freiTEXT | Claudia Wallner
Verschiedene Welten
Es war warm in der Stube. Die Mutter hatte ihre gepunktete Kochschürze umgebunden und fing langsam an das Abendmahl auf dem Gasherd zuzubereiten. Vater war draußen, um Holz zu hacken, während unser Hund „Schorsch“ vergnügt den Hühnern nachjagte und bellte. Ich war gerade mit Hausübungen beschäftigt, als meine Schwester mit einem Geschenk vor mir stand: „Alles Gute mein lieber Bruder! Ich weiß du hast erst morgen deinen Ehrentag, aber ich möchte dich heute schon beschenken!“ Ich war sehr erstaunt und öffnete das Päckchen neugierig. Es war ein Schlüssel. Meine große Schwester Anna hatte mir also ihr Moped vermacht! Ich war selig vor Freude. Endlich konnte ich überall in der Stadt hinfahren, welch‘ neu gewonnene Freiheit! Ich war glücklich und genoss die Atmosphäre der warmen Stube, eingehüllt von köstlichem Essensgeruch. Ich fühlte mich so wohl im Kreise meiner Lieben und lächelte zufrieden.
Abdul schlug das Buch zu. Um sich sah er nur Zerstörung, Armut und Tod. Er war hungrig und allein. Mithilfe des Lesens flüchtete er sich regelmäßig in Fantasiewelten, die ihn wenigstens kurzzeitig von diesem Elend ablenkten. Ein ausländischer Soldat hatte ihm dieses Buch geschenkt. Es gefiel ihm, aber komisch fand er nur, dass es auf einem anderen Planeten spielte.
Claudia Wallner
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freiVERS | Simone Scharbert
aufräumen I, 10:05
(eine schneise schlagen, zögernd)
abgewischte leere auf tischen und bänken haftet
ein übergang eingefasster räume von a bis b wenig
distanz nur ein paar schritte über den schulhof und
wieder zurück zwischen mauern auf betonierten
metern in quadraten mit kleinen kindern auf
rädern später einfach so eine schneise schlagen in
diesen moment in diesen tag oder den zaun die
wenigen stunden bis mittag und zur nächsten reihe
vor biertischen und warmhalteplatten die eigene
anwesenheit spüren
(Die Flucht ins Chaos. Auf der Balkanroute sind derzeit so viele Menschen unterwegs wie nie zuvor. Wegen der »massiven Überlastung« stoppt Österreich den Zugverkehr zwischen Wien und Budapest. SZ, 11.9.15)
Simone Scharbert
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freiTEXT | Gregor Eistert
Das Kunstprojekt
Auf einmal stand er da, der Container. Mitten auf dem Stadtplatz. Im Laufe des Vormittags hatte sich dann schon eine beträchtliche Menschentraube gebildet aber obwohl viel geredet wurde, wusste keiner so recht, was hier eigentlich geschah. Der Container war kein normaler Baucontainer. Also an drei Seiten schon: Dieses in hellem Grau gestrichene Metall, dass zur Sicherung der Stabilität leicht gewellt war. Die der Kirche abgewandte Seite war jedoch aus Glas. Das ließ dann wieder an einen Zoo, vielleicht an ein Affenhaus denken. Diejenigen, die sich näher herangewagt hatten, sahen, dass der Container keinesfalls leer war. Auf dem Boden lagen einige alte Decken, die allesamt so aussahen, als wären sie von einem Laster auf der A8 abgeworfen und einigen Wochen später von irgendwem wieder eingesammelt worden. An einer der Metallseiten hatte der Container auch einen kleinen Anbau, in den man aber auch von der Glasseite aus nicht hineinschauen konnte, da er mit einem fetzenartigen Vorhang vom Rest des Raumes abgetrennt war. Der Container stand auf mehreren Holzpaletten, so dass sich der Boden des Innenraumes ziemlich genau auf Kniehöhe eines durchschnittlich großen Mannes befand.
Während sich bis zur Mittagszeit immer mehr Menschen am Stadtplatz versammelten, zerstreute sich die Menge während des Nachmittags wieder. Einige Neugierige kamen zwar noch vorbei um sich den Container aus der Nähe anzusehen, aber da sich davor weder ein Schild, noch irgendetwas besonderes darin befand, ließ das Interesse der Passanten bald nach.
Das änderte sich am nächsten Morgen.
„Ist ja unerhört!“ „Das ist wieder irgend so ein moderner Kunst Schaß, den sie von unseren Steuergeldern finanzieren. Wie damals der Hubschrauber.“ „Eine Frechheit ist das!“ „Das geht ja nicht. Das kann man ja nicht machen. Irgendwer muss da was dagegen tun.“ „Ist das überhaupt erlaubt?“
Im Container befand sich jetzt eine syrische Flüchtlingsfamilie.
Das stand jedenfalls auf dem Schild, das jetzt an einer der Außenwände befestigt war. Das Schild war klar und strukturiert designet und gab Informationen über den Inhalt des Containers, über die Herkunft der sich darin befindenden, ihre durchschnittliche Lebenserwartung, die Zahl der Kinder, die sie durchschnittlich zur Welt bringen und ihre größte, natürliche Bedrohung: Der Mensch.
Doch das Schild interessierte die meisten anfangs nicht besonders. Aller Augen waren auf das Kleinkind gerichtet, dass gerade weinend auf die Glaswand zu gekrabbelt kam und mit seinen speichelverschmierten Händen tollpatschig dagegen schlug. Eine dunkelhäutige Frau mit Kopftuch, offensichtlich die Mutter des Kindes, hob es vom Boden auf, wischte das Glas so gut es ging mit dem Ärmel ihres Gewandes sauber und sah sich dann verzweifelt im Container um. Das Kind wurde währenddessen immer unruhiger. Heftige Weinkrämpfe brachen aus ihm heraus. Schließlich ließ sich die Mutter mit dem Rücken zur Glasfront nieder und begann ihr Kind zu stillen. Das war ihr sichtlich unangenehm. Immer wieder warf sie einen verschämten Blick über die Schulter während die Leute draußen ihre Nasen gegen die Scheiben drückten.
Im Container befand sich auch ein Mann, der bis dahin auf dem Haufen dreckiger Decken geschlafen hatte. Jetzt stand er allerdings auf, nahm eine der Decken und versuchte sie schützend vor seine Frau zu halten. Augenblicklich ertönte ein lautes, schrilles Hupen im Container und an der Decke angebrachte Sprinkler ließen es regnen. Verzweifelt versuchte der Mann, seine Frau, das Kind und sich selbst mit der Decke zu schützen, doch der künstliche Regen wurde immer stärker. Erst als er den Stofffetzen entmutigt sinken lies, hörten die Sprinkler auf Wasser zu vergießen. Das versammelte Publikum, das ob des plötzlichen Wolkenbruchs kurz zurückgeschreckt war, drückte jetzt wieder seine Gesichter gegen die Scheiben und versuchten nicht nur zu sehen, sondern auch zu hören, was drinnen vor sich ging. Geräusche drangen nämlich keine aus dem Inneren.
Am frühen Abend, wahrscheinlich so, dass es sich eben für die Nachrichten noch ausgehen würde, war dann auch das Fernsehen zur Stelle.
Kunst. Der Container samt Flüchtlingsfamilie war eine Installation irgendeines belgisch-afghanischen Künstlerpaares. Damit war der Sachverhalt für die Zivilbevölkerung geklärt: Moderne Kunst muss man nicht verstehen. Moderne Kunst ist einfach. Man muss sie nicht mögen oder schönfinden und man muss sie vor allem nicht mit der Realität in Beziehung setzen. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als sie zu akzeptieren. Weil finanziert wird das ganze ja sowieso immer von Menschen, die einfach zu viel Geld haben oder, noch besser, vom Staat, der zwar kein Geld hat aber zumindest so tut als ob. Nein, leid tun, müssen einem die Gestalten in diesem Container jetzt nicht mehr, letztendlich haben sie sich ihre Situation selbst ausgesucht. Genauso wie Millionen syrischer Flüchtlinge. Hätten ja nicht herkommen müssen. Keiner hat sie darum gebeten. Sollen sich jetzt nicht aufregen, weil sie in Zelten schlafen müssen.
In irgend einer Late-Night-Talk-Show, so spät, dass sowieso fast keiner mehr zusah, gab dann das belgisch-afghanische Künstlerpaar ein Statement zu seiner Installation ab: „Wir tun uns manchmal sehr leicht damit, etwas so sehr zu abstrahieren, dass wir den Menschen dahinter vergessen. Wenn Menschen fliehen, ist das nicht wie Lotto spielen. Man steht nicht aus seinem bequemen Wohnzimmersessel auf, kauft ein Ticket und hofft das große Los zu erwischen. Menschen fliehen, weil sie müssen. Weil, wenn sich wer zwischen dem sicheren Tod in der Heimat und dem wahrscheinlichen Tod auf einem Schlepperschiff entscheiden muss, wählt er zumeist doch diese klitzekleine Chance, diesen Lichtblick den ihm Europa bietet“.
Gregor Eistert
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Advent-mosaik IV als eBook und PDF
Das Advent-mosaik IV gibt es jetzt auch als Anthologie. Die große Nachlese gibt es als PDF und eBook hier kostenlos zum Download.
Mit Texten von:
Camena Fitz, Claudia Kohlus, Martin Reiter, Ingeborg Kraschl, Luka Leben, Jonas Linnebank, Simona W., Eric Ahrens, Simone Lettner, Marina Büttner, Matthias Engels, Natalia Fastovski, Simone Scharbert, Katie Grosser, Claudia Maria Kraml, Maximilian Michl, Sophie Stroux, Sigune Schnabel, Andreas Schumacher, Gundula Maria von Traunsee, Claudia Wallner, Martin Piekar und Andreas Haider.
Illustrationen von Sarah Oswald.
23 | Andreas Haider
Der Weihnachtsbaum
Dem Wald entrissen,
der lange schon keinen Schnee mehr sah,
ins Wohnzimmer gestellt,
geschmückt mit Glitzerzeug und Kerzen,
und Süßem in Alufolie.
Da steht er nun,
eingeschraubt ins Christbaumkreuz,
quasi gekreuzigt,
so, als ob es zwischen Weihnachten und Karfreitag
einen Zusammenhang gäbe.
Schon brennen die Kerzen,
die Lichter erhellen Raum und Baum.
Und während das Lied ertönt,
weinen die Kerzen ihre Wachstränen.
Oh Tannenbaum, Oh Flammenbaum.
Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen.
22 | Martin Piekar
Wintersonnenwende
Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
und Schatten der Erde?
(Friedrich Hölderlin)
Amour, Amour
Alle wollen nur dich zähmen
(Rammstein)
In meinem Kopf: Ameisenrennen
Oder Blizzard – wie du willst
– ziemlich dunkel jedenfalls. Und
Alles um mich herum hat zum Gegenteil
Den Kittel der Jahreszeit so
Abweisend und vertuschend angenommen.
Ich knittere ihn bald. Mit Spuren ins
Weiße, hinein
Ins Caspar David Friedrichsche – tief, tief
Schlafen meine Versuchungen
Und Vermutungen noch. Unter Frösteln.
Mein Herzblut, es ist meine Zeit
Des Erwachens. Aber ich will
Noch gar nicht, nur noch
Ganz kurz… bitte. Ich weiß um meine Furcht. Sie
Gurgelt schon. Jetzt. Lasse ich’s doch
Noch schlummern. Ich steige allein.
Aus dem Höhlengleichnis
Unserer Liebe. Dem Bett.
Mon Amour… Alte Minne.
Verkriech dich, glaub mir.
Verkriech dich vor mir.
Ach Herz. Reife nur, aber
Reif nicht zu viel; es ist Winter-
Sonnenwende: die Schatten fallen
Über ihre Lichter her. Wir sind,
Den ganzen Tag, in heller Nacht umgeben.
Schlaf einfach winters. Wir
Sehen uns wieder.
Schlaf einfach durch.
für Benjamin Lebert
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen.
21 | Claudia Wallner
Ein harter Winter.
Früh
dunkelt mein Tag
sich zum Abend
Lang
verbleiben eisige
Schattennächte
Wo
durchzitterte Lippen
erblaut sind
Sich
da zu erwärmen
fällt schwer
Und
dünne Haut friert
schutzlos dahin
Wo
mehr und mehr
Eiskristalle
wuchern
Weil
nichts mehr da ist
um sie zu
schmelzen.
Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen.
20 | Gundula Maria von Traunstein
Eisverkrustetes Zweiggewirr
Von eisverkrustetem Zweiggewirr
tropft es.
Ich bin gegangen,
hab dich zurückgelassen,
alleine.
Im Schein der Straßenlaterne
steh ich jetzt
und weine.
Von eisverkrustetem Zweiggewirr
tropft es.
Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen.
19 | Andreas Schumacher
Hymnen an die Weihnacht
Welcher überarbeitete, feierabendfixierte Familienvater
fürchtet nicht vor allen Verpflichtungen des Kalenderjahres
den – Jesus Maria! – frustrierenden Einkauf der Weihnachtsgeschenke –
mit seinen hieroglyphischen Wunschzetteln und unausgesprochenen Erpressungen,
der heillosen Hektik und Schnäppchenpreisjagd.
Wie ein zwischenmenschliches Wundermittel kittet er
familiäre Spannungen,
mildert Vernachlässigungen,
radiert verletzende Worte.
Seine zuverlässige Erledigung allein
garantiert eine friedvolle Stimmung
am Abend des Herrn.
Einst da ich astronomische Summen verpulverte,
da in ein Nichts sich auflösend meine MasterCard zerbröselte,
in ein phänomenal schwarzes Loch
sich ohnehin längst verflüchtigt hatte mein Kontoguthaben
und ich mit lausig-lächerlichen einhundertsiebenunddreißig Euro in der Tasche
im SATURN stand, einsam wie kein Mensch zuvor,
zahlen nicht konnte und auf Raten finanzieren nicht,
und an den von meinen Geliebten begehrten Warengütern
mit unendlicher Sehnsucht hing,
ein Waschlappen wie kein Mann zuvor,
da besann ich mich eines alten, verbotenen, geheimnisvollen Kunstgriffs –
du, Kleptomanie, Triebabfuhr gelangweilter Aufsichtsratsgattinnen,
kamst über mich, und mit einem Mal
schwand meine kleinkarierte, bürgerliche Rechtschaffenheit.
Zum Staubwölkchen wurde das Preisschild.
Tütenweise mopste ich, und erst seitdem fühle ich
die schwitzende Hand des allmächtigen Vaters.
Wie dumm und überaus unnötig
dünkt mir das ordnungsgemäße Bezahlen der Ware an der Kasse nun –
wie königlich-würdig der Ausgang am Drehkreuz.
Gern will ich die fleißigen Flossen rühren,
überall einstecken, was man grad so braucht,
entfernen die kleinen versteckten Sicherungsetiketten.
Die Kinder werden strahlen,
ich schiebe alles ein.
Ich werde nicht bezahlen
und Superdaddy sein!
Muss denn immer dieser Hansel, der Ladendetektiv, wiederkommen?
Endet nie seine Schicht?
Gottverdammter Motherfucker,
verzehrt den himmlischen Anflug der Weihnacht.
Kann denn nie einfach mal dieses ganze
elektronische Überwachungsdingens ausfallen
und dann am Eingang bitte freundlichst darauf hingewiesen werden?
Längst weiß ich, wann die letzte Bescherung sein wird –
wenn, in Handschellen gelegt, ich einst heimgeführt werde.
So komm ich – mit dem blauen Bus
und leerem Sack – nach Haus am Schluss.
Gnad Gott, dass ich die Schuld begleich’,
umsonst ist nur das Himmelreich.
Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen.
18 | Sigune Schnabel
Tagschmelze
Du sagtest,
Erinnerungen wachsen im Schatten
zwischen Gesteinsbrocken.
Doch der Gipfel lag karg im Dunst,
die Luft so dünn,
dass sie von der Last der Vögel
zerbrach.
Als wir von Flüssen sprachen,
taute der Schnee in den Grund der Worte,
und deine Haare flatterten
wie Segel.
Ich pflückte das Moos
von deiner Stirn
und ließ es zwischen Felsen liegen.
Lange vor den ersten Flocken
trieben Silben
auf den Wegen
und zerfielen unter den Füßen.
Das Advent-mosaik, dein literarischer Begleiter durch die Vorweihnachtszeit.
Täglich darfst du ein neues Türchen aufmachen.