freiVERS | Ernad Osmic

Rahmet oder Wie Gleichmut geht

wenn du entschließt zu sterben
vergiss nicht den Herd auszumachen
und den Kühlschrank und das Bügeleisen
und den Fernseher aus der Steckdose
und schalte alle Lichter aus
oder noch besser
nimm die gesamten Sicherungen raus
schraub alle Glühbirnen raus
(die im Kinderzimmer
hast du ja lange schon herausgeschraubt)
zahle die Rechnungen
zahle die Kreditrate
zahle alle Schulden
versöhne dich mit Feinden
vergib ihnen, falls nötig
geh zum Grab deiner Mutter
geh zum Grab deines Vaters
geh zu allen Gräbern
zu denen du gehen solltest
küss dein Kind
küss auch das andere
küss deine Enkelinnen
streiche die Wohnung
fege vor der Tür
putz dein Badezimmer
wasch das Geschirr
putz deine Zähne
ziehe saubere Unterhosen an
ziehe ein sauberes Unterhemd an
damit die im Leichenschauhaus nicht lachen
bring den Müll raus
(denn, nur weil du entschlossen hast zu sterben,
bedeutet das ja nicht, dass morgen nicht Diensttag ist)
guck dir die Elbe an
geh runter und berühre sie
schau dir die Lichter in ihr an
zähle sie
guck nach oben
du siehst Sterne
zähle sie nicht
einatmen
ausatmen
schließe deinen Mund
hörst du in dir
etwas klopft
Hufen von Pferden
etwas schwellt und quietscht
Kinderschritte im Schnee
etwas brummt
der Regen als du geliebt hast
atme ein
atme aus
sie Rufen dich
du kennst seinen Namen
atme ein
fühlst du sie?

 

Ernad Osmic

 

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freiVERS | Lütfiye Güzel

9:45 p.m.

watched a documentary
on beuys
& even though I know it all in the end
& at the beginning too
I’m there
dangling a teabag
in the cup
the poems are useless
the poems are dead rabbits

 

Lütfiye Güzel

 

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freiVERS | Max Rauser

Das sanfte Klicken,
mit dem sich Bilder überlagern,
(Ich höre es im Kopf) übereinander
einrasten. Zum Beispiel:
Wie wir hintereinanderher
durch den Wald laufen. Wir
sind zu diesem Zeitpunkt sicher
schon einen Monat lang ein Paar.
Das heißt, es muss mindestens
im Juni sein, der Sommer steigt,
der Wald ist grün und dicht,
der Vormittag noch klar.
Und gleichzeitig fürchte ich
deinen Vater, du Atalante, fürchte,
dass ich die Äpfel zuhause
vergessen habe. Es ist ja auch nicht ihre Jahreszeit.
Oder: Die ständige Flucht
meiner Gedanken aus der Zeit
(Ist es eine Flucht?), wie
als ich die breite Treppe
eines U-Bahnhofs heraufsteig,
die bewohnt ist von Kot und
Müll. Und mir kommt die Treppe
vor, wie zum herrlichsten Tempel führend:
Man war so müde, wenn man endlich
oben stand.

 

Max Rauser

 

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freiVERS | Caroline Danneil

im liegen im bett zum beispiel

sind schwäne in zimmerdecke eingegraben & ein fleck wär
ein stück herausgefall’nes brot; schimmelgrau

erinnerung 1
der ruf des eichelhähers, sein kreischen, wie das einer ente
schon verwischt, vorbei

erinnerung 2
sich kräuselnde schatten gelblich & schwarz
– sommer, später nachmittag, auslaufende zeit –
schatten die substanzlos springen wie
berührungen seltener geworden sind & herumspringender,
ungerichteter, indirekter –

von wänden übermitteltes wissen
ich muss meine hand bloß auflegen
kühlen auf zeichen warten

schwäne & brotstücke & vergangene, ausgegangene
berührungen, auf dem weg zu mir gingen sie jemandem vor meinen
augen aus

von wänden übermittelt
was sperrte ich mich auch anfangs so
gegen sie ein.

 

Caroline Danneil

 

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freiVERS | Stéphanie Divaret

Die Liebenden

Abends standen sie, im Winter,
achteten auf Gleichmaß in den Atemstößen,
setzten den Dolch nur etwas tiefer.

Mit jedem Intervall, das sich verkürzte,
stieg eine Spannung in den Sehnen,
dass die Faust sie nicht mehr hielt.

Aus roten Wänden fiel ein frostiger Befehl,
bis einer aufhorchte, dann beide.

Eine Saite riss, schnalzte in ihren Untergang
und wippte nach als Material.

Wie kleine Tiere fielen letzte Töne
aus dem Korpus einer Weite, die es plötzlich
nicht mehr gab. Nur noch

ein paar Kristalle fügten sich in großer Höhe,
zwei Atemlängen,
auf denen irre Schwärze lag.

 

Stéphanie Divaret

 

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freiVERS | Raoul Eisele

ein Fleischerleben

unter all dem verwesenden Ruhm
grub er sich aus der dunklen Bauernerde
hin zum Leben:
verwurzelt, wuchs er
Blütentrieb um Blütentrieb heran
neben Kälbern auf der Weide
die um ihn grasten
um endend in jenes zu beißen;
beim Schlachten war er erstmals
mit sieben auf der Bank
[man musste ein Mann werden – tränenvergießen ausgeschlossen]
erbarmungslos
dann schickte man ihn in die Lehre
- Fleischer -
traditionsreich war die Dynastie
schon in der fünften Generation
schlachten/ausweiden/zerteilen/verarbeiten/servieren.
Man war in aller Munde
durch ihn versammelte man sich am Tisch
Jung und Alt
alles kam zusammen …

… als man ihn begrub
warf man Speckscheiben
Rosenblätter waren ausverkauft.

 

Raoul Eisele

 

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freiVERS | Luca Manuel Kieser

aus dem Heu

im Mai wirds erste Mal geheut
sie häufens Heu zu Haufen auf
komm lass uns Vögel also in die Wiesen

lass uns den jungen Schreckens Heu stibitzen
die sitzen eh darin und springen raus

sobald sich etwas regt springens
sobald ein Heuhalm sich bewegt
springen sie auf
hocken in Heu
schrecken aus Heu
Hexen

komm lass uns lieber Nester baun daraus

 

Luca Manuel Kieser

 

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freiVERS | Andreas Hippert

Analogie

Eingerollt
die Ringelnatter
reglos
in der Stille
des Sandsteinbruchs.

Vibrierend
die Mücke im Genick
den Bohrer ins
Schuppensediment
treibend.

Aufsteigend
hinter der Natter
die Abbruchkante
eine rohe Wunde
im Berg.

Andreas Hippert

 

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freiVERS | Manon Hopf

UNTER UNSEREN Atem ein
Ziehen, wir hechten mit
den Bächen ins Moor
dort asten wir
unter den Bäumen liegen
unsere Beine wie
Wurzeln nach einem
Sturm aus den Röcken
gehoben heben wir den Schritt
in die Luft, tragen
am Waldrand das Gesicht
auf den Schenkeln

 

Manon Hopf

 

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freiVERS | Bianca Boer

Vaste grond

Ik zal voor jou de plattegrond van het huis borduren, mama,
in zwarte lijnen. Erover met gekleurde draad een lijsterbes,
goudsbloemen, je forsythia. Laten we niets vergeten, ik schrijf
alles voor je op, ook al zal jij je schamen dat onze vuile was
op de muren staat. Ik zorg voor dekkende verf, blokwitters.

Waarom ben ik altijd bang? Omdat jij altijd bang was voor alles
wat zou kunnen gebeuren. Zo bang als nu heb ik je niet eerder
gezien. Je staart voor je uit, wordt stram, valt stil. In mij een
diep verlangen sokken voor je te breien. Koude voeten blijven
zeuren en hoe meer gedachtes je overhoudt, hoe beter het is.

Er komen al minder mensen langs. Welke stemmen zitten er in
je hoofd? Vriendinnen? Oude buren? Praat je met oma? Zegt ze
tegen je dat je niet bang hoeft te zijn? Het is gewoon het leven.
Ze is nog bij je, zoals jij nog bij mij bent. Ik heb maar een moeder
waar ik nog steeds naar terug kan rennen.

Je bent gestopt me te bellen, je weet niet meer hoe dat moet.
Ik had buikpijn toen ik dat eindelijk begreep. Niemands schuld.
De eerste vaardigheid die je verliest. Ik wil tegen je zeggen dat
het niet erg is. Geeft niets. En dan kijk je me aan alsof je heel
even zag dat ik ook iemand anders was.

Het dorp zingt. We horen het binnen. Jij verschoof de wereld,
mama. Jij versleepte mij, ontroerde mij, jij leerde me de dagen,
ik besta uit regels, wij zijn poezie, ik heb je nodig. Het is wel erg
natuurlijk. Zo bedoel ik het niet. Het is het ergste. Ook al ben ik
nu zelf moeder, dat wil niet zeggen dat ik hier klaar voor ben.

Koffiezetten kun je wel, dus ga ik op bezoek in het huis dat ik
borduur. De stoelen aanraken, mijn voeten in je sloffen steken,
merken dat de vloer onder de tafel is verschoven. Wie dacht je
dat ik was? Iemand dichtbij, niet zomaar iemand, maar toch?
Lichamen herinneren zich alles. Welk jaar is het nu?

Ik ben bang voor oranje zeewater. Bang voor de lange termijn.
Bang dat je anthurium doodgaat. Ik ken iemand die tien soorten
zwart onderscheiden kan en daarover een uitlegvel maakte. Daar
heb ik behoefte aan. We zijn niet meer wie we gisteren waren,
geen mens leeft terug.

Borduren levert inzichten op. Het gaat zo langzaam als het gaat.
Vooruit werken heeft geen zin. Je kunt nog tellen, help me dan.
Borduren is hier zijn. Jij houdt niet van handwerken, je weet niet
van wie ik dat heb, niet van jou, zeg je. Papa zegt dat je nog
gehaktballen braadt.

Stel je voor dat er mensen zijn die dit lezen. Ik zal tegen ze zeggen
dat dit een liefdesgedicht is. De muren staan. Ik ben al bijna bij je.
Ik borduur nog wat vogels en verlang ernaar de straat op te gaan,
met een stok langs het hek te ratelen. Een gedicht te worden. We
moeten het over afscheid hebben. Afscheid heeft warme handen.

 

Bianca Boer

 

Fester Boden

Ich werde den Grundriss des Hauses für dich sticken, Mama,
in schwarzen Linien. Darüber mit farbigem Faden, eine Vogelbeere,
Ringelblumen, deine Forsythie. Lass uns nichts vergessen, ich schreibe
alles für dich auf, auch wenn du dich schämen wirst für unsere
schmutzige Wasche. Ich sorge für deckende Farbe, Flächenstreicher.

Warum habe ich immer Angst? Weil du immer Angst hattest vor allem,
was passieren konnte. So verängstigt wie jetzt habe ich dich nie zuvor
gesehen. Du starrst vor dich hin, wirst steif, schweigst. In mir ein
tiefes Verlangen, Socken für dich zu stricken. Kalte Füße quälen ständig
und je mehr Gedanken du übrig hältst, desto besser ist es.

Es kommen schon weniger Leute vorbei. Welche Stimmen sind
in deinem Kopf? Freundinnen? Alte Nachbarn? Sprichst du mit Oma?
Sie sagt zu dir, dass du keine Angst haben musst? Es ist nur das Leben.
Sie ist immer noch bei dir, so wie du bei mir bist. Ich habe nur eine
Mutter, zu der ich immer noch zurückrennen kann.

Du hast aufgehört, mich anzurufen, du weist nicht mehr, wie das geht.
Ich hatte Bauchschmerzen, als ich das endlich verstand. Niemand ist
schuld. Die erste Fertigkeit, die du verlierst. Ich will dir sagen,
dass es nicht schlimm ist. Macht nichts. Und dann guckst du mich an,
als hattest du ganz kurz gesehen, dass ich auch jemand anderes war.

Das Dorf singt. Wir hören es drinnen. Du hast die Welt verändert,
Mama. Du hast mich geschleppt, mich bewegt, mir die Tage gelehrt.
Ich bestehe aus Regeln, wir sind Poesie, ich brauche dich. Das ist sehr
schlimm natürlich. So meine ich das nicht. Es ist das Schlimmste.
Obwohl ich selbst Mutter bin, heißt das nicht, dass ich dazu bereit bin.

Kaffee kochen kannst Du, also gehe ich zu Besuch in das Haus, das
ich sticke. Die Stühle berühren, die Füße in deine Pantoffeln stecken,
merken, dass der Boden unter dem Tisch verschoben ist. Wer, dachtest
du, bin ich? Jemand Nahestehendes, nicht irgendwer, oder doch?
Die Körper erinnern sich an alles. Welches Jahr ist es jetzt?

Ich habe Angst vor orangenem Seewasser. Angst vor dem langen
Termin. Angst, dass dein Anthurium stirbt. Ich kenne jemanden, der
zehn Arten Schwarz unterscheiden kann und ein Merkblatt darüber
gemacht hat. Das brauche ich. Wir sind nicht mehr, wer wir gestern
waren, kein Mensch lebt rückwärts.

Sticken liefert Einblicke. Es geht so langsam, wie es geht.
Vorausarbeiten macht keinen Sinn. Du kannst noch zahlen, also hilf
mir. Stickerei ist hier sein. Du magst keine Handarbeiten, du weist
nicht, von wem ich das hab, nicht von dir, sagst du. Papa sagt, dass
du noch Frikadellen brätst.

Stell dir vor, dass es Leute gibt, die das lesen. Ich werde ihnen sagen,
dass dies ein Liebesgedicht ist. Die Wände stehen. Ich bin fast bei dir.
Ich sticke noch einige Vogel und sehne mich danach, auf die Straße zu
gehen, mit einem Stock den Zaun entlang zu rasseln. Ein Gedicht zu
werden. Wir müssen über Abschied reden, Abschied hat warme Hände.

 

Aus dem Niederländischen von Matthias Engels

 

Aus dem Buch ‚All over Heimat‘ (Hg. von Matthias Engels, Thomas Kade, Thorsten Trelenberg; stories & friends 2019) - Leseprobe

 

freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.