freiTEXT | Ernest Perfahl

Die Übriggebliebenen

Es war Abend und die Familie hatte sich um den üppig gedeckten Esstisch versammelt. Es fehlte ihnen an nichts. Wenn alles glatt lief, dann wäre dies das letzte Mahl, das sie zusammen einnehmen. Denn morgen wird die Welt untergehen, da waren sie sich alle einige, die Großmutter sowie der Jüngste.

Anfänglich hatten sie noch versucht, andere Menschen davon zu überzeugen, dass es diesmal tatsächlich soweit sei, doch es war ihnen gleichgültig gewesen. Seit der letzten Prophezeiung einige Jahre zuvor dachten sie, sie wären immun gegen eine sol-che Gefahr. Ein wenig vermisste die Familie den medialen Rummel, den Austausch, das Spekulieren mit den Nachbaren. Aber das alles war nebensächlich. Bald würde es vorbei sein. Gemeinsam nahmen sie nun Abschied. Bis spät in die Nacht blieben sie auf und stopften sich die Mägen voll, lebten so, als würde es keinen Morgen geben, bis einer nach dem anderen bei Tisch einschlief. Die Großmutter mit dem Kopf rück-wärts und mit offenem Mund. Die Mutter neben dem Vater mit dem Kopf an dessen Schulter. Der Sohn hatte den Teller nach vorne geschoben und lag nun mit dem Kopf auf dem Tisch.

Beinahe zeitgleich erwachten sie am Morgen. Fassungslos starrten sie sich in die Augen. Wieder eine Pleite, dachten sie, ihre Gesichter voller Enttäuschung. Sie sagten kein Wort. Dann sprang die Mutter auf und lief zur Eingangstür. Sie riss sie auf. Ihre Kinn-lade klappte nach unten und ihre Zunge überragte leicht die untere Zahnreihe. Ihre Augäpfel quollen aus den Höhlen und ihre Pupillen weiteten sich. Verdutzt stand sie da. Ohne sich umzudrehen, winkte sie die anderen zu sich.

Sie erblickten eine Ruinenlandschaft. Die Gebäude waren in sich zusammen-gefallen. Die Erde war geziert von nackten leblosen Körpern. Sie waren übrig geblie-ben. Sie waren vergessen worden.

Fluchend wandte sich der Vater ab und durchkämmte die Wohnung.

Die Farbe der Gemälde war verblasst, der Fernseher flimmerte, der Radioapparat rauschte, die Konturen der Letter in den Büchern waren aufgebrochen und die Druckerschwärze hatte die Seiten schwarz verfärbt.

Die Übergebliebenen, sie warteten, sie warteten darauf, dass auch sie endlich erlöst werden würden.

Ernest Perfahl

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freiTEXT | Matthias Engels

wir bauten eine mauer

wir bauten eine mauer um die mauer um die mauer zu schützen wir bauten eine mauer um die mauer die wir bauten um die mauer dahinter und die mauer zu schützen wir bauten eine mauer um die mauer die wir bauten um die mauer dahinter und die mauer dahinter und die mauer zu schützen wir bauten eine mauer um die mauer die wir bauten um die mauer dahinter und die mauer dahinter und die mauer dahinter und die mauer zu schützen und hatten über das mauern schon lange vergessen was hinter der mauer und der mauer dahinter und der mauer dahinter und hinter der mauer lag

Matthias Engels

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freiTEXT | Deniz Ohde

Habe vorhin eine Schallplatte weggeworfen, die ich vor zehn Jahren von Nicolás geschenkt bekommen hab. Angehört hab ich sie nie.

Nicolás hatte damals eine Vorliebe für Rocko Schamoni. Er erzählte mir immer wie cool der wäre und wie ironisch, besonders die Kurzfilme „Rollo Aller“ hatten es ihm angetan. Die wären einfach großartig, großartiger als alles, was ich mir so ansehen würde. Ich habe, um ihn zu ärgern, gesagt, Rollo, das höre sich doch an, als ob jemand mit den Augen rollt. Von da an haben wir „rollo!“ statt *augenverdreh* bei MSN geschrieben – hat sich leider nicht in der Jugendsprache etabliert.

Jedenfalls ist Nicolás dann eines Abends zu einem Rocko-Schamoni-Konzert gegangen und da hat er mir eine Schallplatte mitgebracht, nämlich „Der Muschikatzenmann“, die original Titel aus „Rollo Aller 4“. Signiert mit „Für Deniz, Dein Rocko *schiefes Herz*“ und ich fand das total aufmerksam, auch wenn ich gar keinen Plattenspieler hatte. Nicolás hat dann natürlich gesagt, ich müsse mir sowieso unbedingt einen Plattenspieler kaufen, das wäre viel besser als CD, viel ästhetischer, viel bewusster usw.

Ich hab mir bis heute keinen Plattenspieler gekauft und diese Platte aus Trotz nie angehört aber aus Sentimentalität aufgehoben. Als ich sie dann vorhin gefunden habe, hat sie mich ausschließlich daran erinnert, dass Nicolás ein prätentiöser Sack war, den ich froh bin nicht mehr zu kennen und der mir eigentlich immer nur gesagt hat, was man zu machen und zu gucken hätte und mir damit nicht nur Rocko Schamoni, sondern noch tausend andere gute Leute über Jahre verdorben hat.

Als ich mir die Unterschrift auf der Platte angesehen habe, hab ich irgendwie auch nicht mehr so richtig geglaubt, dass wirklich Rocko das unterschrieben hat. Wahrscheinlich war Nicolás es selbst, damit er mir wieder eine großspurige Geschichte erzählen kann und sich durch die fettigen Haare fahren und am Sacko rumzuppeln und mir sagen, wie uncool ich bin ohne Plattenspieler. Das war echt das einzige, was mir beim Anblick dieser Platte eingefallen ist und ich hab mir gedacht nee ey, rollo, und das Ding in die Tonne gehauen.

Deniz Ohde

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freiTEXT | Clara Heinrich

Ameisenstraße

Es ist Sommer. August. Die Tage waren eben noch lang. Schon werden sie kürzer. Alles was ich sehen kann ist die Dunkelheit, es ist als hätte es keine langen, hellen Tage gegeben. Ich versinke im Schneechaos. Im August. Kinder toben vergnügt, Wassertropfen aus kreischenden, bunten Spritzpistolen treffen auf gemusterte Badebekleidung, das kalte Nass ändert die Farben. Bälle rollen. Knie werden aufgeschürft. Sand fällt aus den geringelten Socken, auf die kalten weißen Badezimmerfließen, die von grauen Fugen getrennt werden. T-Shirts mit Flecken vom geschmolzenen Eis landen auf dem Schmutzwäschehaufen in der Ecke.

Und ich mittendrin. Bis zu den Knien im kalten Schnee. Stecke fest. Kann nicht vor, nicht zurück. Die Kälte krabbelt durch meinen Körper wie die Ameisenstraße, die in der Küche ein neues zuhause gefunden hat. Die schwarzen Punkte haben sich so stark angepasst, dass es scheint als wären sie immer schon da gewesen. Als hätte der Architekt sie genau an dieser Stelle eingeplant. Ich sollte ihre fleißigen Arbeitstage unterbrechen, ihre Linie, die die Küche durchzieht vor die Türe setzen.

Doch das kostet Kraft. Die winzigen Eiskristalle, die um meine Füße Klumpen bilden, kosten Kraft. Das Essen von der Hand zum Mund ist schwer. In Anbetracht dessen sind die kleinen schwarzen Monster nicht mein größtes Problem. Dabei beneide ich sie, während ich mit meinem inneren Monster kämpfe. Sie stehen jeden Tag auf. In aller Früh und schuften ohne dabei Anzeichen von Erschöpfung zu zeigen. Ich bin schon erschöpft, bevor ich anfange zu arbeiten. Erschöpft bevor ich überhaupt aufstehe. Gar zu erschöpft um zu Schlafen. So tief bin ich gesunken. Ich beneide Insekten.

Die Sonne steht wieder einmal hoch und brennt auf den kleinen Balkon, auf dem ich den dritten Espresso trinke um die Müdigkeit zu vertreiben, doch wie die Ameisen hat sie sich längst eingenistet und brütet ihre Eier. Aus den Eiern schlüpfen Ekel, Selbsthass und Scham, die sich weiter mit der Erschöpfung und der Müdigkeit paaren bis ihre Larven beginnen an meinem Innersten zu nagen und ich verfalle. Die schwarzen Stoffe in die ich mich hülle verbergen die hässliche Seele, die ich mit mir herumtrage, für die ich mich schäme.

Das Feuerwerk, das vor meinem Fenster tobt und ein Schillern in der Luft zeichnet dringt dumpf zu mir durch. Ich verabscheue. Wen? Was? Alles. Die Farben im Nachthimmel sind längst wieder weg. Es erinnert mich an mein Leben. Kurze Farbexplosionen gefolgt von Dunkelheit. Im bewölkten Himmel der Nacht ohne Mond und ohne Sterne finde ich einen Verbündeten. Durch das offene Fenster strahlt er mich an mit einer Schwärze, die sonst niemand wahrnimmt, weil die Welt schläft. Nur ich bin wach. Die Gedanken kreisen in spinnenden Bewegungen und der Wind weht die laue Spätsommerluft ins Schlafzimmer. Die Müdigkeit drückt mich ins Bett, die Decken umschlingen mich. Mein Kopf versinkt im Kissen und die Worte in meinem Kopf geben keine Ruhe. Sie wollen weitermachen, herumschreien und springen, statt sich in meine Traumwelt zu verzupfen. Und mich einfach schlafen zu lassen. Bald kommt die Sonne wieder. Ich werde nicht viel schlafen. Gleich wird sie mich wecken und morgen werde ich wieder müde sein und nichts schaffen. Mit diesen Gedanken schlafe ich ein und träume wirr von Worten, die wie Flummis aussehen und Farben, die verschwimmen.

 

Clara Heinrich

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freiTEXT | Saskia Trebing

Attraktive Menschen in klimatisierten Räumen

working next to artworks I

Es ist nicht einfach, sich zu konzentrieren, wenn sich im Nebenraum zwei Frauen intimrasieren. Da ist eine Wand dazwischen und da ist das Murmeln der Klimaanlage, aber da ist trotzdem dieses Geräusch; dieses Gekratze und Geschabe auf trockener Haut. Das kratzt und schabt am Gehirn bis eine Frau aufschreit – geschnitten – und das Ganze wieder von vorne losgeht.

Bei all dem Gehirnschaben kann einem schonmal was durchrutschen. Da kann man lächelnd am Frontdesk sitzen und in ein Macbook starren und nicht merken, dass irgendwas anders ist.

„Dass da ein Werk nicht an ist“, sagt ein Besucher mit Kinnbart und Presseausweis. „Das muss Ihnen doch auffallen, wenn Sie hier sitzen.“

Der Mann mit Presseausweis würde eh nichts kaufen. Aber recht hat er, da fehlt was. Da ist im Nebenraum ein Bildschirm schwarz, der nicht schwarz sein sollte. Wo ein Gesicht sein sollte. Natürlich. Und eine Stimme. Zuerst eine Stimme aus dem Off. „Roooo-lling!“ sollte die Stimme rufen. Eine warme Stimme, die Silben ausgerollt und kullernd. Dann sollte das Gesicht in Aktion treten. Das Gesicht sollte nach vorn schnellen und zu schreien beginnen. „Shoot!“ schreit das Gesicht. Immer wieder. „Shoot! Shoot!“ Ein Rhythmus mit Kopfnicken und Speichelspritzern.

Aber jetzt passiert gar nichts. Jetzt müsste man was tun. Aber was? Der Stecker ist drin, der Fernseher ist an, der Computer ist verbunden und der Galerist ist heute für niemanden zu sprechen.

Es ist nur Lief im Haus, aber Lief putzt die Toiletten.

„Lief?“ Es ist zumindest einen Versuch wert.

„Hier“, ruft Lief aus dem Herrenklo.

„Die Arbeit von Frida ist kaputt.“

Liefs Kopf zeigt sich im Türrahmen. „Ok“, sagt der Kopf. Dann verschwindet er wieder.

Einen Moment ist es ruhig, nur die Frauen kratzen und schaben.

Dann Liefs Stimme aus dem Herrenklo: „Roooo-lling!“

Die Pause ist zu lang, ein Zögern, das da nicht hingehört. Aber dann: was solls, den Pressetext können sie sich wohl alleine nehmen.

Kopf in den Nacken, Luft geholt und „Shoot! Shoot!“ im richtigen Rhythmus. Am Anfang noch verhalten, aber nach zehn Minuten tropft die Spucke vom Kinn. Nach zehn Minuten ist Lief wieder dran.

Ein Herr im Anzug schafft es nicht mal bis zum Pressetext. Er lugt um die Ecke, Roooo-lling! … Shoot! Shoot!, und stolpert rückwärts aus dem Raum. Den kennt man, den Anzug, der kauft hier manchmal. Der kriegt die Tür nicht auf, die klemmt, und schaut panisch zum leeren Empfangstresen. Da sitzt sonst immer die lächelnde Frau.

Saskia Trebing

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freiTEXT | Dmitrij Gawrisch

Man nehme einen Korb und fahre mit der Rolltreppe ins Untergeschoss. Am Gemüsestand ertaste man eine reife Avocado und eine knackige Gurke, dann halte man auf Zutaten aus aller Welt zu. Man vollführe kranartige Verschiebungen: raus aus dem Regal, rein in den Korb, raus, rein, und so weiter, und so fort, bis im Korb neben Avocado und Gurke, Reis, Reisessig, Reiswein, Algenblätter, grüner Meerrettich und marinierter Ingwer liegen. Am Regal mit den Gummibärchen, die Zähne bereits ins Plastik gebohrt, finde und fange man das Kind wieder ein, bevor ein Kinderschänder es tut oder das Jugendamt. Man schimpfe das Kind aus, bis es die Unterlippe verzieht, und akzeptiere, dass es richtig laut wird, wenn es auch noch kein Feuerwehrauto bekommt. Fisch, murmelt das Kind durch Tränen hindurch, es habe Hunger und wolle jetzt sofort Fisch essen, wo könne es Fisch essen jetzt sofort? Man setze ihm den Helm auf und schnalle es an, dann schwinge man das Bein über die Stange und trete los, durch dreißiggrädige Sommerhitze oder so. Wo sei Fisch, haucht das Kind, bevor es seinen Kopf sinken lässt und man stattdessen das Daheim ansteuern muss, damit es Mittagsschlaf halten kann und man selbst dazu: die Sonne steht in dieser Jahreszeit früh auf und nicht nur sie. Man telefoniere, erkläre, bitte, bitte abermals, werde ungehalten, danke schließlich, entschuldige sich, lege auf, atme aus. Man wasche den Reis so lange, bis das Wasser klar bleibe. Dann koche man den Reis eine Viertelstunde lang mit der doppelten Menge Wasser, entgräte und portioniere in dieser Zeit den wortlos auf die Tischplatte geknallten Lachs und schnipple das Gemüse, begieße den Reis mit Essig und mische gut durch. Man bestreiche mit dem Reis ein Algenblatt, lege Fisch oder Gemüse hinein, rolle auf, klebe zu, schneide in mundgerechte Stücke und richte sorgfältig auf einer Platte an. Man mache die Tür auf, drücke fest zurück, frage, wie es gehe, schon ewig her. Das Kind spuckt die Fischrolle wieder aus und will lieber Pizza, dann schlägt es Purzelbäume, bis es einschläft. Die Stimmung hellt der Reiswein nicht auf, man schweige sich an am Tisch, bis der Gast gehe, beteuernd, wie lecker das Essen geschmeckt habe und dass es trotz allem ein schöner, sehr schöner Abend gewesen sei, danke. Um weitere Gespräche zu vermeiden, lege man sich im Wohnzimmer aufs Sofa und schließe die Augen. Die Nächte sind kurz in dieser Jahreszeit und nicht nur sie.

Dmitrij Gawrisch

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freiTEXT | Flamingo

Wörthersee

vor zwanzig jahren, auf der fahrt zum wörthersee, kippte ein jeep in den straßengraben, unten lagen, eingequetscht, mehrere junge menschen, einer, blutüberströmt mit einer platzwunde, stand hektisch in der mitte der straße, schreiend, dass sein freund verbluten würde, unser weißer ford escort mit den blauen sportstreifen brauchte nicht superverbleit, aber fiel bei 160 schon fast auseinander, obwohl er gar nicht so alt war, wir riefen den sanker und fuhren weiter, es heißt, jim morrison hätte einmal einen sterbenden indianer vom auto seiner eltern aus gesehen und war seitdem der eidechsenkönig, was ich seitdem bin, weiß ich nicht, aber ich komme zurecht, so schlecht geht es mir nicht, wie alle immer meinen, wenn sie lesen was ich schreibe, was ich zu sein scheine und was ich so mache.

Flamingo

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freiTEXT | Sophie Sumburane

Und der Mann vor mir raucht

Ich sitze im Zug und der Mann vor mir raucht. Ich sehe nicht seine Haare, keine Hand oder die Farbe seiner Jacke, nur den grau blauen Rauch seiner Zigarette, der erst wie ein Faden, jetzt als Wolke in der Luft hängt.

Doch ich weiß, dass ich ihn liebe.

Ich liebe diesen Mann, weil er im Zug raucht, es ist verboten im Zug zu rauchen, er tut es trotzdem, ich könnte das nicht.

Ich kenne auch seine Stimme nicht, habe sie noch nie gehört, zwischen all den Stimmen im Zug. Seine könnte darunter sein. Ist es ganz sicher, ich suche mir die sonorste aus und ordne sie ihm zu, stelle mir vor, wie er zwischen den Zügen an seiner Zigarette ein paar Worte spricht, wieder zieht, die Kippe glüht, die Asche fällt. Es kümmert ihn nicht.

Wie sieht er wohl aus dieser Mann, den ich jetzt liebe, der vor mir sitzt im Zug und raucht? Ganz und gar nicht wie ich, da bin ich mir sicher. Instinktiv ziehe ich meine Bluse über dem Bauch glatt und streiche einen Krümel von der bügelgefalteten Hose. So eine Hose würde er nicht tragen, er trägt sicher eine Jeans mit Löchern. Ein Shirt mit Aufdruck, eine Sonnenbrille in den Kragen gehängt. Ich versuche, sein Bild gespiegelt im Fenster neben mir zu sehen, doch da ist nichts. Meine Jacke hängt im Weg, das ärgert mich. Doch ich will sie nicht wegnehmen, ihn nicht stören, nichts Falsches tun und lasse sie hängen. Vor meinem inneren Auge will kein Bild von seinem Gesicht entstehen, es ist mir jetzt auch egal, ganz egal.

Und der Mann vor mir raucht noch immer, im Zug. Niemand kommt, kein Schaffner, keine Schwangere, Mutter mit Kind, oder korrekter Anzugträger, um ihn zu bitten, die Zigarette auszumachen. Er raucht einfach weiter, meine Augen tränen und brennen, weil ich schon so lange nicht mehr gezwinkert habe. Ich will keine Millisekunde verpassen, vom Tanz des Rauches. Will sehen, wie er sich immer weiter an der Decke des Wagons verbreitet, an der Glaswand vor ihm hängen bleibt, um nur Augenblicke später die Ritzen der Tür zu finden und in das nächste Abteil zu wabern. Ich will sehen, wie der Rauch die Nasen der anderen Fahrgäste erreicht, sie reglos sitzen bleiben. Tatenlos. Vollkommen desinteressiert. Nur mein Interesse hat der Mann vor mir, den ich nicht sehen kann, geweckt. Jetzt schließe ich die Augen, denn endlich ist der Rauch auch nach hinten gezogen, hat meine Nase erreicht und ich stelle mir vor, dass der Mann vor mir genau so riecht. Ein Geruch, der so abstoßend ist, dass er mich anzieht, so schädlich, dass er mir gut tut. Ich stelle mir vor, wie er sich über seine Lehne nach hinten beugt, wie sein Gesicht voller Bart ist und das Lächeln der Lippen so kaum zu sehen.

Bärte finde ich furchtbar, sie kratzen beim Küssen, die Haare stehen wild durcheinander, selbst wenn sie gekämmt wurden. In Bärten bleiben Krümel hängen, oft den ganzen Tag, so läuft der Mann herum, mit Essen im Gesicht, merkt es nicht, fühlt sich toll, hip, Hipster und ist doch nur ein Mann mit Essen im Gesicht. Doch bei dem Mann vor mir finde ich den Bart plötzlich wunderschön. Er hat ganz sicher einen Bart, und wenn er sich zu mir umdreht und lächelt, wird er mich mit seiner sonoren Stimme fragen, ob ich auch mal ziehen möchte, ich werde schüchtern verneinen und er wird sich auch in mich verlieben.

Ich stelle mir auch das jetzt vor, wie sich seine Lippen bei der Frage bewegen, wie seine Augen feucht werden, als ich nein sage, wie er aufsteht und sich neben mich setzt. Ich stelle mir vor, wie er, mit der Zigarette zwischen Ring- und Zeigefinger neben mir sitzt und wir uns plötzlich küssen, ich seine Zunge schmecke, seinen Atem rieche, wie ich nicht genug von all dem kriegen kann. Ich stelle mir vor, wie der Mann, der im Zug vor mir sitzt und raucht, mit seiner Hand unter meine Bluse fährt, hier, mitten im Zug, wie keiner guckt, als wären wir gar nicht da, wie es mir aber auch total egal ist, ob einer guckt. Ich fühle, wie seine Hand an meinem Bauch hinauf wandert, wie sich seine Finger rau auf meiner Haut anfühlen, wie ich diese Situation liebe, in der ich bei jedem anderen Mann vor Scham im Boden hätte versinken wollen.

Ich stelle mir vor, wie er mir seinen Namen sagen will, dieser Mann, der Dinge tut, die verboten sind, der aussieht wie einer, dem alle Regeln egal sind, der küsst, wie jemand, der nur dafür und nur für mich auf der Welt ist, als der Zug plötzlich hält und ich die Augen wieder öffne.

Weg ist der Rauch, verflogen. Weg ist die Stimme, die sonorste von allen. Ich sehe eine ältere Frau durch den schmalen Gang im Zug auf mich zu kommen, sie schaut sich um, ihr Blick bleibt an dem Mann vor mir hängen, sie schiebt sich in seine Reihe und setzt sich auf den Platz, genau vor mir. Weg ist der Mann, der vor mir saß und rauchte. Weg der Rauch, der Geruch, die Liebe.

Da die Gewissheit, er war nie hier.

Sophie Somburane

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freiTEXT | Barbara Zoschke

Die Liebesunwahrscheinlichkeit

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marokko, london 116

Die Liebenden saßen unter dem bisschen Hoffnungsgrün links im Bild. Sie hatten den Ort gewählt, weil er ihr ein wenig Schatten bot, während er mit dem Gesicht halb in der Abendsonne auf einem breiten Sims Platz finden konnte. Sie empfanden Glücksstille. Gleich würden sie die Lesung eines von ihnen beiden verehrten Autors besuchen.

Als das Handy des Geliebten klingelte. Der Geliebte zuckte zusammen und sagte: „Das ist meine Familie.“ Dabei sah er seine Geliebte mit Unvermeidbarkeitsbedauern an, das schwer auf seine Schultern drückte. Der Geliebte stemmte sich gegen sein eigenes Gewicht und stand auf. Er entfernte sich mit Rücksicht auf die Familie und auf die Geliebte von der Geliebten, obwohl er sich durch seine heimliche Verabredung zur Lesung mit Rücksicht auf die Geliebte und seine Familie gerade erst von der Familie entfernt hatte. Die Geliebte erkannte darin auf Anhieb die vertrauten zwei halben Wahrheiten, die allerdings jetzt, da sie allein im Innenhof war, plötzlich und unerwartet in weitere, immer kleiner werdende Wahrheitsanteile zerfielen, die die Geliebte proportional zur Dauer des Wegbleibens ihres Geliebten immer schlechter zu einem Wahrheitsganzen zusammenkratzen konnte. Schon erschien es ihr nur noch zu einem Viertel wahr, dass es sie selbst überhaupt gab. Und das Viertel wiederum schmolz in der Abendsonne auf die Größe eines Achtels Butter. Die Geliebte trank gegen den Wahrheitszerfall an und leerte das Weinglas, das ihr der Geliebte im Weggehen überlassen hatte, in einem Zug. Doch es nützte nichts. Die Wahrheit zerfiel weiter bis sie schließlich unwahrscheinlich war und überschwemmte die Geliebte dergestalt von innen.

„Ach, käme er nur schnell zurück“, dachte die Geliebte. Die Unwahrscheinlichkeitsschwemme hatte ihre Gedanken längst geflutet. „Und was, wenn er hat nach Hause fahren müssen, weil der Junge sich verletzt hatte?“ Er würde ihn verbinden müssen, vielleicht sogar ins Krankenhaus fahren, ihm versprechen müssen, ihn nie wieder allein zu lassen. Die Geliebte suchte nach einem Ausweg, der es ihr erlaubte, ihre Existenz über die Zeit des Telefonats, über die Zeit des Wegfahrens, über die Zeit des Verbindens und über die Zeit des Versprechens an das Kind hinaus zu retten.

Versuchsweise löste sie die Feststellbremse und rollte aus dem Bild.

Barbara Zoschke

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freiTEXT | Katja Bohnet

Unsichtbare Dritte

Seit du mit ihm geschlafen hast, sehe ich dich mit anderen Augen. Wir haben seitdem nicht mehr viel miteinander gesprochen. Als ich das Autoradio anmachte, hast du es leiser gestellt. Du fährst zu schnell.  Ich frage mich, wohin. „Halt an!“, höre ich mich sagen.

Du ignorierst mich.

„Halt sofort an!“ Diesmal schreie ich.

Ich merke, wie du die Geschwindigkeit drosselst und scharf bremst. Die Landschaft wird langsamer, die Felder halten an.

„Was?“

Ich öffne die Tür und steige aus. Ich stehe einfach nur da. Du lehnst dich über den Beifahrersitz und ziehst die Tür zu. Der Wagen zieht an, beschleunigt, eine Staubwolke weht hinter dir her. Auf dem Asphalt klebt ein Stück Fell. Jetzt ist das Auto nur noch ein verwaschener Punkt am Horizont.

„Hau ab, Arschloch!“ Meine Stimme klingt fest.

Hier am Straßenrand fühle ich mich seltsam banal. Ich gehe nicht zurück. Die Hitze lädt mich auf. Ich schreite voran. Felder, unermesslich weit. Irgendwann höre ich ein leises Rauschen. Hinter mir. Ich sehe mich um. In der gleißenden Hitze glänzt etwas metallisch. Es kommt auf mich zu.
Der Güterzug ist endlos. Wir ziehen nebeneinander her. Ich schwitze. Meine Füße brennen. Als der letzte Waggon vorüber rollt, fühle ich mich verlassen. Meine Beine müssen weitergehen. Mit dem Handrücken wische ich mir den Schweiß von der Stirn. Eine Kreuzung.

Die unsichtbare Dritte: Das bin ich.

Kein Flugzeug taucht auf. Nichts. Ich gehe weiter gerade aus, biege nicht ab. Nicht mehr. Meine Schritte werden kürzer. Ich ignoriere den Durst. Die Sonne brennt. Kein Auto kommt, kein Truck, kein Mensch, kein Tier.
In der wabernden Pfütze auf dem Asphalt erkenne ich sein Gesicht, seinen Leib, nackt. Du liegst auf ihm, hier mitten auf der Straße. Du siehst mich an. Eine Fata Morgana. Ganz real. Ich stolpere über eure Körper, falle, rappele mich wieder auf. Den Nachmittag halte ich noch durch. Meine Sohlen schleifen über den Asphalt. Die Straße trägt mich, ad infinitum. Ich blicke hinauf ins Weiße. Ich bin frei.

Ein kleiner Punkt kommt näher. Ich habe Schwierigkeiten, ihn im Auge zu behalten. Dann höre ich Motorengeräusche. Vielleicht lasse ich mich retten.  Der Wagen hält an. Du öffnest die Tür. „Steig ein!“, sagst du. Ich sehe dich an. Wenn ich dich anschaue, sehe ich auch ihn. „Hau ab, Arschloch!“

Du kneifst die Lippen zusammen. Schlägst die Tür zu, fährst an. Dein Blick hart. Dein Schwanz war es sicherlich auch.

Katja Bohnet

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