freiTEXT | Thordis Wolf
track I – III
3d hast du gesagt. wir sind bei a, b, c vorbeigelaufen, an dem alten mann mit dem sabbernden hund und dachten: das nächste haus muss es sein. die kleinstädeplanerin hat sich wohl einen scherz mit uns erlaubt und das alphabet einfach umgestellt. das wissen wir noch nicht und läuten bei tür nummer 44. hinter den restlichen klingelquadraten in schwarz-feinripp: namen. gut leserlich, weil: indirekt beleuchtet, einheitliches schriftbild. korrekte beschriftung ist die halbe miete wert, hat sich da wohl jemand gedacht und trotzdem etwas übersehen: 44 namenlos, also: winzige lamellen unter meiner fingerspitze. sandra sagt: sicher wegen den bullen kein name dran. oder wegen der gis: sage ich und läute gleich nochmal. du hörst bestimmt nichts, die anderen sind laut. kaltschnäuzig will der alte mann mit dem hund jetzt wissen: was habt ihr hier zu suchen? jedes recht: sagt sandra unerschrocken. das reicht dem alten. er zieht davon und seinen vierbeiner hinter sich her, schnauze am boden. unheimlich: sagt sandra als ich bemerke: e statt d. die städteplanerin lacht sich ins fäustchen (verschluck dich nicht!) und wir schleichen um die ecke zum nächsten quader. das licht geht an, wir stehen richtig. d gleicht e, wie ein ei dem anderen. nur, dass neben den viereckigen klingelknöpfen andere namen stehen. nikolai grönwald. klingt ernst, aber: es bist du und ich: klingle. ich kann es selbst nicht glauben, ich gestehe: ich wusste nichts von deinem namen. du heißt uns trotzdem willkommen. der türöffner summt länger als nötig. draußen sieht der sabbernde hund, wie unsere schatten hinter milchglas ins innere von 3d verschwinden.
was hast du denn gedacht, wie er heißt? fragt mich sandra, als wir im lift unsere augen gegen das grelle fahrstuhllicht zusammenkneifen. vergiss es: sage ich und dann öffnest du die tür.
es riecht nach gras. (du würdest »ganja« sagen.) und vanillekipferln. kipferl ist ein hässliches wort. ich wünschte, es gäbe ein anderes dafür. vanillehörnchen vielleicht? beschissen, dennoch: already taken. bourbon-halbmonde: könnte funktionieren. später finde ich heraus: christmas scented candles, very seasonable. nicht winterliche musik als ausgleich: reggae, zeitlos. obwohl: du bist ein sommerkind. seit ich dich kenne, stehst du auf reggae. auf reggae und annika, die eigentlich mit nur einem n geschrieben wird und die jetzt mit dani zusammen ist. vor einigen jahren mal... da wart ihr beide ein paar, du und annika. ihr wart wie nimm2: leuchtend, nur nicht: gelb & orange. noch übrig aus dieser zeit sind: zwei falsch geschriebene namen in meinen kontakten und die couch, auf der wir jetzt sitzen. let’s get together and feel alright: trällert bob marley seine 1 liebe im hintergrund und sandra vor sich hin.
du kommst aus der küche auf uns zu: ins wohnzimmer. küche und wohnzimmer sind ein und derselbe raum. you move with purpose. (sonst wäre dein zugang nicht zu erkennen.) du bietest uns kuchen auf alufolie an. niemand hat geburtstag. sandra hört auf zu singen, nimmt sich ein stück und fragt mich: fährst du? aus der bisher unerwähnt gebliebenen runde sagt jemand: ich kann fahren, wirklich. du reichst mir eine gabel, ich lehne ab. lieber ess ich mit den händen. nusssplitter fallen aus dem schokoladenteig. ich denke an wolken und das schlaraffenland.
niemand rührt hier das besteck an. es bleibt: abandoned, am tisch liegen. während: ich, ungeübt in full lotus, auf die couch krümmle. mir wird schwindlig, i almost faint. but then: just light-headedness und: es geht gleich wieder. sorry: sage ich, ganz ehrlich. du lachst, kurz und laut. dann sagst du: macht nichts und nur annika weiß, warum, doch nichts von alledem: sie schläft schon lang. das bett ruft: sagst du und meinst damit eigentlich deine arbeit morgen. wir gehen, umarmungen zum abschied. du bläst die duftkerzen aus, während wir ins auto steigen. sandra und ich sitzen hinten. die rückbank ist kalt, auf den scheiben: frostkristalle. jemand schlägt vor: enteisen. mir gefallen die eisblumen. ich will, dass sie bleiben. das bringt unglück: behaupte ich und wir fahren los, lassen 3d hinter uns und den frost auf den scheiben liegen. was geht in dir vor: frage ich den schwarzen samthimmel und rechne nicht mit einer antwort. doch dann: ein scharfer schnitt, der beinah blutig endet. ich pralle mit der stirn gegen die kopfstütze des vordersitzes. ein erdbeben peitscht durch meinen körper. magnitude, magnitude, Magnitude, plötzlich hell: Magnitudo, ich sehe sterne. dann: stillstand, abrupt. ich hör die andern atmen. weiße wolken steigen auf. eine straßenlaterne wirft sich vor das erschütterte schwarz, licht fällt auf den intruder, mit dem wir beinah kollidiert wären. i see: he’s marked: LOVE 1. black velvet: denke ich und weiß: das war knapp. wer bekennt sich so offen zur liebe: frage ich sandra. du weißt aber auch gar nichts: antwortet sie und lässt ihre fingerknöchel knacken. vorne: shift to first gear, almost simultaneously. schon sind wir zurück: auf kurs.
Thordis Wolf
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freiVERS | Marina Büttner
Ich baue ein haus aus licht
Ich baue ein haus aus licht
inmitten von hauptverkehrsstraßen
ich bringe sterne mit & luft
ich bringe sprache in alle
stockwerke – stiegenhausblues
rauhfaserfarbene worte schlag
ich aus unverputzten wänden
ich verstehe längst nicht genug
vom handwerk, ich sammle
backsteine auf abraumhalden
berge von schutt und metall
ziehe worte magnetisch an
kleide sie ein – ein taufkleid
sollen sie tragen & und namen
die noch keiner kennt
ich baue ein haus, ich öffne türen
licht fällt herein & am boden
spuren von anziehungskraft
ich klaube die hellen klaren heraus
alles spricht und springt mir bei
Marina Büttner
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freiTEXT | Nils Langhans
Lichtschutzfaktor
Das Gästehaus lag einige Passstraßen oberhalb der Cinque Terre. Von meinem Zimmerfenster aus sah ich über die Hügelketten. In der Dämmerung verschwammen die Gipfel mit der steingrauen Wolkendecke zu einem bedrohlichen Klotz, der düster über der Welt thronte und mich grimmig anstarrte. Ich starrte zurück. Nichts regte sich. Das einzige Geräusch, das sich der vollkommenen Stille widersetzte, war der Gesang einiger männlicher Ammern. Ich war mir zumindest sehr sicher, dass es Ammern waren, und dachte darüber nach, wie praktisch es wäre, wenn es ein Shazam für Vogelstimmen gäbe. Über den Gedanken schlief ich kurze Zeit später ein.
Am nächsten Morgen klopfte Francesco an meiner Zimmertür und weckte mich sehr freundlich. Wir würden in einer halben Stunde losfahren, sagte er durch den Türspalt.
Zum Frühstück aß ich einen Apfel. Francesco hatte ihn sicher am Morgen von den pensionseigenen Apfelbäumen gepflückt, war auf eine klapprige, dreistufige Holzleiter gestiegen, hatte den Baum gerüttelt, die Äpfel waren zu Boden gefallen und es ward Frühstück. Ich hätte seinen Namen stundenlang aufsagen können. Francesco, Francesco, Francesco, so sonor wie ein Eichendorff-Gedicht, immer Francesco. Wäre er Deutscher und sie hätten ihn Franz genannt, ungläubig staunend hätte die Standesbeamtin seinen Vater angeschaut, ob er noch bei Trost sei, ein Kind Franz zu nennen, und das in den Achtzigern. Franz wie Strauß, wie Beckenbauer, wie antiquiert das klänge, ein Kind Franz nennen, nein, bitte, vielleicht im Zweitnamen, aber als Rufname wäre Franz eine Bürde - so würde sie reagieren als pflichtbewusste Beamtin, die sich dem paternalistischen Staat verpflichtet sah, der denen, die noch nicht ihrer Handlungen eigener Puppenspieler sein konnten, den Weg ins Gute wies. Franz, Franz, Franz. Man könnte es niemals vor sich hin summen oder gar singen. Man könnte es bloß salutieren. Franz Göring, jawohl, zu Befehl. Die Härte der deutschen Sprache war der wachste Erinnerungsruf, der einen jeden mit jedem Wort der Verbrechen mahnte, die von deutschem Boden ausgegangen waren. Die Härte des Deutschen machte zu allem fähig.
Wir fuhren in einem Fiat Skudo etwa zwanzig Minuten bergab, bogen uns um windschiefe Kurven, links, rechts, links, die Wipfel der Korkeichen schwangen erhaben im Rhythmus unseres 4-Zylinders, Francesco fuhr mit einer Hand am Steuer und ich studierte auf dem Beifahrersitz einen Bericht des Merian über den ökologischen Landbau in Ligurien. Die Sonne schien. Ich wühlte in meiner Strandtasche nach einer Sonnenmilch mit Lichtschutzfaktor 25, denn die Septembersonne fräste sich nicht mehr so hemmungslos durch die Hautschichten wie die Augustsonne. Lichtschutzfaktor 25 würde ausreichen.
Francesco hielt an am Ortseingang von Riomaggiore und wünschte mir einen schönen Tag. Im Autoradio lief der Refrain von Grenade und ich dachte darüber nach, ob Bruno Mars wohl am Morgen seine Wimpern zupfte. Francesco fuhr weg und hupte zwei mal, während sich neben mir ein Mittvierziger in cargobrauner Dreiviertelhose beherzt mit der flachen Hand in die Arschritze griff, der Vertikalen entlang einige Sekunden hin und her rieb, schließlich anstandshalber flüchtig über die Schulter schaute und dann unbehelligt weiter ging.
Das eigentliche Riomaggiore erreichte man von der Stelle, an der Francesco mich abgesetzt hatte, durch eine Unterführung, die genauso gut zwei Bahngleise eines Provinzbahnhofs hätte verbinden können. Sie war eine denkbar schlechte Vorbereitung auf die Explosion, die sich – just da man aus dem Tunnel ins Licht ging – auf diesen paar winzigen Quadratmetern auftat. Mich überfiel ein Farbschauer, ein Zittern, die sorgfältig abgeblätterten Pastelltöne, das Preußenblaue Meer, einige Fischerboote, die Frauen beinahe versengt, Espresso auf Beistelltischen. Es war Zusatzversion der Realität, als würde man ein frühes Bild von Bernardo Bellotto auf LSD anschauen. Die Schönheit hier war kaum auszuhalten.
Ich stieg linkswärts der Bucht eine Treppe hoch, glaubte einen alten Schulkameraden im Gegenverkehr zu erkennen, traute mich aber nicht ihn anzusprechen, ging weiter, setzte mich auf die mit roten Ziegeln überzogene Mauer auf der Anhöhe und betrachtete einige Männer, die von den Felsblöcken ins Meer sprangen und wie junge Delfine im Wasser tollten. Ich zitterte noch immer. Die Sonne stand irgendwo im Westen. Am Nebentisch bat ein ergrauter Mann mit dunkelblauem Gaastra Polo die Kellnerin in perfektem Deutsch um die Rechnung.
Ich versuchte die Bucht von Riomaggiore auszuhalten, aber die Kulisse war zu perfekt, eine Superrealität, zu fein gearbeitet war, zu detailreich und zu gleißend. Ich ging die Stufen wieder hinab und bog in die Unterführung - erst jetzt fiel mir der bröckelnde Spritzputz auf, der sich an der Decke durch das Tropfwasser des Bergmassivs über Jahre in einen algigen Camouflagematsch gewandelt hatte.
Ein Zug fuhr in den Bahnhof von Riomaggiore ein. Die Klimaanlage sog die Menschen vom Bahnsteig in den Innenraum, sie würde sie wenige Minuten später in Monterosso wieder ausspucken, frierend und schlimm erkältet. Ach wer da mitreisen könnte in der prächtigen Sommernacht. Eichendorff konnte es ja nicht besser wissen. Damals gab es noch keine Klimaanlagen und keine Linoleumfußböden. Zum Glück musste er all das nicht mehr miterleben. Die Ästhetik der Moderne war ein einziger Irrtum.
Ich stieg in ein Taxi, ließ mich zu meiner Unterkunft fahren, packte eilig meinen Koffer, Francesco war nicht anzutreffen, ich stieg ins Auto und fuhr weiter Richtung Süden.
Nils Langhans
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freiVERS | Renate Aichinger
#selfie:suche
weil der hass immer hässlicher
wollen wir immer schöner
Renate Aichinger
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ZZZ 12/12 | Sven Heuchert
Geboren 1977 in der rheinländischen Provinz. 1994 dann Ausbildung, seitdem in Arbeit. Erste Kurzgeschichte „Zinn 40“ noch in der Schule. Mit neunzehn Umzug nach Köln. Liebe, Reisen, kleine Niederlagen, große Niederlagen. Rückkehr in die Provinz. Keine Preise.
Sven ist Teil von Zweifel zwischen Zwieback, der Kurzprosa-Anthologie zur 20. Ausgabe des mosaik. Sein Text "Neuware" ist einer von 12, die anonym ausgewählt wurden, sich in diesem Band zusammenfinden und im Herbst 2016 erschienen sind.
Grand Hotel Abgrund
Im Badezimmer roch es nach Desinfektionsmittel, und der Spiegel hatte einen Sprung. Er versuchte, sein Gesicht so in Position zu bringen, dass es durch den Sprung geteilt wurde. Es gelang ihm nicht. Er ging zurück in sein Zimmer und setzte sich auf das Bett. Er konnte den Lattenrost spüren.
Später an der Hotelbar bestellte er Genever und Bier. Der Junge hinter dem Tresen hatte rote Haare und Akne. Er servierte die Getränke achtlos und verschüttete ein wenig. Beide sahen auf den dunklen Fleck, der sich auf der Theke ausbreitete. Der Junge kratzte sich an einem Pickel und zuckte mit den Achseln. „Auf welchen Namen?“
„Kurt Schneider.“ Schneider sah sich um. Im Fernseher ein Boxkampf, in der Luft der Geruch von schalem Bier und Erdnüssen. Er trank den Genever in einem Zug. Einer der Boxer ging K.O, und die Stimme des Kommentators überschlug sich. Schneider überlegte, aber er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal einen Boxer gesehen hatte, der so schwer ausgeknockt worden war. Der Junge brachte neuen Genever. Diesmal verschüttete er nichts. Nach einer Weile betrat ein Mann die Bar, er trug Arbeitskleidung und einen Hut, den er sich tief ins Gesicht gezogen hatte. Er ließ zwischen sich und Schneider einen Hocker frei und bestellte Bier.
„Auf Durchreise?“, fragte er in den Raum hinein, und Schneider nickte.
Der Mann lächelte. „Kommen Sie von weit her?“ Schneider zuckte mit den Achseln. „Wie man’s nimmt.“
[gesamter Text im freiTEXT vom 6. März 2015]
An der Glut
Wir zündeten die neuen Zigaretten an der Glut der alten an,
eine nach der anderen. Ich hatte seit zehn Jahren nicht
mehr geraucht, und dann gleich vier oder fünf, direkt auf
Lunge. Aber ich musste nicht mal husten. Unglaublich
eigentlich. Als hätte ich nie etwas anderes getan. Es
brannte nur ein wenig auf der Zunge. Keine Frage, das war
ihre Schuld, das mit dem Rauchen. Doch es war Sommer, und
ich nahm es eben nicht so ernst.
Da hatten wir das mit den Steinen schon hinter uns. Sie hat
mir diese Stelle gezeigt, ganz hinten, ganz weit entfernt
von den anderen, und wir legten unsere Hände auf die Steine
und spürten ihre Kälte. Wir hörten die anderen noch, ein
Summen, das uns daran erinnerte, dass wir Menschen waren –
Menschen in Kleidung und mit Manieren, aber die Steine und
der Geruch unserer Haut erinnerte uns auch noch an etwas
anderes. Randvoll waren wir damit.
freiTEXT | Enno Ahrens
Auf, auf . . .
Bürgersteig verschlingende Bettelsuse; die Konsumgesellschaft breitet ihren Mantel aus. Ich - Bypassverschlingung - meine Schicksalshölzchen sind gefallen, Füßchen so spitz im Fundament; Flucht in die kühle Hintergasse. Wende mich um; das Gedärm trägt man schon ewig außen, ein Gewimmer über die Hochkultur nicht in der Galle, sondern am Revers, ein Emblem nahe der Rose, die man mir aus der linken Herzkammer stahl; der Abriss schmerzt noch nach. Die Starken, Erfolgreichen seien unbarmherzig, heißt es, und ein Dummbeutler, ein Opossum, huscht durchs Unterholz, ein Triumphator nicht nur für den Augenblick; Pedro, der Nachtportjeminee lacht und die Exilberliner schieben sich ihre Mollen mit Korn ein in die gefälteten Innenansichten.
Persilgeruch aus der Chemischen Reinigung löst meinen Bypassknoten nicht, gehe ins Internetcafe, will mich Freischreiben im Literaturforum; schwarze Materie erfüllt die Autorenlounge mit stummen Schrei: Ein vielversprechender Literat war im Strohfeuer seiner Texte der Hitze erlegen (Buschfeuer können ja so bereinigend sein.) Ansonsten geht es seinen üblichen Gang; die selbsternannten Kritiker sind wie eh und je am Umschichten in den Literaturforen, an diesen Scheiterhaufen der Gescheiterten; das Volk amüsiert sich; heuer wird Schreibentleins luftiger Vers ganz nach unten gelegt, ein leicht brennbarer Scheit. Rettbar vorm Entzünden vielleicht nur, indem man die Foren umtaufte in gemeine Volksguthaufen. Der Dichter zieht Hoffnung stolz hinter sich her, kompostierte Mistkügelchen, darin noch ungelegte Möchtegerneier, Abfallprodukte der Kritiker, welche man dem Poeten unter den Füßen wegziehen möchte, damit sie ihn nicht überrollen.
Der alzheimernde Schreiberkönig ist heuer nicht präsent; sein Schmierzettel liegt im geistigen Hinterland auf dem Werkstattsofa beim NeoTasmanischenTeufel, jenem nachhinkenden Freudianer im therapeutischen Separee. Grammatiktreue Pflegerinnen wischen ihm das Gesabber ab vom triefenden Frontallappen, ich entferne meinen Thread, klammere mich an meine Oversized-Barbie. Jetzt könnt der Lenz kommen.
Enno Ahrens
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freiVERS | Fabian Lenthe
Schritte aus dem Moloch
Schwere trägt ihren Gang
Sohlen schweben über den Morast
Zerknirschte Erden graben sich ein
Gestern liegt tief in den Augen und
Wind baut heimlich Wände
Regen wäscht gegen das Gesicht
Prallt in Gedanken auf Beton
Blicke finden einander und sterben
Aus Gassen fluten zähe Schatten müde Lichter
Glimmen zwischen zittriger Finger und
Glut schnürt blasse Fäden um rauchende Glieder
Erschöpft fallen Träume von den Dächern
Schlagen Krater in den Straßen
Sind Nahrung für am Boden Gebliebene und
Trophäen für die Götter
Fabian Lenthe
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ZZZ 11/12 | Marlene Schulz
*1961, Studien des belletristischen und journalistischen Schreibens, Stipendiatin am Institut für kreatives Schreiben in Bad Kreuznach, Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften im deutschsprachigen Raum und Anthologien sowie in mehreren Schulbüchern des Cornelsen Verlags. 2015 Nominierung für den Mannheimer Literaturpreis der räuber `77.
Marlene ist Teil von Zweifel zwischen Zwieback, der Kurzprosa-Anthologie zur 20. Ausgabe des mosaik. Ihr Text "morning has broken" ist einer von 12, die anonym ausgewählt wurden, sich in diesem Band zusammenfinden und am 2. Dezember 2016 erschienen sind.
Morning has broken
Nie wieder sah ich ihn. Er war elf, genau wie ich, damals. Kam einfach nicht mehr zur Schule. Sein Platz blieb für ein paar Tage leer, dann setzte Frau Hohenadel jemand anderen darauf.
Ferdi hatte blaue Augen, hell wie Gletschereisbonbons. Zwei Bänke vor und eine Reihe neben mir saß er. Wenn er sich meldete, sein Arm kerzengerade nach oben schoss und er ihn mit der anderen Hand abstützte, schaute er sich manchmal nach mir um.
Wir hatten uns ein einziges Mal verabredet. Es war der Sommer, bevor er nicht mehr kam. Nachmittags um drei Uhr, an einem Freitag. Ich hatte mein gestreiftes Kleid angezogen, das einen Reißverschluss bis zum Bauchnabel hatte. Der Rock war in Rot gehalten, die Streifen im Oberteil rosa und ein bisschen weiß. Der Reißverschluss hatte einen münzgroßen Ring. Ich steckte gerne den Finger hinein und zog den Verschluss rauf und runter. Ich hatte ein wenig Angst, dass Ferdi daran ziehen könnte. Heimlich schlüpfte ich in die schwarzen Lackschuhe, die im Schuhschrank standen und die ich nur sonntags anziehen durfte zum Kindergottesdienst. Meine rote Handtasche mit dem goldfarbenen Drehschloss nahm ich mit. Unser Treffpunkt war die Bank auf dem Spielplatz. Niemand spielte im Sand, als ich dort saß und auf Ferdi wartete. Niemand schaukelte oder schubste für sich selbst das Karussell an.
Abwechselnd stellte ich die Handtasche auf meine Oberschenkel und auf die Bank. Malte mit meinen Lackschuhen Furchen in den Sand. Ein paar Mal öffnete ich den Verschluss meiner Tasche und sah das gebügelte Schnäuztuch mit aufgedrucktem Schneewittchen. Zwei Lutschbonbons lagen auf dem weißen Plastiktaschenboden. Ich wollte Ferdi eines davon abgeben. Er war über der Zeit. Die Kirchturmuhr schlug. Vor einer Viertelstunde waren wir verabredet. Das Warten wurde lang. Ich entschied: Noch fünf Mal Tasche aufmachen, dann.
Das erste Mal. Jetzt Taschentuch auseinander und wieder zusammen falten, Tasche zumachen, einen großen Kreis mit dem rechten Fuß in den Sand malen, einen kleinen mit dem linken. Wieder verwischen. Tasche öffnen, Bonbons in die Hand nehmen, wieder fallen lassen. Tasche schließen. Die Schuhe aneinander klopfen. Den Reißverschluss ein bisschen nach unten ziehen, wieder zurück, Tasche öffnen, Taschentuch unter die Bonbons, Tasche schließen, ein Rechteck in den Sand, Tasche öffnen, Tasche schließen, Kopf nach rechts, links, Ohren gespitzt, Tasche öffnen, ein Bonbon auswickeln, in den Mund schieben und Schluss. Tasche schließen. Beim Weggehen: Bonbonpapier in den Mülleimer.
[...]
Auszug aus Zweifel zwischen Zwieback
freiTEXT | Andreas Reichelsdorfer
Zwecks der öffentlichen Wirkung (1965)
Während der Anwalt versuchte, sich in der Zelle mit dem zum Tode Verurteilten zu verständigen, patrouillierte vor den Gittern die Selbstmordwache. Der Vollzug war für nächsten Donnerstag angesetzt.
Andreas Reichelsdorfer
Andreas ist Teil von Zweifel zwischen Zwieback, der 20. Ausgabe der Zeitschrift mosaik.
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freiVERS | Ianina Ilitcheva
Alltag, Liebe, Weltraum
5 Gedichte, 2016
1
Weltallfantasien
Selbstmordfantasien
er will Astronaut sein
er kehrt von einer Marsmission zurück
er erzählt, er habe in Paris Philosophie studiert
das zehrt natürlich
aufs Telefon sehen
warten auf das Zeichen
gib mir einen Grund, wie deinen
2
ich beobachte das inaktive System. das System schläft.
kann denn schwarze Energie Sünde sein
ich sage Seele, wenn ich diesen verwirrten Ausdruck haben will
Computerliebe
es läuft darauf hinaus:
ein 3D Drucker schafft einen Körper, mit dem man kein Mitleid
empfinden muss
E im luftleeren Raum
Signalübertragung per miau
das Gegenteil von etwas ist alles, was es nicht ist
was ist daran so schwer zu verstehen, dass das Gegenteil von Vakuum
das Ereignis tritt in der Innenwelt ein
Multiple Innenwelt Theorie
früher nannten sie es Äther
Vakuum kam erst später
alles ist möglich, solange
Spiegelteilchen
miaut das Kätzchen, oder miaue ich
sehe ich dich an, verändert sich etwas
deinem inneren Joghurt den Befehl zu Schimmeln gegeben
mit meinem Blick
du süßer Wahn

3
wie in bulgarischer Disco
der Wetterbericht war falsch
Pegel von schwellendem Vogelsang
womit dealst du in der Nacht
schick dein Teil ins Labor
bevor wir satt sind
schließen sie das Tor
uns Vogel warnt schon
lauft schon lauft schon!
läppisch läppisch!
klingt wie What is Love
los schnell sonst
warum machen wir nicht
Urlaub auf den Faröern
4
Ich habe eine kryptische Ader
ich will dich darin
Fischkapseln essen sehen
und dann Wege rendern
mit so überkrass Charisma
und ich könnte mehr
Ausdauer beweisen lassen
in meiner Liebe
als Stonehenge
und ein Sieb geht zum Brunnen
in aller Feierlichkeit
die den Badboys gebührt
wandern sie zum Uluru
von wegen Feste Strukturen
bis die Gipfel verschorfen
rufe ich niemanden
bis in der Vorschau
ein weißer Tiger springt
ein nuklearer Februar
tapfer ertrage ich meine Zufriedenheit
morgen nehmen wir Drogen
5
frischverschlossene
an einem furchigen
an einem noch Feuchteabend
und du mein Anòrak
und der Anschein der Wahrzeichen
die Pfingstrosen
Gesichter zu lecken
ich kaufe dir dort den Planeten
husch husch die Kröten
husch husch die Löwenmäulchen
so geil auf Passanten
sensibel für den Ausdruck
am Automaten
und lass an dort der Mündung
das Ereignis gesprochen
call me in Realität Domja Vata
und die gefleckten Schultern
und das Sternnebel Ereignis
und die Nachbarn
gehen morgen in die Oper
in Luft und Internet
die Dienstleistungen Amen
Ianina Ilitcheva
Ianina war Teil von Lyrik für alle!, der 3. Babelsprech-Konferenz Salzburg 2016. Zur Konferenz im Dezember konnte sie krankheitsbedingt nicht anreisen, in der Festivalanthologie ist sie mit drei ihrer Texte aus diesem Zyklus vertreten. Ende 2016 ist Ianina verstorben. Retrospektiven finden sich bei KulturKeule22 - 5 Jahre mosaik am 25.1.2017 und in mosaik22 (März 2017).
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