4 | Christina König

Raststation

Ich war mitten auf einem Autobahnknoten, als mein Wagen den Geist aufgab. Die Asphaltstreifen kreuzten sich und liefen nach links und rechts, vorne und hinten, die Sonne knallte auf mein Armaturenbrett, das Auto hickste, es wurde langsamer und zwei oder drei Kontrollleuchten flammten auf. Am Pannenstreifen hielt ich an. Die Warnblinkanlage klickte wie ein Metronom, links rasten die Autos an mir vorbei und ich zog die Handbremse. In einer halben Stunde sollte ich bei meiner Schwester sein und ihr bei den Vorbereitungen für die Taufe meiner Nichte helfen.

„Was soll das heißen, du hast eine Panne?“ Die Stimme meiner Schwester stolperte. „Wir brauchen dich! Was ist mit den Salaten und der Deko und der Kerze? Und Tante Walli? Du bist die Taufpatin, ich schwör dir, wenn du nicht auftauchst…“

Der Schweiß stand auf meinen nackten Armen. Ich öffnete das Fenster und schloss es im Donnern der vorbeifahrenden Autos sofort wieder. Ich telefonierte mit meiner Mutter, die sagte, sie könnte mich unmöglich abholen, sie müsste noch Besorgungen für meinen Vater machen, dann mit meinem Cousin, der brummte, wenn es unbedingt sein müsste, dann könnte er jetzt losfahren und mich aufklauben, dann mit Tante Walli, der ich erklärte, dass ich sie nicht pünktlich abholen würde. Mitten in ihrer Schimpftirade tauchte der Abschleppwagen auf.

Während die Autos an mir vorbei ihren Zielen entgegenhetzten, balancierte ich am Pannenstreifen und beobachtete den Abschleppfahrer, wie er mein Auto auf seiner Ladefläche festschnallte und die Räder stabilisierte. Das kalt verschwitzte Taufkleid wehte im Luftsog der Autos um meine Beine und zerrte mich vorwärts, ich stemmte mich dagegen, stieg beim Abschleppwagen ein und er fuhr los und von der Autobahn ab; wir kurvten unter den vier Spuren durch und blieben an einer staubigen Raststation stehen. Hinter dem Tankstellenlogo ragte ein Burger King in den glühenden Himmelsdunst. Der Abschleppwagen verschwand, ich schulterte meine Taschen und schleppte zwei Nudelsalate, eine Taufkerze, ein aufblasbares Schwimmlama und meinen Übernachtungsrucksack durch die Glastüren, bestellte etwas Eiskaltes mit viel Zucker und warf mich in einen der harten Sitze. Popmusik dudelte aus den Lautsprechern. Eine Ladung übergewichtiger Männer existierte mit halb geschlossenen Augen in einer Ecke. Sonst war das Restaurant leer.

Mein Cousin antwortete mit einem genervten Daumen-hoch-Emoji, als ich ihm meinen Standort schickte. Mein Onkel schrieb mir eine Nachricht: hab ghört du hast a panne, vielleicht findst ja an feschen kerl der di mitnimmt haha. Meine Schwester fluchte. „Ja super, und ich mach das Buffet jetzt allein oder was? Wer schaut auf Sophia? Also du hast dir wirklich einen Scheißtag ausgesucht für deine Panne.“

Die Eiswürfel klickten in meinem Pappbecher, als ich mit dem Strohhalm umrührte. Hinter meinem Fenster preschten weiterhin die Autos vorbei. Die Glasscheiben verschluckten ihren Lärm. Inzwischen sollte ich bei meiner Schwester sein und die Nudelsalate in schöne Schüsseln füllen, die Markise ausrollen, Tomaten und Mozzarella schneiden, Saucen bereitstellen, Servietten falten, mit Sophia spielen, Anna in den Mittagsschlaf schaukeln und Luftballons aufblasen. Ich rollte den feuchten Becher an meiner Stirn hin und her und schloss die Augen. Hinter den Lidern jagten sich rastlos die Autos. Meine Mutter schrieb: Gibt es dort eine Apotheke, wo Du bist? Dein Vater braucht neue Warzenpflaster. Mama.

 

Die Resopalplatte meines Tisches war klebrig, wo die Menschen vor mir ihre Getränke verschüttet hatten. Die Angestellten drifteten hinter der Theke hin und her. Meine erhitzte Haut kühlte. Ich sah mich Polster auf die Bierbänke drapieren, Girlanden über Hecken werfen, Zitronensaft pressen, das Lama aufpumpen, Sonnenschirme herumschleppen, Grillkohle suchen, Sandspielzeug wegräumen und mich anmaulen lassen, weil die Taufkerze nicht schön genug war.

Wie Spinnfäden tropften die Minuten von der Decke auf mich herab. Ich fuhr mit den Autos auf ihren grauen Straßen in die Zukunft, zu Kindergebrüll und müden Sektkorken und brutzelnden Grillwürstchen und Tante Walli, die schrie, ihre Füße wären unruhig und jemand sollte ihr Tabletten bringen; Tortencreme klatschte auf hysterisch gemähten Rasen, Rotweinflecken landeten auf Annas Taufgewand, Fürze stahlen sich zwischen Fettschichten und Kleiderfalten durch und alles schmatzte und wieherte und witzelte. Meine Großmutter kniff mir in den Hintern. Der Graue Star meines Vaters starrte in den Pool. Meine Mutter klopfte die Brösel von seinem Schoß und goss pissgelbes Bier in sein Glas. Ich drückte die Handballen in die Augen und meine Schwester drückte mir Kinder und Teller und Windeln in die Arme, die Tischkärtchen platzierten mich neben Tante Walli, die sonst niemand ertrug, und die Rücken meiner Cousinen befragten meine Schwester zu den besten Stilleinlagen. Mein Großvater vergaß meinen Namen. Die Familie meines Schwagers redete mit mir, wenn sie Salz brauchte. Mein Onkel schaute auf meinen Busen und sagte: „So a Verschwendung.“ Die Autos stanken und hupten und fetzten hinter den Fenstern vorbei, sie heulten in meinen Ohren, fegten durch meine Adern, blitzten und blinkten und gleißten durch alle Synapsen und mein Handy vibrierte. Ich öffnete die Augen. Mein Cousin rief an. Eine Weile lang betrachtete ich die graue Kopfsilhouette auf dem Display. Dann schloss ich die Augen wieder.

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Christina König

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3 | Sofie Morin

Falten aufspüren .:. Tag und Nacht

Wir kennen Flügelschläge, oder Reissäcke in anderen Erdteilen, die ich mir so gern verbitten will umzufallen an Weltenden. Wir kennen die Geschichten von feinsten Luftbewegungen, die gar Tornados auslösen, über absurde Entfernungen, die auf keine Landkarte mehr passen.

Diese oder jene Effekte, die wirken, schmetterlingsgleich über jegliche Vernunft hinweg, die wir uns so bitter erarbeitet haben. In der Meteorologie, und überhaupt, wünsche ich mir verstehbare Zeugnisse intelligenten Lebens und lieber keine Unvorhersehbarkeit. Besser Konvektionsströme sauber berechnen, als Divergenzen aushalten müssen.

In meinem Garten vor allem wünsche ich nur sauber angepflanzte Lieblichkeit und nicht mehr zwischen uns als die Flügelspannweite eines freundlichen Falters.

Aber so einfach ist das nicht, denn je genauer ich hinsehe, umso mehr erkenne ich von der Zerbrechlichkeit dieser und jener Schuppen, die sich unter der leisesten Berührung der Fallsucht ergeben. Es hilft nichts, das alles nicht wissen zu wollen, nichts von Tagesrändern und Lebensspannen, die so gering bemessen, dass nur ihr farbensprühendes Aufglühen schon alles vom nahen Ende her beweist. Nichts hilft es, das aufzuspüren, was sich faltet, wie Flügeldecken, wie Zellen, wie die Entfaltung des Lebens nur unter anderem aus mir. Wie all das, was wir vernünftig glauben.

Lieber will ich angemessen ungeduldig sein, mit mir und dem Sprießen, mit dem Überdauern und Tilgen von all der Schuld, die wir auf uns geladen haben mit dieser einen irrigen Idee, die Erde untertan.

Doch sind es zunächst nicht die Wesen des Tages, die meine Zuneigung an sich binden. Der unstete Schmetterlingsflug ist mir kein gutes Beispiel und auch andere vernunftbegabte Menschen sind mir bekannt, die ihn daher verabscheuen, wie das notwendige Aufspüren der Falten selbst.

Die Vermutung liegt nah, wie immer, der Fokus aufs Menschliche, das nicht ohne weiteres human ist, wäre die Wiege dieser falschverstandenen Reflektion. Auch wenn der Ursprung dieser Abneigung zuweilen mit der mutmaßlichen tierischen Effekthascherei begründet wird. Aufreibende Buntsucht und flatterhafte Bühnengeilheit, sagen sie, würden den Abgeneigten die Tagfalter zutiefst unsympathisch machen.

Da loben wir uns doch die Unscheinbaren, welche die Nächte nicht heller machen, als sie es sind. Solche Falter, die auf innere Werte statt auf Farbfeuerwerke setzen. Tarnfarbig halten sie der Ordnung die Treue und falten ihre Flügel stets höflich auf nach Gebrauch. Sie mögen fälschlich als Spinner, Glucken oder verunglimpfend als Nonnen oder Widderchen bezeichnet werden, doch für mich sind sie die wahren Heldinnen und Schmetterlinge, allesamt Schwärmer!

Neueste Forschungen zu Nachtfaltern besagen wohl, sie seien bloß fürs menschliche Auge eintönig gefärbt. In Wahrheit jedoch würden sie so schuppentreu schillern, wie unsere Hinwendung zur Erde, die doch insgeheim innig ist. Kein Faltenwurf in der Wirklichkeit käme dagegen an, wenn einmal die Einfühlung entfesselt wäre, die uns das drohende Fehlen rundum sichtbar mache. Darauf will ich nicht warten!

So stelle ich mich vor diese Mitgeschöpfe und halte kein Maß an sie, das kein Tageslicht kennt. Ich schürfe nach Gründen und belasse sie bei sich wie die Flugfähigkeit unserer Träume. Nichts soll dazu dienen sich die Welt anzueignen, deren Teil wir sind. Ich stelle die Freiheit im Lichtmikroskop scharf und nehme den Zeichenstift in die Hand und nichts sonst.

Und alles genaue Hinsehen ist, du weißt schon, ist Liebe und Frieden daher. Und ich denke, ginge es uns so miteinander!

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Sofie Morin

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2 | POEDU: Emma

Türchen öffne dich

Meine Süßigkeit ist eine Maus
Die Maus isst Zucker
Und wird zum Pfau
Der Pfau geht durch die Straße
Auch
Die Frau
Sagt: Schau
Ein Pfau
Die Männer rufen an im Zoo
Die Wärter kommen angebraust
Der Pfau, der rennt und spuckt
Den Zucker aus
Zurück ist sie, die kleine Maus
Die huscht hinein ins
Türchen zu
Ruh

 

Emma (8 Jahre alt)

 

POEDU | Poesie von Kindern für Kinder. Monatlich gibt ein*e Autor*in online einen poetischen Anstoß.

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Die Aufgabe kam diesmal von Sabine Schiffner:

Erstelle ein Gedicht für ein Türchen von einem Adventskalender, den Du Deiner/m besten Freund:in schenken willst. Mach ihr/ihm also ein Geschenk aus süßen Worten. Schreibe über Deine Lieblingssüßigkeit, oder denk Dir doch einfach eine neue Süßigkeit aus, eine lustige, eklige, oder eine Zaubersüßigkeit.

 

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1 | Leonie Höckbert

Mehrfamilienhausfassade

 Später in der Nacht sind oft nur die Fenster der höheren Stockwerke noch hell. Einen Blick in die Fenster auf Höhe des Eingangs kann nur werfen, wer bereits nach Einbruch der Dunkelheit auf der Plastikbank am gegenüberliegenden Straßenrand Platz nimmt. Vielleicht wohnen unten eher ältere Leute, die die Treppen in den fünften Stock nicht mehr schaffen würden. Vielleicht lassen die Menschen unten die Lichter aus, damit Passanten nicht durch die dünnen Gardinen direkt mit neugierigen Blicken auf ihre Esstische springen können. Vielleicht wohnen auch nur zufällig weiter oben die Nachteulen, Schichtarbeiter, Schlaflosen und Rumtreiber. Links und rechts des Treppenhauses hat jede Wohnung drei Fenster, von denen eins immer zur Küche gehört. Nach neun brennt in den Küchenfenstern am seltensten Licht. Dafür hängen dort meistens keine Gardinen oder sie sind beiseitegeschoben. In einer Wohnung steht der Kühlschrank direkt am Fenster und seine Tür verdeckt einen guten Teil davon, wenn sie geöffnet wird. Sie wird oft geöffnet, vermutlich um immer wieder Kleinigkeiten rauszunehmen, in der Wohnung wohnen zwei oder drei Leute zusammen, Studierende vermutlich, manchmal kocht auch jemand, aber eher selten, und die anderen beiden Fenster scheinen nicht den Blick auf ein Wohnzimmer freizugeben, ihre Poster und Kleiderschränke wirken mit Betrachtungsabstand wie in Jugendzimmern, als hätten die Bewohnenden nur diese paar Quadratmeter für alle ihre Selbstausdrucksbedürfnisse.

Ein Fenster im zweiten Stock ist ein Kinderschlafzimmer, meistens ist das Licht aus, wenn die Dunkelheit kommt, unterbrochen nur von wenigen Minuten, in denen manchmal jemand das verschlafene Kind zum Fenster trägt, wahrscheinlich in der Absicht, es wieder in den Schlaf zu wiegen, aus dem es von rastlosen Träumen gerissen wurde. Die Elterngesichter, deren Blick ohne Ankerpunkt auf die gegenüberliegende Fassade trifft, wirken immer erschöpft, aber nie angestrengt. Valerie bewundert das, wenn sie die Beiden zufällig sieht. Meistens geht auch deren Wohnzimmerlicht lange vor vielen anderen des Hauses aus. Zwischen Valeries Füßen sammeln sich ihre ausgetretenen Zigaretten. Die hässlichen städtischen Bänke aus Plastik, das immer an irgendeiner Stelle von Jugendlichen mit dem Feuerzeug angebrannt und schmelzdeformiert wurde, haben den Vorteil, auch nachts nicht besonders kalt zu werden, anders als schickere Bänke aus Metall.

Eins weiter oben, auf der anderen Treppenhausseite gibt es noch andere Eltern. Valerie kennt ihre Gesichter nicht so gut, die Kinder sind schon älter und werden nicht mehr ans Fenster getragen. Sie kennt dafür ihre Stimmen, die hört man im Treppenhaus oft streiten, manchmal mit den Kindern, meistens miteinander, sie schreien sich mit der Rückhaltlosigkeit längst aufgegebener Schamgrenzen an, sie weichen den Blicken der Nachbarn im Treppenhaus nicht aus, Peinlichkeit ist lange zurückgelassen hinter ihrer Wut aufeinander. Durch die Wände, vom Echo des Treppenhauses verzerrt wie eine Megafondurchsage unter Wasser, ist nie auszumachen, worüber sie streiten, nur die erdrückende Atmosphäre des Nicht-Ausweichenkönnens schwappt unter der Wohnungstür hindurch. Manchmal weint eins der Kinder schrill und Valerie denkt, dass man sich einmischen muss, tut es aber nie. Die Wohnung der Familie sieht schon von außen zu voll aus, in den Fenstern hängen Dekoelemente, Traumfänger, auf den Scheiben kleben Windowcolor-Bilder, drinnen stapeln sich Kisten auf den Schränken, um den letzten Raum unter der Decke noch auszunutzen. Valerie stellt sich vor, wenn man die Fenster eines Raums öffnete, würde alles rauspurzeln, was drinnen zu viel ist: die ganzen Sachen, für die kein Platz ist und die ganzen Bedürfnisse, für die kein Raum bleibt. Sie fragt sich, ob dort deswegen auch im Sommer die Fenster immer geschlossen sein werden. Und hofft zugleich, hier nicht mehr zu sitzen, wenn der Winter vorbeigeht.

Das Fenster, das im ersten Stock im Schnitt am längsten hell bleibt, liegt in der Wohnung rechts von der Eingangstür. Dort lebt ein älterer Mann allein. Vielleicht hat er nachts Schwierigkeiten zu schlafen oder er ist einfach gerne lange wach. Sein Fernseher flackert heller auf die Gehwegplatten als das mürbe Licht seiner einzigen Energiesparlampe. Im Fenster sitzt manchmal eine Katze und starrt rüber zu Valerie, sie schauen einander in die Augen und Valerie kann nicht lesen, ob ihr Blick sagt: Ich verstehe dich, ich bewahre dein einsames Geheimnis – oder ob er sagt: Ich werde dich verraten, eines Tages werde ich dich im Treppenhaus verraten. Womöglich beobachtet die Katze sie auch nur aus Langeweile oder weil es ihr sympathisch ist, dass Valerie raucht, der alte Mann vor dem Fernseher raucht auch, Valerie hat ihn tagsüber schon mit dem Aschenbecher am offenen Fenster stehen sehen und nachts verdichten sich manchmal kleine Rauchschwaden in der Ecke, in der der Mann vor dem Fernseher zu sitzen scheint. Wenn die Katze nicht auf der Fensterbank liegt, liegt sie sicher auf seinem Schoß und bildet eine schnurrende Barriere gegen die Einsamkeit, gegen die auch die bekannten Gesichter im Fernsehprogramm nicht immer ankommen können.

Wenn Valeries Hände nicht von der Winterkälte zu steifgefroren wären, würde sie sich gerne Notizen machen, wer wann wie lange wach bleibt, wer zuletzt das Licht löscht und was sie über die Menschen dieser Wohnungen und deren Tageslichtleben weiß. Sie nährt den Verdacht, dass die traurigeren Geschichten hinter den schlaflosesten Fensterlidern wohnen. Aber vielleicht sind das auch nur die Räume, in die sie am liebsten schaut, die Leben, in die sie sich am liebsten projiziert aus ihrem Schutzraum aus Halbdunkelheit heraus. Heute wird sie nicht erfahren, wer zuletzt das Licht ausmacht, denn fast unterm Dach leuchtet ein Fenster auf, das sie nach drinnen winkt. Im vierten Stock hat Alexanders Wecker geklingelt und obwohl sie das von hier unten nicht sehen kann, weiß Valerie, dass er eben seine Arbeitskleidung für die Frühschicht zusammensucht. Sie zieht an ihrer letzten Zigarette, drückt sie zwischen den anderen aus und sammelt alle Stummel des Abends in der hohlen Hand, um sie in die Hausmülltonne zu werfen, bevor sie reingeht. Drinnen muss sie im Treppenhaus noch eine Weile stehenbleiben und Hände und Gesicht aufwärmen, damit Alexander nicht fragt, der verschlafene Alexander, der damit rechnet, dass sie wie immer um diese Zeit von der Spätschicht nach Hause kommt, der keine Ahnung hat, dass Valerie den Job gekündigt hat. Ein Teil von ihr bleibt draußen auf der Bank sitzen, schaut sich selbst in die Fenster und weiß schon genau, wie ihre Geschichte ausgehen wird.

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Leonie Höckbert

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POEDU – Text des Monats Dezember

Türchen öffne dich

Meine Süßigkeit ist eine Maus
Die Maus isst Zucker
Und wird zum Pfau
Der Pfau geht durch die Straße
Auch
Die Frau
Sagt Schau
Ein Pfau
Die Männer rufen an im Zoo
Die Wärter kommen angebraust
Der Pfau der rennt und spuckt
Den Zucker aus
Zurück sie ist die kleine Maus
Die huscht hinein ins
Türchen zu
Ruh

Emma

(8 Jahre alt)

 

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24 | Sigune Schnabel

Erziehung ist wie ziehen

Von Gott sollst du kein Bild machen.
Die Linsen verzerren seine Kanten,
verfärben die Schattierung im Gesicht.
Mutter steht
mit wehendem Handtuch
auf der Treppe.

Ich weiß von ihm
aus nebligen Geschichten,
suche im Gartenhaus
und zwischen Giersch.

Gib mir das Abendlied,
rufe ich,
damit ich dich besser verstehe.
Ich bin ein Erfinder.
Reiche es mir auf dem Silbentablett:
ein Klang überm Meer,
ein Wort,
das niemand kennt.

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Sigune Schnabel

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23 | Christoph Laible

Weihnachten ist nicht später

Karl ist ganz aufgeregt, als Papa die Haustür öffnet.
„Papa!“, ruft Karl.
„Später“, sagt Papa.
Er schleppt die Einkaufsackerl ins Haus. Auf der Stirn eine tiefe Falte.

Karl klopft gegen die Küchentür und Papa öffnet sie. Es riecht nach Blaukraut und Knödeln.
„Papa!“, ruft Karl.
„Später“, sagt Papa und rührt in den Töpfen, aus denen es dampft und zischt. Die Falte auf der Stirn noch tiefer.

Karl klopft gegen die Küchentür, aber Papa öffnet nicht. Also geht er hinein.
„Papa!“, ruft Karl.
„Später.“ Er schiebt drei Bleche mit Keksen in den Ofen. Die Falte auf seiner Stirn kommt Karl nun unendlich tief vor.
„Es ist schon dreimal später!“ Karl stampft auf den Boden.

„Was ist denn so wichtig?“ Papa seufzt.

Vor dem Fenster liegt ein Vöglein.
„Oje“, sagt Papa.
Papa holt einen Schuhkarton und sie bringen das Vöglein ins Warme. Sie decken es mit einer Serviette zu und warten, aber das Vöglein rührt sich nicht. Als Karl weint, macht das Vöglein: „Piep.“
Papa holt eine Pinzette und gibt ihm Brotkrümel. Das Vöglein frisst. Bald riecht Karl Verbranntes.
„Die Kekse!“, ruft Karl.
„Später. Lass es erst fressen“, sagt Papa. Die Falte auf seiner Stirn ist verschwunden.

 

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Christoph Laible

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22 | Sarafina-Abena Yamoah

Schnee im Kopf

Wir sind die bauchige Schneekugel, die kaputt geht, Glassplitter wie Eiskristalle, aber schneien tut es ja nur da, wo die Wärme fehlt, wo Minusgrade an der Tagesordnung sind und bei uns schneit es in unsere Köpfe hinein, egal ob Winter oder Sommer, im Winter fällt es nur auf, weil da die Welt hinter dem Glas genauso aussieht wie hier drin

Manchmal erschreckt man sich, wenn man jemanden sieht, der einem zu sehr ähnelt und wer in der Glaskugel sitzt, sollte auch besser nicht mit Schneekugeln werfen Eiskristalle zeigen nämlich in alle Richtungen und können sich auch in angefrorene Herzen bohren, sie nutzen dafür die gleichen Widerhaken, die dafür sorgen, dass geliebte Menschen in unseren Gedanken so lange überwintern dürfen, wie es ihnen gefällt

So viel Winterschlaf kann doch kein Mensch halten, aber du bist schon so lange zwischen meine Schädelplatten gepresst wie die gelbroten Rosenblätter, die ich zum Abschluss bekam, die irgendwann anfingen das Buch mit Schimmel zu befallen, aber du bist so trocken, als hätte ich dich falsch herum an meine Wand im Kinderzimmer aufgehängt, darauf gewartet, dass du sorgsam vor meinen Augen stirbst

Aber hier lebt es sich wie unter einer Schneekugel und wem sag ich das, du selbst hast hartnäckig an ihrer Zerstörung gearbeitet, aber wie wir zueinanderstehen, blieb stets ein Kippbild, als würde jemand durch ein Kaleidoskop blicken: wir sind beide doppelt gebrochen und können einander deswegen nur spiegeln

Und die Eiskristalle tun ihr Übriges: Wenn es sich ausgeschneit hat, ist noch niemand bereit für den Frühling, jedes Jahr dieselbe Prozedur, dieselbe Tortur dieses Einsehen, dass der Kopf nicht mit den Blumen von draußen auftaut, dass es dort kalt und windig bleibt, wo Eiskristalle und braunmatschiger Schnee den Ton angeben; auch eine Schneekugel, deren Glaskuppel zerbrochen ist, bleibt eine Schneekugel.

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Sarafina-Abena Yamoah

 

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21 | Katharina Forstner

Beweisführung

Es ist bewiesen: Frankreich existiert
mit seinen Banlieues der großen Stadt,
wo grenadineverklebte Zungen weiche Worte schlingen,
das Trottoir bestreikt von Autos und Cafés.
Es existiert -  ich habe es gesehen –
wie meine Zehen unter schwarzen Socken
das Strafgesetzbuch
und die Einsamkeit.

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Katharina Forstner

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20 | Susanne Sophie Schmalwieser

kurven (Studie zum Ende einer Geschichte)

blätterspiegel
gold und braun dahingeschwunden
monatliche lippensteife stoff und haare
zuckerverklebt ein martinshorn
blau der mund macht mich strg+d. löschen
ist übung wie alles andere, der karlsplatz
zerrüttet vom geräusch eines stehenden helikopters in der luft

die strassen ausgestalten mit nur einem
hauch, das licht ist mir egal geworden
den teil eines geruches vernehmen und ihm bekanntschaft heucheln
und dann wieder weihnachten
wieder dejavus und das vergehen feiern
wieder einmal bin ich eine zu wenig
(eine zu viel)

du bist mir wie ausgedacht gewesen
einen winter und ein paar stunden lang
(immer ist es der herbst der mich menschlich spült)
einmal im jahr will ich tauber sein oder das wozu ich mich verstümmelt fühle
als hätte man den kopf falsch herum an die wirbelnerven angewebt
wenn mein bruder mich fotografiert finde ich mich hässlich und ihn einen verräter dass er mich zwingt zu sehen wie er mich kennt.
(das gesicht so verzogen als hinge ich schief)

ich zapple wie du; das tappen des fusses
sieh wie wir im selben
schatten wohnen oder einmal
wieder einmal kurz von gewohnheit geklebt
mich nicht lösen können. dich nicht
behalten ist übung wie alles andere
die halbe familie schreibt meinen namen anders
(im handy der tante ein Z erspähen wo ich es nie geschrieben habe)

wieder fast winter doch wärme gemessen (zu lange zu wahr)
wieder fast winter und ich bedenke die grossmütter ein glas sturm ein abend ein essen und so wohlsam verwirrt bin ich von dir gewesen, ein fiebriges kalt über meine finger

zwerchfellknoten; ich frage mich nicht mehr wer an mich denkt
was hat man mir abgeschnitten mit der nabelschnur
ausser einer mutter die mein räuspern nicht erkennt
oder die hinkende silhouette am ende einer strasse
ich störe mich erst seit ich an meiner hässlichkeit gezweifelt habe
das goldene kleid sitzend, sässe ich nicht in ihm
(einmal sind alle meine kleider rot gewesen und der körper darin seltener entrückt)

neujahr in new york
die schwester schwitzend im
krankenhausbett für fünfhundert dollar die heilung
mir ist als wäre ich als einzige von einer alten zeit als rest geblieben
kinderklagen
die einen mit offenen händen die anderen mit offenem hals
wohlsam warmsein nur in splitterstücken
einer wirklichkeit.
keine eisblumen jenseits der
jugend durchrumpelt vom klirren einer menschheitsgeschichte
(deine eigene familie sind ja auch einmal menschen gewesen)

ein auto am anfang der kurve
sein ende im schilf
(wer hat gerufen und wen gebremst)
ein cafe namens soul, dein gesicht so verzogen
und deine seele im wetterwind kurz vor oslo verglüht

du fehlst dir selbst am meisten
in marokko lassen sie uns keine feuerwerke sehen
gefährlichkeiten gemessen in soldatengruppen marschierend
durch die hotelallee fakultative prohibition
programmepos
ein strassenspiegel biegt uns wanderende in kurven
der weg zur kirche einmal sorgloser zwischengesang
später bewegungsweise gezittert
verzittert die zweisame zeit vor dem ende der kurve das flutlicht das quietschen das brechen und bersten als letzte gemeinsamkeit

kerzen und die meisten kreise um die sie sich drängen sind runder
wenn du bis zehn zählst ist dann alles nur ein traum gewesen
oder jedes jahr ein neuer diese paar tage in frieden
und wer meint den denn schon zu verdienen, zwischen den zu seltenen beweinungen der vertrockneten grabkränze, letzte gedanken erbrechen im röhricht
einen abschied aus worten haben wir nie gebaut;
nur jedes jahr zum festtag ein paket in gold-rote bänder gewickelt und gestanden dass wir uns genug sind.
(wie reproduzierbar das glück doch ist,
heute versuche ich wie ein kind es abzupausen
mein bleistift bricht
und eine stille über mich herein.)

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Susanne Sophie Schmalwieser

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