13 | Andreas Schumacher

Gotthilf Grünberger (1600-1668)

Ekstatische Erdung im himmlischen Ich.
Blasphemischer Gedanke in schwerer Zeit:
Dass man sich munter selbst behälfe,
nicht mehr nur, wie seit grauer Vorzeit,
altem Brauche folgend Hand anlegte –
den Mund vielmehr nähme, mitsamt der Zunge
(bifunktionales Organ, Geschmacks-
organ, Organ der Sprache)
im Zuge autonomer Bemühungen
(schwielig die Pranken, schmerzvoll aufgeplatzt
die Fingerkuppen vom Gebrauch der rauen Taue)
halbautomatisch eingesetzt zur Befriedung
kalendarisch aufstoßender Gelüste.

Inmitten von Glaubenskriegen, Hungersnöten,
allgemeiner Orientierungslosigkeit
welch konterkühnes Kunststück
unterm wachehaltenden Sternenzelt!

Gotthilf Grünberger : – o
Entdecker, Entwickler, Erfinder,
Namenspatron und Missionar
des einfachen Grünbergers;
geboren zu Speyer im Jahre des Herrn 1600
als Spross einer uralt verwurzelten Bauernfamilie;
Aussteiger, Frührentner, Selbstversorger;
Weltumsegler, Grenzgänger, Waghals,
Penispionier der ersten Stunde,
versuchte, was im feuchten Traume er gesehen,
auf zerstörten etruskischen Vasen
und pornobalkenbehandelten Höhlenmalereien –
sich ein Leben lang schon immer weiter,
immer höher hinaus vorgearbeitet habend
durch Fleiß und Schweiß,
Ausdauer und Stehvermögen,
Geschick in allen Lebenslagen;
gelenkig, sehnig, schwindelfrei,
allgemein gut ausgestattet,
gelang ihm in lauer himmelundmeerver-
schmelzender Frühsommernacht,
was mancher wohl
durchaus vor
ihm schon er-
strebte.

Umsichtiger Kaufmann, großer Generalvorsteher,
leitender Direktor eines Hamburger Handelskontors
mit weitreichenden Verbindungen tief runter ins Fuggerländle,
Junggeselle, Wunschschwiegersohn, Feierabendpoet –
alles hin-
& sich selbst in die Waagschale
geworfen,
ausgestiegen,
aufgebrochen,
drauflosgesegelt,
das Ei des Kolumbus gefunden
am neunundvierzigsten Tage
in Form zweier Eier und eines
schwellenden Schwanzes,
gelegen in einem Winkel
von einhundertundsechsundsiebzigkommazwei
Grad zwischen seinen unrasierten, nackten Schenkeln.

Von seinem eigenen Samen sich nährend,
blies er sich ostentativ durch die sieben Weltmeere,
bald weltberühmt durch simple Mund-zu-Mund-Propaganda,
eine sich selbst vorauseilende Legende der lasterhaften Leibeslust,
ein eigengliedkauendes Perpetuum Mobile onanistischer Dauerbespaßung.

Sein mit Abstand berühmtester Ausspruch
Was brauch ich andre Menschen noch,
wenn mir mein Mund das beste Loch? –,
vom Philosophen Schopenhauer
in gehobener Weinstimmung immer wieder gern
bierselig ausgepackt an Frankfurter Kaschemmentischen –
steht niedergeschrieben
in seinem penibel dokumentierenden,
bahnbrechend schrankeneinreißenden Werk
Wie ich als erster Mensch der Weltgeschichte
mir unversehens erfolgreich selbst einen blies
und darob in allgemeinen Jubelchor ausbrach

Wer ihn jemals ohne Vorwarnung
in flagranti vorübergleiten sah,
sei’s am Kap Verde, bei Bali
oder auf dem Schwarzen Meer,
wird schwerlich ihn vergessen haben.

Selbst Seeräuber machte er gefügig
ließ er einhalten in ihrem gottlosen Tagwerk –
Säbelrasseln verstummte, wo er aufkreuzte
kollabierte der Kanonenkurs,
warfen gefürchetete Männer sich zu Boden,
einzuüben den gigantischen Grünberger,
friedfertig, experimentierfreudig, fickfanatisch.

Bald allerorts beliebt und willkommen,
wo nicht grade zufällig ausgesprochene Prüderie,
allgemeine Lust- und Sinnenfeindlichkeit
ihr harsches Zepter mürrisch schwangen,
autark, autofellatiös, out of step,
lebte er, von Küste zu Küste/Eiland zu Eiland ziehend,
von den Spenden seiner zahlreicher werdenden Anhänger,
gab er heillos überlaufene Gönn-Workshops
in aller Herren Länder.

Nicht sehr wählerisch
in Geschmacksfragen;
immer bodenständig,
ein Mann des Volkes geblieben,
starb er in sternklarer Nacht,
achtundsechzigjährig,
rückenleidend,
vor der Küste Dänemarks,
im felsenfesten Glauben,
dass alle Welt vom Streit abließe,
wenn jedermann sich selber bliese.

Ein oder zwei Tage
vor seinem Dahinscheiden verfasst
sein letzter Logbucheintrag

Ich lieg an Deck am Abend gerne
und schaue auf die Himmelssterne.
Das Ziel ist nicht mehr gar so ferne,
drum streng dich, Menschheit, an und lerne!

Andreas Schumacher

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freiVERS | Andreas Schumacher

gestatten,

ich bin
oder
vielmehr eigentlich
lautet mein künstlername

rené nikolaus mollenkopf-kolbenhaupt,

erster und einziger sohn
der zürcher ballettchoreografin
dorothea henriette mollenkopf
und des berliner schauspielintendanten
heinrich von kolbenhaupt;

erwecker, erneuerer, vollender, eigenhändiger sensenmann
der totgeglaubten deutschen sprache (lyrik);
gottvater, sprachrohr, überheld
einer bereits heute bedrohlich nachdrängenden
erfolgreich-besonnenen generation
zweifelhafter schmalzumflorter weichwichsepigonen.

ich will
(und habe es tausendfach getan)
gedichte basteln
und zusammenklauen
aus alten
nur mir bekannten
lou reed- und
nick cave- und
neil young-
b-seiten.

ich will jurylyrik schreiben
und hauptpreisprosa
und ein büchnerstipendium will ich
für schön gewachsene schriftsteller,
förderfeuilleton fabrizieren,
stipendiatsstücke vom stapel lassen,
konfettigefeierte konsequent kontrollierte konzeptkonsenskunst,
und gewächshauslorbeeren will ich,
gewächshausloorbeeren und vorschnelle essayvorschüsse
von der wiege bis zur bahre,
eine ausgeprägte vitaliteratur zu schreiben ein leben lang!
den biobibliobabylobabybrabbelpreis BABA-abraham-brecht will ich und
den theodor-fontane-fötusförderpreis für teilfertige textfragmente und den
erich-fried-gedenkpreis für politische lyrik und den
ulla-hahn-gedenkpreis für apolitische lyrik.

ich will 250.000 signierte exemplare meiner gedichtsammlung verkaufen.
ich will eine grandios phänomenale gratisvollverteilung meines handgefertigten
goldfadengehefteten lyrikbändchens laubbläserblues
an alle vorhandenen haushalte,
speziell und gerade auch an jene,
die „eigentlich erst mal gar nicht so viel bock haben
auf poesie
oder gedichte
oder lyrik
oder balladen
oder poeme
oder wie das zeug sonst noch heißt“,
die kleine putzige bitte keine kostenlosen lyrikbände-kleberchen
auf ihren briefkästen und -schlitzen stehen haben
oder laubbläserblues? – nein danke!
und dass dann jeder doch gibt, was es ihm wert ist,
nämlich 30 euro oder eigentlich 100 oder mehr.

ich habe die dead kennedys gegründet
the clash gecastet
johnny rotten beraten

ich bin so punk,
ich kaufe mir den business
punk,
gebe der verkäuferin einen angepimmelten euro trinkgeld,
schneide das „business aus dem cover des „business
punk“                                     punk“,
schneide das „usiness“ aus „business“,
klebe mir „b         auf die stirn,
punk“
setze mich bei penny auf die einkaufswägen,
kaue zungenverfärbendes schlumpf-haribo,
höre helene fischer

und

spucke

aus.

ich bin überhaupt so underground,
jules verne hätte an mir seine helle freude gehabt.

„voted biggest asshole and role model of the year”

ich will keine schokolade,
keine kreide fressen,
kein blatt vor den mund nehmen,
mich immerzu schön ausgeleuchtet ins rechte licht rücken.

ich will mich einhundertundeinfach klonen
und regie führen und die hauptrollen spielen
in the human centipede 4.

i got straight edge
i walk the line

ich bin der größte,
ich bin der geilste,
ich hab den längsten!

ich will durch die goethe-institute dieser welt backpacken,
eine lebensgroße goethe-pappfigur im sack
und in schöner regelmäßigkeit
ein loch in selbiger
auf höhe des anus
(darstellend einen anus,
den anus goethes)
per umschnalldildo penetrieren,
dazu verwurstend
unter einsatz eines flammenwerfers
till lindemannsche gedichtzyklen rückwärts rezitieren,
einfach, weil ich es kann,
weil’s, wenn ich es sage, kunst ist.

ich bin der heimliche autor
des benimmführers
ich geb euch gleich erregung öffentlichen ärgernisses,
ich schrieb den beziehungsratgeber
ich geb dir gleich nen trennungsgrund,
ich schmierte zusammen den unsterblich
dauerbrennenden
wühltischbestversumpfer,
das aus heutiger sicht mitunter etwas zähe
und stellenweise doch zu dick aufgetragene
wer zuerst kommt, malt zuerst –
bukkakische weisheiten zur jahrtausendwende.

ich bin reinhard schmälzle aus meinem
autobiographischen telenovelaroman
der dauerprobeabonnent.

i want to hold your hand
i want you to want me'
i want to lay you down in a bed of roses
i want it that way
i wanna be loved by you
i wanna be your dog
i want a new drug
i want to know what love is
i want to break free
i wanna be a hippie
i wanna be sedated
i want to ride my bicycle
i want to conquer the world

d.i.y.!

d.i.y.!

d.i.y.!

i want to start my own fanzine
ground my own selbstverlag
edit my own text+kritik sonderband
ghostwrite the reclam lektüre-schlüssel
to my railbreaking poetry collection

            leavesblowerblues

i want to introduce a after me called poesiepreis
write autolaudatios
and then to verleih me the goethe-medaille –

ich habe die erde, gott und last but not least mich selbst
aus dem nichts geschaffen
(in genau dieser reihenfolge)
auf doppelbödige, dreifache, sechstausendfache
nicht-fache (nicht-)art.
wenn ich „schlecht“ denke,
vor meinem geistigen Auge,
in meinen Gedanken,
IN MIR DRIN –
implodiert das universum (fakt!),
nur ich bleibe dann übrig,
allein, enttäuscht von der welt,
aber – dankt es mir – ich denke
gottlob!
NIEMALS „schlecht“, zu
meinem
deinem
unserm
glück.

 mann (48) überfällt bank und will beute
gleich auf sein konto einzahlen

ich will mir beim bachmannpreis
obercowboylike ein sofa
auf die bühne hieven
eigenhändig
mir oben ohne
working class
einen offenen bruch
lupfen

platz nehmen
schweiß verströmen
das publikum
in den ersten
32 sitzreihen
mit kontaminiertem
eau de toilette
bespritzen;
die flache hand
vorn in die hose
den strohhalm
rein ins
sangria-
eimerle!

preisgekrönte prollternative massenlyrik

ich            i

will          w

das           a

a-             n

lles,          t

will          i

das           t

a-             a

lles,          l

und           l:

zwar         n

so-            o

fort           w

Andreas Schumacher

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Advent-mosaik IV als eBook und PDF

Cover_ebook_adventmosaikDas Advent-mosaik IV gibt es jetzt auch als Anthologie. Die große Nachlese gibt es als PDF und eBook hier kostenlos zum Download.

Mit Texten von:

Camena Fitz, Claudia Kohlus, Martin Reiter, Ingeborg Kraschl, Luka Leben, Jonas Linnebank, Simona W., Eric Ahrens, Simone Lettner, Marina Büttner, Matthias Engels, Natalia Fastovski, Simone Scharbert, Katie Grosser, Claudia Maria Kraml, Maximilian Michl, Sophie Stroux, Sigune Schnabel, Andreas Schumacher, Gundula Maria von Traunsee, Claudia Wallner, Martin Piekar und Andreas Haider.

Illustrationen von Sarah Oswald.


19 | Andreas Schumacher

Hymnen an die Weihnacht

Welcher überarbeitete, feierabendfixierte Familienvater
fürchtet nicht vor allen Verpflichtungen des Kalenderjahres
den – Jesus Maria! – frustrierenden Einkauf der Weihnachtsgeschenke –
mit seinen hieroglyphischen Wunschzetteln und unausgesprochenen Erpressungen,
der heillosen Hektik und Schnäppchenpreisjagd.
Wie ein zwischenmenschliches Wundermittel kittet er
familiäre Spannungen,
mildert Vernachlässigungen,
radiert verletzende Worte.
Seine zuverlässige Erledigung allein
garantiert eine friedvolle Stimmung
am Abend des Herrn.

Einst da ich astronomische Summen verpulverte,
da in ein Nichts sich auflösend meine MasterCard zerbröselte,
in ein phänomenal schwarzes Loch
sich ohnehin längst verflüchtigt hatte mein Kontoguthaben
und ich mit lausig-lächerlichen einhundertsiebenunddreißig Euro in der Tasche
im SATURN stand, einsam wie kein Mensch zuvor,
zahlen nicht konnte und auf Raten finanzieren nicht,
und an den von meinen Geliebten begehrten Warengütern
mit unendlicher Sehnsucht hing,
ein Waschlappen wie kein Mann zuvor,
da besann ich mich eines alten, verbotenen, geheimnisvollen Kunstgriffs –
du, Kleptomanie, Triebabfuhr gelangweilter Aufsichtsratsgattinnen,
kamst über mich, und mit einem Mal
schwand meine kleinkarierte, bürgerliche Rechtschaffenheit.
Zum Staubwölkchen wurde das Preisschild.
Tütenweise mopste ich, und erst seitdem fühle ich
die schwitzende Hand des allmächtigen Vaters.

Wie dumm und überaus unnötig
dünkt mir das ordnungsgemäße Bezahlen der Ware an der Kasse nun –
wie königlich-würdig der Ausgang am Drehkreuz.
Gern will ich die fleißigen Flossen rühren,
überall einstecken, was man grad so braucht,
entfernen die kleinen versteckten Sicherungsetiketten.

Die Kinder werden strahlen,
ich schiebe alles ein.
Ich werde nicht bezahlen
und Superdaddy sein!

Muss denn immer dieser Hansel, der Ladendetektiv, wiederkommen?
Endet nie seine Schicht?
Gottverdammter Motherfucker,
verzehrt den himmlischen Anflug der Weihnacht.
Kann denn nie einfach mal dieses ganze
elektronische Überwachungsdingens ausfallen
und dann am Eingang bitte freundlichst darauf hingewiesen werden?

Längst weiß ich, wann die letzte Bescherung sein wird –
wenn, in Handschellen gelegt, ich einst heimgeführt werde.

So komm ich – mit dem blauen Bus
und leerem Sack – nach Haus am Schluss.

Gnad Gott, dass ich die Schuld begleich’,
umsonst ist nur das Himmelreich.

Andreas Schumacher

Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen.