweckt. Dabei ist hier gutes Stolpergelände. Die Auferstehungschancen, im Märchen stünden sie gut. Doch der Sarg ist leer. Und leer heißt, dass dort im Eis, anders als im Gletscher, überhaupt kein Raum ist, in dem jemand liegen und die Zeit überdauern könnte. Folgerichtig gibt es auch kein Scharnier, keinen Deckel, nur die maschinell geformte Eismasse.
Tatsächlich ist noch niemand gestorben, zumindest nicht hier. Diese Beerdigung besiegelt den Todesfall nicht, eher kündigt sie ihn an. Die stolze Pasterze – man sieht sie hier von der Franz-Josefs-Höhe aus – ist geschrumpft, viele Meter jedes Jahr. Und Gletscher sind nicht für immer Gletscher. Wenn sie eine bestimmte Größe unterschreiten, wenn sie sich nicht mehr bewegen, wenn ihr Eis nicht mehr mit dem Rhythmus der Jahre pulsiert, sich ausdehnt und zusammenzieht, dann sind sie keine Gletscher mehr. So die wissenschaftliche Definition. Sie bestimmt, ob Eis lebt. Die Pasterze ist noch ein Gletscher. Die Beerdigung ist eine vorgezogene. Das Ritual soll aufrütteln, warnen, prophezeien.
Die Vorwegnahme des Abschieds begegnet mir überall. Oft auch unter anderen Vorzeichen. Für meine Mutter ist es das erste Jahr, in dem sie nicht mehr um die alte Erde trauert. Nach einer nicht enden wollenden Periode des Unglaubens, des Aufbegehrens, der Wut und Verzweiflung über die Wandlungen und Verluste in der Natur ist sie jetzt ruhiger. Sie sagt, sie hat getrauert und ihren Abschied genommen. Sie gesteht ein, dass ihr die Idee des Abschieds in diesem regenreichen Jahr leichter fällt. Seine Vorwegnahme ist keine Mahnung, sondern ein Abschließen. Möglicherweise eine Vorbereitung auf die kommende Erde.
Bis vor kurzem lagen die Folgen des menschengemachten Klimawandels scheinbar noch in einer fernen, fantastischen Zukunft. Jetzt liegen manche ihrer Verhängnisse schon in der Vergangenheit. Denken wir, es wäre möglich, mit den fortwährenden Verlusten fertigzuwerden, wenn wir sie in aller Form betrauern? Aber sind wir nicht in einen andauernden Abschied verwickelt und schwanken entsprechend zwischen überwältigenden Gefühlen, unangenehmer Berührung, Überdruss und dem Wunsch, mit dieser Peinlichkeit endlich abzuschließen?
Meine Forschung besteht in der konstanten Beobachtung des Abschiedszustands. Dafür muss ich ihm meine ganze Aufmerksamkeit schenken und gleichzeitig die ihn begleitenden Gefühle auf Abstand halten. Ich bin ein Archivar der Trauer, angestellt, um die Verluste zu dokumentieren und Berichte über den menschlichen Umgang mit diesen Verlusten zu verfassen. Diese Aufgabe verlangt Ausdauer und verbietet die Verausgabung in einem ekstatischen Moment. Katharsis wäre kontraproduktiv.
Betrachtet man über einen längeren Zeitraum die neuartigen Formeln und Rituale kollektiven Trauerns, stellt man fest: In unserer Kultur gibt es einen überaus ansehnlichen Abschiedskarneval. Kein Zweifel, dass wir uns von den Gletschern und dem polaren Eis verabschieden. Wir halten ihre letzten Reste auf Fotos fest, in Erzählungen, in Archiven. Seit mehr als zehn Jahren wird am 30. November ein internationaler Gedenktag für ausgestorbene Arten und Lebensräume begangen. Im Überfluss Denkmäler, Rituale, Trauergedichte, Verlustverzeichnisse, eine Erinnerungskultur mit dem dazugehörigen Ernst, Pathos und Theater. Während wir mit fast schon obszöner Gefühlsseligkeit der alten Erdordnung Lebewohl winken, wartet die alte und neue Gesellschaftsordnung, ewiger als das Eis, in der guten Stube, wo sie uns zum Leichenschmaus empfängt. Es ist das Wechselspiel, die spezifische Komposition und Mixtur von vollzogenen und nicht vollzogenen Abschieden, das bestimmt, wer wir sind.
Das symbolische Ritual am Großglockner war nicht das erste für einen Gletscher abgehaltene Trauerzeremoniell. Bereits 2019 trauerte Island um den Verlust des mächtigen Okjokull-Gletscher. Hier war es ein tatsächlicher Abschied und kein vorweggenommener. Der Ok-Gletscher hatte seinen Status als Gletscher verloren, hatte im Sterben große Flächen lange bedeckten Steins freigelegt und war zu einer unzusammenhängenden, fleckigen Eisschicht geworden, die manche als den Leichnam des Ok betrachteten – geschrumpfte, leblose Überreste, vom Zerfall entstellt. Aber sie erinnern noch an den Lebenden.
Als Mahnung wurde auf einem ehemals von ewigem Eis bedeckten Felsen eine Bronze-Tafel angebracht, die auf Isländisch und Englisch die folgenden warnenden Worte trägt:
Ein Brief an die Zukunft
Ok ist der erste Gletscher Islands, der seinen Status als Gletscher verliert. In den nächsten 200 Jahren werden ihm all unsere Gletscher folgen. Dieses Mahnmal bezeugt, dass wir wissen, was passiert und was getan werden muss. Nur Du, zukünftiger Leser, weißt, ob wir es auch getan haben.
August 2019
415 ppm
Dem Trauerzug und der Enthüllung der Tafel wohnten über hundert Menschen bei, darunter die damalige isländische Premierministerin Katrín Jakobsdóttir und die ehemalige UN-Menschenrechtskommissarin Mary Robinson. Das ganze hatte den Anschein eines Staatsbegräbnisses. Trotzdem entstanden in der Berichterstattung immer wieder Unsicherheiten, um was für ein Zusammenkommen es sich hier handelte. War das eine künstlerische Performance? Eine symbolpolitische Handlung? Eine neue Form von zugleich wissenschaftlichem und animistischem Totenkult? Eine Erinnerung an zukünftige Tote?
In einem Buch mit dem Titel In den Gletschern der Erinnerung aus dem Jahr 2020 sammeln zwei Autoren literarische Zeugnisse von Gletschern aus den letzten drei Jahrhunderten, darunter Aufzeichnungen von so illustren Persönlichkeiten wie Lord Byron, Mary Shelley, Hans Christian Andersen, Mark Twain, Friedrich Nietzsche, Walter Benjamin, Max Frisch und Paul Celan. Sie alle waren Gletschern begegnet und hatten über sie geschrieben. Das Buch ist ein poetisches Gletscheralbum und eine merkwürdige Schwelle: Außerhalb des Buchs existiert die eisige Welt noch. Aber nur gerade so. Zukünftige Leser*innen werden In den Gletschern der Erinnerung den Moment markiert finden, da im Verschwinden begriffen war, was sie nicht mehr kennen.
Ich mache meine Arbeit, wie ich jede andere Tätigkeit ausüben würde: akribisch, gewissenhaft und mit Freude an der Entdeckung von kuriosen Begebenheiten. Die Verluste und meine Aufzeichnungen von ihnen sind gefragt. Aber in einem regelmäßigen Rhythmus, alle anderthalb Wochen etwa, werde ich traurig. Dann kann ich mich nur noch langsam bewegen und nicht mehr denken. Ich gehe spazieren und in diesem Jahr lasse ich mich vom Regen trösten. Obwohl das Wetter verrücktspielt. Manchmal schlägt es drei Mal am Tag um. Von Wetterumschwüngen kann nicht die Rede sein, eher von einem Luftdruck-Karussell, einer unberechenbaren atmosphärischen Launenhaftigkeit. Trotzdem: Es beruhigt mich, im Wetter zu sein, seine Bewegungen genau zu verfolgen. Ich kann es kaum aus den Augen lassen.
Wenn ich mich schließlich erschöpft in meine Wohnung zurückziehe, verkrieche ich mich ins Bett und höre Holocene von Bon Iver. Der Song ist nach einer Bar in Portland benannt. Und nach der geologischen Epoche, die wir beenden. Das Lied entstand in einer Winternacht, an Heiligabend, um genau zu sein, auf einem späten Spaziergang. Menschenleere Straßen, meilenweit keine Autos, das Kommen eines Schneesturms in der Luft, Inseln aus Eis auf den Straßen. Plötzlich passt alles zusammen, der Ort, die Zeit des Jahres, existentielle Erleichterung, Demut, das Gefühl, dass die Landschaft, die Stadt, die Luft den Song geschrieben hat. In meinem müden Kopf wiederholt sich immer die eine Stelle: You fucked it friend, it’s on its head, it struck the street. Das bringt es auf den Punkt, fühle ich, obwohl ich gar nicht weiß, was ‚it‘ ist. Bleibt noch etwas zu sagen? Lebewohl Holozän. Es waren gute 11.700 Jahre. Verzeih.
Mit zwei Freunden tausche ich mich in einer Chat-Gruppe über den Tod aus. Sie heißt Don’t bury the Dead. Darin Bücher zum Tod, Ausstellungen zum Tod, Podcasts zum Tod. Einer der Freunde ist überzeugt, dass es falsch ist, seinen Frieden mit dem Tod zu machen. Ich schicke ihm zwei Verse von Dylan Thomas: Do not go gentle into that good night. / Rage, rage against the dying of the light. Der Freund reagiert mit einem brennenden Herz. Auf Wanderungen schreiben wir die Verse in Gipfelbücher.
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freiTEXT | Jane Stone
Kontakte
Charlotte rauft sich die Haare. Ihr Kinn juckt, wo sich heiße Tränen treffen. Unter ihrer Straßenlaterne beginnt sie, die Schlaglöcher vorm Restaurant zu zählen. American Bar & Grill, est. 1990. Hat drinnen überhaupt jemand gemerkt, dass sie abwesend ist? Schon verzählt. Nochmal von vorne. Der Shot Whiskey gegen die Nervosität und die Zurückweisung brennen gemeinsam. Jeder Augenschlag verdoppelt das Dröhnen in ihrem Schädel. Warum kommt Viktoria nicht nochmal heraus? Mehr wehtun kann sie Charlotte nicht. Wieder verzählt. Es hört nicht auf, Dezember zu sein. In der Hocke zittern ihre Beine. Heute Morgen frisch rasiert für ein schreckliches Kleid. Die Verkäuferin hat es ihr für zu viel Geld aufgedrängt, weil sie ihre unsicherste Kundin hasst und –
Charlotte stößt einen Schrei aus. Etwas schlängelt sich ihre Wirbelsäule hoch, bohrt sich mit einem Stich in ihrem Hinterkopf. Schlagartig steht ihr Körper und läuft mit wackeligen Schritten nach Hause.
Komplette Überforderung. In den ersten Minuten des Menschseins spüre ich jedes Gramm Körpergewicht. Massen an Bewegungen erschlagen mich fast. Allein die Augen umgeben das Prickeln tausender Muskelfasern. Blinzeln nicht vergessen. Wie kann die Nacht hier so grell sein? Man sieht nicht mal die Sterne! Grade prasseln all die körperlichen Instinkte auf mich ein, die ein Mensch zu ignorieren lernt. Das Bedürfnis, fremde Dinge in den Mund stecken. Zu kreischen, bis einem die Luft ausgeht. Zu starren. Zu sabbern. Ich hätte mir die Nase aus dem Gesicht gerieben, wenn ich sie eben nicht ausgeblendet hätte. Ganz tief im Gehirn habe ich mich eingenistet. Dieser wabblige Klumpen triumphiert über die körperliche Hülle.
Am Tag danach wird mir die Schwere meiner so spaßigen Spontanentscheidung bewusst. Unter der Schwerkraft ist alles anstrengender. Die Müdigkeit verschwindet nicht. Der erste Muskelkater schmerzt unaufhörlich. Alles lässt mich daran zweifeln, das für einen Menschen Freude drin ist. Zumindest ein Glück: Es ist Samstag. Dieser träge Körper muss nirgendwo hin. Auf dem Wohnzimmerteppich liegt es sich kratzig. Seit gestern ist das hier meine winzige Wohnung. Eine Ruine aus Staubfäden und dunklen Fusseln finde ich unter der Kommode. Darin lebt eine tote Fliege, die mich bemitleidet. Ohne mein Zutun schlägt das Muskelgedächtnis zu. Handy in meiner Hand. Instagram öffnen. Scrollen bis zum ersten Foto dieser einen blonden Frau. Double tap. Viktoria da. Rotes Herzchen. Viktoria dort. Familienfoto mit Geschwistern, Weihnachten mit hässlichen Pullovern. Grübchen. Warte, was mache ich hier? Die Finger wehren sich, aber mit etwas Nachdruck ist die App gelöscht. Kurz ringe ich mit den Überresten eines Verlangens, dann erkläre ich mich zum Gewinner.
Letzten Juni führte der Chef eine blonde Frau in den Pausenraum, ein höfliches Lächeln in ihrem glühenden Gesicht. Grübchen.
„Ich bin die neue Kollegin, Viktoria. Schön euch alle kennenzulernen. Ich freue mich schon auf gute Zusammenarbeit.“
Charlottes Gedanken rannten ihr davon: Wenn diese Frau hetero ist, werde ich zum schönsten Mann der Welt. Wenn sie nicht an Liebe glaubt, will ich ihre engste Freundin werden. Du bist perfekt. Ich liebe dich.
Fast ließ Charlottes Zunge diesen Eifer in die Welt hinaus. Schnell versteckte sie ihren Mund hinter ihrer Kaffeetasse. Ihr Blick blieb so lange auf Viktoria, wie ihr Schamgefühl es zuließ. Jede Millisekunde genoss sie, kam aus dem Schmunzeln nicht heraus.
Ein Montagmorgen, 7 Uhr. Bequemes Bett. Kein Herzinfarkt oder epileptischer Anfall im Schlaf. Vielleicht sogar ein guter Traum, den ich längst vergessen habe. Jeder Tag überlebt ist ein Erfolg. Ich sollte diesem Körper applaudieren, stattdessen strecke ich meine Hand in Richtung des offenen Fensters. Eine kalte Brise umspielt meine Fingerspitzen. Der frische Geruch der Atmosphäre umarmt mich. Dieser Fetzen Himmel ist blauer als alles, was ich je wahrnehmen durfte. Krähen hallt durch die Straße. Frage und Antwort, hin und her. Letztes Wort in drei tiefen Tönen. Argument beendet. Nur noch ein sporadisches Rauschen von Autos. So fühlt sich wohl der Frühling an. Genau dafür bin ich ein Mensch geworden.
Sonnenstrahlen brauchen acht Minuten, bis sie auf die Erde treffen. Nur eine Kleinigkeit müsste dabei schiefgehen und ich könnte nicht das tiefrote Gewand der Frau wertschätzen, die neben mir sitzt. So viele Gesichter. So viele Orientierungspunkte, an denen wir vorbeifahren. Wie schön Busfahren zur Arbeit sein kann. Die Strecke hat die perfekte Länge, um entspannend zu sein. Der Bus schnurrt unter meinen Füßen. Ich schließe kurz die Augen, sauge das Geräusch ein, bis es verstummt. Nächster Halt. Eine blonde Frau steigt ein. Seit wann fährt Viktoria diese Strecke? Sie hat die Fähigkeit meinem Körper Gedanken zu entwenden und um sich herum kreisen zu lassen. So unangenehm. Den Platz in diesem Kopf brauche ich für mich allein. Ihre Augen blicken in meine. Jede Alarmglocke klingelt. Schnell wende ich mich ab.
Stille im Pausenraum. Nachdem ich die nachlässigen Krümel der Kollegen weggewischt habe, lehne ich an der Theke. Langsam gewöhne ich mich an den Kaffee. Die Tasse wärmt angenehm meine Hand. Der Koffeinkick ist nur ein Bonus. Etwas bringt meine Nase zum Rümpfen.
„Du rauchst wohl immer noch in der Mittagspause.“
Viktoria zieht das Pflaster ab: „Charlotte, gehst du mir mit Absicht aus dem Weg?“
Meine Gegenfrage: „Ist das ein Problem?“
„In letzter Zeit bist du irgendwie… anders.“
Viktoria steht am anderen Ende des Raums, Rücken zum Kühlschrank, in dem immer jemand was vergisst. Ein Schritt Abstand zwischen uns und ihr Blick bohrt dennoch.
„Ich bin eine neue Charlotte. War noch nie glücklicher.“
„Es tut mir leid… wegen dem Korb bei der Weihnachtsfeier“, sprechen Viktorias Schuldgefühle.
So gut es geht verhandle ich für eine Charlotte, die ich nur aus Impulsen kenne:
„Nicht deine Schuld. Um ehrlich zu sein: Als ich dich zum ersten Mal draußen rauchen gesehen habe, war ich schon etwas weniger verliebt.“
Ein Schatten fällt über Viktoria.
„Irgendwie tut es weh, das zu hören. Also war es keine richtige…“
„War nur in die Idee von dir verliebt.“
Eine Idee, die längst zum Wohle der Menschheit begraben wurde. Eine Lücke, in die ich schlüpfen konnte. Viktoria gebührt all mein Dank.
Ihre knappe Antwort: „Dann ist es wohl so.“
Warum klingt sie nicht erleichtert?
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freiTEXT | Lina Leonore Morawetz
Ein angelsächsisches Konzept
Einsamkeit ist ein angelsächsisches Konzept. Wenn du in Mexiko City die einzige
im Bus bist und jemand einsteigt, dann wird er sich nicht nur neben dich setzen,
er wird sich an dich anlehnen.
— Lucia Berlin, Albern, wer da weint
Der Fahrer blickt aus der Dunkelheit heraus — es gibt keine Haltestellen. Es gibt nur Handzeichen, die Türen stehen immer offen. Seine Sinne täuschen ihn manchmal, er beugt sich zum Lenkrad, sein schwerer Körper vor dem Fenster. Seine Augen glänzen. Sein Bus steht an der roten Ampel. Diese kleinen Busse sind winzig und riesig, im Rasen wanken sie. Behäbige Dampfer. Und die Fahrer sind immer in Eile, sie müssen fünf Millionen durch die Stadt bringen. Unten Asphalt. Oben die Bäume. Gummibäume, und Stromkabel wie langwieriges Haar. Ein Lenkrad wie ein Lastwagen. Richtung Osten. Richtung Westen. Fünf Millionen Handzeichen. Aber heute ist sein Bus noch leer. Mit glänzenden Augen sucht er den Straßenrand ab.
*
Der Bus steht vor ihm an der roten Ampel. Die Luft war noch frisch. Es wurde eben hell. Vier Pesos, ertastet in der Jackentasche. Er sieht sich um. Direkt vor ihm. Die Luft frisch. Er sieht sich nochmal um. Nur einen Schritt. Warum nicht. Hineinspringen in diese Tür, die sich, immer offen niemals schließen wird, die niemals hält. Es gibt keine Haltestellen, nur Handzeichen. Vier Pesos in der Tasche, ertastet.
In der Jackentasche hält seine Faust an den Münzen fest. Die Luft ist frisch, er atmet tief, füllt seine Lungen mit Vergewisserungen. Es ist nicht mehr Nacht, sagt er sich, die Nacht ist vorbei. Helle Musik von der Tanke. Er klimpert die vier Pesos. Er sieht sich um. Die Tanke ist leer. Das Victoria schon voll. Es duften die Donas nach süßer Erlösung. Schnell. Nur einen Schritt, denkt er. Auf und davon. Für vier Pesos den Boden unter den Füßen verlieren. Für vier Pesos alles hinter mir lassen. Der Motor jault auf. Seine Hand bewegt sich auf den bittersüßen Espresso zu, der vor ihm auf der wackeligen Holzbox hin und her kippt, als würden seine Finger blinzeln und neugierig die Welt erkunden, die Luft noch frisch, es ist bald hell, er richtet sich auf, eine reckende Bewegung als wäre er in einem kleinen Rausch und Wirbel, als wären Leben und Tod eins. Jetzt nicht so lange nachdenken, sagt er sich, die Nacht ist vorbei, ein Schritt aufs Trittbrett, den schmutzigen Wind im Haar, dem Fahrer gewunken, der wusste, vier Pesos in der Jacke. Für vier Pesos auf und davon, ein guter Deal, der Fahrer nickt. Er wird Gas geben, einen Gang hochschalten und die Musik aufdrehen, Cantina und los, nach Osten, nach Westen, den Fahrtwind um die Ohren. Die Türen stehen immer offen und weil die Türen immer offenstehen und fünf Millionen einsteigen und fünf Millionen aussteigen klappert immer irgendwo etwas. Eine Tür, ein Fenster oder sonstwas. Der Fahrer dreht sich in der Kurve zurück in den schlingernden Bus und schaut, weil etwas klappert oder sonstwas und sieht ganz hinten zusammengekauert eine Gestalt sitzen, nach Osten, nach Westen, im Dunkel seiner Gedanken sieht er eine Gestalt verschluckt von Osten, von Westen, der Fahrer nickt nach rechts, nach links, er tritt aufs Gaspedal nach Westen, nach Osten. Es donnern Taxis, Trucks und Pickups nach Westen, nach Osten.
*
Im ersten Sonnenstrahl rasen die Taxis, Trucks und Pickups von Osten nach Westen, Westen nach Osten. Sie dreht den Kopf nach links, nach rechts und in alle Richtungen. In der Ferne stehen am Straßencafé Victoria Frühaufsteher an der Theke. Mühelos bewegen sie sich nacheinander, nebeneinander, aneinander. Sie hat bald ihren Platz zwischen ihnen gefunden. Sie lassen sich auf hölzernen Bänken nieder. Sie stellen mit geübter Handbewegung riesige Becher mit Cappuccino und heißer Schokolade auf wackelige Holzboxen. Bittersüßer Espresso. Unter einem Flachbildfernseher, unter Nachrichtenbildern sitzen sie nacheinander, nebeneinander, aneinander. Straßenstaub. Zucker. Stimmen. Rufe. Schaum. Sonne. Zimt bestreute Donas, Fleisch gefüllte Tortas. Müsste ich nicht—
Hätte ich nicht längst —? denkt sie. Aber links. Die Art, wie er den Becher hielt. Ihr sind die Hände des Mannes links von ihr ins Auge gefallen. Sie findet nicht seine Hände schön, sein Haar. Es war die Art, wie er sein Leben hielt. Sechs Spuren Sonne trugen sich zu Wänden aus Licht, Verblendung, Erleuchtung zusammen. Es war ein Morgen Ende Oktober in Mexiko City. Als hätte sie den Anfang versäumt und trotzdem gewusst, worum es ging.
Es waren nicht seine Hände, nicht der Wind in seinem Haar. Es war die Art wie er sein Leben hielt. Wie sie ihr Leben sah. Es war die Art, wie er sein Leben hielt, als sie ihr Leben sah. Jetzt den Kopf zur Seite neigen, denkt sie. Meine Schulter, eine Schulter. Zwei Augen auf sechs Fahrspuren. Meine Schulter, seine Schulter. Ein einziges Gleichgewicht. Balance. Etwas Weiches. Von Osten, die Sonne. Ein Herzschlag wie die rasenden Autos. Drei Spuren nach Westen. Still! Als wäre es das letzte Bild. Drei nach Osten. Windhauch. Herzschlag. Stromkabel wie silbriges Haar. Der erste Sonnenstrahl. Gesenkte Lieder. Ihre plötzliche Balance bringt sie ein wenig aus dem Gleichgewicht. Aber es gab gar kein Gewicht. Alles schien ohne Hindernis und ohne Zeit.
Zum ersten Mal im Leben wollte sie nichts riskieren. Sie hatte sich niedergesetzt und die Tür weit offen gelassen. Die Tür, durch die sie diese Szene betreten hat. Er blickt auf. Sechs Spuren Sonne, seine Hand hebt sich gegen das Blenden, vielleicht auch seine Stimmung. Etwas hat sich vage verdeutlicht, eine Veränderung in der Bewegung, in der Luft.
Die Regenzeit hat früher als gewöhnlich ausgesetzt. Wo sich normalerweise abends Regenmassen in braunen Bächen über die Straße ausschütten, wirbeln heute morgen Automassen trockenen Staub auf.
Zwischen dem Dämmern ihrer gesenkten Augenlieder und dem Sonnengleißen hat sie für einen Moment das Gleichgewicht verloren, aber beinahe gleichzeitig auch wieder vergessen, dass sie aus der Balance geraten war. Sie hat etwas anderes gesehen.
Einen Windhauch, der haften blieb. Als wäre er ein einfacher Passant gewesen und als wäre ein Teil von ihr aufgestanden, um aus irgendeinem Grund mit versteinertem Lächeln auf den Lippen die Tür zu schließen.
Er hatte den Kopf etwas zur Seite gewandt, als wäre sie zu spät gekommen. Und als auch sie sich zu ihm umschaute, als hätten sie beide den Anfang versäumt, war er verschwunden, gerade als wäre er – wie ein einfacher Passant –
Er muss in die offene Türe eines vorbeifahrenden Busses gesprungen sein. Der Bus wird wie das Leben ganz plötzlich auf ihn zugekommen sein. En passant.
Überreste eines Fiebers, eine innere Regung die bis aufs Äußerste prickelnd erfüllt. Ein verwaister Espressobecher, ein letztes Bild, das niemals hält. Es war früh am Morgen Ende Oktober in Mexiko City. Die Stromkabel glänzen wie silbriges Haar.
*
Stromkabel wie langwieriges Haar. Mit glänzenden Augen tastet er den Straßenrand ab. Seine Augen gleiten über die Fahrbahn, den Rückspiegel. Fast dreihundertsechzig Grad behält er im Blick, nach links, nach rechts. Alle Richtungen bewegen sich rund um ihn wie ein wogender Ozean, ein ganzes Leben, das vor ihm liegt und das er rasend hinter sich lässt. Seine Augen tasten flink und geübt die bewegten Konturen in seinem Sichtfeld ab, wie sie hasten, zu zweit schlendern, laufende Kinder mit Schulrucksäcken und weil sein Überleben davon abhängt, sie zwischen den Autos und Häusern und Bäumen herauszufiltern, vergisst er alle einzelnen Formen sofort wieder. Er sieht Millionen und wenn keiner die Hand hebt, keiner aufspringt, keiner mit den unverkennbar zielgerichteten Schritten auf ihn zuläuft, allein oder in Zweier- oder Dreiergruppen auf ihn zuläuft mit Gepäck und Gesicht, dann vergisst er sie sofort wieder. Ein laufender Schritt, ein Anlauf eher, der sich mit deutlich abzeichnender Erleichterung im Gesicht verlangsamt, sobald die Laufenden eine der winzigen Gesten von ihm wahrgenommen haben: sein minimalistisches Repertoire, das er sich über die Jahre aufgebaut, und dann auf ein Mindestmaß abgeschliffen hat, das Nicken hat er auf einen Bruchteil reduziert, das Winken heruntergefahren auf ein deutliches Luftholen mit seinem ganzen runden Körper, ein Nachvornelehnen, wenn er den Gang schaltet und mit einem mittlerem Donnern herunterbremst. Und jetzt steht er mit laufendem Motor an der roten Ampel und lehnt sich zurück. Manchmal täuschen ihn seine Sinne, das weiß er. Deshalb beugt er sich also doch wieder zum Lenkrad vor, eine kleine Bewegung. Sein Blick streift kurz den Rückspiegel und zieht dann langsam nach rechts hinüber zum Straßenrand und fällt dabei auch auf das Café Victoria.
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freiTEXT | Martina Berscheid
Nach dreißig Jahren
Margret legt die Hand auf die sonnenwarme Fensterbank. Einen Moment lässt sie sie ruhen, wie auf dem Rücken einer Katze. Sie hat nie ein Haustier besessen, der Vermieter erlaubte keine, sie hat das immer bedauert. Heute ist sie erleichtert darüber.
Früher stand Margret oft hier am Fenster des Wohnzimmers. Blickte nach unten auf den Spielplatz. Halb von der Gardine verborgen sah sie den Kindern der anderen Hausbewohner zu, wie sie schaukelten und rutschten. Nur kurz, damit sie Margret nicht bemerkten und sie ihre Unbefangenheit beim Spiel behielten.
Früher glaubte sie, keine eigenen Kinder zu haben, wäre das größte Unglück in ihrem Leben. Da hatte Kurt sie noch nicht verlassen. Sie ihren Job gehabt. Glaubte noch an das Gute im Menschen und dass sich im Leben alles fügen würde.
Sie blinzelt gegen die Sonne, die durch die blanke Scheibe fällt. Schweiß tritt ihr aus. Die Wintersonne bündelt ihre Kraft. Die täuscht. Die Temperatur draußen beträgt vier Grad unter Null.
Unter dem Wintermantel trägt Margret drei Pullover übereinander. Zwei weitere hat sie eingepackt, den Rest verschenkt. Viel kann sie ohnehin nicht mitnehmen.
Dreißig Jahre hat sie in dieser Wohnung gelebt. Erst mit Kurt, später allein. Sie befolgte immer sämtliche Hausregeln, sogar die unsinnigen, putzte den Flur, wenn sie an der Reihe war. Entsorgte den Müll ordentlich, und mit der Miete war sie auch nie in Rückstand.
Sie hat niemandem erzählt, dass das heute ihr letzter Tag hier ist. Nicht mal den besten Freunden. Vor allem denen nicht.
Erst kam die Mieterhöhung. Dann die Kündigung, wegen Verkaufs. Der Vermieter sagte, jeder müsse schauen, wo er bleibt. Er wird eine Menge Geld bekommen für die Wohnung, Altbau, in einer neuerdings beliebten Gegend.
Wenigstens lässt ihr der Vermieter diese halbe Stunde. Zum Abschiednehmen. Sie solle einfach zuziehen und ihm die Schlüssel bringen, er habe sowieso noch nebenan zu tun und schließe dann später ab.
Ihr Nachbar ist vor ein paar Monaten gestorben, dessen Wohnung gehört auch dem Vermieter.
Noch ein letzter Blick. Auf den Spielplatz, die Sträucher dahinter, die im Sommer blühten, die Bänke, wo die Mütter und manchmal auch Väter saßen und erzählten. Die beiden Kastanien, den Rosenbusch, von dem sie manchmal heimlich eine Blüte abschnitt, in eine Vase stellte und jeden Tag mehrmals daran roch, bis die Blätter welk auf den Küchentisch fielen.
Margret kehrt dem Fenster den Rücken. Zieht den Rucksack auf und greift nach der Tasche neben sich. Die macht sich schwer, als wolle sie auch bleiben.
Geht nicht, flüstert Margret in die Stille. In die Leere. Der Wohnung und in ihr drin.
Ihre Schritte hallen auf dem Parkett, das sie regelmäßig pflegte. Sie mochte es, wenn es glänzte und nach Politur roch. Die Abnutzung sieht man dem Boden dennoch an. Die Jahre, die vergangen sind. Er ist wie ein Spiegel ihrer selbst.
Margret schließt die Tür und hat für einen Moment das Gefühl zu fallen. Sie atmet in den Bauch. Bis der Schwindel nachlässt.
Sie klopft an die Nachbartür, wie vereinbart. Bevor der Vermieter öffnen kann, legt sie die Schlüssel auf den Boden, steigt die Treppe nach unten. Schweiß läuft ihr über die Stirn.
Zum letzten Mal öffnet sie die Haustür. Schließt sie leise hinter sich.
Draußen schwappt ihr ein Schwall kalte Luft ins Gesicht. Sie tastet in die Innentasche ihres Mantels. Dort stecken ihr Pass und das Geld, das sie für die Möbel bekam. Viel weniger, als sie wert waren.
Hastig setzt Margret sich in Bewegung. Der Wind schneidet durch die Straßenschluchten, über ihr Gesicht. Sie geht bis zur Kreuzung, überquert sie. Passiert den Dönerladen, wo ihr der nette Angestellte zuwinkt. Sie denkt an die Wohnung, leer und doch so voll von Erinnerungen und Gefühlen, die sie besser auch zurücklässt.
Der Schmerz nährt sich nur davon.
Die Sonne steht tief. Margret wird sich bald einen Schlafplatz suchen müssen.
Sie kann sich nicht vorstellen, wie sie in der Kälte überleben soll. Sie weiß, dass es Einrichtungen gibt. Für Leute wie sie. Sie hätte sich kümmern müssen.
Bis zuletzt hat sie geglaubt, dann gehofft, dass sie doch bleiben kann.
Wie unsäglich dumm.
Die nächsten Tage werden zeigen, ob sie sich das letzte bisschen Stolz erlauben kann.
Das schmiedeeiserne Tor des Friedhofs taucht vor ihr auf. Es steht einen Spalt offen, wie eine Einladung. Margret geht hinein.
Die Sonne verglüht schon, gießt orangefarbenes Licht über die Grabreihen. Sie war lange nicht mehr hier, zuletzt an der Beerdigung einer Freundin.
Eingerahmt von Eichen, lässt sie sich auf einer Bank nieder. In diesem Teil des Friedhofs liegen die Kleinsten, die Totgeborenen. Die Sternenkinder.
Sie holt Decken und den Schlafsack aus dem Rucksack. Wickelt sich darin ein. Die Kälte frisst sich dennoch durch die Stoffschichten, bis auf ihre Haut. Wie Säure.
Sie betrachtet den Grabstein vor ihr, wie sich seine Farbe verdunkelt, bis sie die Inschrift nicht mehr lesen kann.
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freiTEXT | Suse Schröder
Formtat
Unsere Eltern warten auf Nachricht. Die sind wir ihnen schuldig. Ständig rufen sie an, aber wir gehen nicht ran. Wir wollen nicht die immer gleichen Gespräche führen. Wir beschließen, aus einer Brauselaune heraus, ihnen zu schreiben. Dafür brauchen wir Input, um ihnen glaubwürdig zu erscheinen und uns selbst zu glauben, und Briefpapier. Bis-dann-H holt ihre alte Postmappe und Stifte. Wir greifen zu.
Wir spielen Wetter Befinden Tätigkeit Essen.
Hab‘s-schön-M schreibt: Gewitter Gabelspagetti Gehen Gut.
Viele Grüße-O findet das zu fad, greift aber auf Hab’s-schön-Ms Gs zurück:
Gerölldonner Gähnen Gnoccisgebraten ganzgutsoweit. Gegen das Gähnen hat Bis-dann-H was. „Gähnen kann auf Langeweile und Müdigkeit hinweisen. Erschöpfung sogar. Da rufen deine Eltern doch erst recht an.“
„Wir könnten Fragen stellen.“
„Ja, kurze! Auf die sie Lust haben schriftlich zu antworten.“
Tschüss-K hört gar nicht mehr auf zu nicken, hat aber auch keine Idee für eine mögliche Umsetzung.
„Unsere Eltern sind doch Generation Handy. Die wollen digital und nicht Zettel und Stift. Meine tippen selbst ihre Einkaufszettel ins Phone.“
„Aber über Post freuen sie sich auch, oder?“
„Wenn‘s keine Rechnungen sind, ja!“
„Sollen wir Fragen zu offenen Rechnungen stellen? Vielleicht sind sie dann erleichtert, dass sie keine haben und wollen uns das dann mitteilen.“
„Mhhh…“, meint Bis-dann-H, während Tschüss-K, Viele-Grüße-O und Hab’s-schön-M wie wild zu schreiben anfangen. Alles-Liebe-Ch schaut zu, wartet ab. Beim G hatte er nicht geglänzt, sich viel blaue Tinte über die Schreibhand geschmiert und nicht mal vorlesen wollen.
„Morgensonne Marmorkuchen mittelmäßig Machen“, liest Tschüss-K und merkt beim Vorlesen, dass sie damit nicht punkten wird. Kein*e andere*r hat eines ihrer Wörter. Diese zählen nur, wenn sie für die anderen ansprechend und für die elterliche Post inspirierend sind.
Viele-Grüße-O liest wieder als Letzter. Auf seinem Blatt stehen mehrere Wörter zu jedem Buchstaben.
„Montagswetter Mäuseschwänze Mittagslaune Magnolienschauen.“
„Mensch, Viele-Grüße-O, richtig lyrisch“, sagt Tschüss-K, weil sie das Gefühl hat, die Stimmung etwas anheizen zu müssen, um sich nicht allein defizitär zu fühlen. Die anderen schweigen, kritzeln Kreise, malen Quadrate auf ihre Briefpapierränder.
„P“, sagt Hab’s-schön-M und tobt übers Papier.
„Pfützenregen Pfannkuchen Piktogrammezeichnen platt“, liest sie schreiend vor, nachdem sie den letzten Buchstaben aufs Papier gesetzt hat. „Eierkuchen oder Pfannkuchen?“, fragt Bis-dann-H und Hab’s-schön-M kann sich nicht entscheiden, weil Pfannkuchen so gut passt, sie aber lieber Eierkuchen mag. „Mit den Piktogrammen finde ich stark“, sagt Viele-Grüße-O und Tschüss-K: „Ja, vielleicht schreiben wir gar nicht, sondern zeichnen.“ Für Minuten ist es still. Hier wird gedacht. „Joa“, sagt Alles-Liebe-Ch und kritzelt auf seinem Papier. Mit rotem Kopf zeigt er seine Zeichen-Zeichnungen in die Runde. Wir raten, aber auch nach dem zehnten Versuch schüttelt Alles-Liebe-Ch den Kopf. Eine Chance haben wir reihum noch. Trotz gegenseitiger Beratung lösen wir keines seiner Bilder auf und verlieren die Lust. „Wollen wir fertig werden? Auf mich übt das ganz schönen Druck aus“, sagt Viele-Grüße-O und Bis-dann-H verschwindet wieder in ihrem Zimmer. Wir hören sie kramen. Sie kommt freudestrahlend mit einem Stapel Postkarten zurück, verwischt sie auf der Tischplatte und legt Briefmarken dazu. Für jede*n von uns eine. „Sucht euch das Bild aus, was euch als erstes anspricht“, sagt sie und Tschüss-K muffelt: „Spielen wir Therapie oder was?“ Bis-dann-H ignoriert Tschüss-K’s Kommentar und formuliert ein mögliches Ziel: „Wir schreiben jetzt jede*r für sich, lecken die Briefmarken an, kleben sie auf und ab geht die Post.“ „Einfach so aus der Kalten?“, fragt Alles-Liebe-Ch. Alle nicken instant, weil das jetzt ein Ende finden soll.
Hab’s-schön-M stellt ihren Handywecker: „Auf! Fünf Minuten!“ Und dann schauen wir uns an, grabschen uns einen Stift, greifen eher wahllos jede*r eine Postkarte und kritzeln los. Als Hab’s-schön-Ms Wecker schrillt, haben wir rote Gesichter, eine flache Atmung, beschriebene Postkarten und Durst. Bis-dann-Hs Vorräte sind bereits aufgebraucht. Wir gehen gemeinsam zum Späti, auch weil davor ein Briefkasten steht. Nach und nach werfen wir alle etwas zu feierlich, Alles-Liebe-Ch sogar sehr albern, unsere Post ein. Ob sich unsere Eltern gefreut, uns gar zurückgeschrieben haben, erzählen wir uns ein anderes Mal. „Abgemacht?“, fragt Tschüss-K. Und dann legen wir alle unsere Hände übereinander und sagen unisono: „Abgemacht!“, sehr laut zur eingeschalteten Laterne hinauf und also in die Nacht, erleichtert und froh, dass wir Dinge geregelt kriegen.
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freiTEXT | Marlene Schulz
Auf der Melibokusbank
In der Nacht hatte es geregnet. Die Wiesen waren noch feucht und die Luft war kühl an den Wangen und frisch. Ein feiner Nebel zog über den Gräsern auf.
Sie gingen hoch zu der Sitzgruppe, einem Tisch und davor einer Sitzbank aus grobem Holz, mit Blick auf den weit entfernten Melibokus. Oben stiegen sie über die Bank auf den Tisch und stellten sich nebeneinander. Das Holz war zu feucht, um darauf zu sitzen. Sophia tippte wortlos den gestreckten Zeigefinger an die Lippen und zeigte dann auf den Waldrand. Da stand eine Ricke mit einem Kitz. Nada nickte. Sie schauten eine Weile zu, sahen die Rehkuh aufschrecken und die Tiere davonlaufen.
Gestern hatte ich eine seltsame Begegnung, sagte Sophia.
Hier im Wald?, fragte Nada.
In der Bahn. Ich bin von Frankfurt nach Darmstadt zum Nordbahnhof gefahren. Wenn du da in den Zug steigst, kommt dir die Welt viel kleiner vor. Der Zug hat zwei kurze Wagen und alles wirkt wie ein größerer Bus auf Schienen, der in die Jahre gekommen ist.
Auf halber Strecke, da waren die meisten Leute schon ausgestiegen, kam ein Mann auf mich zu, ich saß auf einem Vierer, und der fragte, ob er sich zu mir setzen dürfe. Klar, hab ich gesagt, und da streckt der mir seine Hand entgegen und sagt seinen Namen. Ich war so perplex, dass ich ihm auch die Hand gab. Komisch irgendwie. Die hat er dann mit zwei Händen festgehalten, für mein Gefühl ein bisschen zu lang.
Hast du deinen Namen auch gesagt?
Ich hab erst mal gar nichts gesagt. Er hat dann geredet, hat gesagt, ich kann mir vorstellen, dass Ihnen das etwas eigenartig vorkommt. Nicht ganz gewöhnlich, hab ich gesagt. Ja, das trifft es.
Wissen Sie, sagte er, ich habe in einem Magazin über eine Studie gelesen. Solche Analysen sind immer sehr aufschlussreich. Da hieß es, dass körperliche Berührungen von Menschen und Tieren Schmerzen lindern können und Depressionsgefühle und Ängste.
Hm, hab ich gesagt.
Ich finde das sehr beeindruckend, sagte er. Die körperliche Gesundheit kann jeder Mensch dadurch selbst beeinflussen und seitdem ich das weiß, habe ich angefangen zu sammeln.
Was sammeln Sie denn?, hab ich gefragt.
Berührungen, meinte er.
Deshalb haben Sie meine Hand vorhin so festgehalten.
Sie haben es erraten, sagte er und dabei streckte er seinen Zeigefinger gefährlich nah zu mir herüber. Glücklicherweise blieb er sitzen.
Und führen Sie darüber Buch, was Sie so am Tag gesammelt haben?, hab ich gefragt. Vier Mal Händeschütteln, drei Mal Armberührung, zwei Mal Anrempeln in der Straßenbahn im Berufsverkehr? Weihnachtsmärkte müssten da ja sehr ergiebig sein oder Demos.
Nein, wo denken Sie hin, sagte er. Ich mache keine Strichlisten, ich sammle einfach nur die Berührungen. Volksfeste sind ein guter Fundort, auch Bahnsteige. Da stelle ich mich am ankommenden Zug vor die Tür und bleibe einfach kurz vorm Reingehen stehen, während die anderen alle in die Bahn wollen. Da gibt es ganz viel Berührung, nicht immer freundlich, aber Körperkontakt von mehreren Seiten. Je häufiger, umso gesünder. Umarmungskissen gehen natürlich auch, sagte er. Oder Gewichtsdecken. Aber so etwas habe ich nicht zuhause. Ich mag es lieber natürlich, so von Mensch zu Mensch. Und wissen Sie, was die herausgefunden haben?, fragte er.
Die Forscherinnen meinen Sie?
Forscherinnen?
Ja, die Forscher stecken ja sowieso im Wort, sagte ich. Sie machen mich neugierig, was die entdeckt haben.
Ach so, sagte er, und ja, stimmt. Die haben herausgefunden, dass es gar nicht auf die Länge der Berührung ankommt. Da gibt es keinen Unterschied, ob es um zehn Sekunden geht oder um eine Stunde.
Okay, sagte ich.
Aber noch interessanter ist, sagte er, wo die Berührung am wirkungsvollsten ist.
Irgendwie war ich plötzlich alarmiert und dachte so bei mir, hoffentlich ist das jetzt harmlos. Ich hab mir alles Mögliche ausgemalt, wo das sein wird, auf Herzhöhe oder direkt unterm Bauchnabel oder am Hintern, und dass der mir dann die Stellen genau an sich zeigt und hoffentlich nicht an mir.
Am Kopf, sagte er da.
Am Kopf, hab ich dann wiederholt und war erleichtert.
Kurz vor der nächsten Haltestelle stand er dann auf, guckte mich an und sagte: Hätten Sie etwas dagegen?
Gegen was?, hab ich gefragt.
Nur eine kleine Berührung, so von Stirn zu Stirn, also von Kopf zu Kopf. Für meine Sammlung.
Für Ihre Sammlung, hab ich gesagt.
Ich sammle doch Berührungen.
Ja, das sagten sie, sagte ich. Er stand ja da so vor mir und ich, ich hab gesessen. Von mir aus kann der ja sammeln, was er mag. Ich bin auf jeden Fall für gesunde Sachen, und dass da einer für sich selbst sorgt und alles, finde ich wirklich super. Der kann vor jeder Zugtür stehen bleiben und warten, bis alle eingestiegen sind und beim nächsten und übernächsten Zug nochmal das Gleiche, von mir aus den ganzen Tag und meinetwegen auch die Nacht, alles fein, aber stell dir vor, dich will auf einmal jeder Mensch am Kopf anfassen, da wirst du doch verrückt von diesem ganzen Kopfgetatsche.
Und was hast du gemacht, fragte Nada und guckte mich von der Seite an. Ich schaute auf den Melibokus.
Hast du’s gemacht? Nada kräuselte die Augenbrauen und legte den Kopf ein wenig schief. Hast du nicht, sagte sie. Oder?
Ich hab ihm gesagt: Tut mir leid, aber ich habe da einen ganz schlimmen unsichtbaren Ausschlag am Kopf, ich möchte sie auf keinen Fall anstecken. Ich mag Ihre weitere Sammlung nicht gefährden.
Da hat er seine flache Hand auf den Mund gelegt und große Augen bekommen, ist dann sofort aus dem Vierer raus auf den Gang und weg war er.
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freiTEXT | Carolina Reichl
Plus, Minus, Notizen
mit L. zusammenbleiben:
+ er liebt dich
+ du liebst ihn
+ du kannst mit ihm lachen, über alles und nichts
- ihr streitet zu viel
+ ihr streitet eigentlich nur, wenn ihr betrunken seid
- er trinkt zu oft und zu viel
+ er sagt, er will sich ändern
- er hat schon oft gesagt, er würde sich ändern
- deine freundinnen sagen, du verdienst was besseres
+ deine eltern mögen ihn
+ seine mama mag dich
+ seine freunde sagen, du tust ihm gut
+ ihr seid seit 6 jahren zusammen
+ er ist dein erster freund
- er ist dein erster freund
- du fragst dich manchmal, wie es wäre, mit jemand anderem zusammen zu sein
+ du kannst bei ihm sein, wie du bist
- er sagt, deine oberschenkel wären fester geworden
+ der sex
+ die neue wohnung
- seine eifersucht
+ er sagt, er will dich nicht verlieren
+ er sagt, er kann sich eine zukunft mir dir vorstellen
+ du bedeutest ihm viel, ohne dich fühlt er sich leer
- er hat dich bitch genannt
+ er ist kreativ
+ er ist ehrgeizig
+ du kannst ihn glücklich machen
- das glück ist nie von dauer
+ er sagt, du bist was besonderes
+ du weißt, es fällt ihm nicht leicht, sich zu öffnen, aber für dich versucht er’s trotzdem
+ so offen wie mit dir spricht er sonst mit niemandem über seine vergangenheit
- er ist unpünktlich
- er entschuldigt sich für seine unpünktlichkeit nicht
- wenn du weinst, wird er wütend
+ er schenkt dir blumen
+ er mag dieselben serien wie du
+ er kocht gerne
- du hasst es, wenn er in seiner nase bohrt und glaubt, du merkst es nicht
+ du magst, dass seine augen unterschiedlich sind, das eine grün, das andere blau
- er hat dich betrogen
- er hat es nicht zugegeben, als du ihn danach gefragt hast
+ es ist nur einmal passiert, sagt er, und er war betrunken
+ es tut ihm leid
+ er sagt, es war ein fehler
+ er sagt, dass es für alles eine lösung gibt
- was, wenn er wieder fremdgeht?
- was, wenn du ihm nicht verzeihen kannst?
+ du kannst mit ihm über alles reden
+ er hört dir zu, wenn dich was bedrückt
+ er vertraut dir
+ du bist die einzige, die weiß, dass er antidepressiva nimmt
+ er sagt, er kann sich nicht vorstellen, mir jemand anderem so glücklich zu sein
- du hast angst, dass es dir irgendwann zu viel wird
+ er gibt dir selbstbewusstsein
+ er sagt, du gibst seinem leben sinn
+ du kannst an dir arbeiten, wenn du genug an dir arbeitest, wird alles wieder gut
- du schreibst diese liste nicht zum ersten mal
+ er liebt dich
+ du liebst ihn
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freiTEXT | Jan David Zimmermann
Onkel Fritze
Schmerz ist das stärkste Mittel der Mnemotechnik. – nach F. Nietzsche
Haarmann hat sich aufgerichtet. Er hat sich aufgerichtet und hat die Teerbrocken ausgehustet, die jeden Morgen auszuhusten sind. Immer, ausnahmslos… ja, jeden verdammten Morgen das durch das Rauchen verursachte Aushusten von Teerbrocken. Zumindest fühlen sich diese klumpigen Rachenablagerungen so an wie Teer, dachte Haarmann nun in der Dämmerstimmung des Morgengrauens.
Er hat sich aufgerichtet, sein feister Körper hat sich in der Mitte also rechtwinkelig geknickt, wobei ihm die abgewetzte dünne Decke wie eine zweite Haut von der breiten Brust um den Bauch rutschte. Dann hat er die Beine ausgestreckt und die Arme ebenfalls. Warum macht man das?, hat sich Haarmann wohl gefragt, warum streckt man sich in der Früh? Versucht der Körper etwas loszuwerden, was in der Nacht in ihn fälschlicherweise hineinkam?, klang es in seinem Ohr. Haarmanns Lippen haben unter dem vom Polster der Nacht aus der Ordnung gebrachten englischen Schnurrbart kurz gezuckt. Er hat neben sich eine zweite, zerwühlte Decke gesehen, aber neben ihm lag niemand. Ihm war eigenartig zumute. Und nun war es ihm auch wie ein Déjà-vu, in der Früh so aufzuwachen und sich dies zu denken, die Lippen zucken zu spüren, die zerwühlte Decke zu sehen, und sich eigenartig zu fühlen, ein leichtes Grausen zu fühlen, das um ihn waberte. Er hat nun genauer in das Halbdunkel der Frühe geschaut, angestrengt hat er versucht, Neues zu entdecken, herauszufinden, warum ihn das leichte Grausen befiel. Da ist ihm plötzlich im Dämmerdunkel das konstante Sehfeld aufgerissen und ebenjene schwarzen kleinen Kristalle sind durch den Raum geschwebt, die entstehen, wenn man sich zu lange nach unten bückt und anschließend schnell wieder aufsteht. Warum zerbröselt mir die Sicht derart, wenn ich mich aber doch gar nicht nach unten bücke und dann schnell wieder aufstehe, sondern nach wie vor im Bett sitze?, hat Haarmann sich gefragt und ihm war noch seltsamer zumute als zuvor. Der entblößte schwammige Brustkorb ist nun auch zusätzlich von der kalten Luft angegriffen worden, die das undichte Fenster mit der dünnen Scheibe einströmen ließ. Einem innerlichen Frösteln folgte also, mehr oder weniger, aber eher mehr, ein äußeres Frösteln. Langsam beruhigte sich sein Sehfeld wieder etwas. Haarmann hat die Arme links und rechts neben sich in die quietschende und durchgelegene Matratze gestützt, hat einen dunklen Fleck in die Grobkörnigkeit seiner Decke geschaut, die noch um seine Füße geschlungen war. Dachte, er hat dort etwas gesehen, hat aber nicht gewusst, ob es nur das zu lange Starren auf einen Fleck war, das ihn dort, auf seiner Decke etwas vermuten ließ. Die Dämmerung des Morgens entstellt die Dinge, klang es in seinem Ohr. Haarmann hat genickt und die allgemeine Grobkörnigkeit der Dinge und Gegenstände bemerkt und sich nun wieder hinlegen wollen, hat sich die Hautlappen der glatzigen Decke geholt und seine Brust wieder bedeckt, den Kopf in die Kissen gesenkt. Auf den Plafond starrend war er nun aber wach und musste an Hildesheim denken, es strömte nun unaufhaltsam auf und in ihn ein; die Schwere der Dinge in der Nacht kann bisweilen von einer noch größeren Schwere der Dinge in der Früh abgelöst werden, klang es in seinem Ohr. Er musste nun an das Kranksein denken, er erinnerte sich an die Worte des Arztes und konnte sich an dessen von Schweißperlen umkränzten Mund erinnern, als dieser damals die Diagnose aussprach. Haarmann musste nun also das Wort Jugendirresein in sein Bewusstsein lassen, musste also am Ende sich in einem kranken Zustand und seine Krankheit und alles damit Zusammenhängende in sein momentanes Bewusstsein eindringen lassen, ohne Unterlass. Das Wort Jugendirresein penetrierte seine Gedanken und zerhackte die Wohlgeformtheit seiner Gedanken, zerrieb die Syntax seiner Gedanken, zerstob die Semantik seiner Gedanken, zersetzte die Logik seiner Gedanken. Ein Summen und Surren dieser losen, zerbrochenen, nunmehr wirren Gedanken. Nun hörte er in all diesem dröhnenden Gedanken-Strömen die Jungen sprechen, die Puppenjungs, wenn sie ihn zärtlich „Onkel Fritze“ nannten. Dieses „Onkel Fritze“, das sie von sich gaben, wenn sie sich um Haarmann geschlungen hatten, mit ihm so im Bett lagen, ihn dann küssten und so weiter. Dieses Bild stach nun in Haarmanns Kopf, flackerte auf.
Haarmann hat sich daher wieder vollkommen aufgerichtet, so als könnte er dadurch den Gedanken entkommen, so als gäbe es die Gedanken und Bilder nur in einer bestimmten Position. Haarmann hat sich also aufgerichtet, hat sich im schweißverwetzten Bett herumgedreht, sich mit erhöhtem Oberkörper die Decke noch fester um die Beine geschraubt, die zweite Decke lag nach wie vor zerwühlt neben ihm und er fragte sich nun endgültig, was es mit ihr auf sich hatte, wo er doch alleine war. Im langsam sich erhellenden Zimmer konnte er nun eigenartige Flecken auf dieser Decke erkennen. Er fasste einen Entschluss und begann, auf die zweite Betthälfte zu kriechen. Haarmann ist nun also im morgendlich erhellten Raum mit von seiner eigenen Decke umschlungenen Beinen zu der anderen Betthälfte gekrochen, ist an und über die zerwühlte zweite Decke gekrochen und hat schließlich beim Lüpfen der anderen Decke das Blut bemerkt, das sich in dieser Betthälfte befand und das Laken darunter getränkt hatte. Haarmann hat die Augen entsetzt aufgerissen und ist weiter bis zur Bettkante gekrochen.
Da hat er am Boden einen liegen sehen, hat gesehen wie die Morgensonne, nunmehr endgültig in das Zimmer eingedrungen, auf den Körper des toten Jungen fiel. Haarmann sah den nackten und schönen Körper des Puppenjungen, sah aber gleichzeitig dessen zerwühlte Kehle; zerwühlt wie Decken in der Früh.
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