freiTEXT | Avy Gdańsk

Nach-t-wuchs

In den Schatten unter deinen Augen lese ich: Der Schlaf war wieder zu dünn, eine Schicht Eis auf dem See, schnell eingebrochen. Immer fräst sich der Lärm durch die Traumwände, rückt von allen Seiten unerträglich nah. Ein Erwachen wie das Einschalten der Maschine, Wiegegriff und drohende Beruhigungslaute einer nicht weit entfernten Böschung. Die Erschöpfung bringt dich an den Rand des Guten.

In den Dachbodentagen waren wir der Lärm, ein springender Laut wie Gebälk, gegen die Nischen anbrüllendes Tiersal, eine Tapete aus Gegröl. Wir waren augsam auch, schaulustige kleine Geschöpfe mit Bast an den Wimpern, die Blicke flochten sich beinahe von selbst, wir griffen ins Sichtfeld hinein und pflückten die Ansicht, aßen die Hügel auf, bis unsere Bäuche sich wieder verdünnten.

Wir waren entsetzlich bedürftiges Faultier, ein Schnappen der Luft waren wir, ein Vergreifen an grünenden Zweigen. Eigentlich gebaut als Hoffnungsträger, zum Schultern von Erwartung. Knickten darunter ein, weil wir aus Fleisch waren und nicht, wie erfordert, aus Marmor.

Jeder Raum von uns: angefüllt bis unter die Gestirne, die unsere rohen Hände verließen, durch die Nagelspitzen leuchteten. Wir, gegen die Decke, Verlängerung der Endlichkeit. Ein Warenhaus, ein Sindhaus, Wirdshaus, zerschlagen von uns, Abrissbirnenteile waren wir, Verwirklichung, Verwirung.

Und das willst du alles zurück? Willst Wanzenwänste, die in Westen stecken, willst auf den Kniepferdchen reiten den saftigen Wolken hernach, willst die gewellten Scheren halten, Meere aus Karton.

Wackersteinschlieren willst du, Blubbern unter gesenkter Hand, und dann so tun, als sei es ein Quell aus dem Erdreich. So lernt jeder auf andere Weise, dass es zum Oben ein Unten gibt. Die Blasen, lustig anzusehen für den Tunkenden, waren die Angstschreie dessen, den er zur Tiefgründigkeit zwang. Danach gab es kein Zurück an die Oberfläche, man hatte die Unterseite der Welt gesehen und erkannte sie überall wieder. So wurden wir verschieden, dadurch, wie lange wir uns einander dem Schatten aussetzten, einander das Licht entzogen. Ich konnte mich immer schon besser an die Dunkelheit anpassen.

Dein Nachwuchs, mein Nachtwuchs. Weil du im Hellen lebtest, trafst du andere Entscheidungen. Die Sonne aber wandert, und der Schatten macht dir Angst. Willst dich absichern gegen die Kühle, die du nicht gewohnt bist. Vermisst das Kirschkernspucken gegen fremde Knie. Was willst du wirklich, die früheren Wunder, die alten Wunden? Suchst nach erneuter Verkleinerung, um wieder Zugang zu finden zu den Wichteltüren, zur Schneckenpost, zum Kürbislächeln. Ich finde ihn noch, jenen Eingang, nicht unentwegt, aber oft, drum lass dir eins gesagt sein:

Was du jetzt nicht mit Herzfingern greifen kannst, die rot sich um Luftburgen schlingen, kommt auch durch Vereinfältigung nicht zurück. Siehst du jetzt nicht die gebräunten Buckel der Trauben, die Käppchen der hageren Butten, was hilft dir ein zweites Paar Augen? Du suchst eine füllende Masse, die dein Lächeln drückt bis an den Lidrand, formbar soll sie sein, ein haltbares Kunstwerk. Dein eigener Hoffnungsträger, da du sie selbst nicht mehr halten kannst in deinen schwachen Händen.

Willst wieder reden mit wirbelndem Mund, möchtest dein Singen erfinden, die Muster unterm Regenteppich sehen, mit der Laterne durch die allererste Nacht, verborgene Botschaften aufspüren.

Zuerst aber musst du dein Leben verlieren.

Die sägende Saite spielt dich, ein Geigenbogen gegen deine Kehle ist der Schlaf, zu dünn, er schneidet ein, er zieht sich zu, der Atem dünne Klingen, die Luft rasiert den Rachen, die Lider dünn, die Nerven dünn, die Lippen. Wann werden die Wangen voller, fragst du dich, horten wie Hamsterbäckchen das Lachen? Auf Stroh – weißt du noch? – schliefen wir einmal und es wurde nicht zu Gold, auch wenn wir daran glaubten, im Schlaf es fest uns wünschten. So mag es nun wieder sein, oder Gold aber macht dich doch nicht froh.

Denkst heimlich daran, es zurückzurollen ins Wasser, die strampelnde Kugel zu tauschen gegen einen zauberhaften Prinzen. Doch alles sind falsche Versprechen, Wasserfall ist keine Möglichkeit, zwischen deinen blonden Strähnen erste Grausamkeiten.

Treffen wir uns, bekomme ich nichts als Fassade. Ist das die Strafe für die Opfer, die ich nicht bringen wollte? Dein Himbeerlächeln, extradick aufgeschmiert: Zucker, der zusetzen soll. Dein ganzer Stolz – hüfthoch – reicht, um dich damit zu schmücken, solange wir uns sehen. Es ist niemals lang. Kann dies, kann das, tut dies, tut jenes, wird aber fremder Tag für Tag, die Entwirung beginnt schon allmählich – das spüre ich, obwohl du es versteckst.

Du wieder oft im Alleingang, arbeitsame Hände, wir ziehen tolle Formen aus der Leere, du und ich, sie folgt unseren Gesten nach Hause. Hat man nichts zu tun, ist man dem Sein so ausgesetzt, nicht wahr, man muss sich dem Ich übergeben, also bewegt man die Finger, um es zu vertreiben.

Ich brauche deine Beweismittel nicht, die verzweifelten Superlative, die Fotos, deren Strahlen etwas überblenden soll. Ich sehe dich hinter den Gardinen auch schimpfen, weinen, müde an die Wand starren. Neide mir nicht die Bewegungsfreiheit, die Zeitlosigkeit und dass ich verfügen kann, wo du verfügbar bist.

Einmal treffen wir uns unterwegs auf der Straße, du siehst aufgegeben aus, und weil es keinen Ausweg gibt, stellst du dich mir. Als wolltest du flüstern: Los, spotte doch schon. Da sage ich es dir: Schluss mit dem Wettkampf. Wir müssen uns nichts vormachen, müssen nicht drum eifern, welcher Lebensentwurf der bessere ist. Entwürfe sind Linien, um das Weiße des Blatts zu bedecken. Und füllst du es bis an den Rand, ist es zu dunkel. Lass das Nichts durch, oder verzichte aufs Licht. In jedem Fall verlieren wir.

Da schlägt deine Lebenslinie dankbar aus, rutscht auf meine Seite der Welt, seit langem überkreuzen sie sich wieder. Geben wir sie zu, die Einsamkeiten, gegen die nichts gewachsen ist, nicht mal das, was wir selbst aufgezogen haben.

Unsere Freuden sind anders geworden, betretbar, die Trauer unverhüllt, beschaulich, wir lassen die Vergleiche sausen, wo es geht.

Manchmal, wenn ich drüben bei dir eingeladen bin, betrachte ich die Abspaltung deines Selbst, rasch heranwachsend, beim Zeichnen auf der Terrasse. Der Stift schlittert hinter der Vorstellung her, die Hände tappen im Dunkeln.

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Avy Gdańsk

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freiTEXT | Sophia Hauser

Multiple Gedächtnisabfolgen

Jetzt wollen wir es nochmal wissen. Ausgelutsche Worte neu ordnen, uns nicht selbst zum Verhängnis werden. Sprache ohne Gesprochenem, Erläuterungen aus den Mündern, alle Jahre wieder. Höchste Zeit, die keinem gehört. Verkalkter Filterkaffeegeruch schreit herein von der Kücheninsel. Wir trinken das Gesöff bekanntlich nicht wegen dem Geschmack, der Lifestyle muss es sein. Frisch gebleichte Zähne glitzern Richtung future. Gleichzeitig braune, ausgekühlte Lacken im Porzellan. Raus aus den zwei Zimmern, schnalzen mit der Zunge, frustrierend. Die gelbe Sau blendet wieder.

Müssen Vater bei jedem Gedanken um Erlaubnis fragen. Sitzt draussen mit der sechzehnten Tschick im Atem. Hatten wir alles schonmal. Täglich das selbe Schauspiel, euphorisierte Jogger zwingen sich selbst in die Unschärfe. Der Föhn flüstert uns Lügen zu, von denen wir Migräne bekommen. Komplett zugedröhnt meditieren, Mondsucht bewältigen.

Unser kleines Geheimnis, der zweiköpfige Teddy der Nachbars-tussi. Zum Monatsanfang impft sie plastische Substanzen in ihr Gesicht. Forever Young. Einsame Zweisamkeit. Zuckersüße Freuden, zum in-die-Hände-klatschen. Fast hätten wir sie vergessen. Deja-vu von Platzwunden und Bergsteigen. Dann, zurück zum Tatort. Brennend heisses Gold bringt den Durst unmittelbar um die Runden. Erschreckend lebhafte Tagträume vor dem Bildschirm, Gespräche ausschließlich über Kabel. Vier Hausblöcke weiter, mischt jemand Salz in den Kaffee. Schon wieder.

Selbstverständlich ist unsere zwanghafte Ordnung erdrückend. Abfolgenwahnsinn zum verdammten Wohlbefinden. Die weisse Kugel löst die Gelbe ab, mitten im Geschehen. Noch eine Sucht im saftigen Zukunfstshokuspokus. Freya sieht uns an, vom zweiten Zimmer aus. Geblendet, weil wir uns gegen Vorhänge sträuben. Die Blechwellen glitzern vom anderen Ufer herein. Wir fragen sie, was los sei. Das Übliche. Der Pfirsichsaft am Fenster fängt langsam zu gären an. Genau so wie wir. Ungewissheit sprudelt von Glasboden Richtung Freiheit und macht die Luft ein Jahr älter. Jetzt wollen wir es nochmal wissen, fällt uns wieder ein. Kurzer Ansturm von Selbstmotivation weil Beobachtung aus nächster Nähe. So wirken als würden wir.

Die am Himmel sind immer die Krähen, die in der Hauswand immer Ungeziefer. Stufenweise Weberknechte gekleidet im kühlen Orange der Morgendämmerung. Freya liebt Nebel, nur bei Vollmond. Seltene Angelegenheit. Für andere Phänomene ist sie nicht zu begeistern, wofür auch.

Der siebzehnte Sonntag zieht vorüber, erzählt uns Geschichten von damals, Vorfreude für die Zukunft. Die Steuer erklärt sich im Nebenzimmer selbst. Grünes Licht zittert von der Südseite und trägt uns weiter in Entfernung. Freya schlägt uns vor, eine Kunstpause zu machen. Mit Druck hält sowieso alles besser.

Kürzlich kam das Atmen einer Absurdität gleich. Die Luftaneignung stellt eine minütliche Gewohnheit dar, die, wäre dies nicht die Machenschaft eines Automates, eine sehr tödliche Angelegenheit sein könnte. Solche Gedanken verirren sich meist zwischen „nichtexistent“ und „arbiträr“.

Entlang der Allee am immer gleichen Schlagloch halten, zur Kontrolle. Verfolgung von verlorenen Wörtern, die keiner besitzen möchte. Aus dem letzten Winkel der Sammlung, unvergesslich. Freya verheddert ihre feuchtwarmen Finger mit unseren ausgekühlten. Schwindelerregende Führung unter Einfluss des Nachthimmels.

Später bei einer Tasse Tee Sudoku.

Zahlen zählen ist angenehmer als Buchstaben sammeln und ordnen. Kurzfilme von eckigen K und schwangeren B lassen uns nicht träumen. Statische X wechseln sich mit eleganten G im visuellen Geschehen hinter den Augen ab. Teilweise so tief, dass es uns vom Orgasmus abhält. Sieben Uhr siebenundzwanzig ist die meist gesehene Zeit unseres Weckers. Ohne Beweis ist das ganz klar die Wahrheit.

Die Motten begrüßen uns ausnahmslos, Freya mahlt Bohnen. Quietschend. Aufguss und Wirkung genießen, dem hypnotisierenden Wasser danken. Hals drehen, das beruhigende Geräusch von Nacht verschenken.

Wir packen den Rucksack voll mit Mysterien und gehen auf Suche. Sanftes Moos klettert Wände hinauf zum blauen Licht. Vater schnürt die Tür hinter dem Nacken zu, schnipst vier Mal die Finger. Feuer in der Stimme. Freya fliegt vorbei, wie sonst immer. Steppmusik der Stiefel am Asphalt. Aufgeräumte Wesen schreiten vorüber und sparen sich viel Mühe. Bald müssen wir uns gehen lassen, seither viel passiert. Aus „wir" soll „ich“ werden. Das sich-nicht-hinein-steigern und in-den-kalten-Brunnen-setzten, hängt uns tief aus der Kehle.

Offenes Knacken aus halbtoten Pflanzenresten, zur Feier des Zyklus. Kalender drehen sich zu unseren Gunsten. Die Gewohnheit will uns verlassen, zum Glück können wir noch schreiben. Verschlossene Lebensträume isolieren sich für die Ewigkeit, tragen Tinkturen zusammen und mischen die Sehnsucht der Unmöglichkeiten. Langsam schwinden unsere Stimmen, die keiner hören kann. Zwei von fünf verabschieden sich mit maßlos überreiztem Lächeln. Sie wartet schon auf uns. Freya, ich nenne sie so, aber nicht weil sie so heisst. Alles stimmt und darauf gibt es keine Antwort. Singend lädt sie uns ein, Ölfarben zu mischen. Wassergelb, Ultramaringrün und Sonnenbraun, in dieser Reihenfolge. Jetzt müssen wir in vielen Sprachen laut lachen. Das Verlangen kommt auf, nach Niederschrift. Wir sprechen uns selbst zu, mit Zuversicht lallend, tanzend. Keine Zeit mehr, irgendwer zu sein. Uns einigen und ineinander stülpen. Take yourself away.

Wenn wir träumen, glühen wir vor Wärme, sagt Freya. Die Herrschaft mit anderen zu teilen fällt uns nicht leicht, trotzdem muss es passieren. Der Mond leuchtet, es riecht nach Holz und Maroni. Das Zepter ist abgegeben, dann Entspannung. Die Pflicht für Momente vergessen, fliehen von uns selbst. Wir sehen uns zu, wie im tragischen Film, es ist 10 Uhr abends. Durch das Fenster tauschen sich Luftgespräche aus. Wasser heult einladend in das Bett, rauscht weiter, ohne sich jemals zu beschweren. Die kleinen Antikörper bringen uns um den Verstand, sie wissen wenig und löschen lang. Zusammenkunft für wen auch immer. Leer durch chemische Reaktionen. Wir schlafen immer sachter und bekämpfen keinen Hirnkrieg mehr. Haben eine weitere Stimme verloren, die letzte scheitert immer schöner. Plastikmusik fühlt sich durch die Sphären der Gehirnbreimasse. Honig tropft aus dem Wasserhahn, ein Glas voll Süße. Wieder ein absurder Morgen. Wieder keine Stimmen. Wieder Stille.

Ich, als einziger Protagonist wurde zum König meiner eigenen Gedanken gekürt.

Freya nennt mich nun das letzte Individuum, weil ich so heiße. Aus Gewohnheit höre ich auf die Stimmen, die mich alleine lassen. Schlimmes Schweigen der Welt lässt mich überirdisch in Vergessenheit schweben. Explodierende Ideen und Freiheiten, Bäume pflanzen. Lichter sind laut, Gefühle wirbeln durch mikroskopische Partikel in den Sehnerv. Es stört keinen, dass ich einfach so am Asphalt liege und höre, wie die Sonnenstrahlen schreien.

Freya beobachtet mich auf Teufel komm raus, weil ich jetzt geheilt bin. Ausgesprochen einsam bin ich. Alle sagen das ist richtig so. Rauche mit Vater Zigaretten. 
Genieß-es-so-lange-du-noch-kannst-Gespräche über Jugend und Pflichtversprechen mit sich selbst. Unangenehm, alles alleine zu vollziehen. Fast sagt er sowas wie „intensive Gedanken führen zu instinktivem Verhalten“. Kaffee über Bord schütten und Kopfüber am brennheissen Holz hängen.

Tabus auswendig lernen, Deja-vus ignorieren. Zufällig Vollmond, total verliebter Gedanke. Fenster und Türen schließen sich von selbst und Wasser kocht über. Salz ist voller Weisheiten.  Leise flattern Schmetterlinge unter meinem selbst gestrickten Pollunder. Quetsche sie bis zum Künstlertod.

Ich bin Nachbar der Krankheit des Geistes. Was sie so macht, hab ich niemals gefragt. Nebenwelt im Nebenhaus. Zukunftsverschiebungstatsache.

Mir fällt auf, dass ich nicht weniger hab, obwohl ich alleine bin. Gleichzeitiges Freya-Vater-Lächeln. Ich mach mit, weil ich muss. Langsamer atmen, damit ich schlafen kann, ohne Fokus. Tauchgang im Verarbeitungsmodus. Fließendes Wasser, wo ich täglich vorbeischreite. Kann mich erinnern, an nichts und sterbe wegen allem. Freya meint nur gut, dass ich schreiben kann.

Urlaub in fremden Träumen.

Statisch geordnete Töne bewusst aneinandergereiht. Ich will tanzen, abstraktes Grinsen aus allen Richtungen. Russisch fliegt sanft durch die Luft. Der Gedanke noch warm. Treffe ein südliches Kunstwerk im schwarzen Rollkragenpullover. Stell mich vor als Ich-kann-schreiben-Literaturfetischist. Wir sprechen in Reimen ohne Stil oder Kultur. Erzähle von dem „uns“ und dem finalen „ich“.

Auch ohne Verständnis, versteht er. Sieben Personen besitzt er. Das weiss keiner, sagt er.

Freya sehe ich nicht. Tatsächlich existieren mehr Personen als Menschen. Fühle das jünger werden in den Zähnen. Alles um uns wird schneller, nimmt sich in Acht und vergisst. Aus „ich“ wird wieder „wir“.

Bis heute kenne ich seinen Namen nicht. Er trägt sein Mysterium im Rucksack und lässt ihn niemals los.

Nachts treffe ich ihn im Schlaf und wir erzählen uns Geschichten aus der Hauptstadt, die erst passieren werden sollen. Ohne jemals Worte zu verwenden, wirken wir, als würden wir.

 .

Sophia Hauser

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freiTEXT | Isabelle Meyer-Thamer

Lücke

Die Holztüren des Kleiderschranks standen offen, zwei Drahtbügel mit Kleidern lagen auf dem Ehebett, das eine zu eng, das andere zu weit. Sie waren grau oder beige und rochen nach Anis wie alles im Elternschlafzimmer. Im gedimmten Licht, Mutters Migränelicht, war schwer zu erkennen, ob meine Mutter lächelte, als sie sagte: „Probier das hier zuerst an, die Farbe steht dir, Ronja.“

Ich war immer die Erste, die zurechtgemacht wurde. Wegen der langen Haare, sagten die Brüder. Kurzgeschoren und gleichmütig schliefen sie aus, während ich in aller Frühe Kleider anzog, die mir nicht passten. Das hatte nichts mit meinen langen Haaren zu tun, dem hellbraunen Mädchenhaar, das Mutter mir zu einem straffen Dutt hochsteckte, sodass die Kopfhaut ziepte. Es hatte mit den Hüften und den Brüsten zu tun und mit den verschobenen Formen, die unlängst dazwischen lagen, zwischen zu eng und zu weit, zwischen einschnüren und nicht ausfüllen, zwischen beige und bizarr. Aber davon erzählte ich den Brüdern nicht.

„Häng nicht so rum, Bauch einziehen,“, sagte meine Mutter, „dann wird’s schon gehen.“

Nachdem ich staffiert und frisiert worden war, durfte ich den Hunden nicht zu nahe kommen, zwei trägen, alten Schäferhunden des Stiefvaters. Wegen der Haare und des Speichels, sagte der Stiefvater schmunzelnd. Die vertrugen sich nicht mit steifem Leinen und sauberen Mädchenkörpern.

Also legte ich mich auf das straff gesteckte Überbett und sah meiner Mutter bei den letzten Korrekturen zu. Korrigiert wurden: Farbe und Schwung der Augenbrauenbögen, Kontur der Wangenknochen, das allgemeine Erscheinungsbild der von Jahr zu Jahr an Spannkraft einbüßenden Haut. Besonders gefiel mir die große Puderquaste, mit der Gesicht, Hals und Dekolleté abgeklopft wurden. Meine Mutter sah erleichtert aus, als sich unsere Blicke schließlich im Spiegel begegneten, und irgendwie auch fremd.

Und weil der Moment so günstig erschien wie jeder andere, fragte ich: „Kommt Tante Vera heute auch?“

Mutter sagte: „Das knittert, wenn du dich da so hinfläzt.“, und verließ das Elternschlafzimmer.

Der Stiefvater brachte die Hunde in den Zwinger im Garten und die Brüder wurden geweckt. Sie stiegen in gradlinige Hosen und gradlinige Hemden, die ihnen weder zu eng noch zu weit

waren. Und sie fragten: „Sehen wir nicht piekfein aus, Ronja?“, bevor sie in schallendes Gelächter ausbrachen.

Die Familie kam, die Großeltern, die großen Cousins, die Onkel und die Tanten, bis auf eine. Sie brachten Torten und Sträuße, selbstgebacken, selbstgebunden. Die waren für nachher. Bis dahin durfte nicht gekleckert und nicht geknittert werden. Das sei doch nicht nötig gewesen, versicherte Mutter jedes Jahr aufs Neue, aber immer erst dann, wenn der Esszimmertisch voll damit stand.

„Kommt Tante Vera heute auch?“, fragte ich die Großmutter, die in der Küche Sektflöten und Kaffeetassen füllte. Ihre Hände zitterten, aber sie goss die Flüssigkeiten ohne Verluste.

„Wie groß du geworden bist, Ronja,“, sagte sie ergriffen, „fast wie eine Erwachsene!“

Im Wohnzimmer wurden schließlich die schweren braunen Vorhänge auf beide Seiten der bodentiefen Fenster geschoben. „Goldene Stunde“, sagten die Tanten und das Licht schien schmeichelhaft und irgendwie feierlich zu uns herein. Dann wurde das schwere braune Sofa vor und zurück gerückt. „Goldener Schnitt“, sagten die Onkel und alles war bereit für das Foto.

„Schnapp-Schuss, Schnapp-Schuss!“, skandierten die Brüder und die großen Cousins im Chor. Es lag etwas Beschwörendes, Bedrohliches in der Art, wie sie mich dabei ansahen. „Los, Ronja, Schnapp-Schuss, Schnapp-Schuss!“ Sie brachen in Gelächter aus, als ich den Kopf schüttelte und zurückwich. Mein Bauch tat plötzlich weh, vielleicht aber auch den ganzen Morgen schon.

Und dann kam die Fotografin mit der Kamera, dem Stativ, den Objektiven und einer Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen, die mir bedeutsam erschien und wie ein Teil der Ausrüstung.

„Fertig fürs Foto?“, mahnte Mutter mit ihrem Migränelächeln.

Zeremonielle Anordnung der Menschenkörper, auf dem und um das Sofa herum. Onkelbäuche wurden eingezogen, Tantengliedmaßen wurden angewinkelt. „Bild-kom-po-si-tion, Bild-kom-po-si-tion!“, skandierte die Fotografin munter.

Ich hielt es nicht länger aus, flach in das zu enge Kleid zu atmen, ich fragte: „Kommt Tante Vera heute nicht?“

Tante Vera hatte auf den Familienportraits stets in der Bildmitte, Seite an Seite mit meiner Mutter, auf dem Sofa gesessen. Mutter bewahrte die Fotos in einer flachen Schatulle auf, separat von den anderen Fotos. Jahr für Jahr kam ein neues dazu, das wie die alten aussah. Dasselbe Foto, wieder und wieder und nun nicht mehr?

Der Stiefvater sagte: „Verdirb deiner Mutter nicht ihren Tag.“

 .

Isabelle Meyer-Thamer

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freiTEXT | Clemens Gartner

Solche Antworten

Listenschreiben hat ja für viele was Kathartisches. Es ist so ein Allheilmittel für die kleinen Krankheiten im Kopf. Das hat schon vor tausend Jahren einer gewusst, und beim Begutachten seiner neusten Schöpfung unrund das Wichtigste aufgelistet.

Ich sehe mein halbdurchsichtiges Spiegelbild in einer Duschkabine stehen. Daneben eine Kloschüssel und daneben noch eine. BAD&SANITÄR WIMMER – ist mir bisher noch nie aufgefallen. Wahrscheinlich weil ich den Weg nach Hause sonst entweder nicht zu Fuß oder nicht alleine gehe. Beides bedeutet: nicht aufmerksam. Ich suche den Moment nach einem Thema ab. Eigentlich ganz logisch. Ich schiebe mein Handy aus der Hosentasche und öffne die Notiz-App.

sachen die meistens so sind aber nicht immer

  • das zusperrding an der innenseite von klo und badtüren steht waagrecht wenn zugesperrt ist
  • links heiß rechts kalt am wasserhahn
  • ich nehme die straßenbahn von alex zu meiner wohnung

 

Das Handy in der Hand und die Hand in der Jackentasche fällt mir auf, dass hinter der nächsten Ecke schon der Fruchtplatz liegt. Ich habe ihn so getauft, weil in seiner Mitte für gewöhnlich die Obstverkäuferin ihren Stand aufgebaut hat. Mit Sonnenbrand im Gesicht oder Frost auf dem Oberlippenbärtchen versorgt sie das ganze Jahr über Kundschaft mit allem, was gerade wächst, lächelnd unter ihrem ausgeblichenen Frucade-Sonnenschirm. Fest mit dem Asphalt verschmolzen seit Anbeginn der Zeit. Man hat den Platz und die Stadt und die Welt einfach um sie herum gebaut. Alex hat das nie verstanden.

  • habe mein handy in der hosentasche
  • die obstverkäuferin ist an ihrem platz
  • habe beim über den platz gehen alex an der hand

Ich bleibe an einer Bodenmarkierung stehen. Genau an der Stelle, wo ich Alex zum ersten mal gesehen habe. Erst traf mein Blick nur einen beliebigen Hinterkopf, dann Hände, die beim zahlen ein Büchlein aufgeschlagen auf den Tisch legten. Eine in zwei Spalten geteilte Einkaufsliste auf kariertem Papier. Links W rechts B in schwarzen, dicken Buchstaben. Ich stieß ein fragendes Geräusch aus, die hagere Gestalt zuckte zusammen und das kleine Buch fiel auf den Boden. Ich wollte mich danach bücken aber die Hände schossen sofort nach unten um es wieder an sich zu reißen. Ein altbekannter Trieb pochte versessen darauf, die Liste zu verstehen. Erst mit einem Nachdruck, der, wie mir Alex später einmal beichtete, nicht ganz unbedrohlich dahergekommen war, bekam ich eine Erklärung. Ich gehe weiter und ändere den Titel meiner Liste (oft statt meistens), schnaufe, und ändere ihn wieder zurück.

  • fange an zu lächeln wenn ich an alex denke

 

„In die linke Spalte schreibe ich Sachen die ich will, in die rechte, die ich brauche. Naturgemäß füllt sich die linke Spalte immer etwas leichter. Sind beide gleich auf, gehe ich einkaufen. Ich besorge alles was ich brauche, und die Hälfte der Sachen die ich will. Bei Ungeraden runde ich auf“

„Aber überschneiden sich die Spalten nicht manchmal? Man braucht doch auch Dinge die man will und umgekehrt?“

„Das entscheidet sich von ganz alleine. Wenn ich den Stift nehme, weiß meine Hand schon was sie wohin schreibt“

Solche Antworten waren es immer. Unbemerkte Widersprüche. Kleinste Bewegungen. Vor ein paar Wochen, als wir beim Schlafengehen einen unwichtigen Streit ausschwiegen, fragte er vorsichtig, ob die Obstverkäuferin so was wie eine Göttin sei. Ich antwortete ihm mit einem Kuss auf die Stirn.

  • alex geht alles rein pragmatisch an (und nervt mich damit)

Feiner Nieselregen tippt in die Notizen und knistert auf dem frischen Teer zu meinen Füßen. Ich lösche die Willkür vom Display und flüchte die Stufen runter zum Kanal, weil mir vom Straßendampf schlecht wird. Der Umweg führt mich einmal mehr an einen Wendepunkt. Vor dem Café, in dem Alex mir vorgeworfen hatte, in meine Küsse mische sich in letzter Zeit immer wieder eine gewisse Härte, die er nicht zuordnen kann, hole ich mein Handy heraus. Aber in Alex Welt gibt es keine Vorwürfe, nur unschuldige Beobachtungen. Allein mein Wissen ließ seinen Blick aus einem wertenden Winkel kommen.

  • teer riecht irgendwie gut
  • lasse mein handy bei regen eingesteckt
  • spreche offen über meine gefühle mit alex

In dem kleinen Park vor meiner Wohnung zerrupft eine Krähe irgendwelche Überreste, schüttelt sie mit dem Schnabel und verteilt Fetzen über die Wiese. Ein paar mehr gesellen sich dazu um sich an dem Spiel zu beteiligen. Als ich näher komme wird die Herde zum Schwarm und fliegt kreischend davon. Seit Generationen lebt hier dieselbe Krähenfamilie und teilt sich alles was im Gras zu finden ist. Ich vergesse Alex Zweifel daran, als die Vögel wieder von ihren Bäumen segeln. Im Aufzug sehe ich mein Spiegelbild, diesmal ohne Transparenz.

  • lift ist kaputt
  • bleibe kurz im park stehen und schaue den krähen zu
  • alex ansichten machen mich traurig

Das entfernte Rattern eines Presslufthammers erinnert mich an einen sonnigen, kalten Nachmittag auf Alex Balkon. Ich machte ihn auf einen morschen Balken im offenliegenden Dachstuhl an der Baustelle gegenüber aufmerksam. Er wies mich an, nicht mit dem Finger darauf zu zeigen, sondern seinen Blick mit einer Handbewegung zu führen. Es war ein guter Ratschlag. Ich ärgerte mich. Alex geht es nie darum Recht zu haben. Er möchte das Bestmögliche einer Situation. Ich führte seinen Blick mit einer Handbewegung auf meine Nase. Alex schaute auf den Boden. Ich versuchte mit der kalten Luft einen Ring zu blasen. Ich möchte meine Welt nicht optimieren lassen.

  • den ganzen tag baustelle
  • nehme mir alex ratschläge zu herzen

Gemeinsam mit der Liste ruhe ich bis zum Abend. Erst im Bett bekomme ich Mitleid mit den Punkten, die schon seit Wochen auf eine Form gewartet hatten. Ich gehe sie nochmal sorgsam durch, gebe jeder Silbe ihren verdienten Laut. Bei jedem Alex bemühe ich mich besonders. Ein Paar Autoscheinwerfer wandert langsam über die Wände, erhellt den Raum für Sekunden und lässt ihn finster zurück. Auch ich hatte Alex leuchtende Umrisse vor die Nase gezeichnet, zu vage um sie zu greifen, zu schnell um sie zu verstehen. Der Stein von meinem Herzen liegt jetzt schwer auf seiner Brust. Diesmal ist es der stinkende Dampf meiner Anmaßungen, von dem mir schlecht wird. Ich schalte mein Handy aus und lasse es auf den Teppich fallen. Zwei letzte Einträge drängen sich auf und lassen mich nicht einschlafen. Ich denke sie in das Dunkel an der Wand.

  • alex ist der kühle von uns beiden
  • beziehungen enden bei mir mit tränen

 .

Clemens Gartner

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freiTEXT | Katrin Krause

Die Klavierlehrerin

Ludwigs Hobbys waren Straßenverkehr und tote Tiere. Das waren überhaupt die einzigen Dinge, für die sich Ludwig wirklich interessierte. Seine Mutter Christel machte sich deswegen Sorgen. Sein Vater Michael schenkte ihm deswegen zu Weihnachten ein Straßenschilder-Set für Kinder. Darin enthalten waren:

1 x Vorfahrt gewähren
1 x Beginn eines verkehrsberuhigten Bereichs
1 x Achtung! Zebrastreifen!
2 x Stoppschilder
1 x Rote Ampel
1 x Grüne Ampel
1 x Verbot für Fahrzeuge aller Art
1 x Verbot der Einfahrt
6 x Pylonen

Die grüne Ampel und das Vorfahrt-gewähren-Schild ließ Ludwig in der Garage seiner Eltern stehen. Mit den Stoppschildern spielte er ausgiebig. So wurde die verkehrsberuhigte Zone vom Kalkofen 19 bis zum Kalkofen 67 bald zum Verkehrsparkours für die autofahrenden Nachbarn. Sobald Ludwig Autos kommen hörte, stellte er ein Stoppschild, alle Pylonen und eine rote Ampel am Anfang der Straße auf. Das Andere behielt er in der Hand und lief damit vor die Motorhaube des Verkehrssünders. Wenn der dann hupte, oder vorbei fahren wollte, starrte Ludwig ihn einfach nur an. Er starrte mit seinen alpinblauen Augen durch die dicken Brillengläser in erbeerroter Fassung und dem Autofahrer wurde kalt.

Manchmal verteilte Ludwig auch Strafzettel. Geschrieben auf den gelben Post-ist seines Vaters. Da standen dann Dinge drauf wie: "Sie standen im absoluhten Halteverbot!" oder "Sie solten ihren Fahrstiel überdenken" oder "Ist Ihnen das Leben ihrer mit Menschen egal? Schämmen sie sich."

Die Post-its fanden die Nachbarn dann regelmäßig in der Post. Manchmal eingeklemmt unter den Scheibenwischern ihrer Windschutzscheiben. Wenn Christel Göbel-Moser beim Abendessen vorsichtig anmerkte, dass man doch die Nachbarn nicht so terrorisieren könne, sagte Michael Göbel-Moser: "Warum denn nicht? Wenn die doch alle fahren wie 'ne gesenkte Sau? Die sollen froh sein, dass sich hier mal jemand um Ordnung kümmert. Das Taschengeld aufstocken, sollte man dem Jungen." Dann versank Christel regelmäßig im Kartoffelbrei, den sie immer per Hand zehn Minuten länger stampfte, als eigentlich nötig gewesen wäre. In Ludwigs Gesicht fand man dann so etwas wie Zufriedenheit, nur steifer.

Frau Göbel-Moser tat sich überhaupt sehr schwer irgendwelche Gefühle in dem milchigen Gesicht ihres Sohnes zu erkennen oder sogar zu deuten. Obwohl die Haut des Kindes beinahe durchsichtig schien, war das, was dahinter lag für sie nicht zu erreichen. Ein Junge aus hellblauem Marmor und nur der Vater hatte einen Meißel.

Was wollte sie da schon mit ihrem Seifenwasser ausrichten.

Was Christel Göbel-Moser aber nicht wusste, war das, was letzten Samstag passierte. Ludwig hatte Verkehrskorrektur gespielt und ein Nachbar hatte sich zweimal überlegt, ob er heute wirklich noch einkaufen gehen müsse. Auf der Ecke Kalkofen - Tomborn hatte Ludwig auf der sauberen Straße ein braunes Häufchen entdeckt. Als er sich näherte bemerkte er, dass es eine überfahrene Kröte war.

Plötzlich begann Ludwigs Herz zu schlagen. Das Blut pumpte aus der Körpermitte in seine Gliedmaßen, in seinen Kopf. Beinahe konnte er es rauschen hören. Als er vor der toten Amphibie stand, spürte er sowas wie Glück, nur härter. Er beugte sich über sie. Sah ihren weichmatschigen Fadendarm, der sich am unteren Bauch herausquirlte. Er wollte ihn berühren, daran ziehen, wollte das Tier aufribbeln an seiner Laufmasche, wie einen Pullover. Bis es nicht mehr war, als schleimiger beiger Faden in seinen Händen. Die Augen waren nicht beschädigt, sie guckten so dunkel, dass es Ludwig interessiert hätte, einmal in den Raum dahinter zu sehen. Er wollte es machen wie in seiner Straße. Aus seinem Kinderzimmer beobachtete er immer, wie in den Zimmern das Licht ausging. Die Mädchen von gegenüber zogen sich immer um zehn Uhr ihre Schlafanzüge an. Er liebte die kurzen Momente, in denen sie da standen, in ihren Unterhemdchen. So sah man sie auf der Straße nie. Es war ihm dann, als wäre nur er eingeladen, sie so zu sehen. Dann ging das Licht aus und das war Ludwigs Lieblingsmoment. Er guckte dann noch eine Weile in die dunklen Zimmer und bewegte sich nicht. Er blinzelte nicht mal. Er lag im Dunkeln mit kalten Augen und starrte in die Richtung, in die man tagsüber nicht starrt. So wie die Kröte hier jetzt in den Himmel starrt. In ihrem Krötenleben hat sie das sicher nie getan.

Wieso auch, wenn die Erde viel weicher ist.

Ludwig hatte eine Idee. Er lief in den Garten seiner Eltern und brach einen weichen Ast aus dem Weidenkätzchen. Hart und biegsam. Mit einem spröden Ast ließ sich nichts anfangen, das wusste er schon.

Die Spitze des Astes führte er ein, in den leicht geöffneten Mund der Kröte. Da zuckte es in ihm, wie es in anderen Kindern zu Weihnachten zuckt. Dann spürte er einen Widerstand und fragte sich, was das wohl sei, aber er drückte fester. Und fester. Es knackte. Eine Membran riss. Jetzt ließ sich das spitze Weidenkätzchen tiefer einführen. Mit dem Ast in der Kröte fühlte es sich an, als lebte dort noch etwas.

So weich, so beweglich. Die Darmschlingen wanden sich wie ein Nest junger Schlangen um das geschmeidige Kätzchen. Manchmal drückte er eine Windung beiseite, manchmal durchstach er sie. Dabei mochte er das eine nicht weniger, als das andere. Beim letzten Widerstand, beim letzten Stoß, rief Christel ihn mit ihrer brüchigen Sägestimme. Er hasste seine Mutter. Er schämte sich für sie. Er stieß den Stock durch das weiche Tier. Die vom Gedärm eingeschmierte Spitze erblickte ruckartig das Tageslicht. Er ließ den Stock fallen, hoffte, dass niemand die Kröte wegräumte und rannte zu seiner Mutter. Der Nachbar hatte Ludwig beobachtet und entschied heute wirklich nicht mehr einkaufen zu gehen.

Im Hausflur der Göbel-Mosers stand Christel und guckte blödglücklich wie ein Lamm. Neben ihr stand das Nachbarmädchen, das Ludwig schon im Unterhemd kannte. Sie trug ein Sommerkleid und lächelte wie eine Sonnenblume. Wahrscheinlich wusste sie, dass sie schön war. Ludwig konnte den linken Träger ihres Unterhemds erkennen.

"Das ist Charlotte", sagte Christel als würde nun endlich alles gut werden. Ludwig starrte auf den Träger ihres Unterhemds. Charlotte sah auf den Boden. "Charlotte wohnt gegenüber und hat sich bereit erklärt dir ein paar Klavierstunden zu geben", strahlt Christel mit ihrem so bemühten Hausfrauengesicht.

"Hallo Ludwig. Ich freue mich schon darauf."

Charlottes Stimme war ganz anders, als Ludwig sich das vorgestellt hatte. Tiefer irgendwie. Nicht so schrill wie die seiner Mutter. Ludwig starrte auf die beiden Schwellungen unter dem Sommerkleid unter dem Unterhemd. Charlotte sah Frau Göbel-Moser an: "Wann sollen wir denn anfangen?"

"Na, wie wärs mit jetzt gleich? Das Klavier steht im Arbeitszimmer. Die sieben Euro gebe ich dir, wenn ihr fertig seid."

"Gut. Ludwig, kommst du?"

Er lief Charlotte hinterher und versuchte dabei so dicht hinter ihr zu bleiben wie möglich. Er konnte den Flaum in ihrem Nacken sehen und roch ihren frischen Mädchenschweiß. Ob die Kröte wohl noch da war, wenn er zurückkam? Charlotte rückte zwei Stühle ans Klavier. Aber sie standen zu weit auseinander.

Ludwig rückte seinen Bürostuhl näher an ihren. Sie lächelte komisch, setzte sich und stellte eine Reihe merkwürdiger Fragen. Ob er wisse, was Oktaven sind oder wie die Tasten heißen. Die Tasten hießen wie Buchstaben und er wusste nicht was Oktaven sind. Charlotte drückte auf den Buchstaben rum und rückte näher ans Klavier. Dabei schob sich ihr Sommerkleid so hoch, dass man fast sehen konnte, was darunter war.

Ludwig hätte es gern gesehen. Es war etwas Weiches. Das wusste er. Er hätte gerne einen biegsamen Stock gehabt, um ihn darunter zu schieben.

"C, D, E, F, G, A, H, C", sagte Charlotte. Sie drückte fest und machte Töne und bemerkte dabei nicht, dass Ludwig nicht auf ihre Hände sah, sondern in ihren Schoß.

"Kannst du das nochmal machen?", fragte Ludwig.

Charlotte freute sich, dass es so einfach gewesen war, Ludwig für das Klavierspiel zu begeistern. Bei anderen Kindern war das oft viel schwieriger.

Sie drückte auf die 8 Tasten und tat im Anschluss direkt nochmal. "Durch Wiederholung prägen sich Kinder alles besser ein", hatte ihre Mutter einmal gesagt.

Dass Charlotte Ludwig scheinbar für begriffsstutzig hielt, gab ihm genau die Zeit, die er brauchte, um sie ganz genau zu betrachten. Ihre weichen Schenkel und das Geheimnis, das darunter lag. Ihre entspannte Ober- auf ihrer dicken Unterlippe. Da hätte Ludwig gerne mal einen Stock reingeschoben, um die Lippen zu öffnen, um sie voneinander zu trennen und zu sehen, was sich darin verbirgt. Und dann würde er den Stock tiefer schieben, um zu sehen ob eine Charlotte so weich ist wie eine Kröte.

Oder ob sie aus etwas Anderem gemacht ist.

Es zuckte in Ludwigs Hose. Er wusste, es war sein Penis. In manchen Nächten war das schon einmal passiert. Er langte hin. Aber durch die Hose war das nichts. Er zog seine weiche Hose ein Stück runter und spürte, dass sein Penis schon so geschmeidig hart war wie ein Ast vom Weidenkätzchen aus dem elterlichen Garten.

"...G, A, H, C", sagte Charlotte ein letztes Mal. Dann sah sie rüber. Ludwig starrte sie an und hatte seinen halberigierten Kinderpenis in der Hand. Plötzlich wurden ihre Augen groß und dunkel. So groß und dunkel, wie die eines überfahrenen Tieres.

Ludwig dachte daran, wie jede Nacht in ihrem Zimmer das Licht ausging. Dann griff er mit der linken Hand zwischen ihre Beine. Er tat es so schnell und so fest, als wollte er eine unsichtbare Membran durchstoßen.

Seine Finger waren kalt. Charlotte schrie schrill und sprang auf. Sie rannte raus. Ihr Schrei erinnerte Ludwig an die Stimme seiner Mutter. Er ekelte sich. Dann ejakulierte er auf das Klavier seiner Eltern.

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Katrin Krause

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freiTEXT | Claudia Siefen-Leitich

Peter N. kam bis Berlin

„Das geht mir ja alles dermaßen auf die Nerven“, sagte Peter sehr oft, wobei er mit der linken Hand in sein strähniges rotes Haar fuhr, dort verblieb und eine Faust bildete, kurz sich zusammendrückte, um dann die Finger wieder zu entspannen, die einzelnen Strähnen zwischen den Fingern, um dann wieder kurz eine Faust zu bilden. Sein Haar war rot, von jenem Rot, dass man aus der Entfernung für Blond hätte halten können. Aber es war rot, seine Sommersprossen untermauerten diese Feststellung. Die Sommersprossen sah man, wenn man Peter gegenüber stand. Um ihm ins Gesicht zu schauen, musste man wohlwollend den Kopf in den Nacken legen. Das Gesicht war scharfkantig, das Kinn kräftig, die Wangenknochen standen ein wenig hervor und die Augenbrauen bestanden aus langen blonden und grauen Haaren. Und Peter war sehr groß. „Dermaßen auf die Nerven.“

„Ich geh' noch in den Supermarkt. Soll ich Dir was mitbringen?“ Das sagte Peter, und er zog seinen dunkelblauen Mantel an. Aber Peter sagte das nur, wenn er einen mochte. Dann ging er los und es konnte passieren, dass er zurück kam und die Hände in den dunkelblauen Manteltaschen vergraben hatte, vor dem Schreibtisch stehen blieb und sagte, dass es ihm leid täte und er leider im Supermarkt angekommen wieder vergessen hatte, was er denn hätte mitbringen sollen. Dann legte er einem einen Apfel auf den Tisch. Oder eine Tafel Schokolade. Oder eine Packung Zigaretten. „Ist das in Ordnung?“

„Es regnet schon wieder.“ Wenn sich im Herbst die dunklen Nachmittage häuften schüttelte Peter den Kopf und zupfte an den feuchten Beinen seiner Jeans herum. Und er setzte sich, arbeitete zwei Stunden am Computer und stand auf, um einen Kaffee zu kochen. Aus der Küche hörte man dann kurze Zeit später ein wütendes Schnauben. Und er kam zurück und setze sich wieder an den Computer, um eine Stunde später zu sagen: „Es ist kein Kaffee mehr da. Ich geh' gleich noch mal in den Supermarkt.“ Dann ging er wieder los, schüttelte in der Tür noch einmal seine roten Strähnen. Wenn er dann zurück kam stellte er eine Flasche Rotwein auf seinen Tisch, ging noch mal in die Küche, um Gläser zu holen. „Den Kaffee bringe ich morgen früh mit.“ Dann füllte er Gläser, kam zum Schreibtisch herüber und stellte ein gefülltes Glas auf der Tischplatte ab. Peter war eigentlich aus Hamburg. „Du solltest Dir die Haare wachsen lassen“, sagte er und ging zurück zu seinem Computer.

An einem der Abende waren wir wieder lange im Büro und an manchen dieser Abende sagte Peter: „Ich muss da noch mal kurz nachdenken“, und setzte sich auf den Fußboden, streckte die langen Beine aus und legte sich hin. Dann schloss er die Augen und lächelte, winkte mit der rechten Arm herum und sagte: „Komm' her.“ Dann ging ich manchmal zu ihm hinüber und legte mich dazu und Peter erzählte, von seinem Bruder, den er sehr schätzte und von seiner Freundin, die ihn vor ein paar Wochen verlassen hatte. „Das Trinken“, sagte er. Dann stand er auf. „Warum liegst Du auf dem kalten Fußboden?“, und ich streckte ihm beide Hände hin, dass er mir aufhelfen konnte. Aber Peter nahm nur meine linke Hand, zog mich heran und fuhr mit einem Arm unter meinen Rücken, um mich langsam heranzuziehen, immer ein wenig Abstand zwischen seinem Oberkörper und mir haltend. So flog ich in Zeitlupe in die Senkrechte und ich spürte, wie der Boden sich ganz langsam von mir entfernte und ich diesem roten Haar immer näher kam. Wenn ich zu nah war korrigierte Peter den Abstand sogleich wieder auf sein gewünschtes Maß und so verschoben wir uns in immer gleichem Abstand zueinander bis ich wieder auf den Beinen stand. Und schaute ihn an. Und Peter streckte sich wieder und lachte und schüttelte den Kopf. „Lass' uns heute abend noch was trinken gehen.“

Wir waren ins „Diener“ gegangen, mit seinen dunklen Holzmöbeln und holzvertäfelten Wänden, die Autogrammkarten und Fotos von Schauspielern und Opernsängern an den Wänden. „Hier lassen sie einen in Ruhe, und wenn mein Bruder mich besucht, gehen wir oft hierhin.“ Dann saßen wir dort, vielleicht für drei Stunden, wir zahlten und Peter und ich gingen die Strasse entlang bis ich zur U-Bahn kam und er weiter zu Fuß nach Hause ging. Am nächsten Tag sprach er dann nicht mit mir. Aber am Ende der Woche stand er wieder vor meinem Schreibtisch. „Ich geh' noch in den Supermarkt. Soll ich Dir was mitbringen?“

„Ich habe jemanden kennengelernt“, sagte er in regelmäßigen Abständen und hielt seinen Kaffee in der Hand, balancierte das Zigarettenpäckchen in der anderen Hand. „Lass' uns noch eine rauchen bevor Du gehst.“ Dann standen wir am großen Fenster des Büros, um hinauszuschauen. „Mich macht das nur fertig, warum kommt man sich nie näher, wenn man miteinander ins Bett geht?“ Dann rauchten wir in Ruhe zu Ende und sagten nichts mehr. Nach diesem Satz konnte man nichts mehr sagen. Jedenfalls nicht an diesem Abend. „Ich glaube ich brauche einfach nur Urlaub. Ein paar Tage werde ich wegfahren. Mein Bruder fährt mit mir. Ich glaube, darauf freue ich mich.“

Irgendwann rief mich sein Bruder an, den ich nur einmal im Büro getroffen hatte. „Das ist mein Bruder“, hatte Peter gesagt, mehr nicht. Er hatte noch am Computer gearbeitet, dann seinen Mantel angezogen und sein Bruder hatte freundlich in die Runde genickt und zusammen verließen sie das Büro.

„Ich habe irgendwie das Gefühl, dass sie das wissen sollten. Ich habe Peter gefunden in seiner Wohnung. Er hat sich aufgehängt. Ich glaube, mehr will ich jetzt auch nicht sagen. Ich werde jetzt auflegen.“ Den Telefonhörer hielt ich noch eine Weile in der Hand und musste sofort daran denken, wie Peter mich vom Boden hochhob. Ich habe einen warmen Luftzug gespürt.

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Claudia Siefen-Leitich

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freiTEXT | Lavina Stauber

Weil ich an Geschichten über die Liebe glaube

Vielleicht hätte ich erzählen sollen, dass es mein Lachen war. Denn mein Lachen ist fordernd und bricht Deines, nach wenigen Sekunden schon. Mein Lachen übertönt Dein Lachen so überzeugend, so kräftig, dass Dein Lachen gar keine Wahl hat, als sich schnell zu verlaufen. Die zarten Töne des Zweifelns haben gegen die grobe Bestimmtheit meines Lachens keine Chance. Und wenn wir jetzt gemeinsam lachen, spielt es plötzlich doch eine Rolle, wer damit angefangen hat.

Jetzt entspringt mein Lachen meiner Unsicherheit. Es versucht zu verstecken, dass ich nicht mehr sicher bin, ob ich diese Geschichte nicht falsch begonnen habe. Ich wollte, dass diese Geschichte etwas Besonderes wird. Ich wollte, dass diese Geschichte zu unserer Geschichte wird. Ich wollte so sehr, dass diese Geschichte gut ausgeht, dass ich nicht darauf geachtet hatte, ob diese Geschichte überhaupt gut anfängt.

Ich sitze barfuß am Klavier und blicke durch die geöffneten Türen in Gedanken auf meine sonnige Aprilwiese. Es ist Ende Juni und die plötzliche Hitze hat das Gras dort längst verdorrt. Ich spüre die Sonne nicht auf meiner Haut, nur die Kälte der Klaviatur unter meinen Fingern. Dass ich nur wenige Schritte von der Wärme des Sommers entfernt bin, macht es noch unverständlicher zu akzeptieren, dass es gerade richtig sein soll, dennoch sitzenzubleiben.

Das Klavier erinnert mich an Dich. Es ist groß, zu groß für mich, und liebevoll verstimmt. Seine Tasten liegen zu schön nebeneinander, und reagieren doch so geduldig auf meine unbeholfenen Berührungen. Sein Klang ist wohlwollend und stimmt eine Reife an, die ich noch nicht verstehe. Vor allem aber ist es gerade da, für mich, und in seiner Schwerer vermittelt es mir, dass es das noch eine ganze Weile sein wird.

Wir haben uns die Ehrlichkeit erhalten und trotzdem kostet es mich jetzt Überwindung. Plötzlich traue ich mich nicht mehr ganz zu lachen. Ich traue mich nicht mehr ganz zu bestätigen, zu bekräftigen, laut in den Hörer zu schreien: Ja. Du bist schön! Immer noch und jedes Mal aufs Neue.

Du hast ein Hemd getragen, als wir uns das letzte Mal gesehen haben. Aber dann hast Du es ausgezogen und mir erklärt, dass es ein Fehler war. Du hast mir erklärt, wie Dein Leben auf der anderen Seite meines Hörers wirklich aussieht. Du hast mir erklärt, dass die Zeit doch eine Rolle in unserer Geschichte spielt. Du hast mir erklärt, wie der Glaube an das Gute allein manchmal dennoch nicht ausreicht. Und doch haben wir dann beide beschlossen, weiter an das Gute zu glauben.

Du zitierst Tom Jones und ich wünschte, ich würde mit derselben Überzeugung an Shakespeare’s 126 Sonett festhalten. Statt zu antworten, schweige ich. Ich sehe Dich an und es bricht mir mein Herz, zu gehen. Aber nicht zu gehen, würde alles zerbrechen. Unsere feine Blase, die wir mit so viel Mühe und Aufrichtigkeit und Zeit gebaut haben, nur um dennoch zu spät zu sein.

Ein Schatten zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Über der trocknen Juniwiese zieht er seine Kreise, der Bussard, den ich Dir bei einem Wiedersehen so gerne gezeigt hätte. Plötzlich bin ich sehr froh, dass ich nun ihn wiederhabe, meinen Bussard, der noch am Himmel stand, als ich mir so sicher war, dass alles gut sein würde.

Wir sind beide wieder da, wo wir angefangen haben. Wie sind uns wieder sympathisch, weil wir beide Suchende sind. Vielleicht auch deswegen, weil wir an einem sommerlichen Apriltag beide so sehr daran geglaubt hatten, bereits etwas gefunden zu haben.

Wenn ich nicht aufpasse, schlägt mir mein Handy vor, Dich anzurufen. So sehr hast Du Dich über die Zeit, auf die wir in unserem Leichtsinn nie genug geachtet haben, schon in mein Leben geschlichen. Ich blicke auf mein Klavier und stelle mir vor, welche Lücke es bedeuten würde, wenn es eines Tages dort nicht mehr stünde. Doch gerade ist mein Klavier alles, was dem Raum geblieben ist.

Wie gerne würde ich Dich jetzt wieder ganz nah an meinem Ohr haben, Deiner warmen Stimme lauschen und mir vorstellen, wie Deinen Lippen sie berühren. Aber ich muss ehrlich sein, zu Dir und noch viel mehr: zu mir selbst.

Denn ich kann es nicht spielen, das Klavier, das so wunderschön den ganzen Raum einnimmt. Ich habe nie gelernt, es zu spielen, nie gelernt, es zu schätzen. Ich habe es in meinen Besitz genommen und so gerne ich auch über seine Tasten streiche, weiß ich, dass es mir nicht zusteht. Es erlaubt mir nur, von Zeit zu Zeit, vorbeizuschauen. Es ist nicht für mich bestimmt, sondern für jemand anderen. Für jemanden, der es spielen kann.

Während ich aufstehe und zur Türe trete, lasse ich einen Gedanken zu. Den Gedanken, wie es wäre, wenn nicht das Klavier mich an Dich erinnern würde, sondern Dich das Klavier an mich. Und nun ist da die Frage, wenn es anders wäre, ob Du es auch spielen wollen würdest, mein Klavier, dem ich in diesem Moment so gerne über die Tasten streichen würde. Denn wir wissen beide, dass Du mir das eine voraus hast: Du könntest es spielen. Aber nur Du weißt in diesem Moment, ob Du das auch wollen würdest.

Noch immer zieht der Bussard seine Kreise und in meinen Gedanken hänge ich nun der Zeit nach. Ich vermisse Dich, ich vermisse die Aprilwiese und den Gedanken daran, dass noch alles gut ist. Jetzt arbeiten wir daran, dass es eines Tages wieder gut werden wird.

Ich wünsche mir noch immer, dass diese Geschichte etwas Besonderes ist. Weil ich Geschichten über die Liebe liebe, aber viel mehr noch, weil ich an Geschichten über die Liebe glaube. Auch wenn ich übersehen habe, dass es bei Geschichten nicht nur darum geht, ob sie gut enden. Es geht auch darum, ob sie gut beginnen. Es ist so wichtig, wie sie beginnen. Es ist so wichtig, dass sie gut beginnen. Und unsere Geschichte hat nicht gut begonnen.

Unsere Geschichten hätten anders beginnen sollen. Es ist schwer, den Anfang einer Geschichte zu finden. Es ist schwer, die Zeit für einen guten Anfang zu treffen. Denn so sehr wir beide an eine andere Wahrheit glauben wollen, so spielt die Zeit doch eine wichtigere, größere Rolle, als wir es uns eingestehen wollten. Und wenn diese doch unsere Geschichte ist, dann eine, die wir gegen die Zeit verloren haben. Eine Geschichte über das Verpassen und falsche Zeitpunkte.

Als die Sonne hinter die Gipfel der Bäume sinkt und lange Schatten wirft, muss ich ins Freie treten. Um wenigsten einen letzten Sonnenstrahl auf meiner Haut zu spüren. Einen kleinen, weichen Sonnenstrahl, der keinen Schaden mehr anrichten kann und mir in diesem Moment dennoch die Welt bedeutet.

Vielleicht werde ich es eines Tages spielen können, mein Klavier. Aber jetzt ist nicht die richtige Zeit, das Spielen zu erlernen. So wie jetzt auch nicht die richtige Zeit ist, unsere Geschichte zu erzählen.

Geschichten über die Liebe beginnen oft zu spät. Und auch wenn wir daran glauben, dass es gut werden wird, bleibt sie, die Angst, davor, dass auch unsere Geschichte bereits begonnen hat, dass auch wir zu spät sind.

Während ich der Sonne weiter dabei zusehen, wie sie hinter den Horizont sinkt, kommt mir ein Wunsch über die Lippen. Der Wunsch danach, dass unsere Geschichte schlicht noch nicht begonnen hat. Dass wir den guten Anfang nicht verpasst, sondern viel zu früh, viel zu ungeduldig in die Geschichte gestartet sind. Dass wir noch auf den richtigen Zeitpunkt warten müssen, auf den gute Anfang unserer Geschichte.

Mein Bussard kreist nach Sonnenuntergang noch über der trockenen Juniwiese. Seine Beharrlichkeit macht mir Hoffnung. Denn was mich jetzt noch hält, ist der Glaube daran, dass die Dinge, die wirklich gut sind, Zeit brauchen. Dass die Dinge, die wirklich gut sind, nie leicht sind. Und es wäre zu leicht gewesen, wenn ich eines Tages hätte erzählen können, dass es unser Lachen war.

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Lavina Stauber

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freiTEXT | Jasmin Schellong

21 Fußballfelder

Mein Vater ist Polizist und Fußballheld. Er schoss einst das entscheidende Tor um die Bezirksliga-Meisterschaft. Später verteilte er überall auf dem Wohnzimmerteppich Salbe, die er auf seine Blasen auftrug. Meine Oma sagte stets, das sei der Preis des Erfolgs. Will man uns besuchen, muss man in eine bayerische Gegend, die fast so viele Autos wie Einwohner hat, und in der viele Kreuze am Straßenrand stehen. Igel gehören hier zur bedrohten Art. Früher wohnten wir über der Bank. Papas Uniform hing jeden Tag frisch gebügelt auf dem Balkon. Ich glaube, es lag an der Uniform, dass die Bank nie überfallen worden ist. Mama arbeitet in einer Bäckerei. Ihre Arme waren voller Narben, allesamt Brandwunden von den heißen Backblechen. Sie lernte meinen Vater auf der Treppe am Ausgang eines Tanzlokals kennen. Hätte sie doch nur ein wenig von Feng-Shui verstanden, dann wäre ihr klar gewesen, dass dies schlechte energetische Voraussetzungen sind. Meine Eltern heirateten in dem Jahr, als Boris Becker noch Jungfrau war und Helmut Kohl Bundeskanzler wurde. Kurze Zeit später, die Beziehung hatte nicht nur Risse, sondern trug eher das Muster eines Mohnstrudels, schafften sie zuerst die Couch von Ikea, dann mich, und schließlich meinen Bruder an. Menschen merken sich immer den Ort an dem sie sich finden, jedoch nie den Ort, an dem sie sich verlieren. Nicht so meine Mama: als sie dasselbe fühlte, wenn sie Pfirsiche im Supermarkt anfasste, wie wenn sie meinen Vater berührte, wusste sie, dass ihre Liebe zu Ende war. Mit jemandem abzuschließen gelingt erfolgreicher, wenn beide Seiten mindestens mit einem Unentschieden auseinandergehen.

Ich weiß noch, dass er früher nicht einschlafen konnte, ohne dass jemand seine Hände festhielt. Die waren wie warme Kissen aus Fleisch. Man konnte die Unendlichkeit in ihnen fühlen. Jedes Mädchen mit dem ich was hatte, fand ihn total süß. Wikipedia sagt über Menschen wie ihn, dass der Fehler in den Erbanlagen liegen müsse. Das Gen Nummer 21 sei in fast allen Zellen dreifach vorhanden. Ich will das nicht glauben.

Als ihn die Hauptschule an unserem Ort als Schüler ablehnte, war ich traurig. Nicht seinetwegen. Egal wo er war, er kam überall zurecht. Mir taten die Menschen an der Schule leid, würden sie nun doch so viel verpassen. Durch ihn hab ich mehr über mich gelernt, als mir lieb ist. Beispielsweise, dass ich ein eifersüchtiger Mistkerl bin. Mama tat alles für ihn. Geschnittenes Bio-Obst, Reittherapie, integrative Schule. Viele Besuche bei Therapeutinnen-Frauen aller Art - mit körpereinnehmenden Schals. Sie war eine richtige Sagrotan-Mum: bei richtiger Anwendung Effektivität bis zu 99 Prozent. Als er größer wurde, liebte er es, zum Flughafen zu fahren und neue Menschen, die gerade ankamen, anzusehen. Besonders gefielen ihm die verschiedenen Uniformen der Flug-Crews. Erblickte er im Bus eine Person mit ihm verdächtig erscheinenden Leberflecken, empfahl er den Betreffenden unseren Dermatologen, dessen Visitenkarte er immer in der Jackentasche dabeihatte. Er kannte nicht diese Distanz, die uns Menschen trennt, und jeden einsam in seinen Startblock stellt. Er konnte sich unendlich für etwas begeistern. Einmal im Monat gingen wir zum Friseur- er freute sich schon Tage davor. Im Laden kannte jeder das Ritual; nach dem Schneiden Haare in Plastiktüte einpacken.

Wir bewahrten die Tüten im Keller auf. Mein Vater hat sie inzwischen weggeworfen.

Es gibt Tage, die unterteilen etwas in ein Vorher und ein Nachher. Man kann sich für gewöhnlich gut an sie erinnern, weiß, welche Unterhose man anhatte. Es war Freitag mitten im Dezember, im Supermarkt gab es Gummibärchen im Angebot und Schnee hatte die Welt leiser gemacht. Weihnachtsfeier im Verein - ein Anruf von Mama: „Du musst sofort kommen.“

Seit einiger Zeit lebte er unter der Woche in München in einer WG. Er schrieb mir regelmäßig und die Umschläge enthielten immer eine Daunenfeder, die Mitpassagiere in der U-Bahn aus ihren dicken Winterjacken verloren hatten. An diesem Tag war er alleine unterwegs. Das mochte er am liebsten. Den Turtles-Rucksack geschultert, um seinen Hals baumelte der laminierte Adressanhänger mit Mamas Schrift. Vermutlich wurde ihm schwarz vor Augen. Er suchte Halt und hatte sich im U-Bahnhof in einen Passbildautomaten gesetzt. Sein Herz war krank. Die Narbe nach seiner Herzoperation sah aus wie eine Laserschwert-Wunde. Sport konnte er keinen machen, trotzdem war er bei allem dabei. Im Urlaub ruderten wir mit ihm aufs Meer hinaus. Am Frühstücksbuffet freute er sich über die kleinen Zucker- und Salzpäckchen, die er sich manchmal in den Bauchnabel schüttete. Ich erinnere mich, wie wir abends immer diese Erklär-Sendung zusammen ansahen, die Größenvergleiche stets mittels Fußballfeldern vornimmt.

Kirchen sind kalte Orte, es sind die Menschen, die sie erst wärmer machen. Niemals hab ich in unserer Kirche mehr Leute gesehen, als an diesem Tag.

Fast jeder hatte eine anekdotische Geschichte über ihn parat. Seine Beerdigung verlief trotzdem wie eine Preisverleihung: Zuerst wurde geheult, dann der Familie gedankt, und am Ende gegessen. Damit Mama den Tag durchstand, holte ich ihr vorher an der Tankstelle einen Protein-Riegel. Ich war vorbereitet; trug an diesem Tag so viel Synthetik wie ich konnte, und die elektrostatische Entladung half mir jedem Händeschüttler an seinem Grab einen kurzen Schlag zu versetzen.

Mama und ich sind umgezogen. Das Haus hat einen Aufzug mit Notfallknopf. Ein Schild verspricht 24-stündige Erreichbarkeit. Neulich kam ein Brief. In diesem wurde gebeten, den Notfallknopf wirklich nur im Notfall zu betätigen. Mama hatte immer wieder den Knopf gedrückt um mit jemanden zu sprechen. Sie hat mich nun gebeten, dass ich sie für einen VHS-Sprachkurs anmelde.

Ich kann seither nicht gut alleine einschlafen. Vor einiger Zeit habe ich entdeckt, dass man bei Thalia bis zu drei Stunden schlafen darf, bis man angesprochen wird. Natürlich sind wir noch eine Familie; ich fühle mich dennoch wie die Menschen im Film E.T., als er in sein Raumschiff steigt und sie zurückbleiben. Andere Leute sind mir seit jeher fremd. Wenn ich mit ihnen zu tun habe, komme ich mir vor, wie das Rettungsboot im Film Titanic, dass sich seinen Weg durch die gefroren Körper bahnt.

Seine Zellen waren dreifach, deshalb konnte er sich verschenken. Ich muss mich wie alle, die zu wenig haben, gut verkaufen.

bereits erschienen in &radieschen #56

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Jasmin Schellong

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freiTEXT | Monique Wesemaël

Sternstunde

Er hatte sich auf seinem Bett ausgestreckt. Unter sich fühlte er die feste Matratze, die ihm Halt gab. Sicherheit. Sein Blick fixierte die flimmernde Dunkelheit, die über ihm durch das Dachfenster hereinschwebte. Unzählige Sterne, alte Bekannte, leisteten ihm Gesellschaft, zwinkerten mit kaltem Licht zu ihm hinunter. In Gedanken sortierte er sie nach Namen, identifizierte Sternbilder, die er immer wieder stolz und mit Freude benannte: der Große Bär, der Kleine Bär, Orion, Andromeda, Kassiopeia. Jupiter schien außergewöhnlich hell um diese Jahreszeit.

Die Enge in seiner Brust nahm wieder zu. Verdammt, es war doch alles gut! Er war allein, in Sicherheit.

Heute Nachmittag waren sie zusammen in seinem Elternhaus, um vom Dachboden das zweite Bett zu holen. In diesen letzten Wochen und Monaten traute er sich langsam aus der Deckung, freute sich über die gemeinsame Zeit mit ihr. Wenn er bei ihr war, schliefen sie in ihrem großen Bett, mal händchenhaltend, mal aneinandergeschmiegt. Ihre Wärme, ihre weiche Haut waren nie weiter als eine Armlänge entfernt.

Bei ihm hingegen stand das schmale Bett. Neunzig Zentimeter, damit begnügte er sich seit seiner Scheidung. Seine Ex-Frau hatte nie besonderen Wert auf eine gemeinsame Schlafstatt gelegt. Warum standen ihre Betten eigentlich immer auseinander? Warum kam er sich all die Jahre vor wie ein Bittsteller, wenn er auf der Suche nach Nähe zu ihr ins Bett kroch?

Seine Freundin hatte nie ein Wort gesagt, dass er ihr die Extramatratze auf den Fußboden legte, wenn sie zum Übernachten blieb. Oft genug lag sie so lange in seinen Armen, bis sie begann wegzudämmern. Ihn machte das ganz unruhig. Er fürchtete, keinen Platz für seine Nachtruhe zu haben. Ohne zu murren rutschte sie auf sein Zeichen dann schlaftrunken auf die Matratze hinüber, die einen halben Meter neben dem Bett lag. Das wollte er nicht mehr.

Als sie nach ihrer Rückkehr am späten Nachmittag mit den Einzelteilen des Betts in seinem Schlafzimmer standen, hatte er schon einmal sein eigenes Bett an die andere Wand geschoben. Er wollte Platz für das zweite daneben schaffen. Aber mit einem Mal war er sich nicht mehr sicher, ob er nicht doch lieber den Schreibtisch an eine andere Stelle versetzen wollte. Oder das Bücherregal umbauen, das da im Weg stand. Und die große Pflanze, die vorher sein Schlafzimmer begrünt hatte, musste nun ins Wohnzimmer. Und seine Musikinstrumente auch: die zwei Posaunenkoffer, der Notenständer, die Conga.

Er blickte sich um. Dann setzte er sich auf sein Bett und überlegte. Sie setzte sich neben ihn, wortlos. Warf ihm einen forschenden Blick von der Seite zu. Dass so ein zweites Bett so viel Platz brauchte… Er atmete ganz flach. Ihm war, als schnüre ein eisernes Band seinen Brustkorb ein. Schwindel ergriff ihn, alles wurde eng. Die Wände des Zimmers wölbten sich zentimeterweise nach innen. Wie wenig Raum auf einmal da war!

Er tat einen tiefen Atemzug. „Ich glaube, ich habe mich übernommen“, murmelte er.

Verstohlen linste er zu ihr.

Für einen Moment schloss sie die Augen.

„Ist nicht schlimm“, antwortete sie nach einer kurzen Pause. „Ich schlafe noch eine Weile auf der Matratze. Es muss noch nicht sein.“

Schweigend räumten sie die Möbelteile hinter die Schlafzimmertüre, in die Nische neben dem Schrank. „Da musst du sie nicht ständig sehen“, sagte sie versöhnlich.

Die Enge in seiner Brust ließ nicht nach. In seinem Kopf stürzten stattdessen die Gedanken eine Böschung hinab, verfingen sich im Dickicht dorniger und klebriger Ranken. Atemlos suchten sie einen Ausweg aus diesem beängstigenden Labyrinth. Das eiserne Band saß so fest, dass ihm übel wurde. Betretenes Schweigen brannte auf seinen Stimmbändern. Unerträgliche Beklemmung brüllte nach ihrem Recht.

„Würde es dir etwas ausmachen, heute bei dir zu schlafen?“

Sie sah ihn an. Ihr ernster Blick traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube.

Statt einer Antwort drehte sie sich um, ging in den Flur und begann, ihre Schuhe anzuziehen. Er ging ihr nach, schweigend, einen Kloß von der Größe eines Tennisballs im Hals. Sie nahm ihre Tasche und ihre Jacke vom Garderobenhaken.

Geh nicht.

Sie öffnete die Wohnungstüre und wandte sich um. In ihren Augen standen Tränen.

Geh nicht. Bitte bleib.

„Na dann.. mach‘s mal gut“, stammelte er.

Kaum hörbar erwiderte sie: „Ja, mach‘s gut.“ Halt sie auf.

Dann wandte sie sich ab und zog die Türe hinter sich zu.

In den nächsten Tagen würde er endlich das Teleskop aufbauen, damit er ihr den leuchtenden Jupiter zeigen konnte. Und Saturn direkt daneben.

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Monique Wesemaël

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freiTEXT | Felix Wünsche

Hampelmann

„Wenn du nicht versuchst, an Geld zu kommen, kannst du nichts bestimmen. Dann bist du der Hampelmann für andere, anstatt selber an der Schnur zu ziehen.“ Der Typ saß an einem der drei Fenstertische, das Mittagslicht fiel satt durch die großen Scheiben, zurückgelehnt mit geschlossenen Augen in einem der alten Sessel, die ich vereinzelt im Café stehen habe, Müdigkeit in allen Winkeln des Gesichts. Blauschwarze Designerjeans, breit umgeschlagen an den Knöcheln über den weichen, schicken Sneakern, gut sitzendes Hemd mit Manschettenknöpfen, hatte an seinem Notebook gearbeitet, ein Ciabatta mit Ziegenkäse in Honigkruste verspeist, der Stolz meiner kalten Gerichte. Auf dem Weg zurück von der Toilette hielt er an der Theke, wo ich Gläser wusch.

„Schönes Café, richtig gut gemacht. Ist das deins?“ Sonnenbräune, Dreitagebart, lächelte er mich an, gewinnend, vertraulich, setzte sich auf einen der Barstühle. Hatte er keine Angst um seinen Laptop dort alleine am Tisch?

„Danke. Ist meins, ja.“

Sein Blick wanderte nochmal durch den Raum, über die mintgrünen Wände, die großformatigen Fotos von einer Bekannten, Gebäudeporträts, Plätze, Baulücken, vielleicht fünfzehn Jahre alt die Aufnahmen. Die Rahmen hatte mein Freund aus alten Fenstern selber gebaut. Gemeinsam hatten wir renoviert, den Boden abgeschliffen, in einem heimlichen Rhythmus, der uns durch die Tage trug, ganz selbstverständlich, ganz locker. Ich hatte das Gefühl tiefer zu atmen oder mehr Luft in die Lungen zu bekommen und mich durchströmte eine Leichtigkeit, die mich hat lächeln lassen. Leichtigkeit, die wir eingearbeitet haben in die Dielen, die Wände, die Theke und die Tische aus altem Bauholz. Kleine Macken haben die Tischplatten, die Theke, mir so vertraut wie die Leberflecke meines Körpers.

„Eine tolle Komposition. Hat Charakter. So was sehe ich, ich bin in der Kreativbranche tätig. Du hast Talent. Wie kommt es, dass du so etwas machst?“ Eine lässige Armbewegung umschließt den Raum, ein anerkennendes Nicken.

So etwas. So etwas Tolles oder so etwas Banales? „War ein Traum von mir. Ich arbeite schon lange im Gastrobereich, war aber nie in einem Laden, den ich wirklich mochte. Und irgendwann dachte ich, ich muss es eben selbst machen. Außerdem wollte ich etwas Eigenes, nicht immer für andere die Arbeit machen.“ Ganz automatisch sortierten meine Hände Gläser ein.

Er ließ sich einen Grappa einschenken, drehte das Gläschen am Stil. „Ist ein relativ kleiner Laden. Wie kommt man da über die Runden?“

Im Bauch bohrte der Stich, den ich mit mir trug. Den Stich, dass es nicht reichte, nicht reichte für ein Leben, eine Wohnung hier im Zentrum. „Alles super.“

Lüge. Lüge. Lüge.

Sollte er doch die Wahrheit hören mit seinen teuren Jeans, dem Kaschmirmantel, mit seinem zehn Euro Grappa, Nonino Riserva. „Okay, wenn du's wirklich wissen willst. Ehrlich gesagt bescheiden. Kann mir im Moment nicht mal eine kleine Wohnung hier in der Nähe leisten. Es hat viel Kraft gekostet, das hier aufzubauen, und jetzt stehe ich da wie ein Idiot. Die Mietpreise sind einfach unfair.“ Ich hielt die Augen niedergeschlagen, wischte das Spritzwasser neben dem Spülbecken weg.

„Der Preis ist für alle gleich. Das ist eine gerechte Sache. Klare Kante. Die Frage ist, ob man ihn sich leisten kann. Nur wenn du richtig Schotter kriegst für die Zeit, die du arbeitest, kannst du was zu deinen Gunsten bewegen. Wohnung, Auto, Urlaub, nette Einrichtung. Ich wette, dein Stundenlohn hier sieht nicht gut aus. Hast ja noch nicht mal Leute, die für dich arbeiten, und das im Bewirtungsbereich, wo die Löhne echt nicht hoch sind. Wie viel bleibt dir nach Abzug aller Kosten? Zehn Euro? Sicher nicht mehr, richtig?“ Seine Selbstsicherheit schaute mich aus seiner ganzen Haltung an, wie er an seinem Schnaps nippte.

Erniedrigend, so zum Objekt von abstrakten Betrachtungen gemacht zu werden. Von irgendwem. Lähmend. Die Wahrheit in seinen Worten lähmte mich. Oder seine Selbstsicherheit, zu wissen, wie die Welt beschaffen war.

„Habe ich nie genau ausgerechnet, aber zehn Euro kommen schon hin.“

„Und dann stehst du hier sicher mehr als 40 Stunden pro Woche im Laden, machst noch Einkäufe, was macht das, 200 Stunden im Monat? Und was kommt dabei rum? 2000 Euro vielleicht. Nicht nichts, aber ich würde dir auch nicht unbedingt eine Wohnung vermieten. Und Rente hast du noch nicht eingezahlt und Arbeitslosenversicherung auch nicht, richtig?“

„Wie wohnst du denn?“

„Ich hab 'ne eigene Wohnung. Ein schönes Obergeschoss in einem Altbau, kleine Dachterrasse, alles in allem hundertzwanzig Quadratmeter, nichts Extravagantes, aber nett. Und, ist das unfair?“ Schaute mich herausfordernd an. „Ich will das haben. Habe viel dafür getan und tue immer noch viel. So ist das, ohne Geld kein Gestaltungsspielraum. Geld ist Macht über andere, Kontrolle, Ellenbogenfreiheit. Mit Geld kannst du dir Arbeitskraft kaufen, Lebenszeit, Ideen, dir ein gutes Stück vom Kuchen abschneiden. Schau, ich esse hier in deinem Café, genieße die Atmosphäre, du bedienst mich, wäscht mir die Gläser und Teller, putzt die Toilette. Und damit verdienst du nicht genug Geld, um in deinem eigenen Café ein Sandwich zu essen.“ Hier kam dann irgendwo der Hampelmannsatz. Hampelmann. Warum wurde ich nicht wütend? Stand da hinter dem Tresen, würde die Tische wischen, die Toilettenböden, lies mich beschimpfen als Hampelmann, wurde nicht zornig, ballte nicht die Faust, warf ihn nicht raus. Zu oft geschwiegen, zu oft Salate arrangiert, Speisen aufgetragen unter bellenden Blicken von Küchenchefs, Chefkellnern, Kneipen-Eigentümern, zu wenig Kraft, zu wenig Übung im Kämpfen, zu wenig Ressourcen, um einen Kampf zu wagen, zu viel Furcht, zu viel Glaube daran, dass schon alles irgendwie okay wäre.

Ich blickte weiter schweigend auf die Arbeitsplatte, hypnotisiert, wischte letzte Tropfen vom Rand der Spüle. War es so? War das die Wahrheit? Nicht jeder konnte alles haben. Schenkte ihm einen Grappa nach, als er mir das Glas über den Tresen schob. Er redete weiter. „Du musst ein wertvoller Dienstleister für die richtig Reichen sein, die richtig, richtig Reichen, verstehst du, ihr Geld verwalten und vermehren, ihre Firmen managen, sie juristisch gegen alle Angriffe verteidigen, ihre Krankheiten oder Zipperlein behandeln, ihre Häuser bauen und einrichten, Statussymbole für sie herstellen. Sind ja im Prinzip alles Dinge, die jeder braucht und will, wohnen, gesund sein, geachtet werden, Grundbedürfnisse eigentlich, nur durch die Macht des extremen Reichtums, ins Phantastische verzerrt. Das ist die eine Möglichkeit. Die andere ist, dass man selbst etwas aufbaut. Ein Unternehmen, wo man selbst Chef ist, sich von der Arbeit der Leute, die bei einem angestellt sind, ein kleines Stückchen abzwacken kann.“ Wieder die ausholende, den Raum umfassende Geste, „Kannst du auch machen. Du hast Talent, das ist ein Pfund. Das Café hat Potential. Mach es größer, mach ein paar andere auf, hier, in anderen Städten. Würde laufen und die Wohnung wäre dann kein Problem mehr.“ Angenehm rann der Traubenschnaps die Kehle hinab, der Adamsapfel hüpfte routiniert in stiller Zufriedenheit.

„Ich will nicht reich werden. Ich will nur eine Wohnung“, sagte mein Mund. Ich freute mich, ganz plötzlich, gluckernd, das zu hören.

„Dann darfst du dich auch nicht über zu hohe Mietpreise beschweren. Wenn du nichts aus dem hier machen willst, okay, deine Sache. Aber wer weiß, ob du mit fünfzig, sechzig noch so locker den ganzen Tag im Café stehst, wer weiß, ob der Laden dann noch läuft. Jetzt hast du ein Gespür für den Trend, aber dann? Und Rente? Zahlst du nun ein oder nicht?“ Das Grappagläschen rutschte zu mir herüber, er blickte mich an, jetzt Auge in Auge. „Mach doch was draus, aus dem, was du kannst. Ich helfe dir, wenn du willst. Ist mein Job so was, hier meine Karte“. Lag weiß, in minimalistischem Design auf dem hellen Holz der Theke, er zahlte. „Muss los, wir sehen uns“, Trinkgeld klapperte in großen Münzen in den Becher, den ich dafür neben den großen Gläsern mit Keksen und Brownies stehen habe.

Mehr Gäste in den Stunden danach, mehr Bagels, Sandwiches mit Grillgemüse, Tagessuppen, Latte macchiatos, Espressos, er würde vielleicht Espressi sagen, mehr Geld, mehr Schmutzgeschirr, mehr Kuchen, die wieder neu gebacken, Suppen, die wieder neu gekocht werden mussten.

Zwei Latte macchiato, Kirschkäse, Apfelstreusel, marinierter Salat aus Tofu, Norialgen und Pfefferminze. Abwesend schaute das Pärchen mich an, freundlich glänzte die Sonne auf ihren dunklen Brillengläsern, „Thank you, it looks wonderful.“ In mir kratzte es. Eine Hohlfigur, die Gewissheit entleert. Die Espressomaschine schredderte laut, hielt die Gedankenspirale im Zaun.

Nicht jeder kann das. Nützlich für die Reichen sein. Geld gebären. Vertraute Handgriffe, die ich genoss. Latte macchiato, Espresso auf heißer Milch, darüber Milchschaum.

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Felix Wünsche

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