3 | Anne Büttner
Tapetenwechsel
Springsteen hat ihr den Urlaub in die Wohnung geholt. Acht Bahnen Bali-Traumurlaub aus Vlies: Traumstrand, Traumpalmen, Traummeer, ein Traum von Abendsonne.
Dass sie ja jetzt nicht mehr so verreisen können, wie sie gern würden, weil das ja immer mehr werden wird, dass Elke sich immer weniger bewegen kann. Deswegen ja auch der da, hat er gesagt und zum schmucklosen Rollator neben dem Puky mit Pokémonwimpel und Hamburgerklingel genickt, den ich bis dahin nicht zuordnen konnte. Müssten sie dann mal sehen mit den Treppen und allem, wie sie das dann machen. Weiß man ja nicht, wie lang das noch geht. Sie war jetzt schon froh über jedes Mal, die sie ihr erspart blieben.
Stimmt, dachte ich. Sie hatte ich schon länger nicht gesehen, sah eigentlich nur noch ihn. Sah ihn mit der Post, den Einkäufen, dem Müll, dem Pfand, den Apothekentütchen.
Deswegen, weil ihnen da niemand was Genaues sagen und man da nur schätzen konnte, hat er ihr den Urlaub in die Wohnung geholt. Jetzt schon, bevor es wieder kalt wird draußen. Wenn dann auf dem Balkon ja auch kein schönes Sitzen mehr ist, so schön sie es da auch haben. Und das haben sie ja, betonte er. Auf jeden Fall haben sie es sehr ordentlich, dachte ich und nickte. Regelmäßig werden Stuhlpolster und Auslegware gesaugt, wird drübergewischt über Wachstischdecke, Armlehnen und Geländer, werden Lichterkette, Zierkrähe, Wetterhahn und Korbregal abgestaubt, wird der Efeu gestutzt, werden die zwischen Petunien, Pelargonien und Geranien steckenden bunten Solarschmetterlinge von Blütenstaub befreit. Einen neuen Sonnenschirm gibt es auch, einen weniger bunten, dafür deutlich größeren. Damit seine Elke sich nicht immer in den Schatten bewegen muss, wenn die Sonne zu viel wird. Und das wird sie ja schnell, wenn man sich nicht immer in den Schatten bewegt.
Ob ich einen Hometrainer gebrauchen könne, fragte er, mich dabei ganz selbstverständlich duzend. So einen, sagte er, umschloss mit den Händen zwei unsichtbare Griffe, während er die Arme abwechselnd vor und zurück bewegte und die Fußballen zeitgleich auf und ab. Ich verneinte. Geschenkt, er wolle da nichts für haben. Das sei ja jetzt kein Profigerät oder so, aber noch mit Garantie und zum Rumstehen einfach zu schade. Trotzdem nicht, trotzdem danke. Oder ob ich jemanden kenne, der einen braucht, überlegte er weiter. Dass ich mal rumfrage, sagte ich und wusste, dass nicht.
Ich kann nicht mehr sagen, was dem Gespräch vorausging. Was den Auftakt dazu bildete, dass er mir davon erzählte, neulich, an den Briefkästen. Ich den Müll in der Hand, er ein Schlüsselmäppchen und die Tür. Bislang hatten wir kaum mehr als Behelfsmimik, ein paar Höflichkeiten und Benachrichtigungskärtchen gegen gescheiterte Zustellversuche ausgetauscht.
Ich wohne eine Etage höher, genau über Springsteen und Elke. Wir haben also die Adresse, den Grundriss und Wände gemeinsam, die Räume teilen und nicht selten darin Geschehendes. Wenn Springsteen angestrengt hustet oder engagiert schnäuzt, dann ist das zu hören. Erst recht, wenn er niest. Jeder seiner Nieser, wirklich jeder, klingt nach Tobsuchtsanfall und so, als wäre unterdrücken gesünder. Wenn der Fernseher zu laut ist, hört man das und auch, wenn Elke das ebenfalls findet. Das Klingeln des Telefons und ihr gegenseitiges Inkenntnissetzen darüber? Das Zischen fettheißer Pfannen? Das Rauschen des Badewannenhahnes? Staubsauger? Einschätzungen zu Spielgeschehen und Personalpolitik seiner Borussia? Ebenso.
Und hin und wieder hört man Springsteen, also den echten. Ich weiß gar nicht mehr, wann es anfing. Wann ich das erste Mal mein Handy an die Tapete hielt und Shazam die Töne abnehmen ließ, die sich darin verfingen.
Vermutlich war es ein Mittwoch. Ziemlich sicher sogar. Denn immer mittwochs ist Jutta von nebenan zu Besuch. Ich kenne Jutta nur vom Grüßen, die drei kennen sich noch aus Konsumzeiten: Jutta und Elke Kasse, Springsteen Fahrer. Natürlich war er Fahrer. Straßen sind Straßen geworden, damit Typen wie Springsteen sie fuhren und Lederwesten Lederwesten, damit Typen wie er sie trugen. Dazu meist Schalke-Trikot oder T-Shirt mit Flockprint, Jeans, Allzweckschlappen und etwas, von dem ich annehme, dass es eine Mischung aus Old-Spice-Rasierwasser und, wenn es das gibt, Axe-Raststätte ist.
Sobald Jutta ihr stakkatoartiges Juttaklingeln klingelt, bleibt noch ungefähr eine Stunde, die Buchhaltung, oder was eben ansteht, fertigzubekommen. Danach ist es vorbei mit der Konzentration. Dann ist die Musik zu laut und Juttas Lachen, das an Old MacDonalds Farm erinnert. Je später der Mittwoch, desto mehr Tiere lacht sie.
Wenn die drei auf dem Balkon sitzen, setze ich mich zum Feierabend manchmal leise auf meinen, höre ihnen zu und der Musik. Wie heute. Im Moment läuft Scott McKenzie. Davor kam Supertramp und danach müsste Born to run kommen. Es ist immer dieselbe Reihenfolge. Inzwischen habe ich die komplette Mittwochsplaylist zusammen. Und auch die meisten Mittwochsgeschichten.
In letzter Zeit geht es oft um die Scheidung von Juttas Tochter und darum, dass Jutta ihre nie bereut hat, und zwar keine davon, es geht um „uns hier unten“ und „die da oben“, womit sie zu meiner Erleichterung nicht mich meinen, sondern die Regierung, die man komplett in den Skat drücken könne. Es geht um mir größtenteils unbekannte Nachbarschaft, um Parkraumbewirtschaftung, Balkongestaltung und Schädlingsbekämpfung, um Wetter, gestiegene Preise trotz gesunkener Qualität, fast immer auch um den Flaschenautomat beim Netto, der mal wieder oder immer noch kaputt ist.
Und es geht um früher, als vieles leichter war, aber bei Weitem nicht alles gut. Das mit dem Reisen, dass man das nicht konnte, nicht so jedenfalls, wie man wollte, das war, vor allem für Hungry-Heart-Springsteen, das Schlimmste.
Das macht schon einen Unterschied, ob man in Binz am Strand liegt oder auf Bali, ob man durch die hohe Tatra wandert oder durch den Grand Canyon, wo sie zwar nie waren, aber geht ja ums Prinzip. Elke war immer fürs Warme, Bali oder Thailand, aber am liebsten Bali, Springsteen fürs Kernige, die Rockies oder den Grand Canyon. Geeinigt haben sie sich dann meistens auf Kroatien oder Gran Canaria.
Heute kein Wort vom Reisen. Den ganzen Abend nicht. Und auch kein Born to run. Wenn Jutta heimgegangen ist und Elke schon rein, läuft der Song immer nochmal. Nur für Springsteen allein, der noch austrinkt, was auszutrinken ist, raucht, hickst, mitbrummt, dabei, so zumindest stelle ich es mir vor, vornübergebeugt sitzt, Ellbogen auf den Knien, der Kopf nickend, die Füße wippend, beides knapp am Takt vorbei, während er von der Freiheit träumt. Von den Rockies und dem Grand Canyon, von Kroatien und Gran Canaria. Inzwischen vielleicht auch von Binz. Weil es nun mal einen Unterschied macht, ob man Bali an der Wand hat oder in Binz am Strand liegt.
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freiTEXT | Anne Büttner
Für immer Best of
Du hast alles vorbereitet. Prüfst ein letztes Mal, ob du nichts vergessen hast. Hast du nicht. Alles, wie es sein soll: der Sender eingestellt, die C-60 richtigrum im Deck A, neben dir zwei Stifte, falls einer spinnt, die Hülle mit Einleger, auf dem du die bislang gesammelten Trophäen schon ins Reine geschrieben hast, und ein Schmierpapier, auf dem du die heute hoffentlich hinzukommenden notieren wirst. Hinter dir auf dem Tisch Gurkengesichtbrote und Tee aus deiner Lieblingstasse. Eine Doppelstunde lang wirst du hier jetzt nicht wegkönnen.
Du weißt, was zu tun ist. Hast alles beigebracht bekommen. Geduldig, bis du alle Knöpfe und Tasten bedienen konntest, die du brauchst. Du machst das nicht das erste Mal allein. Hast Talent und inzwischen auch Übung. Erwischst häufig den perfekten Einsatz. Der richtige Einsatz ist das Schwierigste. Das lässt sich dann nachher nämlich nicht mehr ändern: Da bleibt, wenn du zu früh einsetzt, die Anmoderation hörbar, oder fehlt, wenn du zu spät bist, der Liedanfang. Beim Ausklang ist das leichter. Jedenfalls, wenn du zu spät stoppst und die Moderation schon wieder eingesetzt hat. Da kannst du zurückspulen und die Stimmen mit der nächsten Aufnahme überspielen. Da geht das. Beim Einsatz bräuchtest du das ganze Lied neu. Auch das musstest du lernen, auch das wurde dir gezeigt. Erst gezeigt und dann beigebracht. Bei Gurkengesichtbroten und Tee aus deiner Lieblingstasse.
Musst kaum noch Fragen stellen. Obwohl du jederzeit könntest, willst du es nicht. Willst es selbst schaffen. Ziehst deinen Stuhl ganz dicht vor die gute Anlage. Obwohl die Kopfhörer kaputt sind, darfst du sie trotzdem anmachen. Nur leiser, damit man den Fernseher noch hört, der auch hier steht. Nachrichten und so. Du musst also ganz genau hinhören. Wird trotzdem gehen. Muss.
Schaust nach links zum Sessel, der Trainerbank. Erntest liebevolle Mimik und motivierende Gestik. Nickst startklar zurück und konzentrierst dich.
Noch eine halbe Stunde bis zu den Platzierungen. Bis dahin Neueinstiege und Re-Entries, was du noch nicht schreiben kannst, aber weißt, was es ist und auch nicht mehr vergisst, weil der Moderator es jede Woche erklärt.
Die halbe Stunde hörst du zum Warmwerden, für dann, wenn es ernst wird. Hast es durchgerechnet: noch zwei Titel Platz. Dafür musst du die Einsätze nicht perfekt erwischen, gut würde reichen. Dir aber nicht. Bist aufgeregt. Zu aufgeregt selbst für Gurkengesichtbrote und Tee aus deiner Lieblingstasse.
Nachrichten. Gleich wird es ernst. Düdü-düdü-düdüüüü-dü, Verkehrsfunk noch. Du beugst dich ran, noch näher ran, so nah, wie es geht, ran. Kneifst die Augen zusammen, weil du so besser hörst. Das linke Ohr hört zu viel Wohnzimmer, also hältst du es zu. Hörst jetzt nur mit rechts und zusammengekniffenen Augen. Legst den Zeigefinger der freien Hand auf die Taste mit dem roten Kreis und den Mittelfinger auf die mit dem weißen Dreieck, um sie im perfekten Moment zeitgleich zu drücken. Hältst sie vor jeder neuen Platzierung in angespannter Bereitschaft.
Bist beides, erleichtert und enttäuscht, wenn ein Titel kommt, den du schon hast. Erleichtert, weil du die Finger kurz lösen kannst, enttäuscht, weil dir noch immer zwei Titel fehlen.
Daumen hoch von der Trainerbank. Wird schon. Schokoriegel? Du nickst. Passgenauer Wurf. Fängst ihn. Grinst. Enttäuschung vergessen. Beißt ab. Dann wieder in Position. Riegel zur Seite. Wirst ihn beim nächsten Titel weiteressen. Außer es kommt einer, den du noch nicht hast. Dann ist keine Zeit. Dann musst du dir merken, was der Moderator gesagt hat, wie er heißt und von wem er ist, während du hochkonzentriert auf den ersten Ton wartest, um genau dann zeitgleich den roten Kreis und das weiße Dreieck zu drücken, bis sie einrasten. Lieber zu viel Druck als zu wenig. Auch das hast du gelernt.
Wirst, während die Aufnahme läuft, notieren, was du dir gemerkt und verstanden hast. Wirst es so aufschreiben, wie du denkst, dass es geschrieben wird und später, wenn mehr Zeit ist, in der rechten Spalte, der für die B-Seite, auf dem kleinzeiligen Einleger nachtragen. Dein Englisch ist noch nicht gut genug und deine Hand noch nicht ausreichend geübt, um richtig und schnell so klein schreiben zu können. Manche Worte hattest du schon, weißt, wie man sie schreibt, bei anderen hilft Sprachgefühl und das Alphabet. Umlaute sind deine Freunde, vor allem ä.
Könntest fragen, immer. Würdest nie enttäuschen. Trotzdem. Willst es allein schaffen. Weißt, wofür du es machst.
Wirst dann dem Ende des Liedes entgegenfiebern, dem Moment, da der letzte Ton verklungen ist und kurz Stille herrscht, bevor die Moderation wieder einsetzt. Das ist der Moment, auf den du hoffst, der Moment, in dem du die Aufnahme stoppst. Da reicht dann Zeige- oder Mittelfinger und leichter Druck auf nur eine Taste – die mit dem weißen Viereck.
Meistens wird dann nochmal wiederholt, wie das Lied heißt und von wem es ist. Dann kannst du vergleichen, ob sich das so anhört, wie sich das, was du auf deinem Schmierblatt notiert hast, liest. Abgleichen ist leichter als Aufschreiben. Zeit bleibt trotzdem kaum, solang nicht alle Platzierungen gespielt sind. Musst dich wieder in Position bringen, Finger auf roten Kreis und weißes Dreieck, linkes Ohr zuhalten, Augen zusammenkneifen, konzentrieren.
Weißt inzwischen, dass du während der Aufnahme normal atmen, sogar sprechen kannst. Weißt, dass nur das, was gerade auf dem Sender läuft, später auf der Kassette zu hören ist. Also hoffst du mit all deiner Kraft, bittebittebittebitte, dass es, solang roter Kreis und weißes Dreieck eingerastet sind, keine Geisterfahrer oder herumliegenden Reifenteile gibt, keine Wildtiere die Fahrbahn kreuzen und auch kein Stauende in einer Kurve liegt oder was sonst den dödö-dödö-dödöööö-dö-Verkehrsfunk mit einer wichtigen Meldung auslöst und deine Aufnahme ruiniert. Denkst egoistisch. Zwei Titel brauchst du noch. Danach kann der dödö-dödö-dödöööö-dö-Verkehrsfunk deinetwegen durchfunken.
Du brauchst diese beiden Titel. Wenigstens einen noch, dann könnte es bis zu den Ferien klappen. Darauf arbeitest du hin. Auf das Daumentrommeln auf dem Lenkrad. Auf das beeindruckte Nicken. Auf das Mitpfeifen, wenn der Text zum Mitsingen fehlt. Auf das Lächeln und das Zuzwinkern im Rückspiegel. Auf das rhythmische Klopfen auf dem Schalthebel. Dafür machst du es. Für die Trainerbank, die dir alles beigebracht hat.
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18 | Anne Büttner
Kotzende Pferde
127 zu 82. Kein Grund, sich Sorgen zu machen. Alles in Ordnung. Nicht perfekt, aber total im Rahmen. Wirklich. So, wie ein Lebensmittel ja auch nicht direkt mit Überschreiten des Mindesthaltbarkeitsdatums verdirbt, gilt das auch für den optimalen Blutdruck und ihn, Frederik Ganser, Eigentümer des aktuell 127-zu-82ers.
Ein guter Wert. Etwas hoch vielleicht, aber noch lang kein Grund, sich zu beunruhigen. Jedenfalls nicht vor der zweiten Messung – also in frühestens dreieinhalb Minuten. Einmal schafft er den Song inzwischen eigentlich immer. An guten Tagen auch öfter.
There's a weight that's pressing down / Late at night you can hear the sound
Er würde erstmal so sitzenbleiben. Ganz ruhig, sich nicht bewegen und methodisch atmen, um den Wert nicht weiter in die Höhe zu treiben. Noch war ja alles im Rahmen. Bloß nicht reinsteigern. Einfach souverän atmen, den Song hören, erneut messen. Nochmal 127 zu 82 wäre okay. Nicht optimal, aber okay. Eventuell müsste er dann noch ein drittes Mal messen.
Keinesfalls okay wäre ein Ausreißer. Da bräuchte es dann keiner weiteren Messung. Da hieß es Schlüssel nehmen und los: Bördingstraße bis Mehlfelder, dann bis Kreuzung Jessener, scharf links auf die Eimsbühler, weiter bis Mullenberger, hoffen, dass die Schranke oben war, dann gleich in die Helmkötter, dort dritte links und die Auffahrt hoch bis zum Haupteingang.
Für Parkplatzsuche bliebe da keine Zeit. Nur Tasche vom Rücksitz schnappen und direkt durch zur Notaufnahme. Auf jede Minute käme es dann an.
Sollten sie ihn dieses Mal dabehalten, würde er sich noch Sachen bringen lassen. Eventuell von Hannah. Obwohl, lieber nicht. Andererseits … Nichts, worüber er sich jetzt schon den Kopf zerbrechen sollte. Noch war ja alles offen. Wirklich. Jetzt bloß nicht ins Denken kommen. Methodisch atmen war gesagt. Und langsam eiiin (haltenhaltenhalten)… uuund wieder aus (21,22,23) …
There's a fear I keep so deep / Knew its name since before I could speak
Frederik Ganser ist schon viel besser geworden im Atmen. Nicht mehr dieses stümperhafte Rumgeatme. Viel kontrollierter, viel eleganter, manchmal fast schon beiläufig: Gerade so, als sei es normal.
… und wieder eiiin (haltenhaltenhalten) uuund auuus. Sehr gut geatmet. Genau wie im Tutorial. Immer auf den Rhythmus achten. Nur ein unkonzentrierter Moment und schon würde ihn das Denken packen. Und mit dem Denken die Gewissheit, dass es dieses Mal soweit wäre. Dieses Mal wirklich.
Schon seine Geburt stand unter keinem guten Stern: Nicht mal ein Jahr nach Tschernobyl und nicht mal 1.700 Kilometer davon entfernt, erblickte Frederik Ganser mit ein paar Gramm zu wenig, möhrchenbreifarbener Haut, leicht gelben Augen und einem Nachnamen, nach dem ein ebenso seltenes wie schwieriges Syndrom benannt ist, etwas zu früh das Licht des Kreißsaals im Sophien-Klinikum.
Nach ein paar Tagen auf Station konnten seine Eltern ihn mit ein paar Gramm mehr und einer Gelbsucht weniger endlich nach Hause holen. Aufnahmen aus jener Zeit zeigen, dass sie sich vorstellen konnten, dass Frederik gut in einem Stubenwagen neben ihrem Bett würde schlafen können. Wie sich jedoch herausstellte, schlief Frederik die ersten Monate so gut wie gar nicht und später so gar nicht gut. Was weder am Stubenwagen noch am Standort lag, wie die Gansers nach unzähligen Versuchsanordnungen erkennen mussten. Die dringend benötigte Unterstützung kam überraschend: und zwar von The Alan Parsons Project mit „Don’t answer me“. Meist schlief Frederik schon während der zweiten Strophe ein.
Aaaaah Aaaaah Aaaaah Aaaaah
Eines dieser unbeschwerten Kinder, so ein Kind war Frederik nicht. Frederik war immer schon vorsichtiger, angestrengter irgendwie. Und auch blasser als, keinesfalls so rosig wie andere. Oder so sorglos. Nie wäre er auf die Idee gekommen, die Nachbarskatze zu streicheln oder Tante Lissys Dackelwelpen. Wer weiß, woran die überall geleckt hatten oder mit ihrem Fell entlanggestreift waren. Frederik befürchtete Schlimmstes. Auch wenn er damals nicht wusste, was genau das sein könnte. Ständig begleiteten ihn Ängste, ihm könnte Furchtbares widerfahren. Ihm oder seinen Eltern. Was wäre, wenn sie sich mit irgendwas ansteckten und plötzlich nicht mehr wären? Was dann? Wie sollte das denn gehen? Das ging doch gar nicht!
Wieder und wieder mussten die Gansers ihrem verängstigten Sohn versichern, so richtig mit großem Ehrenwortschwur, dass das nicht passieren würde. Dass sie aufpassten und dass Tiere, selbst Tauben, mit ausreichend Abstand oder einem geschlossenen Fenster dazwischen, wirklich keine Keime übertragen können. Und ja – die andere Straßenseite oder das Dach des Nachbarhauses sind ausreichend Abstand. Und nein – da musste man nicht die Luft anhalten oder vorbeirennen oder sich extra lang die Hände schrubben, wenn man eine gesehen hatte. Nicht mal, wenn sie tot war. Solang man sie nicht angefasst hat. Und nein, richtig großer Ehrenwortschwur mit Schleife und Knoten, das hatte er nicht. Würde er nie tun. Und dann küsste Frederiks Mutter zum Beweis, wie sicher sie war, seine Handflächen.
They know my name cause I told it to them
Neben Katzen, Dackeln und Tauben bereiteten Frederik damals vor allem Spatzen Sorgen. Genauer: die Spatzengruppe. Insbesondere deren Anführer, Gregor Barthels. Sobald er mitbekommen hatte, wie sehr Frederik sich vor Angespeicheltem und Sandverschmutztem, vor Dreckverklebtem, vor Pfützen, Matsch, Spinnen, Regenwürmern, Insekten, vor ungewaschenen Händen und nahezu allem anderen ekelte, suchte Gregor ständig seine Nähe.
Und immer hatte er etwas Ekeliges dabei, das er ihm vorhielt oder entgegenwarf.
Was im Kindergarten begann, setzte sich in der Schule fort. Manchmal wäre es Frederik lieber gewesen, wäre er einfach gar nicht beachtet worden. Aber irgendein Gregor Barthels fand sich immer, der bestimmte, dass Frederik mitspielte: und dann am liebsten bei Spielen wie Pest & Cholera. Während die anderen lediglich wegliefen, um nicht abgeschlagen zu werden, rannte Frederik Ganser in den Pausen buchstäblich um sein Leben.
But they don't know where and they don't know when / It's coming
Irgendwann passierte das, wovon seine Eltern überzeugt waren, dass genau das irgendwann passieren würde: Es verwuchs sich. Plötzlich hörten Frederiks Ängste auf. Keine Sorgen mehr, unbewusst tierkeimbehaftete Reifen parkender Autos zu streifen. Kein Grübeln mehr darüber, versehentlich ein totes Tier angefasst oder irgendwie, durch die Kanalisation vielleicht, schädliche Dämpfe oder anderes Giftiges, vermutlich Taubiges, eingeatmet zu haben oder unbemerkt von einem todbringenden Insekt gestochen worden zu sein. Von einem Tag auf den anderen keine Fragen mehr nach Krankheitserregern, Infektionswegen und Übertragungswahrscheinlichkeiten. Kein permanentes Rückversichern, kein manisches Kontrollieren, kein übertriebenes Händewaschen und auch kein ständiges Luftanhalten mehr.
Als hätte es das alles nie gegeben.
Frederik Gansers Jugend roch nicht mehr nach Reinigungstüchern, Handdesinfektion und Übervorsicht, sondern nach Sportsocken, Fastfood, Nikotin, Pfeffi und Möglichkeiten. Und später, so ab dem dritten Semester, nach Zuckerwatte und Keksteig: Hannahs Duft.
Hätte er ihn sich tätowieren lassen können, er hätte es sofort gemacht. Am liebsten direkt nach dieser Abrissparty, auf der sie sich kennenlernten. Als es eigentlich um „nur noch austrinken und eine rauchen noch und dann aber wirklich los“ ging, stand Hannah vor ihm. Drückte ihm ein neues Bier in die Hand, stieß mit ihm an und meinte, sie hätte eine Wette verloren.
Worum es bei der Wette ging, verriet sie Frederik nicht. Weder an dem Abend noch später irgendwann. Ihm war das egal. Er war froh, dass er Teil des Einsatzes war und vor allem darüber, dass sie verloren hatte.
Oh, when, but it's coming
Warum dann alles wieder so kam, wie es kam, konnte er sich selbst nicht erklären. Weit über 200 verschiedene Kopfschmerzarten unterscheidet die Internationale Kopfschmerzgesellschaft. WEIT ÜBER 200! Das kann man nachlesen! Ebenso, dass über 90 Prozent aller Erkrankungen primäre Kopfschmerzen sind, meistens Spannungskopfschmerzen oder Migräne. ÜBER 90 PROZENT! Und alles, das zu wenig an Schlaf und Bewegung, das zu viel an Prüfungsstress und Kaffee, wirklich alles sprach dafür, dass es auch bei ihm genau das war: Spannungskopfschmerz. Und trotzdem: Ein Befund musste her. Ein Bild. Irgendwas Offizielles, das Frederik seiner schlimmsten Befürchtung entgegenlehnen konnte. Am besten sofort.
Hannah hatte ihn zum Klinikum gefahren. Ihn beruhigt. Und recht gehabt. Dasselbe, als der Kopfschmerz weg war, dafür das Kribbeln da und sie ihn auf sein Drängen hin zur Neurologie fuhr. Ein andermal dann in die Gastroenterologie: Obwohl er eigentlich gar keine Magenschmerzen mehr hatte, aber trotzdem auf Nummer sicher gehen wollte. Trotzdem auf Nummer sicher gehen wollte er auch beim Augenarzt. Und beim Dermatologen. Und in der HNO-Klinik. Ebenso, als es er einen Termin in der Pneumologie vereinbarte und kurz darauf in der nächsten, weil gravierende Symptomlosigkeit ihn doch stark am unauffälligen Befund zweifeln ließ.
Je öfter Hannah ihn begleitete, je öfter sie ihn beruhigte, je öfter die Befunde seine schlimmsten Befürchtungen entkräfteten und ihre Vermutung bestärkten, desto unverstandener fühlte Frederik sich. Vom Termin in der Kardiologie, den er sich aufgrund zwar einmaliger, aber umso eindeutigerer Abweichung hatte geben lassen, hatte er Hannah erst gar nicht erzählt. Mitbekommen hatte sie trotzdem, dass, so sagte sie es, doch wieder irgendwas sei. Ob er glaubte, sie bekäme nicht mit, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Dass er genau das ja auch befürchte und das deswegen jetzt endlich auch mal kardiologisch eingeordnet haben wollte, hatte er geantwortet. Und falls das nichts brachte, dann eben nochmal neurologisch, pulmologisch, angiologisch und was diagnostisch eben noch alles notwendig oder möglich sei. Dass er schon wüsste, was sie sagen wollte. Trotzdem. Er wollte das jetzt endlich abgeklärt wissen. Und zwar ernsthaft.
If some night I don't come home / Please don't think I've left you alone
So sehr Frederik sich vornahm, sich abzulenken, so wenig gelang es ihm. Die Bibliothek, Spaziergänge, Wald, Park: zu ruhig. Die Mensa, Partys, Kino, WG-Abende: zu unruhig. Sport: zu riskant. Prüfungen: zu egal. Hannah: zu unsensibel. Nur wenn er im Behandlungszimmer saß und hörte, dass es „keinerlei Auffälligkeiten oder Grund zur Besorgnis“ gäbe, löste sich Frederiks Anspannung kurzzeitig.
Dass sie so nicht weitermachen könne und auch nicht mehr wolle, hatte Hannah gesagt. Dass sie es nicht ertrage: Seine Versessenheit, seinen abwesenden Blick, sein Desinteresse an allem und allen, sie eingeschlossen, all das ertrage sie einfach nicht mehr.
Hannah war es, die ihm die Therapie nahelegte. Frederik war es, der sie nach zwei Terminen abbrach, nachdem ihm dieser Dr. med. ein paar Tabletten mitgegeben hatte, die Frederik erstmal bis zur nächsten Sitzung nehmen sollte. Verpackung oder Beipackzettel gab es nicht. „Und zwar ganz bewusst nicht“, wie dieser Dr. med. betonte. Als ob Frederik nicht in der Lage wäre, anhand der Informationen auf dem Blister im Handumdrehen herauszufinden, dass das Medikament bei bekannter Überempfindlichkeit gegen den Wirkstoff nicht angewendet werden durfte. Und bitte wie hätte dieser Dr. med. eine solche Überempfindlichkeit ausschließen können? Nicht mal Frederik selbst konnte das! Statt ihm zu helfen, gab ihm dieser Facharzt, das muss man sich mal vorstellen, ein FACH-ARZT (!), also irgendetwas, das er noch rumliegen hatte. Wahrscheinlich sogar abgelaufen. Etwas, das bei 1 bis 10 von 1000 Behandelten einen Krampfanfall verursachen kann. Etwas, dessen mögliche Nebenwirkungen wie Fieber, Desorientiertheit sowie steife, zuckende Muskeln sich vereinzelt bis zum Blutdruckabfall steigern und sogar zu lebensbedrohlicher Verkrampfung der Atemmuskulatur, sprich, zum Tod, führen können! Na danke auch!
Dafür, dass Frederik nicht mehr hingegangen war, hatte Hannah sogar Verständnis. Kein Verständnis hatte sie allerdings dafür, dass er nicht irgendwo anders hinging. Wo er sich doch sonst auch immer eine Zweit-, oftmals sogar eine Drittmeinung einholte.
The same place animals go when they die
Getrennt hat sich letztendlich Frederik. Dass er sich wünschte, so unbeschwert und naiv zu sein wie sie, hatte er gesagt. Dass er ihr Therapiegerede einfach nicht mehr ertrage. Dass er gar nicht wüsste, was die bringen sollte – er litte ja nicht an Gesprächsbedarf. Und seit wann sie eigentlich einen Abschluss in Psychologie habe? Was er jedenfalls nicht habe, nicht mehr, sei die Kraft, ihr, damit sie endlich aufhörte, zu nerven, vorzugaukeln, dass alles in Ordnung sei und er gesund. War er nun mal nicht.
Dabei macht er alles nur Machbare: richtet sein Ernährungs- und Schlafverhalten nach Gesundheits-Apps aus und seine Tage nach Stressvermeidung. Nimmt alle nur erdenklichen Untersuchungen wahr, häufig sogar als Selbstzahler. Versuchte es mit Yoga. Atmet, wann immer und so gut es ging nach Techniken, die er bei Onlinekursen kennengelernt hatte. Kontrolliert seine Vitalwerte so oft wie nötig und so selten wie möglich: alles mit Qualitätsgeräten vom Testsieger. Studiert regelmäßig die Warnhinweise und Rückrufaktionen auf der Website des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, um schnellstmöglich handeln zu können. Was hieß: Schlüssel nehmen und los. Achtet auf seine Körpersymptome und noch stärker auf seine Intuition. Statistik hin oder her. Ohnehin ein Begriff, den er neben „Übervorsicht“, „Wahrscheinlichkeit gegen Null“ und „Restrisiko“ nicht mehr hören kann. Frederik merkt doch, wenn etwas nicht stimmt. Er denkt sich das doch nicht aus.
Oh, when is it coming? / Keep the car running
Frederik kann es schlagen hören … hämmern … rasen. Okay. 7 mal 14 minus Klammer auf 56 plus 19 Klammer zu. Puuuuh. Mathe. Punkt vor Strich. Minus vor Plus. Erst die Klammer, dann die Säure, sonst geschieht das Ungeheure. Verdammt, wie war das denn nochmal?!
Das bringt doch nichts! Wer auch immer dazu geraten hatte, sich in Momenten wie diesen mit Rechenaufgaben abzulenken, hatte ganz sicher nie Momente wie diesen erlebt. Wie alt sind nochmal die letzten Bilder? MRT? CT? EKG? Blutbild? Drei Monate? Vier? Noch älter?
Stimmt schon, dass alle Aufnahmen und Werte zum Zeitpunkt der Untersuchung unauffällig waren und noch im Normalwertbereich. „Zum Zeitpunkt der Untersuchung“! „Noch“! Und jetzt komm ihm nochmal wer mit Mathe oder ruhig bleiben! Genug jetzt. Da stimmt etwas nicht. Und zwar ganz gewaltig nicht. Frederik Ganser kennt seinen Körper. Er merkt doch, wenn da was nicht in Ordnung ist. Von einem 127-zu-82er lässt er sich nicht täuschen.
Stichwort: Atypisch. Stichwort: Restrisiko. Stichwort: unklare Genese. Stichwort: vor Apotheken kotzende Pferde. Stichwort: Warum kommen Sie erst jetzt damit?
Nein! Wozu noch das Songende abwarten und Zeit mit der zweiten Messung verschwenden. Jetzt hieß es, Schlüssel nehmen und los: Bördingstraße bis Mehlfelder, dann bis Kreuzung Jessener, scharf links auf die Eimsbühler, weiter bis Mullenberger, hoffen, dass die Schranke oben war, dann gleich auf die Helmkötter, dort dritte links und die Auffahrt hoch bis zum Haupteingang. Auf jede Minute kommt es jetzt an.
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Anne Büttner
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16 | Anne Büttner
Ein Recht schaffender Mensch
„In der Tat würde ich es begrüßen, würde man Sie überfahren." Sowas! Kein verkehrstaugliches Rad, geschweige denn reflektierende Kleidung, aber bei Rot über die Ampel brettern! Als würden Lichtsignalanlagen nur zum Spaß aufgestellt. Leider ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Raser wie gewünscht überfahren würde, um diese Uhrzeit nicht gerade hoch. Tatsächlich ist sie wohl ähnlich gering, wie das Risiko, aus dieser Entfernung von ihm erfasst zu werden. Trotzdem will er sich darauf nicht verlassen. Denn wenn es dann mal kracht, erwischt es ja doch meist die Falschen. In diesem Fall also ihn: Herbert Marotzke.
Eigentlich ist Herbert Marotzke kein Schwarzmaler. Aber in Anbetracht seiner ordnerfüllenden Aufzeichnungen über Fehlverhalten seiner Mitmenschen, scheint ein rücksichtsvolles Miteinander ja kaum mehr möglich. Würde ihn nicht wundern, würde das komplette Wertesystem in 20, 30 Jahren wegen Nichtgebrauchs gestrichen. Sollten sie doch alle machen, dann. Dann wäre er sowieso nicht mehr und es ihm auch egal. Aber bis es soweit ist, denkt er nicht daran, Einschränkungen seiner Lebensqualität hinzunehmen. Weder durch Mensch, noch durch dessen Getier. Wie etwa dem Vierbeiner im Nachbarhaus: Statt der zu duldenden 15 Minuten täglich, kläfft das Tier in Summe ordnungswidrig oft doppelt so lang, wie das detaillierte Protokoll belegt, das Marotzke hierzu seit Wochen führt. Sicher kann auch er sich Schöneres vorstellen, wie er seinen wohlverdienten Ruhestand verbringen könnte. Aber früher oder später würden sich seine Mühen auszahlen. Was Recht ist, muss schließlich Recht bleiben. Man stelle sich nur mal vor, was das gäbe, wenn alle machten, wie sie wollten. Nichts Gutes gäbe das, soviel steht mal fest. Ob nun wirklich jedes Regulativ sinnvoll ist, ließe sich sicher diskutieren. Aber solang es sie gibt, hat man sich eben daran zu halten. Punkt!
Er weiß, dass so viel Konsequenz nicht immer auf Gegenliebe stößt. Häufig noch nicht mal auf Verständnis. Wer wird schon auch gern auf eigenes Fehlverhalten hingewiesen? Etwa darauf, dass sich die behördliche Genehmigung für eine Sitzreihe vor dem Café eben auch nur auf eine Sitzreihe vor dem Café erstreckt und nicht auf einskomma. Oder darauf, dass Parken bei abgelaufener Parkuhr vielleicht nicht ihn, den arglosen Fußgänger Herbert Marotzke interessiert, sicher aber das von ihm darüber informierte Ordnungsamt. Oder das innerstädtische Alkoholverbot: Wer mag schon daran erinnert werden, dass auch ein „Prüfung-bestanden-oder-Antrag-angenommen-oder-abgelehnt-Sekt“ nichts anderes als Alkohol ist und damit ebenso unter dieses Verbot fällt. Oder wer wird schon gern belehrt, dass das Bedienen an über fremder Leute Zaun hängendem Obst ebenso wenig erlaubt ist, wie das Pflücken steuerfinanzierter Anpflanzungen im öffentlichen Raum. Wenn das alle machten. Dann sähe das hier aber ganz schnell ganz anders aus. Und ganz sicher nicht schöner. Mit dieser geht-mich-nichts-an-Mentalität ist doch niemandem geholfen.
Herbert Marotzke jedenfalls ist nicht bereit, solche Missstände hinzunehmen. Auch nicht die weniger offensichtlichen, wie Laubvorkommen auf dem Gehweg, wo, anders als oftmals angenommen, die Räum- und Verkehrssicherungspflicht eben nicht erst bei Schnee und Eis greift. Warum ausgerechnet er angegangen wird, wenn er entsprechendes Tätigwerden empfiehlt, noch häufiger ausdrücklich erbittet, ist Marotzke unbegreiflich. Wehe, es stürzt wirklich mal wer. Die will er sehen, die dann noch immer meinen, er übertreibe oder solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern.
Dabei sind diese Angelegenheiten ebenso seine, wie sie die der anderen sind. Schließlich ist auch er Fußgänger, ist Nutzer öffentlicher Räume und Verkehrsmittel, ist Steuerzahler, ist Verbraucher, ist Bürger, Einwohner, Anwohner, ist statistisch geführter Pro-Kopf-Haushalt, ist Kunde, Patient, Entleiher, Mieter, Nachbar, Gefährdeter, Betroffener, Parzellenbesitzer, ist Mitmensch und vor allem nicht bereit, vermeidbare Abstriche an seiner Lebensqualität zu dulden. Oder an der Lebensdauer, wie es wegen des Radrowdys von eben zu befürchten stand.
Diesmal würde sich das Amt nicht aus der Verantwortung stehlen können. Mit Beschwerden oder Anregungen allein brauchte man denen ja nicht kommen. Wollen die gar nicht hören. Können die nichts mit anfangen. Das kennt Marotzke schon: Zu abstrakt wären seine Schilderungen. Da seien ihnen die Hände gebunden oder der Ermessenspielraum zu weit oder zu knapp oder der Feierabend zu nah oder oder oder. Selbst Untätigkeitsklagen beeindrucken da niemanden. Zumindest hatte keine der bisher von ihm angestrengten etwas bewirkt. Dieses Mal aber führte an einem Tätigwerden kein Weg vorbei. Schließlich handelte es sich dieses Mal um eine ganz konkrete Gefahr für Leib und Leben.
Sobald er ein Lineal zur Hand hat, wird Herbert Marotzke seinen Aufzeichnungen eine Spalte „Fortbewegungsmittel ohne Motor“ hinzufügen und dann multiplizieren, was zu multiplizieren war. Da kam einiges zusammen. Allein im letzten Monat war an selber Stelle im Zeitraum zwischen 23.30 und 3 Uhr, bei gleichbleibender Anzahl an Fußgängern (1 Herbert Marotzke), ein eklatanter Anstieg motorisierter Fahrzeuge zu verzeichnen. Sein Risiko, wochentags bei einem nächtlichen Rundgang erfasst zu werden, lag hier inzwischen um ein 0,8faches höher, als zu Beginn seiner Erhebungen. Und jetzt dieser radelnde Rowdy. Herbert Marotzke würde den neu berechneten Gefährdungsfaktor farbig markieren - in Hypertonierot.
In vier Stunden öffnet die Straßenverkehrsbehörde. Keine Minute später stünde er bei Frau Kutschera auf der Matte, um ihr seine aktualisierten Aufzeichnungen vorzulegen. Vier Ordner umfasst die Causa Schlönzdorfstraße 7a mittlerweile:
Ordner I mit Inhaltsverzeichnis, Sachverhaltsdarstellung, Flurkarte, Skizzen, Fotos. Ordner II und III mit sämtlichen hierzu von ihm angefertigten Protokolle, Tabellen, Diagramme, Auswertungen sowie Prognosen und Ordner IV mit einem Konzept zur Verkehrsberuhigung sowie dem Sachwortregister, das er noch um notwendige Einträge (unmotorisierte Gefährder, leiser Tod, Dunkelziffer) ergänzen würde.
In Anbetracht der Lage bliebe Frau Kutschera gar keine andere Möglichkeit, als unverzüglich tätig zu werden und das Verfahren für die Umgehungsstraße einzuleiten, die, neben dem Missachten von Parkmindestabständen im Kreuzungsbereich, der Mängelleistung der Straßenbeleuchtung in der Friedhofsgasse und dem Stutzen des Straßenbegleitgrüns auf ein ansprechendes Maß, eines seiner meistvorgetragenen Anliegen war. Jedenfalls in diesem Quartal.
„Herr Marotzke, so früh schon. Guten Morgen.“ Dass man an der Pforte seinen Namen gleich parat hat, überrascht ihn. Schließlich war er zwei Wochen nicht mehr hier gewesen und sein letzter Anruf auch schon ein paar Tage her. „Sie wollen sicher zu Frau Kutschera. Da muss ich Sie enttäuschen. Sie ist heute nicht im Haus.“ „Dann melden Sie mich bitte bei Herrn Bedrich. Der ist doch noch Frau Kutscheras Vertretung?" „Das tut mir leid, Herr Marotzke, Herr Bedrich ist ebenfalls nicht ..." „Ja dann melden Sie mich eben bei der Person, die in einem solchen Fall die Vertretung übernimmt. Frau Gwisdek? Herr Kuperny?" Kopfschütteln. „Hören Sie, Herr Marotzke. Ich würde Sie bitten, einfach nächste Wo ..." „Nein, Herr Marotzke hört jetzt nicht. Herr Marotzke wird auch nicht einfach nächste Woche wiederkommen. Ich sag Ihnen, was Herr Marotzke wird: Herr Marotzke wird jetzt hier Platz nehmen und solang sitzen bleiben, bis er mit einer zuständigen Person gesprochen hat." „Aber, Herr Marotzke, das bringt doch nichts." „Das sehen wir ja dann." Heute würde er sich nicht wieder vertrösten lassen. Die Aktenlage duldete keinen weiteren Aufschub. "Entschuldigung? Herr Marotzke?" Herbert Marotzke kennt den Mann nicht, der vor ihm steht. „Und Sie sind?" „Die Pforte hat mich informiert. Herr Marotzke, ich möchte Sie bitten, am Montag wiederzukommen. Sie werden heute hier kein Glück haben." „Hören Sie, Herr ...", Herbert Marotzke wirft einen Blick auf das Namensschild und die Funktion des ihm Unbekannten. "Hören Sie, Herr Schulz. Zum einen hatte ich hier bisher noch nie Glück, sonst würde ich mir wohl kaum noch Weg und Mühe machen müssen. Zum anderen hatte ich ausdrücklich um ein Gespräch mit einer zuständigen Person und nicht mit dem Wachdienst gebeten." „Wie gesagt, Herr Marotzke. Wegen eines Seminars zum Umgang mit schwieriger Kundschaft ist heute hier nur Notbesetzung."
Ein Seminar zum Umgang mit schwieriger Kundschaft? Ja, wunderbar! Endlich würde sich all den uneinsichtigen Verbotsmissachtenden und Genehmigungsausnutzenden mal angenommen. Offensichtlich hatte sein Engagement, hatten seine Eingaben, seine Beschwerden und Rundschreiben, sein Sich-nicht-abwimmeln-lassen, seine lückenlose Dokumentation, seine Untätigkeitsklagen, und ja, auch sein Lautwerden hin und wieder, doch etwas bewirkt oder zumindest angestoßen.
"Gut, dann komme ich Montag wieder. Punkt acht Uhr bin ich da." „Natürlich sind Sie das." Herbert Marotzke nickt. Natürlich ist er das. Vorausgesetzt, dass er in Anbetracht der akuten Gefährdungslage dann noch ist.
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Anne Büttner
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mosaik34 - aufrecht und verloren
mosaik34 - aufrecht und verloren
Intro
„Wir schreiben ja gar nicht mehr, wir Schriftsteller*innen: Wir produzieren, statt zu kreieren.“ – So hat es Lisa-Viktoria Niederberger in einem Kommentar in der mosaik31 pointiert zusammengefasst. Viel ist im letzten Jahr passiert, viele Fragen haben sich aufgetan – eine, die uns immer wieder beschäftigt: Muss das so sein, dass das Schöpferische hinter das Ständig-Produzierende tritt? Und wenn diese Getriebenheit nicht nachhaltig ist, was ist nachhaltige Literatur?
„eppas, des nåchå bleiba dat“, definiert es Siljarosa Schletterer dialektal – und: „als sprachlich fixiertes Zeugnis ist sie in diesem Sinne nachhaltig. Aber reicht das?“ Stefanie de Velasco (S. 64) führt uns auf eine spannende Fährte: Nicht das Studierzimmer, sondern die Straße ist das Zuhause des ‚Nachhaltigen Erzählens‘.“ Ist es der Realitätsbezug, z.B. die Integration marginalisierter Gruppen, der Literatur nachhaltig macht? Kann so etwas nur noch mit Idealismus funktionieren, weil man sich ja dem ‘Markt’ entzieht?
Das Literaturblatt, das POEDU und das Literaturschiff wären Beispiele dafür. Darf man mit einem solchen Projekt auch marktwirtschaftlich erfolgreich sein? Oder produziert man dann erst wieder nur einen neuen, vergehenden Trend? Alles keine neuen Fragen, schon klar. Aber Fragen, die uns in ihrer Vielschichtigkeit seit langem beschäftigen (vgl. Kostenoffenlegung unten) und zu denen ständig neue hinzukommen. Auch wenn wir
keine Antworten liefern können: Wir können Fragen stellen.
euer mosaik
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Inhalt
störfunkstöbern
- Ruta Dreyer – Am Himmel durchbrechen Vögel die Wolkendecke
- Franziska Ostermann – Usus Wurf
- Jan David Zimmermann – Das Gängige
- Florian Neuner – Lola vers la mer
ungelesen abgelehnt
- Jürgen Artmann – Café au lit
- Lisa Roy – Geliebter Kilian
- (blume) michael johann bauer – krokodilwaechtertraenen
- Anne Büttner – Kleine Lichter
- Eric Ahrens – Die Tragik einer unerwiderten Liebe
- Johanna Klahn – Ok, Google: Katze, tot.
lieber allein
- Lisa Gollubich – Öffnung
- Carlo Maximilian Engeländer – Wofür sonst?
- Tara Meister – Neben den Zikaden
- Paul Jennerjahn – birkenstämme vor innenhof
- Katharina Angus – Gischt
Kunststrecke von Sayne One MYB
BABEL - Übersetzungen
Hoffnung – bekanntlich gibt es sie in unerschöpflichem Maße, nur nicht für den Menschen. Der Zufall ist genauso ein großes Wort, das in den Mund zu nehmen sich nur diejenigen trauen, denen die Angst vor großen Wörtern genommen wurde. Selbstverständlich könnte man dahinter Literatur vermuten, die immer einen Weg für ihre Großen findet – und zwar in jeder Sprache. Doch Hoffnung und Zufall nützen einem wenig, wenn sich im eigenen Leben plötzlich ein Konrad einfindet. Ihr wisst nicht, wovon wir reden? Dann schnell reinblättern bei BABEL und erfahren, was das alles zu bedeuten hat …
- Mir-Hamid Omrani – / Hoffnung (Persisch)
- Andro Robica – Velika slučajnost / Großer Zufall (Kroatisch)
- June Caldwell – Natterbean / Konrad (Englisch)
- Dragoslav Dedović – Švajcarski voz / Im Zug durch die Schweiz (Bosnisch)
[foejәtõ]
Was ist nachhaltige Literatur? Diese Frage ist Ausgangspunkt dieses [foejtõ]. Fallbeispiele für gemeinnützige, idealismusgetriebene und ungewöhnliche Projekte ergänzen sich mit essayistischen Annäherungen. Bereichert wird die mosaik erstmals mit Texten von Kindern für Kinder, organisiert vom POEDU.
Kreativraum mit Seda Tunç
>> Leseprobe & Bestellen <<
freiTEXT | Anne Büttner
Das größte Glück
"Das Essen ist gleich schon wieder kalt." Anscheinend hatte seine liebe, gute Frau ihn zuvor schon einmal, mag sein auch öfter, über die Möglichkeit der Aufnahme warmer Speisen in Kenntnis gesetzt. Dass er diese, sicherlich von Zärtlichkeit und Verständnis getragene Information nicht mitbekommen hatte, lag einzig an der neuerlichen Abgabefrist, die ihn drängte. Dabei hatte er, wie stets, frühzeitig mit der Arbeit begonnen. Frühzeitig genug also für täglich fünf Mahlzeiten mit seiner lieben, guten Frau und ihren entzückenden Sprösslingen, von denen sie, wie sich durch einfaches Zählen feststellen ließ, drei ihr Eigen nennen durften.
Eine reizende Bande. Wie alt diese bezaubernden Geschöpfe wohl inzwischen sein mochten? Man hat sich ja so schnell verschätzt. Gerade bei Menschen diesen Alters, das zwischen fünf und beschränkt geschäftsfähig einzugrenzen er sich gestattet. Da es sich nicht schickt, die drei selbst nach dem Alter zu fragen, will er sich dem Erkenntnisgewinn bestmöglich diskret nähern und seine, liebe, gute Frau - wenn er sich nicht vertat, dritte – alsbald um deren Geburtsurkunden bitten. Wenn er dann schon einmal dabei wäre, anhand der Akten das vermutete Alter der bezaubernden Nachkommenschaft zu konkretisieren, würde er gleich noch sein Gedächtnis deren Namen betreffend auffrischen. Soweit er sich erinnerte, hatten er und seine liebe, gute Frau da weder an Originalität noch an Anzahl gegeizt. Die nötige Ruhe vorausgesetzt, bekam er sie zwar fast mühelos zusammen, aber trotzdem. Zudem ließe sich so nochmal vergegenwärtigen, welchen Geschlechts die drei waren. Gerade beim, wie er ohne Aktenkenntnis annimmt, Erstgeborenen, machen ihn Kleidungsstil, Habitus und der noch zu verifizierende zweite Rufname zweifeln. Selbstverständlich blieben Gesundheit und Glück auch jenes Wunschkindes von primärem Belang - ganz gleich, welchen Geschlechts es auch sei. Obschon er sich dahingehend zu etwa fünfzig Prozent, also durchaus respektabel, sicher ist, wüsste er als liebendes Elternteil seine Vermutung doch gern bestätigt.
Zudem erwartet seine liebe, gute Frau wohl ohnehin, und das ganz zu Recht, dass er nicht nur das Alter der Kinder sondern auch ihres aus dem Stegreif weiß. Was sich ohne Akteneinsicht zugegeben etwas schwierig gestaltet, ist sie doch eine jener lieben, guten Frauen, die dahingehend nur schwer zu schätzen ist. Ganz sicher sieht sie deutlich jünger aus, als sie ist - als sie sein muss. Das ist mathematisch gar nicht anders möglich. Unwiderlegbarer, gleichwohl schönster Beweis ist zweifelsohne der gemeinsame Kindersegen. Und die für den Eingang eines solchen, wunschkindergekrönten Bündnisses unabdingbaren Gefühle sind natürlich nicht einfach hoppladihopp da; die müssen sich selbstverständlich erst entwickeln, sich erarbeitet und verdient werden. Das wird ja auch seine Zeit gebraucht haben. Jünger als er ist sie aber. Das zumindest weiß er auf Anhieb ganz sicher. Als Mann der Prinzipien, der sich nie für Frauen seines Alters, immer nur für die jüngeren interessiert hatte, wird er da schon drauf geachtet haben, als sie einander kennenlernten; etwa zu jener Zeit, da ihn gerade seine letzte liebe, gute Frau verlassen und er sich wohl in einem emotionalen Zustand befunden haben dürfte. Schließlich sind Trennungen nie frei von Trauer. Und als gefühliger Mensch wird er also etwas entsprechendes, dem Anlass Angemessenes, gespürt haben, als er dennoch die Stärke aufbrachte, sich auf seine neue liebe, gute Frau einzulassen - sie sogar zu ehelichen.
Vermutlich aus Liebe. Sollen andere doch aus anderen Gründen heiraten, solang diese nur redlich sind. Da gibt es absolut gar nichts dagegen zu sagen. Nur für ihn kommt das eben nicht in Frage. Und da möge es ihm doch bitte auch vergönnt sein, einzig aus einem Gefühl von Liebe zu heiraten. Natürlich wird das Motiv wohl kaum auf der Eheurkunde vermerkt sein. Aber wozu auch? So etwas fühlt man ja. Das ist ja da. Das bleibt ja, ob es dort geschrieben steht oder nicht. Sollte er aber doch mal einen Blick auf jenes Dokument werfen, dann nur, um den Tag des Freudenfestes mit seinem kalendarischen Gedächtnis abzugleichen. Also, um da wirklich sicher zu sein. Am besten wäre es, zeigte seine liebe, gute Frau ihm den Verwahrort aller im Familienbesitz befindlicher Urkunden. So böte sich gleich noch die Möglichkeit eines Hausrundgangs. Das wollte er ohnehin mal wieder gemacht haben: sich ihre gemeinsame Stätte ansehen. Ihr Nest. Ihren Hafen. Nannten sie nicht sogar eine Sonnenterrasse ihr Eigen? Einen Teich auch? Er konnte es kaum erwarten, das traute Heim zu erkunden. Am meisten jedoch freute er sich auf die Zeit mit den Seinigen. Das ist ja doch das größte Glück für ihn.
Er wird sich darum bemühen. Um all das. Aber erst einmal gilt es, sich wieder an die Arbeit zu machen. Die Kunst ist eine Gnadenlose und erfordert, dem Wohlstand und Wohlergehen der Liebsten wegen, Verzicht. So sehr ihn dieser auch schmerzt, so abwegig die Vorstellung, verzichtarmen und damit gleichwohl belanglosen Dienst zu leisten: Kaum zu erahnen seine Seelenqualen, wäre er zu kunstbefreiter, allem Schöngeist entsagender Lohnarbeit gezwungen. Was nutzte er seinen Lieben dann? Was hätten sie dann von ihm? Zurück zöge er sich. Nähme keinen, allenfalls spärlich Anteil an deren Leben. Säße, wenn überhaupt einmal, dann von Mimik und Haltung weitgehend befreit, mit ihnen bei Tisch, löffelte wortlos seine Suppe, tunkte gedankenverloren Brot, zerfurchte appetitlos Püree, spießte der Ordnung halber Rosenkohlröschen auf oder was auch immer seine liebe, gute Frau zum Löffeln, Tunken, Zerfurchen oder Aufspießen zubereitet hatte.
Um ihnen solch' teilnahmsloses, entzweiendes, ihm gänzlich widerstrebendes Leben zu ersparen, genau deswegen gilt es, und zwar unter allen Umständen, die Abgabefrist zu wahren. Hohe Kunst erwuchs eben nicht aus dem Nichts. Natürlich erleichtern ihm sein unbestrittenes Sprachgefühl, seine kaum zu verheimlichende Originalität und die ihm eigene, im Allgemeinen eher rar gesäte Fähigkeit, zu fabulieren, den Schaffensprozess. All das, darum wusste er nur zu genau, nutzte jedoch nichts ohne die Disziplin, die wahre Kunst unabdingbar einfordert, die aufzubringen er aber ebenso willens wie fähig ist, um auch dieses Mal ein seinen - und damit den höchsten - Ansprüchen genügendes Werk zu vollenden. Wo war er? Ach ja: “Nun alles verrühren und vorsichtig das Eiweiß unterheben."
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freiTEXT | Anne Büttner
Buttermenschen
„Entschuldige, ich muss Dir das einfach sagen: Du hast unglaublich schöne Flanken! Wirklich. Fiel mir gleich auf, als Du zugestiegen bist.“ Adjektivlos schaut sie mich an. „Das hörst Du sicher öfter, oder? Dass Du atemberaubende Flanken hast." „Ehrlich gesagt, nicht so oft, nein." Erstaunlich eigentlich, denke ich und antworte entsprechend. „Ist ja nicht so, dass perfekte Flanken alltäglich sind. Entweder haben die Menschen den Blick für das Schöne oder den Sinn für Komplimente verloren. Beides nicht vertretbar, wenn Du mich fragst.“ Sie fragt mich nicht.
Das frühzeitige Verebben eines nicht zustande gekommenen Gesprächs ist eine mir vertraute Situation, mit der ich umzugehen weiß. Normalerweise würde ich einen letzten, bewundernden Blick auf ihren komplimentierten Bereich werfen und mich dann bis zum Erreichen des Zielbahnhofs meinem Larvenbestimmungslexikon widmen. Normalerweise. „Oh“, sage ich und meine damit die Jubiläumsausgabe, in die die Schönbeflankte sich vertieft hat. „Du interessierst Dich für mikrobiologische Prozesse?“ Sie nickt. „Dann darf ich also hoffen, dass Du auch auf dem Weg nach Neuruppin bist?“ Neuruppin und Hoffnung in einem Satz, passiert mir sonst eher selten. „Zum Käferlarvensymposium?" Erneutes Nicken. „Tja, dann", gebe ich mich geheimnisvoll und ihr Gelegenheit, nachzuhaken.
(Gelegenheit 1)
(Gelegenheit 2)
(Gelegenheit 3)
„Tja dann“, wiederhole ich, „dann bin ich wohl weiter dran, was?“ Keine Regung ihrerseits. „Okay. Also bin ich.“ „Bist was?“, fragt sie. „Na - weiter dran“, antworte ich. „Mit fragen. Man ist solang dran, bis man daneben liegt oder das Rätsel gelöst hat.“ Es gehört nicht viel dazu, ihre Körpersprache als Desinteresse zu deuten. Immerhin keine gänzliche Ablehnung. Das schürt Hoffnung. Und noch glüht mein Gesprächsfunke. „Lustig, dass ausgerechnet der Ptilinus Pectinicornis auf dem Umschlag abgebildet ist. War mein allererster Käfer, weißt Du.“ Weiß sie natürlich nicht. Woher sollte sie. „Siehst Du, hier.“ Ich halte ihr meinen Unterarm hin. Sobald sie das dort tätowierte Ebenbild von Sir Arthur bewundern würde, denke ich im Konjunktiv, werde ich ihr im Indikativ erklären, was es damit auf sich hat. Nun gut, ich würde es ihr auch erklären, wenn sie nicht bewundert. Wenn sie einfach nur fragt. Oder fragend blickt. Oder blickt. Okay, beschließe ich, ich erkläre es ihr, ohne dass sie etwas dafür tun muss.
„Darf ich vorstellen: Sir Arthur. So sah er aus, als ich ihn fand. Mutters Putzfimmel. Ein strahlender Tag für den Haushalt, ein schwarzer Tag für Sir Arthur und mich. Von wegen, Käfer könnten in so einem Staubsaugerbeutel noch eine ganze Zeit überleben, wie Abraham in Moby Dicks Bauch. Ich hoffe, Sir Arthur war auf der Stelle tot und musste sich nicht zwischen all den Fusseln, Flusen Krümeln und anderen Klack-Klacks quälen, aus denen ich ihn barg. Zumindest sieht er friedlich aus, oder?“ Ich betrachte noch einmal sein Bild. „Ja. Doch. Friedlich.“, bestätige ich meine Einschätzung und krempele den Ärmel wieder runter. Sie hatte wirklich genug Zeit, einen Blick darauf zu werfen.
Wie aus dem Nichts schiebt sie ihr linkes Hosenbein nach oben. Herrjeh, schöne Fesseln hat sie auch noch. „Da“, sagt sie und tippt auf das tätowierte Wimmelbild aus Punkten und Stäbchen an ihrem wohlgeformten Knöchel. „Meine Lieblingsmikroben in tausendfacher Vergrößerung.“ „Gibt es etwas Bedeutenderes, das zwei Fremde auf der Fahrt nach Neuruppin miteinander teilen können?“, frage ich und meine es ernst.
„Vielleicht schon“, gibt sie, ebenfalls ernst, zu bedenken und sendet folgende Signale:
- hungriger, beinahe gieriger Blick
- dezent geöffnete Lippen, mit der Zunge selbstvergessen umfahren
- leicht gerötete Wangen
- sichtbares Pulsieren der Halsschlagader
- mir zugeneigter Oberkörper
Obwohl Flirten nicht meine Königsdiziplin ist, weiß ich, die Zeichen zu deuten und rutsche auf meinem Sitz vor. Die Nervosität versuche ich mir nicht anmerken zu lassen. Als ich mich gerade zu ihr beugen und ihr das geben will, wonach ihr offensichtlich ist, holt sie mich mit einem „Hoffentlich richtige Butter und keine Margarine?“ in das Wurstbrot-Hier zurück. „Ach, das meinst Du." So, wie sie mein Proviantpaket auf dem Klapptischchen zwischen uns fixiert, ahnt sie wohl nicht, was ich eben vorhatte. "Nein. Ist richtige Butter. Und richtige Wurst und richtige Landgurke auch.“
Ich bedeute ihr, sich an den Broten zu bedienen. „Ach super, danke!“ Um unser zartes Band zu stärken, greife ich mir trotz Völlegefühls auch eins. „Es gibt ja Buttermenschen und Margarinemenschen. Obwohl letztere gar keine richtigen sein können. Meine Meinung.“ Meine auch, wie ich ihr mit Nicken und aufgestelltem Daumen zu verstehen gebe, während ich mit der anderen Hand versuche, mein Brot so zusammenzudrücken, dass ich beim Abbeißen nicht den kompletten Rohschinken runterziehe. Ich wünschte, ich hätte mich für einen weniger komplizierten Belag entschieden oder sie sich wahlweise für den gleichen.
Stattdessen hat sie sexy Teewurst und ich ein kulinarisches Desaster. „Mal ehrlich, was ist das für ein Leben? Kompromiss wählen, statt sich für das einzig Richtige zu entscheiden? Sowas zieht sich ja durch. Das hört ja bei Ersatz-Butter nicht auf. Nehmen wir beispielsweise ..." Kaugeräusche überlagern ihr Beispiel. Hätte ich nicht noch immer mit dem Schinken zu kämpfen, würde ich nachfragen. „Während Margarinemenschen also noch Probleme suchen und hadern, haben sich Buttermenschen schon entschieden. Und zwar richtig." Erneut beißt sie in ihre Teewurststulle. Gerade so, als sei die ein Apfel und dies ein TV-Spot für Zahngesundheit. Ob ihre Makellosigkeit ihr manchmal ähnlich lästig ist, wie mir aktuell der Rohschinken? „Müsstest Du doch genauso sehen. Bist ja schließlich auch ein Buttermensch.“ Egal jetzt - ich ziehe den Schinken vom Brot und schlinge runter. Sie hat mich tatsächlich soeben zum Buttermensch geadelt. „Nehmen wir dieses Oder-Spiel. Kaffee oder Tee. Winter oder Sommer. Katze oder Hund. Berg oder Meer. Jetzt oder später. Später oder nie. Und oder oder? Solche Spiele fallen nur Margarinemenschen ein. Für Buttermenschen gibt es kein Oder. Kein X, wo ein U ist, keine Birne im Apfelgewand." Ich bewundere ihre Tiefgründigkeit und Entschiedenheit ebenso, wie ihre Flanken und Fesseln.
„Ah. Hier ist noch was frei", tönt es da unangenehm aus der Schiebetür unseres Zugabteils, das leider keine Zweier-Suite sondern ein Sechs-Personen-Abteil und damit auch anderen zugänglich ist. In diesem Fall dem verhutzten Störer, der sich geräuschvoll auf den Sitz neben mir fallen lässt. Ausgerechnet, als sie und ich kurz davor waren, einander ewige Liebe zu schwören oder uns wenigstens unsere Namen zu verraten, platzt er rein. Tatsächlich ist seine Hutzigkeit das einzig Besondere an ihm. Ansonsten lässt sich ganz objektiv feststellen, dass er über sehr viel Gesicht, sehr wenig Behaarung und einen zweckmäßigen Körper verfügt und dass er ein typischer Weder-Noch ist, was in diesem Fall dem Mängelexemplar eines Sowohl-als-Auchs entspricht. Beeindruckend unangenehm, wie er versucht, um ihre Aufmerksamkeit zu buhlen. Nicht in der Lage, ihr Desinteresse zu erkennen oder zu akzeptieren, monologisiert er unablässig über sich und ähnlich Unspektakuläres. Während sie ihn dabei entweder gar nicht oder versehentlich ansieht, befasse ich mich mit folgender Rechnung: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit W, in einem beliebigen Abteil X eines beliebigen Zuges Y auf eine Person Z zu treffen, die nicht nur die weltschönsten Flanken und Fesseln hat, sondern zudem Interesse I an der Lösung "für das vieldiskutierte Problem, dass es beim Verschrauben der Pins immer zu Beschädigungen durch den Flansch kommt beziehungsweise, haha - aufgemerkt, kam", wie der Verhutzte uns wissen lässt. Die Interessenwahrscheinlichkeit liegt meiner Berechnung nach bei beruhigenden minus Null Prozent.
„Oh", oh-t er in ihre Richtung, „Du interessierst dich für Prozessleittechnik im Alltag?" Sie nickt. Davon hat sie mir nie erzählt. Vielleicht braucht sie ihre kleinen Geheimnisse. Aber woher weiß er es dann, frage ich mich. Antwort gibt die von mir bislang unbemerkte Ausgabe der aktuellen `Prozessleittechnik im Alltag`, die, bei Hinschauen erkennbar, in der Seitentasche ihres Rucksacks steckt. „Dann darf ich hoffen, dass du auch auf dem Weg nach Groß Twülpstedt zum Dichtungstechnikkongress bist?", fragt er und birst fast vor Begeisterung.
„Das wär ja nicht zu fassen, wär das ja nicht. Ich meine, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit W, in einem beliebigen Abteil X eines beliebigen Zuges Y eine Person Z zu treffen, die sich für exakt dasselbe Spezialgebiet interessiert, wie man selbst?" Statt die Lösung zu verraten, würde ich ihm gern klarmachen, dass das hier nicht das Flanschen-für-Interessierte-Abteil ist und wir auch nicht auf großer Fahrt zum Dichtungstechnikkongress sind, sondern Buttermenschen auf dem Weg nach Neuruppin. Sie antwortet ähnlich. "Eventuell auf dem Rückweg, je nachdem, wie Neuruppin wird." „Wie soll Neuruppin schon werden? Es ist und bleibt Neuruppin. Dann sehen wir uns also in Groß Twülpstedt." Was für ein selbstgefälliger Fatzke. Kennt er Neuruppin? War er schon mal da? Nie war mir Neuruppin näher als jetzt. „Darauf sollten wir uns zubroten. Magst Du?" Obwohl die Frage nicht mir gilt, lehne ich dankend ab. „Leider war die Margarine leer - aber es schmeckt auch mal ohne, oder?" Margarine, schmecken und oder in einem Satz. Das Glück sorgt für Wiedergutmachung, denke ich und hoffe ausnahmsweise, dass sie ihm zugehört hat. "Zum Anstoßen reicht`s allemal, was?" Anscheinend meint er es ernst. „Danke. Aber ich bin so satt wie lange nicht mehr", höre ich sie sagen. Und dann schenkt sie mir ihr schönstes Buttermenschenlächeln. Auch auf die Gefahr hin, noch Schinken zwischen den Zähnen zu haben, lächle ich zurück. Lieber Schinken im Zahn, als Margarine im Herzen.
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freiVERS | Anne Büttner
Carrera
Bemüht, ihr zu gefallen,
gefiel ich besser als bemüht.
Bis du mich ihr schließlich überlassen hast;
Mich abgeschoben hast an sie.
Dorthin, wo ich nie sein wollte:
weg von dir.
Keine Chance zu schlingern oder anzuecken;
keine Hoffnung auf Disqualifikation.
Wie auch? Du hattest vorgesorgt:
Mich erst, als die Kurven begradigt,
die Unebenheiten beseitigt waren,
in ihre eingefahrene Spur gesetzt,
die mich sogleich erbarmungslos hielt;
mich des Vergnügens beraubte,
aus der Bahn zu schleudern.
Kein Gegenverkehr, keine Hindernisse,
kein Ende, kein Du in Sicht.
Dich hast du aus dem Rennen genommen -
Motorschaden.
Anne Büttner
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freiVERS | Anne Büttner
legitimierter Ungehorsam
Lass uns das Weil sein - und das Trotzdem auch.
Lass uns das Aber sein und alles danach.
Lass uns vom Plusquamperfekt nur perfekt gewesen sein. Jederzeit, immerzu - einfach nur perfekt.
Lass uns unser Präsens auch in Futur denken: und zwar in Futur II, dem Futurum exactum. Futurum simplex ist zu vage für uns.
Lass uns all uns're Konjunktive im Indikativ buchstabieren.
Lass uns nichts zwischen uns akzeptieren -
außer einem Und.
Lass uns nicht Hyperbel sein - sondern ganz selbstverständlich die Steigerung von Superlativ.
Lass uns einsilbig bleiben - und damit trennungssicher.
Lass uns das Leerzeichen streichen und uns in Klammern wohnen.
Lass uns beweisen, dass lieben kein schwaches Verb sein kann!
Anne Büttner
freiVERS ist unser Wort zum Sonntag.
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