Tapetenwechsel
Springsteen hat ihr den Urlaub in die Wohnung geholt. Acht Bahnen Bali-Traumurlaub aus Vlies: Traumstrand, Traumpalmen, Traummeer, ein Traum von Abendsonne.
Dass sie ja jetzt nicht mehr so verreisen können, wie sie gern würden, weil das ja immer mehr werden wird, dass Elke sich immer weniger bewegen kann. Deswegen ja auch der da, hat er gesagt und zum schmucklosen Rollator neben dem Puky mit Pokémonwimpel und Hamburgerklingel genickt, den ich bis dahin nicht zuordnen konnte. Müssten sie dann mal sehen mit den Treppen und allem, wie sie das dann machen. Weiß man ja nicht, wie lang das noch geht. Sie war jetzt schon froh über jedes Mal, die sie ihr erspart blieben.
Stimmt, dachte ich. Sie hatte ich schon länger nicht gesehen, sah eigentlich nur noch ihn. Sah ihn mit der Post, den Einkäufen, dem Müll, dem Pfand, den Apothekentütchen.
Deswegen, weil ihnen da niemand was Genaues sagen und man da nur schätzen konnte, hat er ihr den Urlaub in die Wohnung geholt. Jetzt schon, bevor es wieder kalt wird draußen. Wenn dann auf dem Balkon ja auch kein schönes Sitzen mehr ist, so schön sie es da auch haben. Und das haben sie ja, betonte er. Auf jeden Fall haben sie es sehr ordentlich, dachte ich und nickte. Regelmäßig werden Stuhlpolster und Auslegware gesaugt, wird drübergewischt über Wachstischdecke, Armlehnen und Geländer, werden Lichterkette, Zierkrähe, Wetterhahn und Korbregal abgestaubt, wird der Efeu gestutzt, werden die zwischen Petunien, Pelargonien und Geranien steckenden bunten Solarschmetterlinge von Blütenstaub befreit. Einen neuen Sonnenschirm gibt es auch, einen weniger bunten, dafür deutlich größeren. Damit seine Elke sich nicht immer in den Schatten bewegen muss, wenn die Sonne zu viel wird. Und das wird sie ja schnell, wenn man sich nicht immer in den Schatten bewegt.
Ob ich einen Hometrainer gebrauchen könne, fragte er, mich dabei ganz selbstverständlich duzend. So einen, sagte er, umschloss mit den Händen zwei unsichtbare Griffe, während er die Arme abwechselnd vor und zurück bewegte und die Fußballen zeitgleich auf und ab. Ich verneinte. Geschenkt, er wolle da nichts für haben. Das sei ja jetzt kein Profigerät oder so, aber noch mit Garantie und zum Rumstehen einfach zu schade. Trotzdem nicht, trotzdem danke. Oder ob ich jemanden kenne, der einen braucht, überlegte er weiter. Dass ich mal rumfrage, sagte ich und wusste, dass nicht.
Ich kann nicht mehr sagen, was dem Gespräch vorausging. Was den Auftakt dazu bildete, dass er mir davon erzählte, neulich, an den Briefkästen. Ich den Müll in der Hand, er ein Schlüsselmäppchen und die Tür. Bislang hatten wir kaum mehr als Behelfsmimik, ein paar Höflichkeiten und Benachrichtigungskärtchen gegen gescheiterte Zustellversuche ausgetauscht.
Ich wohne eine Etage höher, genau über Springsteen und Elke. Wir haben also die Adresse, den Grundriss und Wände gemeinsam, die Räume teilen und nicht selten darin Geschehendes. Wenn Springsteen angestrengt hustet oder engagiert schnäuzt, dann ist das zu hören. Erst recht, wenn er niest. Jeder seiner Nieser, wirklich jeder, klingt nach Tobsuchtsanfall und so, als wäre unterdrücken gesünder. Wenn der Fernseher zu laut ist, hört man das und auch, wenn Elke das ebenfalls findet. Das Klingeln des Telefons und ihr gegenseitiges Inkenntnissetzen darüber? Das Zischen fettheißer Pfannen? Das Rauschen des Badewannenhahnes? Staubsauger? Einschätzungen zu Spielgeschehen und Personalpolitik seiner Borussia? Ebenso.
Und hin und wieder hört man Springsteen, also den echten. Ich weiß gar nicht mehr, wann es anfing. Wann ich das erste Mal mein Handy an die Tapete hielt und Shazam die Töne abnehmen ließ, die sich darin verfingen.
Vermutlich war es ein Mittwoch. Ziemlich sicher sogar. Denn immer mittwochs ist Jutta von nebenan zu Besuch. Ich kenne Jutta nur vom Grüßen, die drei kennen sich noch aus Konsumzeiten: Jutta und Elke Kasse, Springsteen Fahrer. Natürlich war er Fahrer. Straßen sind Straßen geworden, damit Typen wie Springsteen sie fuhren und Lederwesten Lederwesten, damit Typen wie er sie trugen. Dazu meist Schalke-Trikot oder T-Shirt mit Flockprint, Jeans, Allzweckschlappen und etwas, von dem ich annehme, dass es eine Mischung aus Old-Spice-Rasierwasser und, wenn es das gibt, Axe-Raststätte ist.
Sobald Jutta ihr stakkatoartiges Juttaklingeln klingelt, bleibt noch ungefähr eine Stunde, die Buchhaltung, oder was eben ansteht, fertigzubekommen. Danach ist es vorbei mit der Konzentration. Dann ist die Musik zu laut und Juttas Lachen, das an Old MacDonalds Farm erinnert. Je später der Mittwoch, desto mehr Tiere lacht sie.
Wenn die drei auf dem Balkon sitzen, setze ich mich zum Feierabend manchmal leise auf meinen, höre ihnen zu und der Musik. Wie heute. Im Moment läuft Scott McKenzie. Davor kam Supertramp und danach müsste Born to run kommen. Es ist immer dieselbe Reihenfolge. Inzwischen habe ich die komplette Mittwochsplaylist zusammen. Und auch die meisten Mittwochsgeschichten.
In letzter Zeit geht es oft um die Scheidung von Juttas Tochter und darum, dass Jutta ihre nie bereut hat, und zwar keine davon, es geht um „uns hier unten“ und „die da oben“, womit sie zu meiner Erleichterung nicht mich meinen, sondern die Regierung, die man komplett in den Skat drücken könne. Es geht um mir größtenteils unbekannte Nachbarschaft, um Parkraumbewirtschaftung, Balkongestaltung und Schädlingsbekämpfung, um Wetter, gestiegene Preise trotz gesunkener Qualität, fast immer auch um den Flaschenautomat beim Netto, der mal wieder oder immer noch kaputt ist.
Und es geht um früher, als vieles leichter war, aber bei Weitem nicht alles gut. Das mit dem Reisen, dass man das nicht konnte, nicht so jedenfalls, wie man wollte, das war, vor allem für Hungry-Heart-Springsteen, das Schlimmste.
Das macht schon einen Unterschied, ob man in Binz am Strand liegt oder auf Bali, ob man durch die hohe Tatra wandert oder durch den Grand Canyon, wo sie zwar nie waren, aber geht ja ums Prinzip. Elke war immer fürs Warme, Bali oder Thailand, aber am liebsten Bali, Springsteen fürs Kernige, die Rockies oder den Grand Canyon. Geeinigt haben sie sich dann meistens auf Kroatien oder Gran Canaria.
Heute kein Wort vom Reisen. Den ganzen Abend nicht. Und auch kein Born to run. Wenn Jutta heimgegangen ist und Elke schon rein, läuft der Song immer nochmal. Nur für Springsteen allein, der noch austrinkt, was auszutrinken ist, raucht, hickst, mitbrummt, dabei, so zumindest stelle ich es mir vor, vornübergebeugt sitzt, Ellbogen auf den Knien, der Kopf nickend, die Füße wippend, beides knapp am Takt vorbei, während er von der Freiheit träumt. Von den Rockies und dem Grand Canyon, von Kroatien und Gran Canaria. Inzwischen vielleicht auch von Binz. Weil es nun mal einen Unterschied macht, ob man Bali an der Wand hat oder in Binz am Strand liegt.
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