10 | Carolin Wiechert

Nachklang

*

Die meisten Kinder sind mit Märchen großgeworden. Cinderella, Dornröschen und Rumpelstilzchen saßen auf ihren Bettkanten und haben ihre Geschichten in die Köpfe der kleinen Jungen und Mädchen gewoben.

Mein Kindheit war bestimmt von Kurt Cobain, Eddie Vedder und Chris Cornell. Anstatt mir aus Märchenbüchern vorzulesen, saß mein Vater abends an meinem Bett und hat mir die Geschichten der großen Rockmusiker erzählt. Der Start ihrer Karrieren, der Einfluss auf die Menschen und bei einigen auch von ihrem Niedergang. Ich kenne alle Alben von Nirvana, Mother Love Bone, Soundgarden, Pearl Jam, Temple of the Dog. Ich kenne die Geschichten zu den Lieder und die persönlichen Geschichten, die mein Vater mit ihnen verbindet. Wie er meine Mutter auf einem Pearl-Jam-Konzert kennengelernt hat, wie er versucht hat in einem Jahr jeden Auftritt von Soundgarden zu besuchen. Mein Vater liebt die Musik. Er liebt sie in einem Maße, wie ich es bei keinem anderen Menschen erlebt habe.

Vielleicht nicht einmal bei mir selbst.

Die meisten Menschen verstehen mein Verhältnis zur Musik nicht. Sie haben sie irgendwie in ihr Leben eingebaut. Als Begleitung zum Autofahren, als Hintergrundmusik bei der Arbeit. Sie können aber nicht verstehen, wie sehr es schmerzen kann, wenn die Musik nicht da ist, wie sich die Seele zusammenzieht, wenn die Musik zwischen zwei Liedern verstummt. Ich sehe meine Welt immer in Musik, meine Welt besteht immer aus Tönen. Selbst die größten Musikfans, die mir begegnet sind, sind an irgendeinem Punkt ausgestiegen, selbst ihnen war das irgendwann zu viel.

Manchmal kann Musik sehr einsam machen.

*

Die Wohnungstür fällt ins Schloss, ich höre die Schritte, dann steht meine Schwester im Wohnzimmer. Felicia und ich sind zusammengezogen, als sie mit ihrem Studium begonnen hat. Das war ein Jahr nach mir.

„Hey, alles klar?“ Sie streift ihre Tasche ab und wirft sie in die Ecke.

Ich grinse sie an. „Ich habe heute die Zusage bekommen, dass ich bei Music-In anfangen kann.“ Music-In ist ein Musiklabel in Portland in Oregon, bei dem ich mich vor einigen Monaten um einen Job beworben habe.

„Geil. Das ist super“, Felicia kommt rüber und umarmt mich. „Hast du es schon Mama und Papa gesagt?“

„Ja. Die kochen Sonntag für uns.“ Ich rolle die Augen. Wenn es in unserer Familie irgendetwas zu feiern gibt, kochen meine Eltern immer gemeinsam.

Felicia grinst, kickt ihre Schuhe unter den Couchtisch und lässt sich neben mich auf das Sofa fallen. „Du wirst mir fehlen.“ Eigentlich ist meine Schwester selten sentimental.

„Ach, du kannst jederzeit zu Besuch kommen und wir telefonieren und schreiben.“

„Du weißt, dass das nicht dasselbe ist.“

Ich nicke und lasse meine Gedanken einige Momente streifen.

„Eigentlich werde ich nur euch drei vermissen. Mama, Papa und dich“, sage ich schließlich.

„Dann hat deine Unfähigkeit zu tiefen Bindungen zumindest etwas Gutes“, spöttelt Felicia.

Ich denke an die Menschen, die durch mein Leben gestolpert sind. Viele sind verschwommene Punkte, von denen ich nicht mal mehr den Namen kenne. Einige stechen hervor, nur wenige sind klar im Detail zu erkennen.

„Erinnerst du dich noch an Meike? Meine Freundin aus der Grundschule?“, frage ich.

„Das war die mit diesen mega Locken, oder?“

Ich nicke. „Und dieser Besessenheit von Rolf Zuckowski.“

Felicia lacht. „Ich erinnere mich, wie sie mit einem Koffer voller Kassetten und ihrem Kassettenrekorder vor unserer Tür stand und du vollkommen irritiert davon warst. Du kanntest keine Kassetten, Papa hatte ja alles nur auf Vinyl.“

„Bis zu diesem Zeitpunkt hat Musik zwischen Meike und mir keine Rolle gespielt. Für uns alleine schon, aber nicht als eine gemeinsame Sache. Wenn wir zusammen waren, haben wir uns immer mit anderen Dingen beschäftigt.“

Das war zu der Zeit, als ich mit meinem Vater zusammen seine Platten gehört habe. Wir saßen jeden Sonntagmorgen in seinem Musikzimmer und haben erst die neuen Platten, die er sich in der Woche davor gekauft hatte und dann eine alte, die ich mir aussuchen durfte, angehört. Das erste Hören einer neuen Platte folgte immer einem genauen Muster: Mein Vater setzte sich in seinen Sessel, blickte über die Regale voller Platten, ließ seinen Blick über die bunten Rücken gleiten, bis er schließlich auf die neue vor sich fiel. Dann strich er vorsichtig an allen vier Seiten entlang und öffnete die Hülle. Langsam zog er die Platte heraus, legte sie auf den Teller und setzte die Nadel auf die Oberfläche. Kurz bevor sie die schwarze Scheibe berührte, hat er immer hoch geschaut und gesagt: „Pass jetzt auf, Laura. Die ersten Töne sind die wichtigen. In den ersten Tönen entscheidet sich dein Weg in diese Musik.“ Ich wurde dann immer ganz still und faltete die Hände in meinem Schoß auf meinem Platz auf dem Boden neben dem Plattenspieler. Gespannt habe ich auf die ersten Klänge gewartet, habe kurz den Atem angehalten, weil ich Angst hatte, die Geräusche des Luftholens würden die Töne überdecken. Dann: Das stille Knistern der Vinylplatte, das in die Musik übergeht. Es war jedes Mal ein anderes Erlebnis.

Bei den alten Platten war es anders. Ich habe sie nach den Coverbildern ausgewählt, bis ich später angefangen habe, anhand der Musik, die mir wirklich gefällt, auszusuchen. Mein Vater hat jedes Mal gelächelt, wenn ich konzentriert durch die Plattenhüllen geblättert habe und gespannt gewartet, wofür ich mich entscheide.

Es gab eine Ecke mit einem halben Dutzend Platten einer Band, die Raw hieß, die wir nie aufgelegt haben. Immer wenn ich sie vorgeschlagen habe, hat mein Vater abweisend reagiert und ich musste mir eine andere Platte aussuchen. Ich habe nie weiter gedrängt, weil ich irgendwie gespürt habe, dass ich diese Grenze nicht überschreiten sollte.

Meine Mutter war nie begeistert davon, dass mein Vater mir Lieder vorgespielt hat, die nicht für mein Alter geeignet waren. Vielleicht hat sie aber gewusst, dass es ihm gut tat, diese Leidenschaft mit mir zu teilen und es darum nie verboten.

„Ich weiß noch, dass es ein merkwürdiger Augenblick war, als wir in meinem Zimmer saßen und den Kassetten gelauscht haben. Meike hat glücklich gestrahlt und ich konnte die Musik nicht verstehen, ich konnte sie nicht begreifen.“

Nachdenklich streiche ich über das Sofakissen. „Wir haben uns angesehen und ich glaube, wir haben beide gemerkt, wie in diesem Moment etwas zwischen uns zerbrochen ist. Nicht so richtig bewusst, sondern mehr als ein Gefühl, dass es da etwas gibt, das uns auseinander bringt und in dem wir uns so massiv unterscheiden. Und gleichzeitig zu wissen, dass das etwas ist, das wir nicht ignorieren können, weil wir vielleicht beide schon über die Bedeutung von Musik in unserem Leben entschieden hatten.“

Felicia sieht mich an. „Das klingt ziemlich endgültig.“

Ich nicke. „Ich weiß nicht, ob es anders gelaufen wäre, wenn wir älter gewesen wären. Wie viel kann eine Freundschaft aushalten? Wie viel kann sie akzeptieren? Sollte sie nicht erkennen, was dem anderen wichtig ist und es entsprechend wertschätzen und damit umgehen?“

„Findest du nicht, dass das nur eine idealisierte Vorstellung von Freundschaft ist?“

„Ja, vielleicht. Aber vielleicht ist das trotzdem ein Ideal, an dem sie sich orientieren sollte.“

Wir schweigen einige Augenblicke. Aus der Wohnung über uns ist Lachen zu hören.

„Meike und du, ihr habt euch weiterhin getroffen?“, hakt Felicia nach.

"Ja, aber es war nicht mehr wie vorher. Wir haben weiter die Dinge gemacht wie früher, aber es war anders. Wir haben nur noch die eingebrannten Abläufe abgespult. Über Musik haben wir nie wieder gesprochen. Dann kam das Ende der Grundschule und wir sind auf dem Gymnasium in unterschiedliche Klassen gekommen. Damit war unsere letzte Gemeinsamkeit weg und wir haben keine Zeit mehr miteinander verbracht.“ Ich kaue auf meiner Oberlippe und denke, dass ich weiß, dass wir beide keine Schuld daran hatten. Manchmal zerbrechen Beziehungen einfach.

Felicia drückt meine Hand. „Ich hole eben Bier“, sagt sie und verschwindet in der Küche. Ich blicke ihr hinterher und denke über meine erste Zeit auf dem Gymnasium nach. Ich war mit meinen Klassenkameradinnen locker befreundet. Ich habe mich mit ihnen getroffen, sie zu Geburtstagen eingeladen, aber keine hat hervorgestochen und zu keiner hat sich eine tiefere Freundschaft entwickelt. Mir ist es schon damals nie schwer gefallen, Bekanntschaften zu schließen. Das war nie das Problem.

Felicia hält mir eine Flasche hin. „Ich erinnere mich noch an Lotta und Maggie“, sagt sie. „Was ist da eigentlich passiert?“

Lotta und Maggie habe ich in der Musik-AG in der achten Klasse kennengelernt. Beide waren schon länger dabei – Lotta als Sängerin, Maggie als Schlagzeugerin – und ich wollte ausprobieren, ob Musik machen etwas für mich ist. Was den Musikgeschmack anging, hatten wir sehr unterschiedliche Meinungen, was wirklich gute Musik ist. Wir haben von den drei Standpunkten Mädchenpop, Motown-Musik und Rock diskutiert, gefeixt, geschrien und gelacht. Ich lächle bei der Erinnerung an unsere heftigen Auseinandersetzungen, die immer kurz davor endeten, dass wir kein Wort mehr miteinander gesprochen hätten. Vielleicht haben wir irgendwie gewusst, dass die Leidenschaft für die Musik eine viel wichtigere Verbindung war, als der gleiche Musikgeschmack es jemals hätte sein können.

Ich zucke die Schultern. „Jungs. Die Prioritäten haben sich für die beiden verschoben.“

Lotta, Maggie und ich haben einige Monate mit Diskussionen und Musik verbracht. Dann hatte Maggie ihren ersten festen Freund und weniger Zeit für uns. Lotta und ich haben noch einige Zeit zu zweit weitergemacht, aber ohne Maggie war die Dynamik raus. Wir brauchten unsere drei Ecken, nur so haben wir funktioniert. Schließlich hat auch Lotta jemanden kennengelernt und wir haben uns irgendwann gar nicht mehr getroffen.

„Das muss bitter gewesen sein“, sagt Felicia. „Ich erinnere mich, dass ihr ziemlich viel zusammen wart.“

Ich streiche mir durchs Haar. „Ich war wahnsinnig enttäuscht und verletzt. Ich hatte etwas anderes erwartet, weil ich nicht so reagiert hätte. Ich hätte das, was wir hatten, nicht einfach aufgegeben.“

„Das kannst du nicht wissen.“

„Doch. Da bin ich mir sicher.“

Felicia sieht mich nachdenklich an. „Wirklich? Auch wenn du damals schon Dan kennengelernt hättest?“

Ich erwidere ihren Blick. Meine Schwester liebt es auszuprobieren, wie weit sie bei Menschen gehen kann, wann die Schmerzgrenze nicht nur erreicht, sondern überschritten ist. Bei mir hat sie das schon zu oft versucht. Ich bin abgehärtet.

„Auch dann nicht.“

Dan habe ich einige Jahre nach Lotta und Maggie getroffen. Dazwischen habe ich viel Zeit damit verbracht, mich durch die Musikgeschichte der letzten Jahrzehnte zu hören. Nicht nur Rock, sondern auch Punk, Pop, Hip-Hop. Ich habe viele Sachen entdeckt, die mein Vater nicht gehört hat und vieles, was ich nie wieder hören werde. Aber auch Unmengen an hervorragenden Stücken. Raw gehörte dazu. Es war nicht nur die Musik, sondern auch die Geschichten, die hinter den Liedern und Alben steckten, die mich faszinierten. In der Zeit hat sich meine CD-Sammlung fast täglich erweitert. Ich weiß noch, wie mein Vater fassungslos darüber war, dass ich mich für CDs und nicht Vinylplatten als Medium entschieden hatte. Vielleicht war das meine Art mich von ihm abzugrenzen.

Felicia blickt konzentriert vor sich hin. „Mir fällt sonst keiner mehr ein. Nur noch Dan.“

Dan hat in einer Bar gearbeitet, in der zweimal in der Woche Live-Musik gespielt wurde. Er hat mir irgendwann erzählt, dass der freie Eintritt zu den Konzerten der Grund war, warum er dort angefangen hat zu arbeiten. Dan kam aus einer Kleinstadt im Westen Deutschlands und wir haben uns kennengelernt, als er sein erstes Jahr an der Uni studiert hat.

Dan war der erste Mensch, den ich getroffen habe, der eine mit meiner vergleichbaren Musiksammlung hatte. Sie war eine bunte Mischung aus CDs, Platten, Kassetten und mp3s und bestand zum größten Teil aus Punk. Er hat mir manchmal davon erzählt, wie fehl am Platz er sich in seiner Heimatstadt gefühlt hat, weil die Leute ihn für einen Freak gehalten haben. „Sobald deine Leidenschaft ein wenig ausgeufert ist, wurdest du schräg angeschaut. Alles nur in Maßen, alles nur in einem abgesteckten Rahmen, sonst ist das nicht mehr normal“, hat er dann immer gesagt und dass ihn diese neue Stadt frei macht, weil es hier okay ist, seine ganze Wohnung voller Musik zu haben. Ich war mir damals schon nicht sicher, ob ich diese Ansicht teilte. Ich habe mich auch hier wenig verstanden gefühlt.

„Was hat euch auseinandergebracht“, fragt Felicia.

„Unüberbrückbare Differenzen.“

„Das sagst du jedes Mal.“

„Und du lässt es jedes Mal gelten“, grinse ich.

„Heute nicht.“ Felicia zieht ihre Beine unter den Körper und nimmt noch einen Schluck aus der Flasche.

Ich seufze leise und reibe mein T-Shirt zwischen den Fingern.

„Unsere Beziehung war immer von Musik geprägt.“

Die Welt hält erwartungsvoll inne, richtet ihren Blick auf uns, als ob sie spürt, dass jemand gerade ein Stück Wahrheit erzählt, aufrichtige Wahrheit.

„Ich weiß nicht, wann es angefangen hat, aber irgendwann habe ich an Dan eine leichte Gereiztheit bemerkt, wenn wir uns mit Musik beschäftigt haben. Wenn ich Diskussionen angefangen habe, hat er sie nur lieblos geführt und später dann abgewürgt. Irgendwann habe ich ihn darauf angesprochen und er meinte, dass er der Musik überdrüssig wird. Und ich habe ihn angesehen und in diesem Moment gemerkt, wie groß die Bedeutung von Musik in meinem Leben ist. Wie sie sich in den ganzen Jahren in mir ausgebreitet und wie wenig Platz sie für andere Dinge gelassen hat. Ich bin nicht bereit, Kompromisse einzugehen. Ich bin nicht bereit, das zu akzeptieren.“

Vor einigen Minuten hat es angefangen zu regnen. Ich stehe auf, um das Fenster zu schließen. Auf dem Fußboden haben sich die ersten Tropfen verteilt. Ich wische mit meinen Socken über die feuchten Flecken und hinterlasse Schlieren. Mir war immer klar, dass das die richtige Entscheidung war. Ein bitteres Gefühl ist trotzdem geblieben. Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich daran liegt, weil ich diesen speziellen Menschen verloren habe.

Ich ziehe die Schultern hoch und drehe mich wieder zu Felicia.

„Weißt du noch, wie ich mich mit dieser Gruppe Festivalgänger angefreundet habe?“

„Ja. Du hast mir damals erzählt, dass du sie unendlich viel ausgefragt hast, um herauszufinden, ob sich der Aufwand lohnt. Wie ein Job-Interview.“ Sie grinst.

„Das sah auch ganz gut aus. Als wir zum Festival gefahren sind, hat sich gezeigt, dass das alles nur heiße Luft war. Zu einigen Konzerten sind sie gegangen, die meiste Zeit haben sie aber auf dem Campingplatz verbracht, um das 'Festival-Flair' zu erleben.“ Ich schwanke immer zwischen amüsiert und fassungslos, wenn ich daran denke.

Felicia drückt sich von der Couch hoch und schiebt die leeren Flaschen auf dem Tisch zusammen. „Ich gehe schlafen.“ Sie drückt den Rücken durch und streckt die Arme in die Luft. „Schlaf gut.“

Ich nicke. „Bis morgen.“

Nachdem die Tür hinter Felicia zugefallen ist, drehe ich mich wieder zum Fenster und blicke in den dunklen Regen. Ich denke an Portland und muss lächeln.

*

Die letzten Töne sind verklungen, der Plattenspieler hat sich ausgestellt. Wir schweigen.

„Er hat sich kurz vor deiner Geburt das Leben genommen. Ich war wahnsinnig erschüttert. Ich war wahnsinnig wütend.“ Mein Vater blickt auf das Plattencover von Raw. Er räuspert sich. „Es ist sehr krass, dass Menschen, denen du nie so richtig begegnet bist, mit denen du noch nie ein Wort gewechselt hast, so dermaßen in deinem Leben verankert sein können. Es war, als ob gerade ein guter Freund gestorben ist.“ Ich sehe, wie mein Vater seine Gedanken sortiert. Da ist wieder dieses Gefühl, das mich schon früher immer gestreift hat, wenn ich nach den Platten gefragt habe. Jetzt wird mir klar, dass es dieser stille Schmerz ist, der ihn umgibt.

„Ich habe einige Wochen gebraucht, bis die Wut verflogen ist, weil ich begriffen – nicht nur verstanden, sondern begriffen habe – dass genauso schlimm wie das Nachgeben des Körpers aufgrund einer Krankheit das Nachgeben der Psyche ist.“

Mein Vater lässt den Blick zu den Platten von Raw wandern.

„Er hatte schon vorher viele Jahre viele verschiedene Probleme. Depressionen, Alkohol, Drogen. Irgendwie hat er es immer geschafft und all diese Schwierigkeiten haben seine Musik zu dem gemacht, was sie war und was sie mir bedeutet hat. Ich habe geglaubt, dass jemand, der weiß, wie es ist, am Abgrund entlang zu tänzeln, besser damit klar kommt und den Dreh raus hat. Ich habe keinen Gedanken daran verschwendet, dass dort der Sturz schneller geht, dass nur ein kleiner Schubser ausreicht.“

Er seufzt.

„Manchmal kann man so viel schreiben, schreien, komponieren und der Schmerz bleibt trotzdem in dir drin. Egal, was du versucht, er sitzt fest. Du bist exzessiv dabei, Lied um Lied zu schreiben, aber er wird nicht weniger. Selbstverwirklichung heilt nicht immer eine zerrissene Seele.“

Langsam blättere ich durch den Stapel mit den Vinylplatten von Raw. Die Hüllen sind abgegriffen, die Seiten leicht eingerissen. Mein Vater muss sie unzählige Male aufgelegt haben. Ich glaube, ich kann verstehen, warum er sie nie mit mir zusammen gehört hat. Es gibt Schmerzen, die so groß sind, dass sie nur alleine ertragen werden, die nicht geteilt werden können, weil man sonst zerspringen würde.

„Vielleicht hat deine Geburt ein wenig davon geheilt, auch wenn das vermutlich jeder Vater sagen würde.“ Mein Vater lächelt leicht. „Aber er war trotzdem noch da und auch jetzt nach über zwanzig Jahren gibt es Momente, in denen ich immer noch tief von seinem Tod erschüttert bin.“

Die Momente verstreichen während wir schweigend dasitzen. Schließlich beuge ich mich zum Plattenspieler und setze die Nadel wieder auf den Anfang.

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Carolin Wiechert

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09 | Christian Lange-Hausstein

Blaue Wolken

Das Leben ihres Großvaters hatte Didem über Bande kennengelernt. Und zeitversetzt. Auch nicht vollständig. Aber deshalb hatte sie vielleicht ein umso besseres Bild, umso umfassender, denn es war selbstgemalt und hatte keine weißen Flecken. In den Jahren, in denen er sie von der Kita abholte, malte Didem immer bei dem Großvater. Er sammelte extra die Post, die er bekam. Nicht alles, sondern nur die Blätter, die auf der Rückseite leer waren.

Allianz, Rentenversicherung, über die Zeit wechselnde Stromanbieter, Trägerverein der Kleingartenanlage, SPD Ortsverband, Rechnung vom Blitzer auf der Reinickendorfer Straße, ein Allergiehinweis. Bescheide von Ämtern waren nur wenige dazwischen und wenn ja, dann war es auch immer Seite fünf von fünf oder elf von elf, denn die Ämter druckten nicht nur auf dunklem Papier, auf dem Buntstifte braun wirkten, sondern auch beidseitig, sodass nur bei ungerader Seitenzahl die letzte Seite zum Malen blieb.

Auf manchen Blättern waren kleine Vermerke. Ein System von Abkürzungen schien dahinter zu stehen, das Didem nie vollkommen entschlüsselt hatte. Irgendwann war klar, dass „erl.“ für erledigt stand, „NB 01“ ein Konto war, von dem aus der Großvater Rechnungen beglich, und „RE“ gefolgt von einem Datum, das er rückwärts schrieb, „990117“ für den 17. Januar 1999, stand dafür, dass er sich an diesem Tag eine Wiedervorlage eingetragen hatte. Wo er sich die Wiedervorlage eingetragen hatte, war nicht erkennbar. Aber es schien ein zentraler Ort zu sein, ein Ort, an dem nichts fehlte, nichts verloren ging, denn es gab auch „2. RE“ und „3. RE“. In einer Auseinandersetzung mit einem Mitarbeiter der Rentenversicherung, der Belege für den Lohnsteuerhilfeverein herausgeben sollte, gab es sogar mal eine „4. RE“.

Diese mit Notizen versehenen Seiten der Blätter spielten in dem Moment, als Didem die Blätter zum ersten Mal in die Hände bekam, eine untergeordnete Rolle. Das waren die Rückseiten. Didems Vorderseiten waren die weißen Flächen, die ihr Großvater ihr hingelegt hatte. Die Flächen, auf denen sie erst nur Kreise malte. Die Flächen, auf denen dann Strichmännchen zu sehen waren, die auf Erwachsene etwas gruselig wirkten. Die Flächen, auf denen später Wiese-Haus-Baum-Sonne-Bilder entstanden, grün, schwarz, braun, gelb – und im weißen Himmel blaue Wolken.

Je nach Relevanz der bedruckten Seite zu Dritteln, Hälften oder gar nicht gefaltet, lagen die Blätter in einer flachen Papp-Box am hinteren Rand des Sekretärs, der viel edler war als die Möbel ihrer Eltern. Die Box wird vielleicht der Deckel eines Schuhkartons gewesen sein. Das wäre Spekulation, würde Didem einschränken, wenn man hier nachhaken würde. Mit der mittlerweile jahrelangen Berufserfahrung als Richterin war Didem sicher, zwischen Erinnerungen und Spekulationen, Plausibilisierungen, Hinzugedachtem unterscheiden zu können. Wenn Didem von ihren Eltern abgeholt worden war, musste der Großvater die Zeichnungen mit einem Datum versehen haben. Er hatte die datierten Bilder dann in einen anderen Karton gelegt, der viel tiefer war als der Schuhkarton-Deckel, und den Didem zum ersten Mal sah, als sie mit 16 den Umzug des Großvaters in das Pflegeheim vorbereiten sollte. Ihr Großvater gab Didem einen Hinweis. Und noch bevor die drei Umzugshelfer kamen, die Didems Vater angeheuert hatte, brachte Didem den Karton in ihr Zimmer. Der Karton stand dann erst im Keller ihrer ersten Wohnung ordentlich gestapelt zwischen anderen Kartons und war, nachdem sie alles andere weggeworfen hatte, als einziger mit in die gemeinsame Wohnung gekommen.

An einem sonnigen Tag im Mutterschutz suchte Didem im Keller erfolglos nach einer Zange und fand unter den Kartons ihres Mannes mit Büchern von seinem Vater, von denen er sich nicht trennen wollte (Heinz Felfe - Im Dienst des Gegners, W.M. Schapko, Begründung der Prinzipien staatlicher Leitung durch W.I.Lenin, Poltorak - Kleines Lexikon Sowjetstreitkräfte und so weiter) den Karton ihres Großvaters.

Sie nahm ein Bild vom Stapel ab, betrachtete es, legte es neben den Karton. Die Bewegung so sauber, als befände sich zwischen den Bildern in dem Karton und dem abgelegten Bild daneben eine silberne Metall-Klammer, wie in einem überdimensionalen Leitzordner. Sie empfand erst nichts. Die Bilder, das war zwar sie. Aber sie war es nicht mehr. Dann machte diese Erkenntnis doch ein bißchen was mit ihr. Das bin ich gewesen, irgendwann mal, wann genau, stand unten drunter. Wie ein Halm, an den man sich klammert. Auf der Suche nach etwas, von dem man noch nicht weiß, was es ist, nur weiß, dass es gleich kommt. Sie nahm das zweite Bild in die Hand und legte es ab, ebenso sauber, wieder wie durch eine Leitzordner-Klammer geführt. Vielleicht hätten die Bilder für ihre Eltern, wenn sie andere Menschen wären, eine Bedeutung haben können. Mein Kind und so weiter. Für ihren Großvater hatten sie mit Sicherheit eine gehabt. Sie nahm das dritte Bild in die Hand und legte es ab, wieder sauber, wieder wie durch eine Klammer geführt. Aber für sie selbst, für Didem, war nach sieben, acht Bildern, die es dann waren, der Effekt des Alten, Strichmännchen, Häuser, das war mal ich, vorbei. Dann hob sie einen ganzen Stoß Blätter auf einmal ab. Dann nochmal. Und erst als sie das Papier mit beiden Händen neben den Karton auf die ersten Bilder legte, erkannte sie deren wahren Wert. Keinen Karton voller Bilder. Einen Karton voller Rückseiten hatte sie vor sich. Je weiter sie in dem Karton nach unten kam und je jünger sie war, als ihre Bilder entstanden waren, desto weniger intim waren die Briefe, die der Großvater zum Bemalen beiseitegelegt hatte. Ob er Sensibilität abbaute mit der Zeit, ob ihm das Risiko, zu viel über sich preis zu geben, geringer vorkam. Ob es ihm irgendwann egal war. Ob er keinen Sinn mehr darin sah, die Unterlagen für sich abzuheften, weil man ohnehin nie mehr in abgeheftete Unterlagen schaute. Oder ob er wollte, dass sie irgendwann alles sah. - Didem wusste es nicht, denn als sie soweit war, dass sie hätte fragen können, war der Großvater gestorben. Sie legte die Bilder sorgsam wieder in den Karton zurück, Stück für Stück. Bis sie wieder vorne ankam. Und dann saß sie da. Auf den Versen. Ein Brief, handgeschrieben, an den Großvater, das war Bild zwei. Ein Dokument über seinen Krebs, von dem ihr Vater erzählt hatte, dass der Großvater ihn besiegt hatte und über den sie sich keine Sorgen machen sollte, das war Bild eins. Das erste in dem Karton. Das letzte, das er hineingelegt hatte.

Sie schloss den Karton. Sie trat aus dem Keller. Plötzlich alles grell. Sie sah in den Himmel. Gleißend. Und die Wolken wie Flecken darin. Als wären sie wieder blau.

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Christian Lange-Hausstein

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8 | Anna Peintner

Gefühlsgeschmack

Alwin fährt mit dem Zeigefinger über das blassgrüne Metallgeländer. Er zeichnet damit eine unsichtbare Schlangenlinie und denkt an Lisa. Er denkt an ihren hübschen Kopf und an das Muttermal auf ihrem Ohrläppchen, das aussieht wie ein kleines Loch. Es macht müde, gesteht er sich ein. Erinnerungen sind anstrengend.

In seinen zerschlissen Turnschuhen schlurft er über die schwarz-weiß marmorierte Treppe.

Dann, kurz vor Stockwerk Nr. 3, beschleicht ihn dieses eine seltsame Gefühl.

Seinen Finger prüfend bleibt er auf der letzten Stufe stehen. Nüchtern betrachtet er den ungeschnittenen Nagel und die wundgekaute Nagelhaut.

Was wäre, wenn er ihn ablecken würde?, fragt er sich. Wenn er ihn in den Mund stecken und kosten würde, wonach die Brüstung schmeckt?

Lisas Küsse schmeckten an jenem Abend nach ihrem mitgebrachten Flaschenbier und etwas anderem, das er nicht beschreiben kann. Es war ihm, als würde er am anderen Ende der Küche stehen und zwei Menschen beobachten, die keine Ahnung von der Liebe haben.

„Das geht so nicht“, hatte sie zu ihm gesagt. Auf ihrem Unterarm klebte Frischhaltefolie
vom neuen Tattoo, das sie sich hatte stechen lassen. Ein Strichmännchen. „Damit ich nicht immer so einsam bin.“ Komisch, wundert er sich. Mit ihr ist Alwin nie einsam gewesen.

Gebannt von seinem Körperteil, hört er nicht, wie Elli seinen Namen ruft. Er versteckt den ausgestreckten Finger hinter seinem Rücken und sieht zu ihr rüber.

Die Tochter von Herr Szabados steht mit einem vollen, gelben Müllsack vor dem Aufzug
und macht mit ihrer freien Hand eine große halbkreisförmige Bewegung in die Luft.

„Hallo?“, beschwört sie ihn ins Hier und Jetzt.
„Hallo“, erwidert er verlegen. Dann betätigt sie den Knopf zum Fahrstuhl.
„Fährst du mit?“, möchte sie von ihm wissen. Alwin nickt.

In der Kabine drückt er die Null. Da ist es schon wieder, das Gefühl. Am liebsten möchte er die Null noch einmal drücken. Und noch einmal. Und wieder möchte er wissen, ob man etwas herausschmecken kann.

Herausschmecken, dass es die Frau Huber eilig hatte zu ihrem Frisör oder dass sich der
Künstler von der Vier nach seinem Toilettengang nicht die Hände gewaschen hat. Der demente Herr Königsstätter, sein Nachbar mit dem Motorrad auf dem Balkon, hatte einmal einen Hundehaufen durch das Haus getragen. Ist er auch mit dem Lift gefahren?

„Wie läuft‘s mit der Diplomarbeit?“, unterbricht Elli sein Gedankenchaos.
„Super“, lügt er. Seitdem sie ihn verlassen hat, ist die Seitenanzahl unverändert. Und das Thema ist auch scheiße, denkt er sich.

„Gehst du eine Runde laufen?“, hält sie den Small Talk aufrecht. Mit einem dezenten Kopfnicken deutet sie auf seine dunkelblaue Jogginghose, die er seit Wochen trägt.

„Kaffee“, antwortet er nach einer kurzen Pause. „Der Kaffee ist aus.“ Aber eigentlich hat
Alwin keine Ahnung. Er hat vergessen, warum er die muffige Wohnung verlassen hat. Lässig greift er in die Hosentaschen und stellt fest, dass sie leer sind. Dann bleibt der Aufzug stehen. Elli geht voran und biegt in Richtung Müllraum ab.

„Schönen Tag“, wünscht sie ihm aufrichtig. Alwin lächelt hölzern, weil er nicht möchte,
dass sie seine schiefen Zähne sieht.

„Dir auch“, murmelt er, aber Elli ist bereits hinter der Schwingtüre mit dem Milchglasfenster verschwunden.

Er macht ein paar angestrengte Schritte nach vorne und geht zu seinem Briefkasten. Wollte er die Post holen? Das Kästchen kann er nicht öffnen, weil er den Schlüssel vergessen hat. Dass derselbe Schlüssel für die Wohnung ist, stört ihn nicht. Ist halt so, denkt er sich.

Alwin liest die vielen fremden Namensschilder. Acht Stockwerke, 22 Wohnungen, zählt er. Ob der Briefkasten gereinigt wird, möchte er wissen.

„Du bist noch hier!“ Elli steht verwundert hinter ihm und fährt sich durch das dunkle Haar.
„Rauchen?“, bietet sie ihm an. Aus ihrer Gesäßtasche zieht sie eine Schachtel Lucky Strike, die sie einladend vor seiner Nase schüttelt. Alwin ist einverstanden, obwohl es Lisas Marke ist.

Draußen im Hof raucht Elli mit geschlossenen Augen. Sie legt dabei den Kopf in den Nacken und stößt weißen Dunst in den Himmel. Alwin ist dagegen ein unspektakulärer Raucher. Das hatte Lisa jedenfalls behauptet.

„Du stehst nur da. Du stehst nur da und bewegst den Arm zum Mund und zurück.“ Ob sie ihn deswegen verlassen hat?

„Weiß dein Vater das?“, fragt er Elli träge.
„Ich bin 18“, erklärt sie und zuckt mit den nackten Schultern. Für ein paar Minuten stehen sie wortlos nebeneinander und rauchen. Wenn Lisa geschwiegen hat, dann war  die meistens böse.

„Ich muss los“, sagt Elli. Sie geht in die Hocke und drückt die Zigarette auf dem Pflaster
aus.
„Ist gut.“ Alwin möchte wissen, wo sie hingeht, aber er fragt sie nicht.
„Soll ich dir noch eine da lassen?“ Er schüttelt den Kopf.
„Danke, nein.“ Dann geht er zurück Richtung Wohnhaus.
„Und dein Kaffee?“, ruft sie ihm nach.
„Hab‘ das Geld vergessen.“ Elli verdreht neckisch die Augen.
„Wo hast du bloß deinen Kopf gelassen?“ Sowas Ähnliches hat seine Ex gesagt. Elli winkt ihm zu und geht hinaus auf die Straße. Für einen kurzen Moment schaut er ihr nach.

Im Aufzug drückt er die Drei, obwohl er auf der Sieben wohnt. Sein Blick fällt als Erstes auf den vertrockneten Türschmuck von Herrn Szabados. Lisa hat auch so einen an ihrer Wohnungstüre, stellt er fest. Lisa hat so einiges, aber das betrifft ihn nicht mehr. Im Treppenhaus ist es still. Ein kühler Luftzug strömt durch das gekippte Fenster herein. Alwins Hand ruht auf dem blassgrünen Metallgeländer. Es tut weh, denkt er sich. Dann kostet er an seinem Finger. Es ist eine Mischung, kommt ihm in den Sinn. Es ist der Geschmack vom Kommen und vom Gehen. Eine Prise Anfang, eine Prise Ende. Und irgendwo dazwischen schmeckt er Lisa. Schmeckt, wie sie über die Stiege gelaufen ist und beschlossen hat, nie mehr wieder zu kommen. Ob sie dabei geweint hat?, fragt er sich bedrückt. Salz schmeckt er jedenfalls nicht.

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Anna Peintner

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05 | Avy Gdańsk

Alle davon

Rührendes Gemehlde: Teiggesichter in Scheiben, Halbmondgrübchen, Lächeln auf Blechen. Firmament aus Stroh festgesteckt an wohlriechenden Nadeln – Voodootanne. Und Licht von einer Wärme, die den Gehsteig nicht erreicht. Wie auch von den Stimmen – helle Mehlstimmen – nur das gedämpfte Beschlagen bleibt, Staubschicht gegen die Fenster, inhaltsleeres Krakeelen.

Die schwarzen Stiefel eines Backwarenverächters knirschen auf der Straße. Lukas mit dem unwahrscheinlich blonden Haar, strubbelige Geistermähne, unsichtbare Augenbrauen. Ein Mehlwurm in der Vorratskammer der Gesellschaft, getarnt in Schnee und nachtschwarzer Jacke. Vor sich den kreischenden Weg zum Dorfrand, wo der Schnee nie stillgibt und die Festtage ihr hässliches Antlitz in den Christbaumkugeln nicht ertragen können. Die Glocken läuten hier nur zur Mette, um daran zu erinnern, dass es eine Außenwelt gibt.

In Jonnys Kellerwohnung steht kein Baum, und die Glocken gehen unter in den schweren Riffs aus der Anlage. Lukas klopft zweimal gegen das Fenster, es öffnet sich, Qualm entsteigt. Jonnys Stimme, sanft und hell trotz jahrelangen Kettenrauchens. „Warte, ich komm hoch, muss den Aschenbecher ausleeren.“ Sie treffen sich im Hof.

„Weißt du überhaupt noch, wie frische Luft riecht?“ Gehustetes Lachen, Rücken werden geklopft, Lukas am ledernen Arm die Treppe mit herunter gezogen. Neblichtes Zimmer, die Schwaden ziehen durch die gekippten Fenster, die schmal unter der Decke kauern. Rauchzeichen formieren sich in der Winterkälte zum Mittelfinger gegen die Besinnlichkeit. Im Zimmer wird es langsam kühl.

Der kühle Vorraum damals hinter der Haustür, am anderen Ende des Dorfes, wo Lukas sich Stiefel und Mantel auszog und das traurige Lächeln von Jonnys Mutter sich auf seine eigenen Mundwinkel übertrug, als wäre die schale Wohnungsluft zwischen ihnen Pauspapier und er selbst wüsste den Grund der Trauer nicht. Wie froh er ist, nicht mehr an ihr vorbei zu müssen.

Sie hat auch den Namen ausgesucht, diesen braven und biblischen Namen, für den sich Jonny geschämt hat, Jonah, weil er ihn mit einer unerfüllbaren Hoffnung belastete. Den Spitznamen hat er in der Schule bekommen und ist dabei geblieben, obwohl die anderen Kinder sich damit über ihn lustig machen wollten. Jonny, der trottelige Cowboy, der bei einer Kostümfeier über seine eigenen Stiefel stolperte und damit alle zum Wiehern brachte. Der zu still war und zu schüchtern, um den Revolverheld zu mimen, und deshalb so ein lächerliches Bild abgab. Beinahe erleichternd fiel ihm ab da die Rolle der Witzfigur zu, die zu erfüllen ihm keine Mühe bereitete.

„Wenn sie schon über dich lachen, dann gib ihnen wenigstens nen Grund dazu, sonst stehst du noch blöder da“, hat Jonny mal zu Lukas gesagt, in einem der seltenen Momente, wo seine Lippenspitzen nicht wie gewohnt durch Verlegenheit in diese halbe Höhe rutschten, als wäre sein Lächeln von der Klippe gestürzt und verunglückt, als hielte der Ernst sich vor Angst hinterm Herzen zurück und traue sich nicht, ins Gesicht zu steigen.

Jonny fällt aufs Sofa, klopft auf den Platz neben sich, während er mit den Lippen schon eine neue Kippe aus der Schachtel zieht wie für ein einzuübendes Zirkusstück. Hält Lukas die Packung hin, brüderlich geteiltes Gesundheitsrisiko. Grinst, als er Lukas das Ende ansteckt. „Wie früher“, mit gezündeten Augen und hauchdünnen Lippen. Reicht Lukas ohne zu fragen das erste Bier.

„Worauf hast du Bock? Hab noch n paar neue Videos besorgt. Von Nosferatu bis Fright Night.“ Im ewigen Dämmerlicht des Zimmers, im bläulichen Dunst sieht Jonny verschwommen aus, flimmernd. Der Aschenbecher gigantisch, eine Schale aus dickem, rotem Glas, durch das in den Abendstunden die Sonne fällt wie durch ein Kirchenfenster. Dazu die Chöre des Fernsehers, der immer läuft, wenn die Musik aus ist. Lukas betrachtet die grobkörnigen Gardinen, die jedes Mal etwas mehr gilben, als denke er über die Frage nach. Schmeckt irgendwie Süßes durch den Rauch, als hätte Jonny sich eine Zimtstange statt einer Zigarette angezündet.

„Lass uns mit nem Klassiker anfangen“, bringt er schließlich heraus, „vielleicht was mit Bela Lugosi?“ Jonny nickt, mehr im Takt zur Musik denn als Antwort, greift dann aber zur Videokiste, stellt sie auf seinen Oberschenkeln in den abgewetzten Jeans ab und sucht nach dem Band.

Zwischen spitzen Frauenschreien die schwarzweißen Fragen nach Lukas‘ Handelsschule („Ich hasse es“) und Jonnys Job („Ich ertrag die Wichser nur, damit ich die Bude bezahlen kann“). Albträume sind wahr geworden. Lukas Tag für Tag im Anzug und Jonny wöchentlich im Proberaum der Tors, eine „waschechte Scheunenrockband“, als wäre das ein richtiges Genre und ihr Name nicht das dämlichste aller Wortspiele. Eine dieser Lokalbands, die nur anderer Leute Lieder spielt und auf Dorffesten für Stimmung sorgt, wo Pärchen mittleren Alters mit weingeröteten Nasen erst dazu tanzen, später enthemmt mitgrölen und anschließend hysterisch darüber kichern, weil sie sich selbst beim Ausbruch ertappen. Das Erstaunliche dabei ist, dass Die Tors ständig gebucht werden, ob für Hochzeit, Geburtstag, Taufe oder Hauseinweihung und sogar für Beerdigungen. „Das geht nur hier, am Arsch der Welt“, lacht Jonny. „Aber ich bau mir ein zweites Standbein auf. Der Conrad sagt, ich bin gut. Er gibt mir ein, zwei ausrangierte Liegen, für den Rest spar ich, und dann mach ich hier mein eigenes Tattoo-Studio auf.“

Lukas ist skeptisch. „Hier, am Arsch der Welt? Kommt da jemand vorbei?“

Jonny winkt ab. „Con-Man meint, das geht schon. Ich soll mit ein paar Bekannten anfangen und dann spricht sich das rum, sagt er. Die…“, Jonny stockt und kratzt sich im Nacken, Wärme wird auf Wangen sichtbar, wieder liegt ein verunglücktes Lächeln in seinen letzten Zuckungen.

„Ich höre?“ Lukas zieht eine Augenbraue hoch. Jonny druckst herum.

„Also… Die Räuberhauptfrau hat schon gesagt, sie kommt vorbei. Um sich von mir stechen zu lassen. Die Haut, mein ich.“

„Die Räuberhauptfrau? Hat die auch einen Namen?“ Lukas überlegt, ob er seine neue Freundin auch erwähnen oder lieber verschweigen soll. Nur, wenn Jonny bereit für mein Glück ist, hat er sich vorher gesagt.

„Hat sie, aber den sag ich nich. In ein paar Wochen hat sie eh kein Interesse mehr. Hat sich von Conrad nen Violinschlüssel tätowieren lassen, um ihre Eltern zu schocken, bevor sie auf die Uni geht. Die ist aus gutem Hause, sag ich dir. Was will die schon von mir? Sobald die merkt, dass ich keine Ahnung von Beethoven hab und nur ein paar Gedichte von Benn versteh, ist es eh vorbei.“ Jonny setzt die Flasche an und ertränkt den Fortgang des Gesprächs mit einem gewaltigen Schluck.

Plötzlich knurrt Lukas‘ Magen wie Lon Chaney Jr. Er hätte vorher etwas essen sollen – bei Jonny, weiß er, gibt es nur Flüssignahrung. Entsprechend dünn ist sein Freund. Der aber schaut triumphierend hoch und sagt „Ha! Das hätt ich fast vergessen. Ich hab was für uns“, als müsse er selbst nicht essen und tue es nur Lukas zuliebe.

In der Küche – eine alte Küche, früher viel benutzt und heute kaum – das angekündigte Abendmahl: zwei Tiefkühlpizzen und ein Bottich selbstgemachten Glühweins. Zu Feier des Tages. Aus vom Weihnachtsmarkt vor acht Jahren geklauten Bechern. Hier kommt der Zimtgeruch her. Lukas‘ Hände knistern, als Jonny ihm das heiße Gebräu eingießt wie ein manischer Druide. „Zaubertrank. Das einzige, wofür dieses beschissene Fest gut ist. Also dann: Frohe Heilandsgeburt. Wie heißt es bei Benn? Schließlich kommt es, bläulich und klein. Urin und Stuhlgang salben es ein. Prost.“ Sie kennen nicht viele Dichter, die üblichen Handvoll, und Benn nur, weil Lukas Abitur gemacht hat. Es gefällt ihnen, wie verächtlich und angeekelt er über Menschen schreibt. Der wusste Bescheid.

Lukas nimmt einen Schluck, blutwarm und wachsrot, Advent brennt seine Kehle lang wie an einem Docht, er ist die letzte Kerze auf dem Kranz, Lichtgeruch in der Nase, sein Kopf scheint schwer, seine Versprechen werden hochheilig. Der Geist fährt in sie – „Traubengeist“, wie Jonny trocken lacht – befähigt sie, in anderen Zungen zu sprechen, denen des Gefühls, „vielleicht haben die Scheißjünger an Pfingsten bloß gesoffen“, und mit jedem entblößten Eckzahn auf dem Bildschirm spitzt sich diese Sprache zu, die ihnen nicht neu ist, aber zwischendurch immer verschüttet geht und wieder geborgen werden muss – Glück auf!

Und nun geht alles, was unmöglich schien. Jonnys Lächeln kraxelt bis zum Gipfel, bevor es sich hinabstürzt, und dann marschiert der Ernst auf in einer geraden, scharfen Linie vom Nasenflügel bis zum Mundwinkel, schreitet abwärts bis in Jonnys Stimme, die schwer wird und fest, wie auch seine Konturen trotz unablässigem Kippendunst immer schärfer und fester werden. Seine Jugend trägt sich ab, schneller noch als die von Lukas, rasend schnell. Jonny fühlt sich „so runtergekommen, aber dazu muss man erst oben gewesen sein“. Er sieht seinem Vater „viel zu ähnlich“, vielleicht deshalb die ganzen Ringe und Kugeln, um seinem Gesicht eine andere Wendung zu geben, um es gegen die Genetik zu gestalten. Gleich drei Piercings unter dem linken Mundwinkel wie ein Erkennungsmerkmal. Wo andere einen Punkt setzen, lässt Jonny drei davon stehen, jeder Satz ins Leere laufend, ins Nichts… Auf dem Bildschirm blutet jemand aus.

Die Becher nie halbleer, immer randvoll, dafür sorgt Jonny schon mit der Schöpfkelle und der Wein wird nicht weniger, Hochzeit von Kanaan, und das Wort Trunkenheit klingt so viel würdevoller und erhabener als dieses wüste Gelage es ist, dieser erbärmliche Versuch, eingestürzte Minen freizuschaufeln. Was in ihnen wütet, Jonny weiß es zu benennen, „eine Losigkeit“, und weint, weil es wahr ist. „Wie mein alter Herr: hat immer geheult, wenn er blau war“, stößt er voll Abscheu aus, „jeden Abend, bis er einfach umgefallen ist.“ Kommt in Fahrt, kann gar nicht mehr bei sich behalten, was sonst unausgesprochen verkümmert. „Und Toni, die Räuberhauptfrau, was soll ich da tun? Ich weiß jetzt schon, wenn sie mich anschaut und nicht zurückschreckt vor dem, was sie sieht… Wenn sie mich ansieht, mit zärtlichem Lächeln, dann kann ich zwar so zurückgucken, klar, aber ich liebe doch nur die mir zugewandte Seite. Ich kann doch nicht mehr geben, als ich hab.“ Wischt über die roten Augen mit zitternder Hand, die vom Ernst gezogenen Gräben werden tiefer, dort hat sich etwas abgesetzt, drückt die Mundwinkel nach unten. „Ich will das alles nicht, aber ich hab keine Ahnung, was ich stattdessen will. Irgendwas musst du wollen, haben immer alle gesagt. Vielleicht will ich einfach nur ein Ende, vielleicht ist das alles, was ich will.“ Noch ein Schluck, noch ein Schluchzen. „Immer muss es weitergehen und immer muss man das Leben bejahen. Auch wenn jeder weiß, dass es sinnlos ist und beschissen. Aber wenn du es nicht toll findest, sind alle sauer. Dann kommt irgendein Aufbauspruch oder Trost, der keiner ist. Ich will nur in Ruhe aufhören können.“ Krümmung zur Brust, den Hinterkopf in den Händen. „Aufhören zu nehmen, was ich eh nicht halten kann.“ Der Ellenbogen stößt eine leere Bierflasche um, die auf den Fliesen zerbricht. „Für die Unvollständigen gibt es nur Nehmen. Verzehren sich und andere. Nehmet und –“ Lukas, der Scherbenbeseitiger, liest das gläserne Vermächtnis auf und schon fließt Blut über die Handfläche. Der Himmel zieht zu, der Bildschirm wird schwarz, darin Lukas‘ Spiegelbild, die Haare hell wie ein Heiligenschein. Jonnys erstickende Worte hinter seinem Handrücken, er wird rot, während er trinkt, rote Lippen, rote Piercings, rotes Rinnsal übers Kinn. Wo kommen die verdrehten Augen an? Ein Gründonnerstag mitten im Winter, doch Jonny bleibt, obwohl er trinkt, der Ausgezehrte von den beiden. Die Salzreste auf seinen Lippen brennen in der Wunde. Ein Versiegen, ein Versiegeln, der Film läuft weiter, jemand seufzt.

Bei Sonnenaufgang lässt Lukas das Tor ins Schloss fallen. Schiebt sich ein Kaugummi in den Mund und betrachtet seine verbundene Hand. Auf der hellen Seite hält man oft mehr Kummer aus, denkt er.

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Avy Gdańsk

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02 | Stephanie Nebenführ

Das Wasser unter den Mühlen

Rheinsberg und seine Schwester stehen auf dem Bürgersteig vor dem Haus und machen einen Flohmarkt. Sie wollen Steine, selbstgemalte Bilder und tote Schmetterlinge an die Nachbarn verkaufen. Die Nachbarn kommen aber nicht vorbei an diesem Morgen. Nur die gelbe Katze von gegenüber streicht Rheinsberg ein paar Minuten lang um die Beine, bis ihr Kopf zuckt, irgendwohin, und sie im Garten hinter ihm verschwindet. Das alles ist zwanzig Jahre her und die Katze tot. Rheinsberg dagegen lebt noch.

Rheinsberg hat im Wald eine Bank entdeckt, auf der jede Woche ein Mann sitzt und niest. Rheinsberg findet heraus, an welchen Tagen der Mann auf der Bank sitzt und legt seine Spaziergänge genau in die Zeit, in der der Mann sein Taschentuch hervorholt.

Im Februar geht Rheinsberg an einem Freitag vor Sonnenaufgang mit dem schwarzen Hund der Nachbarin spazieren. Er läuft durch die Industriegebiete und kommt schließlich zu den Feldern, die weit draußen vor der Stadt liegen. An einer Wegkreuzung steht eine alte Linde, an deren Stamm ein kleines Schild befestigt ist.

Das Schild informiert darüber, dass an dieser Stelle im 17. Jahrhundert der Galgen der angrenzenden Stadt stand. Rheinsberg verstopft sich die Ohren mit Wachs und bindet dem Hund einen Faden an den Schwanz. Dann lässt er ihn in der Erde unter der Linde graben. Als der Hund eine Alraune ausgräbt, bindet Rheinsberg das andere Ende des Fadens an der Pflanze fest, zeigt dem Hund ein Stück Wurst und wirft es ein paar Meter weit weg. Der Hund rennt hinterher, während die Alraune an seinem Schwanz aus der Erde gezogen wird und zu schreien beginnt. Nach ein paar Sekunden bricht der Hund tot zusammen. Rheinsberg beugt sich über ihn und steckt die Alraune in seine Hosentasche. Dann kehrt er nach Hause zurück.

Andere Namen für die Alraune sind: Mandragora, Alruncke, Arun, Baaras, Galgenmännchen, Wurzelknecht und Springwurz.

1999: Rheinsberg schneidet Ankündigungen für Erotikfilme aus der Fernsehzeitung seiner Eltern aus. Er legt sich ein DIN-A-4-Heft an, eines, das für die Schule bestimmt ist, und klebt alle Anzeigen sorgfältig in das Heft ein.

Rheinsbergs Sammelleidenschaft kommt heraus, als er in den Sommerferien des gleichen Jahres mit seinen Eltern und seiner Schwester in den Urlaub fährt. Als sie wieder nach Hause kommen, liegt das DIN-A-4-Heft im Mülleimer des Kinderzimmers. Von da an kann er seiner Großmutter, die sich, kaum ist die Familie weg, durch die leeren Zimmer schleicht, nie mehr in die Augen sehen.

In manchen Nächten träumt Rheinsberg davon, ein Auto zu haben. Das Auto fällt ihm im Traum plötzlich ein, er weiß nur nicht mehr, wo er es geparkt hat. Dann gerät er in Panik: dass er das Auto verloren hat, soll sein Vater nicht erfahren.

Kurz vor Ostern findet sich Rheinsberg in einer leeren Kirche wieder. Er betritt die Kanzel und wendet sich schüchtern der nicht anwesenden Gemeinde zu. Dann räuspert er sich und sagt:

„Ich bin das Wasser unter den Mühlen.“

„Ich bin der holprige Weg ins Tal.“

„Ich bin der Hund hinter einer Glastür.“

„Ich bin das Pochen am Fenster.“

„Ich bin der Paartanz in einer zu engen Küche.“

„Ich bin der Blick auf eine hinter Tannen verborgene Großmutter.“

„Die Menschen lassen durch ihren Tod die Orte im Stich“, sagt Rheinsberg, als er mit einem Freund durch die Stadt geht. Der sagt: „Halt doch endlich mal die Klappe.“

Rheinsberg öffnet den Mund um zu antworten, doch bevor er etwas sagen kann, beginnt ein neuer Abschnitt:

Am Muttertag besucht Rheinsberg endlich seine Mutter. Sie sitzen auf der Terrasse, essen Kuchen und reden nicht über die Großmutter. Als die Mutter kurz im Badezimmer ist, schleicht sich Rheinsberg in ihr Schlafzimmer und schiebt die Alraune, die mittlerweile aufgehört hat zu schreien, unter die Matratze. Dies ist sein Muttertagsgeschenk.

Legt man eine Alraunenwurzel auf den Kaminsims, soll sie dem Haus Wohlstand, Fruchtbarkeit und Schutz bringen.

Legt man sie in ein Bett, soll sie den Schläfer vor Schwermut zu bewahren.

Rheinsberg fertigt heute sein eigenes Grabtuch an. Er presst sein Gesicht in das feuchte Geschirrhandtuch aus der Küche, und lässt es den Abdruck seines Gesichts annehmen. Das wiederholt er mehrmals mit verschiedenen Handtüchern und verteilt sie anschließend an seine Freunde. Sie sollen sie aufbewahren in ihren Nachtschränken, so dass ein Teil von ihm übrig bleibt, wenn er mal nicht mehr ist.

Der Sommer geht seinem Ende entgegen. Dies bedeutet für Rheinsberg und die anderen Mädchen die Rückkehr nach Lindenhof. Was ist das für ein Hallo auf den Gängen des Internats! Die Mädchen toben umeinander, verlorene Tennisschläger liegen auf den Gängen, und auf einem jeden Mädchengesicht tanzt ein Lachen. Carlotta, das lebhafte Mädchen mit den dunklen Augen, hakt Rheinsberg unter, und zusammen begrüßen sie Bobby und Jenny. Die beiden sind schon fleißig dabei, Streiche für das kommende Schuljahr auszuhecken. Die fröhlichen Zwillinge Hanni und Nanni stoßen dazu und umarmen Rheinsberg herzlich. Hanni hat in den Sommerferien noch mehr Sommersprossen bekommen als sonst, und Bobby seufzt laut auf: „Na wenigstens kann man euch Zwillinge dann für eine Zeitlang auseinanderhalten!“ Alle lachen. Die stille Hilda, die im letzten Jahr das Amt der Klassensprecherin innehatte, tritt zu der kleinen Gruppe und gibt Rheinsberg feierlich die Hand. Dann winkt die sportliche Marianne von weitem, und sogar Elli, die eitle Cousine der Zwillinge, sieht kurz von ihrem Handspiegel hoch, um alle zu begrüßen. Als sich die Wiedersehensfreude einigermaßen gelegt hat, betritt Fräulein Theobald, die Schulleiterin, die Szene. Sie blickt ernst, aber nicht unfreundlich, in die Runde und hebt königlich die Hand zum Gruß. Als sie Rheinsberg sieht, verändert sich ihr Gesichtsausdruck. Mit schnellen Schritten läuft sie auf Rheinsberg zu, packt ihn an der Schulter und zischt: „Das hier ist kein Ort für dich!“

Da lässt er Carlottas untergehakten Arm fallen und flieht aus Lindenhof. Im Hinauseilen übersieht er Mamsell, die kurzsichtige Französischlehrerin, die, von seinen schnellen Schritten aus dem Gleichgewicht geraten, gegen eine Wand prallt und in tausend Stücke zerspringt.

1994: Rheinsberg riecht an der Schiebermütze seines Großvaters. Derselbe ölig-fettige Geruch überfällt ihn Jahre später, als er zu nah neben einem Mann im Zug sitzt.

Wie die Bäume an diesem Samstag aussehen, das kennt Rheinsberg schon, das hat er schon einmal gesehen. Vor vielen Jahren, nur woanders. Woanders war das, dass er an diesem klaren Tag einen Waldweg entlanglief, und auf beiden Seiten standen die Bäume. Ihre Äste berührten sich fast über ihm. Ein Zentimeter, zwei, dann wäre da über ihm ein Dach gewesen. Und das Gelb der Blätter strahlt ihm noch immer herüber durch die Jahre.

Und niemand begegnete ihm an diesem Tag. Als wären alle plötzlich gestorben, und er wäre durch ein Versehen, durch eine Unachtsamkeit, noch am Leben geblieben.

Damals breiteten sich vor Rheinsberg plötzlich die Felder aus. Und von weit her drängte sich die Ferne wie ein alter betrunkener Freund an ihn.

Rheinsberg bezweifelt, dass es diesen einen hellen Tag, an den er sich glaubt zu erinnern, wirklich gegeben hat.

Der Tag wird sich wohl eher über die letzten Jahre hinweg in ihm zusammengesetzt haben. Eine Mischung aus Träumen kurz vor dem Aufwachen und dem Film Ich denke oft an Piroschka.

Rheinsberg hat im Wald eine Bank entdeckt, auf der jede Woche ein Mann sitzt und liest. Rheinsberg findet heraus, an welchen Tagen der Mann auf der Bank sitzt und legt seine Spaziergänge genau in die Zeit, in der der Mann sein Taschenbuch hervorholt.

An einem Mittwochabend folgt Rheinsberg seiner Mutter heimlich durch die Stadt, drückt sich in Häuserecken und sieht, wie sie ein Vereinshaus betritt.

Rheinsberg läuft an der Außenwand des Gebäudes entlang, bis er zum einzig erleuchteten Fenster kommt. Er wagt es nicht, hineinzuschauen und drückt sich unter dem Fenstersims an die Wand. Dann lauscht er.

„Er hat mir irgendwas unter die Matratze gelegt, ich weiß nicht warum. Vielleicht Ingwer oder so etwas. Als ich es gefunden habe, war alles so verschimmelt, dass ich die Matratze wegwerfen musste“, sagt die Mutter.

„Er hat meinen Hund umgebracht. Draußen vor der Stadt hab ich ihn dann gefunden. Das ist eine Schweinerei“, sagt die Nachbarin.

„Er hat das Auto irgendwo abgestellt und findet es nicht wieder“, sagt der Vater.

„Er ist furchtbar neurotisch. Was ist das mit den Geschirrhandtüchern? Er soll endlich aufhören, die Leute zu belästigen. Außerdem ist er nur ausgedacht“, sagt die Erzählerin.

„Er hat einen ausgewachsenen Gottkomplex“, sagt der Pfarrer.

„Er ist ein Perverser“, sagt die Großmutter.

„Er kann einfach nicht mal für fünf Minuten die Klappe halten“, sagt der Freund.

„Niemand kauft tote Schmetterlinge“, sagt die Schwester.

Danach sagt keiner mehr etwas, und Rheinsberg hört, wie Stühle gerückt werden. Als es hinter dem Fenster still wird, und jemand das Licht ausschaltet, bleibt Rheinsberg noch eine Weile im Dunkeln sitzen. Über ihm bewegen sich die Äste eines Baumes im Takt eines plötzlich aufkommenden Windes. Da springt eine gelbe Katze aus der Baumkrone, streicht ihm ein paar Sekunden um die Beine, bis ihr Kopf zuckt, irgendwohin, und sie in den dunklen Straßen verschwindet.

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Stephanie Nebenführ

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01 | Martin Peichl

Ständiger Verlust an Materie

Kometen, erzählst du mir, während draußen der erste Schnee fällt, verlieren mit der Zeit ihre Helligkeit. Sobald sie sich der Sonne nähern, werden Gase und Staub aus ihrem Kern freigesetzt, vom Sonnenwind weggeblasen und gehen unwiederbringlich verloren.

Alle 75,3 Jahre zieht der Halleysche Komet durch unser Sonnensystem, seine nächste Wiederkehr wurde für das Jahr 2061 berechnet. Ich überlege, wie alt ich dann sein werde, wie alt du, ob es uns noch geben wird, verrechne mich wahrscheinlich.

Noch am Anfang des 20. Jahrhunderts, sagst du, haben die Menschen sein Auftauchen als schlechtes Omen gedeutet, haben sie auf einen ganzen oder zumindest halben Weltuntergang vorbereitet, vor allem in den Städten hat dies zu mehrtägigen Trinkgelagen, zu Orgien geführt, ein wenig so wie Silvester 1999, als viele geglaubt haben, es ist vorbei, weil sie ihre Videorecorder nicht mehr programmieren konnten, ungefähr so soll ich mir das vorstellen.

In den Katastrophenfilmen, mit denen wir aufgewachsen sind, gibt es immer eine Person, die versucht die Regierung rechtzeitig zu warnen, aber natürlich reagieren die Verantwortlichen nicht oder zu spät, und es gibt immer auch eine Lovestory, ein Mann und eine Frau, die sich inmitten der Katastrophe gegen alle Widerstände finden, vielleicht sogar gemeinsam die Welt retten. Sie leiden nicht wie der Halleysche Komet, sie leiden nicht wie wir am ständigen Verlust von Materie, sie erstrahlen kurz bevor die Credits rollen noch heller als am Anfang des Films.

Später dann im Bett greife ich nach deiner Hand, schließe die Augen. Und wie jede Nacht verwandelt sich die Welt vor unserem Fenster in eine Schneekugel und wir warten: auf das nächste Schütteln.

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Martin Peichl

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freiTEXT | Dakota Bronson

Roberta Lima

„Roberta, Roberta!“, dachte ich und klopfte eifrig an das U-Bahnfenster als ich sie Richtung Heiligenstadt sitzend im gegenüberliegenden Wagon erblickte. Es war dies in der U-Bahnstation Meidling. Die Distanz zwischen den beiden entgegengesetzten Zügen war in dieser Station die größte. Vielleicht sogar größer als im restlichen Streckenverlauf. Dazwischen eine große asphaltierte Innenfläche mit insgesamt vier Reihen an Sitzbänken mit geräumigem Abstand dazwischen. Unmöglich konnte sie da mein Klopfen hören oder meine Gedanken empfangen. War sie es überhaupt? Dieser dunkelhaarige kleine Pagenkopf auf dem aufrechten schlanken Hals zwischen den zarten geraden Schultern einer vierzigjährigen Frau, die ohne jegliche Übertreibung und erst Recht aus der Ferne, auch wenn dieses Addendum das Kompliment schwächt, wie vierzehn aussah, konnte doch nur ihr gehören!

Unsere Züge setzten sich in Bewegung und zwar gleichzeitig und in die gleiche Richtung. Entgegengesetzt war bloß ihre Sitzposition.

An den weißen Zwischenmauern im Stationsbereich, die jeweils nur kurz die Sicht versperrten, vorbei, ging es draußen weiter Richtung Heiligenstadt. Die Züge näherten sich an, das heißt der Abstand verringerte sich, nach wie vor saß sie auf gleicher Höhe und sah nach wie vor gerade aus. Endlich erblickte sie mich und winkte, während ich noch immer behämmert klopfte. Schließlich gab mir ihr gewinnendes Lächeln die nötige Selbstsicherheit und ich lächelte zurück. Nun da unsere Gesichter einander zugewandt waren, sahen wir auch in die entgegensetzte Richtung, bloß die Züge fuhren noch immer in dieselbe. Das war herrlich, denn sie hörte nicht auf zu lächeln und gelegentlich zu winken und nur sie konnte dies auf eine Art meistern, die es auch über einen größeren Zeitraum hinweg nicht lächerlich wirken ließ. Den Zeitraum einer gefühlten glückseligen Ewigkeit, in der ich wiederum verzückt dasaß wie ein Mondkalb und nicht anders konnte als dämlich zu grinsen und mir auch nichts anderes wünschte. Dann kam jedoch plötzlich der entsetzliche Gedanke, dass ihr Zug ja schließlich in einen anderen krachen müsste, der diesem entgegenkam! Ich musste sie unbedingt warnen, kam aber aus der grinsenden Lähmung nicht heraus. Sie schien nun meine Gedanken zu erraten und winkte ab statt zu. Mit einer Handbewegung die deutete, es würde schon nichts passieren. Genieße doch das Leben!

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Dakota Bronson

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freiTEXT | Felix Wünsche

Mein Gesicht

Ich meide Spiegel. Den Blick in den Spiegel. Mir ist das zu schmerzlich. Dieses Bild dort im silbern hinterlegten Glas. Normalerweise versuche ich immer schon von außen festzustellen, ob in einem Café Spiegel hängen, an der Wand, hinter dem Tresen. Spätestens beim Hineinkommen entdecke ich sie, wenn ich prüfend kurz verharre, bevor ich ganz in den Raum trete. Doch jetzt, heute ist mir einer entgangen. Er hängt an einem schmalen Wandstück, hellblau gemalt, in schwerem, hölzernem Rahmen. Groß. Belauert mich. Wühlt in mir. Sein Blick. Dieser Blick, der mich so unangenehm bedrängt, dem ich nichts mehr entgegenzusetzen habe. All diesen Blicken. Etwas stimmt nicht mit mir, mit meinem Aussehen. Nicht die Kleidung. An meiner Kleidung liegt es nicht. Das habe ich in den letzten Wochen erprobt. Mehrfach, oft, für eine Weile mit dringender Besessenheit habe ich Kleidungsstücke gewechselt, den ganzen Stil meiner Erscheinung geändert, mir ganz ungewohnte Zusammenstellungen ausprobiert, die ich Modemagazinen entnommen habe. Eine kostspielige Anstrengung. Aber nichts. Keine Veränderung. Weiter treffen mich die Blicke. Unerbittlich. Habe ich sie zuvor nicht wahrgenommen?

Etwas habe ich verloren. Etwas sehen die Menschen in mir, das Unbehagen in ihnen erweckt. Ablehnung, Widerwillen, Ekel bis hin zu Abscheu, eine stille Wut entzündet sich, manchmal beschirmt durch ihre Lider, Verachtung auch, Hass. Sogar Hass. Überall diese Gesichter. Verstohlen die meisten, kurze Blicke, fast hastig wenden sie sich ab. Manchen steht ein erstauntes Erschrecken in der Miene. Prüfend andere, lange nach Wahrheit forschend, bereit, Gutes zu entdecken, plötzlich enttäuscht, wütend, anklagend, Mühe an mich verschwendet zu haben. Unverhohlen starren mich Einzelne an, voller blödsinniger Neugier, sich ihrer Begleitung lachend zuwendend, einige zeigen mit dem Finger auf mich, hämisch verschiedentlich, voller Lust an dem, was sie als meinen Makel, unauslöschlich, unverzeihlich betrachten. Eisige Härte versteinert immer wieder Gesichtszüge, eine angestrengte Angewidertheit, nur am fast unmerklichen Zucken der Mundwinkel erkennbar, der Begegnung mit mir ausgesetzt zu werden. Am erträglichsten sind die Kinderblicke. Ernst und neugierig erlauben sie mir, mich wie ein seltenes Zootier zu fühlen. Die Kellnerin hier hat mir ausdruckslos ins Gesicht geschaut, flüchtig, mit halb niedergeschlagenen Augen, ein Ausdruck, der ein vages Echo wachgerufen hat. Ihre Haare fallen ihr weit in die Stirn. Keiner dieser Blicke. Sind sie real? Nehme nur ich sie so wahr? Kann ich mir sicher sein, dass mich alle so ansehen, wo selbst jener Spiegel im Wandblau mich beklommen werden lässt?

Etwas schaut mich aus den Gesichtern an. Richtet Gesetze auf. Schafft Recht. In dem Moment, in dem mich die Blicke treffen, verurteilt es mich. Ich gehe nur noch mit gesenktem Kopf dahin. Was hat mich hierher gestellt, in fortgesetzte Begutachtung? Ein Wall ist niedergebröckelt. Allmählich, schleichend? Habe ich es nicht gemerkt, hätte ich es verhindern können? Oder ist er niedergebrochen, plötzlich? Zwischen mir und ihnen. Diese stille Fassade, unauffällig getüncht, schmucklos, die sich einreihte in die Häuserfronten entlang einer der vielen Straßen. Mich verbarg in der Menge der anderen Gesichter. Weg jetzt. Alles liegt offen da. Jeder kann beanspruchen, alles über mich zu wissen. Puppenhauswände, das Innere dem prüfenden Blick dargeboten. Wer schauen will, schaue. Meine Seele. Liegt offen. Scheint jenen Blicken offen zu liegen. In meinem Gesicht, auf meiner Haut. Mit einem Mal möchte ich mich verbergen. Bin ein Flüchtling geworden. Fremd. Gehe gemessen. In mir der Impuls zu rennen, wegzulaufen, ein ständiger Begleiter. Ich schlage den Blick nieder. Unwillkürlich. Bald hatte ich gelernt, Blicken subtil auszuweichen. Immer mehr hat sich in mir die Überzeugung festgesetzt, die Ursache sei in mir zu finden, strahle nach außen, müsse aufgehalten werden. Ich trage einen Hut, eine Sonnenbrille mit großen Gläsern. Ziehe ihn tief in die Stirn. Dann wieder fühle ich mich getrieben, von meinem Recht getrieben - welchem? -, hinauszugehen, mich dem Gericht zu stellen, entgegenzustellen, unverhüllt, mit hoch erhobenem Kopf. Vergebung erhoffend. Gerechtigkeit fordernd. Ein blöder Trotz vielleicht. Denn gleichzeitig will ich nichts mehr als mich verkriechen. In meiner Wohnung. Fest abschließen. In dieser Wohnung ohne Fassade. Mit dem Spiegel, dem einen Spiegel, den ich nicht meiden kann. Ständig am Anfang und auch jetzt in manchen Momenten, viel seltener und unter stetig zunehmendem Unwohlsein, das sich zu einer quälenden seelischen Pein steigern kann, habe ich mich selbst dort im Silberglas examiniert. Dem einzigen Spiegel in meinen Räumen. Teil des pompösen Aufbaus einer alten Kommode, die ich, ganz dem momentanen Geschmack an alten Möbeln entsprechend, im Internet erworben habe. Mit sorgfältiger Akribie fahre ich jede Linie, Kerbe, Erhebung meines Gesichts nach. Lippen, Augenfalten, Nasenflügel, die feinen Hügel der Wangen. Wieder und wieder, weiche meinem eigenen Blick aus, während sich ein erstickendes Ekelgefühl an mich heranschleicht, von mir Besitz ergreift, mich in der Magengrube packt, schüttelt, würgt, sauer und schal. Obwohl ich nichts, wirklich nichts auffinden konnte, was mir auf irgendeine denkbare Weise nicht menschlich erschien. Eigenheiten der Gestalt, der Haut, Porung oder Färbung, Deformierungen. Keine Merkmale, die mich eindeutig von anderen abheben würden. Etwas später, wenn ich mich erholt habe, durch gleichmäßiges Atmen beruhigt, einen Tee trinke, jagen meine Gedanken wild dahin, drängt sich mir der Verdacht auf, ich könnte in einer Illusion von mir selbst befangen sein, mein Gehirn könnte mir eine Gestalt zeigen, die nicht der Wirklichkeit, der schrecklichen Wirklichkeit entspräche. Ein Wunschbild, das ich mir von mir selber mache. Leider habe ich keine vertrauten Menschen, die ich dahingehend befragen könnte. Freunde sicher, aber niemanden, den ich in die mögliche, allergrößte Verlegenheit bringen wollte, eventuell eingestehen zu müssen, dass auch sie oder er etwas an mir anstößig finde, bisher in Stillschweigen verhüllt. Etwas, das auch sie möglicherweise nicht voll in ihr Bewusstsein dringen lassen, um den Kontakt mit mir überhaupt möglich und erträglich zu machen.

Hier muss ich etwas gestehen. Vor ein paar Tagen, bei einer dieser schwierigen Selbstbeschauungen habe ich zu meinem zitternden Erschrecken eine rötlich-braune Läsion auf der linken Wange entdeckt. Sie ist klein. Unscheinbar. Und so muss sie meiner Aufmerksamkeit entschlüpft sein. Oder ist es ein Riss in meiner Illusion über mich selbst, der mich diese Stelle hat auffinden lassen? Nun treibt mich die ständige Besorgnis um, dass sie wächst, sich ausbreitet. Wie konnte ich sie übersehen? Wie lange ist sie schon da? Vielleicht ist dieses Mal die Ursache für die Aufmerksamkeit, die ich errege. Gleichzeitig bin ich sicher, dass es diesen Fleck anfangs nicht gab, er eher hervorgekommen, gewachsen ist mit der erzwungenen Entfremdung. Eine Markierung. Mir aufgedrückt. Natürlich habe ich überlegt, einen Arzt aufzusuchen. Doch hält mich zurück, dass mir so recht kein Weg einfällt, wie er Abhilfe schaffen könnte, wollte er mir nicht ein gänzlich neues Gesicht verpassen, da es mit der Entfernung der Stelle nicht getan sein würde. Dies aber etwas ist, das mir medizinisch nicht möglich erscheint und trotz all meiner Pein auch nicht wünschenswert.

Am meisten drängt es mich dazu, in Gesichter zu schauen. In so viele, wie nur möglich. Ich setze mich auf eine Bank in der Fußgängerzone, in Shopping-Malls, in Cafés, wie jetzt, mit Hut und Sonnenbrille, schaue die Gesichter an, die vorüberziehen, registriere jedes Mienenspiel, jeden Ausdruck, jedes kleine Muskelzucken. Sie gleiten vorbei. Stetig. Ein Strom. Frisch, ausgelaugt von der Zeit, jedes ein bisschen anders, alle ein wenig gleich. Vorderfronten. Schützen ihre Träger. Markieren ihre Ansprüche. Zeigen ein Bild, von dem ich nicht weiß, was es über die Räume dahinter erzählt. Alle haben es. Was ich verloren habe. So scheint es mir. Ein Gesicht. Das meine Seele trägt, verhüllt zum Ausdruck bringt. In den anderen suche ich meins. Hoffe, dass es mir jene Blicke, die es mir gleichgültig entrissen haben, genauso gleichgültig zurückgeben. Eines Tages. Wenn ich nur lange genug ausharre.

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Felix Wünsche

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freiTEXT | Peter Sipos

wenn ich verschlafe

wenn ich meine socken angezogen habe, dann laufe ich immer zum arzt, in den socken die straße hinab und stehe dann vor der praxis und klingel mindestens dreimal, schnell nacheinander, mit dem finger fest gegen die klingel gedrückt und der arzt (er arbeitet ganz alleine in der praxis) ruft aus dem fenster herab: „wieso kommen sie erst jetzt zu mir? ich habe sie schon lange erwartet?“ und ich rufe dann zum fenster hinauf (das der arzt aber gerade schon schließt): „ich habe verschlafen, tut mir leid.“

         beim eintreten zögere ich für eine sekunde, damit ich meine entscheidungen nicht übereile und laufe dann die treppen hinauf, zwei, drei stufen auf einmal, obwohl eigentlich auch ein aufzug vorhanden wäre, und oben hämmere ich gegen die tür des arztes, auf der tür steht: „dr. kewesch“ und außerdem die öffnungszeiten (rund um die uhr) und wenn der arzt dann nicht innerhalb der nächsten zwölf sekunden öffnet, dann stampfe ich mit den füßen auf den kleinen willkommensteppich vor der tür, bis der arzt endlich öffnet und ich ihn anschreien kann: „sie idiot haben mir ihre telefonnummer immer noch nicht gegeben, wie soll ich dann bescheid sagen, dass ich später komme?“ aber der arzt gibt mir seine telefonnummer trotzdem nicht, ich glaube weil er angst davor hat, dass ich ihn einmal im urlaub anrufen werde, um zu erfahren, wo ich ihn auffinden kann, für den fall, für den notfall.

         „ziehen sie bitte ihre dreckigen socken aus“, sagt der arzt, ich nenne ihn in diesem fall: „notarzt“. das macht aber nichts zur sache, weil herr dr. kewesch im selben fall zwei messer aus der schublade zückt (das eine messer für meine niere und das andere um die öffnung in meinem bauch wenigstens ein stück weit offen zu halten). „bitte“, sage ich meistens wenn es so weit kommt, „ich möchte meine socken heute ausnahmsweise einmal anbehalten dürfen.“ aber der notarzt, herr dr. kewesch, brüllt in mein ohr: „sie sind zu spät heute, ich darf jetzt alles entscheiden!“ wir lachen und schütteln unsere hände, als wären wir zwei freunde, es geht jedoch beim händeschütteln immer nur darum, dass der notarzt meinen puls messen kann (das kann er eigentlich nie so richtig, weil ich meine hand nach ein paar sekunden aus seinem griff reiße).

         ich halte für einen moment die luft an, weil es dann schon so weit gekommen ist, dass dr. kewesch mich operieren will und weil er kein einziges mal bisher schmerzmittel zur verfügung hatte, muss ich mich selbst in narkose bringen, das funktioniert nur gut, falls ich die luft lange genug anhalte, bis ich atemnot bekomme, ich frage oft nach einer plastiktüte, die ich mir über den kopf ziehen kann, aber selbst das hat herr dr. kewesch selten für mich parat. die luft geht mir schnell aus, ich blicke in den letzten sekunden vor meiner ohnmacht in eine der verschmutzten ecken, dort liegt ein sandwich von mir, das ich letzte woche nach der operation in die ecke geworfen habe, ich möchte fragen: „darf ich von diesem sandwich ein letztes mal beißen?“

doch dann ist es zu spät, weil alles wird schwarz vor meinen augen und mir wird sehr schwindelig und ich bräuchte etwas luft, nur ein bisschen luft, ein letztes mal atmen bitte, herr dr. kewesch, herr notarzt, lassen sie mich atmen, ich hasse es wenn ich nicht atmen kann und ich wache auf, als die operation schon lange vorbei ist, mindestens zwei stunden später und ich liege eine weile da und summe leise vor mich hin, wie ich es zu tun pflege, wenn ich sehr große schmerzen habe, mit halb offenem mund und der arzt setzt sich an sein cello und versucht mein summen zu begleiten, um mich zusätzlich zu versorgen, dafür muss ich normalerweise einen aufpreis bezahlen aber vielleicht gewährt er mir diesmal alles umsonst, er hat jetzt schließlich meine niere.

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Peter Sipos

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freiTEXT | Katrin Rauch

A und B und C, oder Möchten Sie an Ihrer Destination ein Hotel buchen?

Wissen Sie, verehrte Lesende, mit der Reibung ist das so eine Sache. Es kann durch Reibung zum einen ganz warm werden – heiß direkt. So heiß etwa, dass beim Eislaufen das Eis unter den Kufen schmilzt und dadurch die derartige Fortbewegung überhaupt erst ermöglicht wird. Wird’s aber zu heiß oder passiert die Reibung an unangebrachten Stellen, kann es zu garstigen Verbrennungen führen: man reibt sich auf oder gar wund. Zum Auf- bzw. Wundreiben braucht es im Übrigen nicht zwangsläufig zweierlei. Das funktioniert allein mitunter ebenso gut. Diese diversen Reibeverhältnisse werden in freier Wildbahn des Öfteren eindrücklich demonstriert und beobachtbar gemacht – wie etwa im Folgenden bei A und B und C. Sämtliche möglichen Formen der Reibung – alleine, aneinander, heiß, kalt, wund, warm, um nur einige zu nennen – wurden und werden derart lehrbuchartig praktiziert, dass A und B und C und deren jeweiliger Reibung eigentlich ein Platz in denselben gebühren würde – gäbe es solche Lehrbücher denn. Denn mit der Reibung ist das so eine Sache. Sie entsteht nun mal nicht nach Lehrbuch, sie entsteht dazwischen.

Also, es ist so: Ich reise berufsbedingt überdurchschnittlich viel. Jede Woche eine andere Stadt, ein anderer Gig. Jede Woche eine andere Destination. Dafür buche ich der Gewohnheit halber One-Way-Flüge. Einen von A nach B, einen von B nach A, einen von A nach C, einen von C nach A, und so weiter, nur in den seltensten Fällen von B nach C oder dergleichen. Und am Ende jeder dieser Buchungen werde ich von der Buchungsplattform gefragt: Möchten Sie an Ihrer Destination ein Hotel buchen? Auch bei den Buchungen nach A werde ich von der Buchungsplattform gefragt: Möchten Sie an Ihrer Destination ein Hotel buchen? Dabei ist A so oft Ausgangspunkt und Rückkehrort meiner Flugstrecken, man möchte meinen, die Algorithmen hätten bereits eins und eins zusammengezählt und konkludiert, dass A wohl mein Wohnort sein muss. Aber ich werde am Ende jeder einzelnen dieser Buchungen von der Buchungsplattform gefragt: Möchten Sie an Ihrer Destination ein Hotel buchen? Wofür?

Ich finde, wir sollten wieder einmal Sex haben. Wir könnten uns wieder einmal treffen und uns betrinken, dann läuft es ohnehin darauf hinaus. Wir würden einen Wein trinken, oder mehrere, bei dir im Wohnzimmer oder in einer Bar – ganz egal, es würde dann damit enden, dass wir uns angreifen und uns gegenseitig ausziehen – dafür reicht die Leidenschaft, fürs sich gegenseitig Ausziehen – und dann würden wir wieder einmal Sex haben. Betrunken. So lange, bis wir nicht mehr betrunken sind. Dann ein bisschen Dösen und Reden und Dösen und Reden und nochmal Angreifen und dann würde ich nicht dableiben, weil ich ja wie immer schon was vorhabe.

Es wird mir also vorgeschlagen, nur temporär hier zu wohnen, wieder abzuhauen. Es wird mir vorgeschlagen, ein temporäres Bett zu kaufen, kein eigenes zu haben. Es wird mir vorgeschlagen, mir ein Bett mit den Gästen zu teilen, die vor mir in diesem Bett geschlafen haben und nach mir in diesem Bett schlafen werden, und dazwischen die Bettwäsche nicht selbst zu waschen. Es wird mir vorgeschlagen, keine eigene Küche zu haben. Ich soll mich in der Früh, zu Mittag und/oder abends bekochen lassen. Es wird mir vorgeschlagen, bald wieder abzuhauen, denn das wird doch von einem verlangt, wenn man im Hotel schläft.

Reibung wird gelegentlich als Friktion bezeichnet und beides weist doch unabdinglich onomatopoetische Qualitäten auf. Passend, wenn man bedenkt, dass Reibung oder Friktion etwas ist, das zuweilen durchaus hörbar ist.

Die Nachbarn über deiner Wohnung haben deiner guten Freundin, die noch eine Wohnung darüber wohnt, mal gesagt, dass da wohl jemand neuerdings regelmäßig recht „ausführlich“ miteinander schlafen muss. Sie hatten laut deiner guten Freundin tatsächlich „ausführlich“ gesagt, weißt du noch? Was haben wir uns tot gelacht und dabei nickend zugeben müssen: Mit welchen Worten man unsere Male auch beschreiben wollen würde, „ausführlich“ wäre das passendste unter ihnen. Und hinter dem Gelächter hatte unser Inneres mitgenickt und zugegeben: Das ist auch schon das Einzige, das an uns „ausführlich“ ist.

Warum sollte ich mir ein Hotel in einer Stadt nehmen wollen, in die ich immer wieder zurückkehre? Also ein- bis zweiwöchentlich. Also andauernd. Als wäre das nicht Grund genug, mir eine bleibendere Bleibe zu suchen als ein Hotel. Aber was soll’s – dann wird mir eben vorgeschlagen, dort ein Hotel zu nehmen, wo ich eigentlich eh wohne. Dann wird mir eben vorgeschlagen, nicht meinen eigenen Kaffee zum Frühstück zu trinken. Nicht mein Kaffee. Ich muss mich ja nicht darauf einlassen und kann die Meldung genauso einfach übersehen, wie ich auch die anderen Meldungen übersehe: Mietauto, Zusatzgepäck, Reiseversicherung.

Ich finde, wir könnten jetzt langsam wieder einmal Sex haben. So ohne Netz und doppelten Boden. Ohne Poolnudel und Schwimmflügerl – wofür denn? Wir wären locker und ungezwungen und würden uns angreifen und ich könnte es mittlerweile sogar greifen, denn inzwischen hätten wir uns ja schon öfter angegriffen und irgendwann gewöhnt man sich. Außerdem wäre in der Zwischenzeit viel passiert. Vielleicht haben wir da ja gelernt, keinen Rettungsring zu brauchen, und ich, dass du doch keine Gewohnheit bist.

Interessant zu beobachten sind auch die Reibungsunterschiede, je nachdem in welche Richtung gerieben wird. Hinwärts verhält es sich ähnlich, wie bei einer Wasserrutsche, wobei am Ende das erfrischende Schwimmbecken wartet. Dazwischen ist vor allem in den Kurven verhältnismäßig viel Herzklopfen zu erwarten. Rückwärts: mehr so flauschige und feste Seite des Klettverschlusses.

Es ergibt eigentlich von der Logik her überhaupt keinen Sinn, aber ich finde die Anreisen immer anstrengender als die Rückreisen. Ich bin bei der Ankunft im Hotel in B und C und dergleichen immer fertiger, als bei der Rückkehr in meine Wohnung in A.

Nur blöd, dass die Schwimmbeckenreibung die Klettverschlussreibung überhaupt erst verursacht.

Von der Logik her müsste doch die Anreise vor lauter Vorfreude und so weiter viel weniger zermürbend sein. Vielleicht liegt’s daran, dass ich beruflich und zu viel reise.

Manchmal erzähle ich lieber, wir hätten uns auf Tinder kennen gelernt, denn die Eislaufgeschichte glaubt uns eh kein Mensch. Du rutschst aus, fällst in mich hinein, ich falle und schlage mir am Eis einen Zahn aus. What are the odds? Manchmal denke ich: Heute würdest du nicht mal mehr in Tanzschuhen auf dem Eis ausrutschen, um nicht in mich hineinzufallen.

Vielleicht liegt’s dran, dass ich im Hotel in B und C und dergleichen nicht erst herausfinden muss, wie die Dusche funktioniert, und dass [zuhause] (Anm.: nachträglich eingefügt) die Bettdecke vertraut riecht.

Das vorletzte Mal, dass wir miteinander geschlafen haben, hätte ich sogar noch ein bisschen bleiben können, aber du hattest schon was vor.

Das letzte Mal hab ich dich auf Tinder gesehen.

Vielleicht liegt’s auch daran, dass bei der Anreise gefühlt mehr schiefgeht als bei der Rückreise. Aber das kann auch Einbildung sein.

Vielleicht liegt das daran, dass du immer so selten zu mir und ich immer so oft zu dir gefahren bin. Vielleicht liegt’s auch daran, dass ich dann wieder nicht dageblieben bin, weil ich – ja, warum eigentlich?

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Katrin Rauch

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