23 | Nicola Huppertz

tag vor heiligabend

zufällig
zwischen zwei eiligen schritten
lege ich den kopf in den nacken
und sehe wie sich die möwe
vom frühlingsmilden wind
davontragen lässt

ihr schmaler Körper
ohne gewicht
vor wolken aus hauchzarten
lamettafäden
am hellblau des himmels

während hier unten
zwischen läden und lichter-
ketten
noch immer die gesetze
der schwerkraft gelten
und die der saison

weshalb ich meinen blick abwende
und weiterhaste

der stillen zeit
entgegen

Nicola Huppertz

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22 | Stefan Heyer

Seine Freunde konnte er nicht fragen

Viel geblieben war nicht von Aleppo. Die meisten Gebäude zerstört. Auch seine Freunde waren weggegangen. Geflohen aus der Stadt. Oder gestorben. Geschossen wurde nicht mehr. Das war auch alles. Das Leben? Musste weitergehen. Letztes Weihnachten hatten sie in der zerstörten Kirche gefeiert. Es war kalt gewesen. Ohne Dachstuhl. Heizen hätte da nicht geholfen. Aber sie hatten gefeiert.

Sein Vater hatte Arbeit. Hatte Glück gehabt. Vater stellte immer noch Seife her.  Wenn er Olivenöl bekam. Und Lorbeer. War nicht leicht, die Sachen zu bekommen. Strom gab es wenig. Ein paar Stunden am Tag. Oft war der Strom plötzlich weg. Wasser gab es auch nicht immer. Das nervte am meisten. Das eine oder andere Haus wurde wieder aufgebaut.

Letztes Jahr hatte Jiro sich zu Weihnachten ein Stück Seife gewünscht. Was sollt er sich dieses Jahr wünschen? Seine Freunde konnte er nicht fragen. Es war kein Krieg mehr in der Stadt. War das jetzt Frieden? Sein Vater konnte es ihm nicht beantworten. Sie lebten. Sie hatten zu essen. Nicht immer. Manchmal hatte er Hunger. Eigentlich fast immer.  Wenn kein Wasser aus der Leitung kam, musste er immer Kanister schleppen.  In der Nähe gab es ein Kloster. Wenn er Hunger hatte, ging er manchmal hin. Die Schwestern hatten auch nicht viel. Doch sie gaben ihm immer etwas.

Mehl war immer knapp. Großvater würde gern mehr Brot backen. Doch sein Ofen blieb oft kalt. Holz gäbe es schon genug. Oder irgendetwas anderes zum Heizen. Doch Brot ohne Mehl konnte auch Großvater nicht backen. Süßigkeiten hatte er schon lange nicht mehr gebacken. Womit auch.  In den Geschichten von Großmutter war Jiro zuhause. Auch wenn das Elternhaus nicht mehr stand. Sie erzählte wunderschöne Geschichten, Märchen. Aleppo muss schön gewesen sein. Das Leben muss schön gewesen sein. Früher. Als es keinen Krieg gegeben hat.

Er hatte keine großen Träume.  Nachts war es jetzt immer still. Und dunkel. Schwarze Ruinenstadt. Überall zerschossene Häuser. Oft wurde er wach in der Nacht. Kroch zu Großmutter ins Bett. Liebte ihr weißes Haar. Vielleicht sollte er sie fragen, was er sich wünschen könnte zu Weihnachten. Jiro konnte lesen und schreiben. Zumindest ein bisschen. Er konnte jetzt wieder zur Schule gehen.  Es gab Container. Die Kirche war immer noch eine Ruine. Noch hatte sie keiner aufgebaut. Schnee würde es dieses Jahr wohl auch nicht geben. Großmutter erzählte ihm manchmal vom Schnee. Schnee müsste herrlich sein.

Stefan Heyer

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21 | Frederik Mork

fern & fern

Du bist
fern und fern
und zugeknöpft
von anderen Händen
mehr als das
durchbrichst du
alles in diesem Raum
vom damals wirren Denken
bis zum wirren Denken heute
von Erinnerungen
und Äußerungen
von Fragen bis zu
ganz anderen Fragen

Du bist
fern fern
zugeknöpft
aufgeknüpft
wartest bis die Strafe
die Bestraften holt
kommst nicht
bleibst fern
vieles wartet schon
auf deinen Platz
offene Ohren und Nähe

Frederik Mork

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20 | Kerstin Fischer

Winterfrage

Die Portraits in Öl stehen im Schnee der Stadt.
Ihre jahrhundertealten Blicke ziehen über die Graffitis der Häuserwände.
Dann lesen sie in den Weissagungen der Kälte.
Aber der Frost ist taub für jedes Gefühl. Er baut Nester in die Jacken der Obdachlosen,
bis sie winseln wie Hunde, die durch die Schatten im Rotlicht der Amsterdamer Straßen schleichen.
Die Tiere beobachten, wie es die Genitalien wund schlägt, das Licht, bei Nacht betrachtet.
Hinter den schweren Holztüren hallt indes das Gelächter der Verstorbenen.
Es macht die Gesichter bleich. Extasy ist en vogue.
Nuttenkrallen schlagen gegen die Scheiben.
Sie brechen das Eis in dem frierenden Hirn des Mannes
mit dem Muttermal über dem Auge, das er Igel nennt.
Er wirft seine schwarzen Ringe in den Rinnstein. Der Vorhang aus Filz ist geschlossen.
Die anderen warten im Eisregen.

Kerstin Fischer

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19 | Bas Lindgaard

Mara

In der Zwischenzeit
tauchte Mara auf
und erzählte mir
von höllischen Krämpfen.

Das Ende des Tunnels
kommt immer näher
und wahrscheinlich
erreichen wir es kotzend,
auf allen Vieren kriechend.

In der Zwischenzeit
erschien Mara
und erzählte mir
von den Krämpfen,
die ihn heimsuchten
und von dem Blut,
das er geschwitzt hat.
Man sah ihm an, dass er
dem Ende des Tunnels
immer näher kam
und wahrscheinlich
erreicht er es kotzend,
auf allen Vieren kriechend.

Ich sah ihn zuletzt meditierend,
auf einer pechschwarzen Lotosblüte,
bevor das Licht ihn verschlang.

Bas Lindgaard

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18 | Axel Görlach

spiel mir das lied

vom schafottschaf blut zerstäubt
als himbeerpulver am abendhimmel über dem Ehrenmal
darunter die doldenskelette des bärenklaus verkrallt
ins graue leuchtender taubendreck wie grobe
brocken von feindschnee auf bronze sing mir
von helden + herkunft ein lied das trügt bis es trägt
deiner ahnen gewicht ich hab nur das malmen
des kiefers geerbt den man meinem großvater
wegschoss ins russische jede wortformung seitdem
ein phantom schmerz doch sah ich dich moskau + deine
aufschneiende schönheit die flocken so zärtlich
hebt niemand sie auf mit den wimpern

Axel Görlach

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17 | Martin Peichl

Beim Wuzzeln sind wir dann eine Familie

Heimat ist dort, wo der Dialekt nah und frisch klingt, wo sich die Wörter wie Toastkäse auf deine Zunge legen, wo Gulasch ein Ersatz ist für Liebe, aber Liebe kein Ersatz für Gulasch.

Wo man dir mit LEGO beigebracht hat, wie leicht man Menschen zerlegen kann und sie trotzdem weiterlächeln. Dieses unheimliche Weiterlächeln der LEGO-Figuren, egal wohin man ihre Köpfe steckt!

Zerfranste Erinnerungen an gemeinsam Spieleabende. Die wichtige Regel: Uno und DKT gewinnt man, indem man nicht mitspielt.

Heimat ist dort, wo man am 25. Dezember die feine Balance finden muss zwischen den Vanillekipferln und Mini-Schaumrollen der Tante und den Bierflaschen, die dir dein Cousin hinstellt. Beim Wuzzeln sind wir dann eine Familie. Da werden sogar Eigentore verziehen.

Martin Peichl

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16 | Iseult Grandjean

Bericht aus Babylon

Tag vierhunderteinunddreißig

Es ist so windig hier, dass ich manchmal das Gefühl habe, mir werden die Gedanken aus dem Gehirn gerissen. Dagegen kann man nichts tun, man kann sie ja nicht festhalten, so wie man Strafen nur abzahlen und Sehnsucht nicht ausbremsen kann, und deshalb warte ich dann. Ich warte und schlafe, ich mache ein paar Kniebeugen, um nicht den Kopf zu verlieren, und putze mein Gewehr. An windstillen Tagen laufe ich mit dem Gewehr im Arm durch die trockene Landschaft und streichle meine Waffe wie die Schultern einer alten Affäre. Am Anfang habe ich mich noch gewundert, wieso ich überhaupt ein Gewehr habe – aber dann habe ich getan, was jedem Menschen ein laufendes Leben gewährt und mich einfach daran gewöhnt. Das kalte Silber des Laufes fühlt sich an wie ein Fisch, der durch meine Finger gleitet; oder als schwömmen sie selbst, durch einen See aus flüssigem Metall. Was ist schon ein Ozean – und was eine machtlose Metapher? Inzwischen stelle ich keine Fragen mehr: Ich bin ein Soldat. Und ich berichte von der Front.  Als ich meinen Job hier angefangen habe, hat mir keiner erklärt, worin meine Arbeit eigentlich besteht. Aufpassen sollte ich, dass nichts aus den Fugen gerät und „den Laden sauber halten“. Ich wusste nicht genau, was damit gemeint war, und deshalb reinige ich jetzt jeden Tag mein Gewehr, obwohl ich es in den vierhunderteinunddreißig Tagen meiner Amtszeit noch nie gebraucht habe. Ich arbeite allein; das macht die Tage oft lang, aber anscheinend ist es unerlässlich, dass ich keinen Partner an meiner Seite habe und mir niemand reinredet. Manchmal bin ich mir unsicher, ob sie überhaupt wissen, dass ich keine blasse Ahnung habe, was ich überhaupt sagen und in was mir dementsprechend reingeredet werden könnte, und dass ich den Großteil meiner Zeit damit verbringe, mit meinem Gewehr im Arm auf und ab zu laufen und auf die feine Linie zu starren, die einem Horizont gleicht, aber wahrscheinlich eher so etwas ist wie die Oberleitung einer weit entfernten Bahnstation.  Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der nicht dieser Krieg herrschte. Ich kenne die Welt nur so: der Horizont verleimt von Bahnhöfen, Plakaten, Schildern, bitte aussteigen, bitte trinken, bitte kaufen, bitte konsumieren, aber bitte – kein Müll. Abfall gilt hier als Teufel im System eines falschen Minimalismus (gegründet auf Exzess und seiner Überforderung), denn Plastik und Öl verstopfen heimlich Waldärme und verkleben die Wirtschaft. Als wäre alles nur eine Frage des Stoffs. Doch der eigentliche Unrat, der wirkliche Feind, ist unmöglich zu treffen, denn er ist überall, er liegt in der Luft, hängt in Gardinen und klebt an Wänden, klettert in Ritzen und wächst auf den Bäumen. Er verbreitet sich durch die Zeitung und das Fernsehen, gebiert auf Kaffeetischen und in Krankenhäusern, befruchtet Ehebetten. Wahlplakate, Slogans, Parolen, Hashtags, Nachrichten, Informationen, Fake News; Worte zum Erklären, zum Überzeugen, zum Verführen. Es wirbt um jeden, bietet sich allen an und dient doch keinem außer sich selbst. Es ist Schaf und Wolf in Einem, Bauer und König, Hure und Diktator. Ich kann mich nicht erinnern: an eine Zeit vor der Diktatur des Wortes. Es kommt Gott so nah wie niemand zuvor, fast kann es seinen strengen Atem riechen. Und vielleicht wird es eines Tages sogar sein Mörder.

Tag vierhunderteinunddreißig, später

Deshalb sitze ich jetzt hier also im Wind, seit vierhunderteinunddreißig Tagen, und kratze mich am Arm. Vom dauernden Kontakt mit dem Metall des Gewehres hat er sich an der Ellenbogenbeuge innen entzündet. Ich beobachte die schuppig nässende Haut der Wunde wie ein Wissenschaftler oder ein Archäologe, mit wachsendem Interesse und gleichzeitig zärtlicher Gleichgültigkeit. Seit Wochen habe ich keine Nachricht mehr aus der Zentrale bekommen, keine Anweisung, kein Wort, aber dafür umso mehr Zeit zum Nachdenken; die Stille ist ungewöhnlich, seit der Informationsfluss versiegte. Außer dem verdammten Zug, der durch diese Einöde jagt, der durch keine Bäume und keine Häuserwände aufgehalten wird und dem sich nichts entgegenstellt, ist der Raum, in dem ich arbeite, leer. Und so langsam bekomme ich das Gefühl, dass das auch genau so gewollt ist. Von oben. Wer ist dort oben? Eigentlich gibt es keine Obrigkeiten mehr, das war ja einst die züngelnde Verlockung: Demokratie durch das Wort. Kollektive Wahrheitsfindung und jeder darf mitreden, Silben als Währung, jeder kann sich bedienen, ist genug für alle da. Aber allmählich entwickelte sich aus dieser kommunistischen Utopie ein Kapitalismus der Rhetoriker, der Texter und Wortgewandten, der Lauten, und man versteht sich nicht mehr. Jetzt werfen wir uns die Sätze hin wie vergammeltes Fleisch und graben in den Ruinen von Babylon nach einer Wahrheit, die es so nie gegeben hat. Das Wort hat sich verselbstständigt, ist übermächtig geworden; inflationär. Es hat auf dem Weg zum Monopol all seine Macht verloren: Babel hat sich selbst zerstreut.

Tag vierhundertzweiunddreißig

Heute habe ich zum ersten Mal mein Gewehr fallen lassen. Ich hatte beschlossen, mein Gebiet näher zu untersuchen. Irgendwelche Ergebnisse müsste ich doch nach Hause bringen, dachte ich panisch beim Aufstehen. Ein paar Daten, eine Handvoll aussagekräftige Erde, zumindest einen Bericht, ein Körnchen Wahrheit? Es kommt mir seltsam genug vor, Soldat zu sein, direkt an der Front, und nie auf den Feind zu treffen. Nur Himmel und Erde strukturieren mein Feld, getrennt durch diese eine feine Linie, die immer den Anschein macht, als wäre es möglich, sie zu überschreiten. Außer dem Wind, der manchmal leise pfeift und mir sonst geräuschlos über den Körper fährt, höre ich nichts. Die Stille ist ohrenbetäubend.  Ja, der große Knall, als meine Waffe auf die frostharte Erde stieß, war vielleicht das erste Geräusch seit Beginn meiner Dienstzeit. Als ich mich bückte, um es aufzuheben, fiel mir auf, dass der Boden unter mir von feinen Rissen durchzogen wurde, Linien, die mich an die Aufzeichnungen eines Seismographen oder eines EKG erinnerten. Erst dann wurde mir klar, wie symptomatisch diese Vergleiche für unseren Zustand sind, die wir am Wort kranken: Wie wir uns mit der Zeit angewöhnt haben, Ausdruck auf Ausdruck zu schichten und zu stapeln, Metaphern übereinander zu ziehen wie Kleidung an einem kalten Wintertag, als hätten wir Angst, ohne die schützende Speckschicht der Worte plötzlich allein im Wind zu stehen, zitternd und nackt. Ich sah mich um: Mich fror tatsächlich.

Tag vierhundertdreiunddreißig

Meine Felduntersuchung konnte also letzten Endes ziemlich schnell – und zugegeben recht stümperhaft – durchgeführt werden, und das lag nicht nur daran, dass mir immer kälter wurde und der silbrige Frost der Flinte meine Finger steif werden ließ, mein Blick wanderte von einem unbestimmten Punkt bis zum nächst denkbaren, irgendwo im Hintergrund meinte ich den Grundriss eines Baumes zu erkennen, ich notierte: Der Raum ist leer. Jetzt, wo ich es zum ersten Mal ausgesprochen habe, wird mir erst das Ausmaß dieses sprachlichen Hohlraums bewusst; überall lockte mich sonst immer etwas mit krummen Fingern, mal war es ein Schriftzug, mal eine Rede, manchmal auch nur ein einziger Satz, der ein Parteiprogramm oder das Patent einer Liebesfähigkeit beschwor, im Grunde ist jedes Wort, auch das private, nur noch Werbung, Reklame für die eigene Wahrheit in der Wahlurne eines anderen. Wir halten uns an Worten nicht mehr fest – wir hängen uns an ihnen auf. Davon ist in diesem Raum nichts mehr, nichts verhindert, dass sich mein Blick nach innen richtet. Ich blicke auf mein Gewehr, unbenutzt seit vierhunderteinunddreißig Tagen. Die kleine Öffnung im Lauf starrt schweigend zurück. Bin ich, in der Uniform eines Soldaten, endlich frei? Doch Freiheit, das merke ich ziemlich schnell, ist verunsichernd. Wir haben lieber falsche Wahrheiten als Ungenauigkeiten, lieber Fake News als sokratische Apologie. Diesen Krieg haben wir also selbst verschuldet, das Wort war immer nur Beihelfer: Es versucht Gefühle in Gedanken zu übersetzen, zwängt Vages in Gewissheiten, ja, es arbeitet ohne Skrupel – aber wir haben die Fäden in der Hand. Haben wir den Laut erst domestiziert, und dann vergewaltigt? So zogen wir damals der Musik den Strick der Sprache um die Kehle und seitdem verstopfen wir uns mit hohlen Phrasen den Hals. Man drückt den Menschen ein Instrument in die Hand, und für einen kurzen Moment fühlen sie sich frei; dann gehören sie ihrer Waffe. Ich stelle mir vor, dass die Welt vor dem Wort ähnlich dalag wie mein Gebiet: Weit und schweigsam, wie eine offene Wunde.

Tag vierhundertfünfunddreißig

Stattdessen dieser Krieg, und wir mittendrin. Sie holen mich jetzt zurück, gestern habe ich es erfahren. Anscheinend ist mein Job hier erledigt. Ich bin inzwischen überzeugt: Das war kein richtiger Einsatz. Vierhundertfünfunddreißig Tage und kein einziges Mal habe ich meine Waffe benutzt. Und doch war ich Soldat, direkt an der Front: Ich arbeitete als Späher und Steuer in der Stirn, stationiert am vorderen Ende der linken Großhirnhemisphäre eines so hungrigen wie maßlos übersättigten, eines freien und dabei unendlich verlorenen, kurz eines ganz gewöhnlichen Menschen. Ich sollte die Wahrheit ausmessen und in einem detaillierten Frontbericht aufschreiben. Was wollt ihr jetzt von mir hören? Ich habe nicht viel herausgefunden, außer dass man ein Gewehr am besten mit Öl und etwas lauwarmen Wasser wäscht und dass es keine Wahrheit gibt, sondern nur unendlich viele Übersetzungen davon. Ich notiere einen letzten Satz in mein Notizbuch: Sprache ist ein Schlachtfeld. Dann setze ich mich hin und warte.  Bald kommen sie mich holen. Es weht wieder wie am ersten Tag, mein Ausschlag ist noch nicht ganz verheilt und brennt im Wind. Ich atme in den Schmerz und vergesse mein Gewehr. Der Krieg wird wahrscheinlich weitergeführt, jedes Haupt an seiner eigenen Front, aber ich will dieses semantische Fressen nicht mehr, ich habe es satt und einen Beschluss gefasst, es ist ein Versprechen – und ich werde es halten: Das ist mein letztes Wort.

Iseult Grandjean

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15 | Marlene Gölz

in den betten liegen kinder
in den kleidern vom vortag.
auf dem nachttisch
leere packungen medikamente.
ihre hände presst sie
gegen die schläfen
ihres verweinten,
zuckenden gesichts.
statt frühstück gibt es wasser.
die augen der kinder sind verklebt.
bevor der älteste den kindergarten betritt,
bleibt er stehen. streicht sich die haare glatt
und knöpft sein hemd bis oben hin zu.

Marlene Gölz

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14 | Nils Langhans

Il Postino

Es war ungefähr 20 Uhr, ich aß eine in Küchenrolle gewickelte Salsiccia, einige grobe Fettstücke verfingen sich zwischen meinen Backenzähnen, es roch eigentümlicherweise nach Marzipan, und einen halben Meter neben mir starb eine Taube. Sie kauerte, ein Flügel stand schräg aus ihrem Gefieder heraus, gebrochen, ihr Kopf kreiste, kreiste immer langsamer. Es war windstill. Ich stieß auf. Unter ihrem Körper breiteten sich jetzt einige Tropfen Blut aus, kaum eine Lache, höchstens ein größerer Fleck, den spätestens der nächste Regen hinwegwaschen würde. Noch immer roch es nach Marzipan. Die Taube atmete schwer, Versuch eines Aufbäumens, doch keinen Zentimeter wollte die Schwerkraft weichen, der Körper längst zu schwach. Ich blieb bei ihr, biss in die Salsiccia, kaute und versuchte mit meiner Zunge, das Fett aus den Zahnzwischenräumen zu entfernen. Die Taube gurrte, ich warf ihr das letzte Stück Wurst vor die Füße, keine Regung, noch zwei Atemzüge, und es war geschehen. Sie fiel geräuschlos in sich zusammen. Ich zündete eine Zigarette an und schaute auf das Meer, die See war ruhig, sie schimmerte preußenblau, kein Marzipan mehr in der Luft, stattdessen Kindergeschrei in der Ferne, ich blickte hinab und zu meinen Füßen setzen sich die ersten Fliegen auf die glasigen Augen der Taube.

Später am Abend saß ich in Annas und Viviannas Wohnung, kostete einige Schokoladenplätzchen und trank ein Peroni aus der Flasche. Viviannas Großeltern, die inzwischen zu uns gestoßen waren, empfahlen mir, Il Postino anzuschauen, den berühmten Film. Ich nickte. Vivianna war in etwa so alt wie ich, doch uns unterschied, dass sie schiefe Zähne hatte und ihr Zahnfleisch so künstlich, so gedunsen aussah, so als trüge sie eine Vollprothese, hellrosa, wie ein Babyschwein. Einmal sei sie in Miami gewesen, weil sie ein 6-Monats-Arbeitsvisum gewonnen hatte. Da habe sie in einem Geschäft Sonnenbrillen verkauft und Englisch gelernt. In Miami sei alles so groß gewesen, und erst recht in New York. Ich kaute und Vivianna bot mir weitere Kekse an. Ihre Mutter lugte unter ihrer Brille zu mir herüber, im Fernsehen lief ein Fußballspiel, die Großeltern saßen auf einem Sofa, starrten in den Fernseher und hielten einander die Hand, und ich dachte wie schön es wäre für immer hierzubleiben, Vivianna zu heiraten, zur Marine zu gehen, eines Tages würde ich ihr von meinem Lohn eine Zahnkorrektur spendieren, und in 50 Jahren würde ich auf Procida sterben und das Letzte, was ich hören würde, wäre die Kirchglocke schräg gegenüber, während ich in meinem Schaukelstuhl mit einem Glas Limoncello in der Hand einschlafe.  Plötzlich sagte Vivianna, dass es morgen regnen solle. Kurz darauf verabschiedete ich mich.

Auf dem Balkon lockerte ich den Tabak in einer der starken American-Spirit-Filterzigaretten. Dem Tabakfachgeschäft waren die Lights ausgegangen, sodass ich unweigerlich die stärkeren American Spirit kaufen musste, deren hellblaue Kartonage mir jedoch ausgezeichnet gefiel. Die Kirchglocke läutete ein paar Mal. Nach dem sechsten Gong hörte ich auf mitzuzählen. Ein einzelner Wassertropfen fiel auf meine rechte Schulter. Morgen würde es regnen.  Später ging ich noch einmal auf den Balkon, lockerte noch einmal den Tabak einer American-Spirit-Filterzigarette und entzündete ihn. Wieder läutete die Kirchglocke. Diesmal fing ich erst gar nicht an mitzuzählen. Ein weiterer Wassertropfen fiel auf meine Schulter. Es war so langweilig, dass es schon fast wieder langweilig war. In der Nacht versuchte ich Il Postino, den berühmten Film, auf einer Streamingseite anzuschauen, doch die Internetverbindung war außerordentlich schlecht. Ich schlief zu dem Standbild der Titelsequenz ein und träumte von frittiertem Brokkoli. Am nächsten Morgen fühlte ich mich äußerst ausgeschlafen.

„Als ich in deinem Alter war, Anfang der Achtziger war das, da bin ich einmal nach Stockholm geflogen, weil ich so verrückt nach Peter Weiss war“, erklärte mir der ältere Herr, der das Nachbarappartement bewohnte, während ich zum Frühstück ein Glas Orangensaft auf dem Balkon trank. Er verständigte sich in jenem Sprachgewirr aus Italienisch und Englisch, das entstand, wenn man einen Neapolitaner für ein halbes Leben in die klinische Sterilität Londons verpflanzte. Ich betrachtete seine fleischige Nase, die porige Haut, auf der die roten geplatzten Äderchen wie Wegmarken einer geheimnisvollen Schatzkarte erschienen, und er sagte, dass es damals ja noch kein Internet gegeben habe, damals, als er Peter Weiss in Stockholm gesucht hat.

„Aber ich wusste, dass er da wohnt. Das hatte ich rausgefunden. Und dann bin ich nach Stockholm geflogen und habe ihn fünf Tage lang gesucht. Fünf Tage, weißt du, fünf verdammte Tage. Peter Weiss war damals mein Gott, ich habe alles gelesen, wirklich alles, am besten war Marat/Sade, und ich wollte ihn unbedingt treffen. Fünf Tage habe ich ihn gesucht, fünf Tage, aber ich habe ihn einfach nicht gefunden.“ Sein weißes, kurzgeschorenes Haar gab ihm die Aura eines alternden Schneelöwen, der nach Ewigkeiten im Exil zum Lebensabend wieder in gewohntem Lande unter seinesgleichen ist, und ich hatte das Bedürfnis ihm mit meiner Hand über seine roten Wangen zu streichen und ihm ins Ohr zu flüstern, dass ich verstünde, dass es wohl eine Zeit gegeben hat, in der das Leben gut zu ihm war. Er pellte eine Orange und sagte mit vollem Mund, dass Warten auf Godot inzwischen sein Lieblingsstück sei. Seine Tochter rief aus dem Appartement in schaurigem Oxford-Englisch „Daaaaad?“, er häutete ungerührt eine zweite Orange, steckte sich ein Stück in den Mund und reagierte nicht, bis sie schließlich nach zwei weiteren Daaaaads herauskam und ihn nach der Sonnenmilch fragte. Er schob das Weiße der Orangen zu einem Haufen zusammen, sagte zusammenhangslos „Ach, Peter Weiss“, seufzte dann, seine Tochter kullerte mit den Augen und nasalierte „He’s always doing that“ in meine Richtung, bevor sie über die Balkontür wieder ins Appartement verschwand.

Es regnete den ganzen Tag über nicht. Nach dem Mittagessen ging ich zum Strand. Auf der Straße hinab zur Bucht spielten zwei Jungen mit Wasserpistolen. Dem Kleineren der beiden fehlte ein Schneidezahn.  Im Strandcafé bestellte ich Espresso und hörte dem Kellner zu, der mir erklärte, dass genau hier Il Postino, der berühmte Film, gedreht worden sei, und dass es später regnen solle. Anschließend schlief ich für eine Stunde in der Sonne.

Unweit des Strands – ich war bereits auf dem Rückweg – hingen an einer Mauer einige Käfige mit Wellensittichen, daneben ein Preisschild: 35 Euro. Ich betrachtete die Vögel und hörte ihrem leisen Piepsen zu. Eine junge Frau kam aus dem Geschäft gegenüber und erkundigte sich, ob ich einen der Wellensittiche kaufen wolle. Ich nickte. Sie öffnete den mir nächsten Käfig, nahm meine Hand und bedeutete mir, den Vogel zu berühren. Ich zog die Hand zurück und raunte ihr ein strenges „No!“ entgegen. Sie zuckte mit den Schultern und fragte, ob ich zusätzlich noch einen Käfig benötige. Ich verneinte, sie verschwand wieder in das Geschäft auf der gegenüberliegenden Seite, eilte dann mit einem ReebokSchuhkarton in der Hand zurück, öffnete den Käfig, lockte den Wellensittich mit einem Brotkrumen in den Karton, verschloss ihn und drückte ihn mir in die Hand. Ich bezahlte 35 Euro. Die anderen Vögel piepsten jetzt etwas lauter. Ich bog mit dem Karton in eine Seitengasse ein, der Vogel klopfte gegen die Pappe, ich streichelte über das leicht exponierte ReebokEmblem an der Oberseite der Schachtel, öffnete den Deckel und ließ den Wellensittich wegfliegen. Den Karton schmiss ich auf die Straße.

Gegen Nachmittag saß ich wieder auf dem Balkon. Ich trug ein Leinenhemd von Valentino, die Sonne brannte auf meinen Unterarmen und Vivianna reichte mir ein gefrorenes Glas mit selbstgemachtem Lakritzlikör, der kotbraun schimmerte. Ich probierte einen Schluck, Vivianna lächelte, ging zurück in ihr Appartement und ich goss den restlichen Likör in einen Blumenkasten. Er versickerte äußerst langsam in der ausgetrockneten Erde.  Die Rollläden des Nachbarappartements waren verschlossen. Auf dem Balkontisch lag noch immer der kleine Haufen mit dem Weißen der beiden Orangen. Ich ging in mein Appartement, legte mich bäuchlings auf mein Bett und schlief kurze Zeit später ein. Etwa zwei Stunden später wachte ich von den bittersüßen Lakritzablagerungen in meinem Zahnfleisch auf. Im Nebenzimmer lief SOS von ABBA und draußen vor der Tür schlug jemand mit einem Hammer monoton gegen eine Wand. Ich ging ins Bad und suchte in meiner Kosmetiktasche nach einer Tablette, nach irgendeiner Tablette.

Im Hafen von Marina Corricella las ich die Speisekarte eines Restaurants, das Il Postino sul Mare hieß, und der herbeieilende Kellner sagte zunächst, dass das Restaurant wegen des Films so heiße. Il Postino, der berühmte Film. Anschließend fragte er mich, ob ich etwas essen möchte. Ich nickte. Auf seinem T-Shirt stand Fashionman und ich bestellte Gnocchi alla Sorrentina.  Am Nebentisch aß ein Ehepaar schweigend ein Dessert. Die Frau trug ihre Haare mit einer großen Haarklammer zusammengekniffen, vermutlich, um ihren Spliss zu kaschieren, und ihrem Mann fiel das dünne Haar über die Stirn hinweg aus. Ein buschiger Schnauzbart thronte als letzte Bastion einstigen Testosterons über seiner wurstigen Lippe. Er trug ein Trikot des 1.FC Nürnberg.  Der Kellner mit dem Fashionman-T-Shirt verabschiedete sie kurz darauf mit Handschlag, blickte der Frau ganz tief durch ihre randlosen, nicht entspiegelten Brillengläser in die milchigen Augen und hauchte ihr ein „Signora, Grazie Mille“ entgegen. Sie lächelte unbeholfen, hakte sich bei ihrem Mann unter, er legte seine Hand auf ihren Po und sie entschwanden in eine Nacht, in der sie den deutschen Traum von Italien träumten. Sie und alle anderen glaubten die Geschichte der grün-weiß-roten Flaggen, des sonoren Singsangs, des überkandidelten Charmes, die Geschichte von Ferrari, Pizza und Pasta, sie glaubten so gerne, dass alles eins war, was blieb ihnen auch anderes übrig als zu glauben, zu glauben an die Illusion Italien, an den Kunststaat, der nie ein Staat sein wollte, an das Schelmenstück Garibaldis. Insbesondere in den Wintermonaten tröstete es die Deutschen, dass es Italien gab, und spät am Abend nach getaner Arbeit wälzten die Mitvierziger die Alltourskataloge, stießen mit einem Glas Chianti, den der Vater für 3,99 EUR bei den italienischen Wochen eines großen Discounters erstanden hatte, auf den anstehenden Sommerurlaub in der Toskana an, und später hatten sie noch drei oder vier Minuten Sex in der Missionarsstellung, das erste Mal seit drei Wochen. Danach glitten sie unter der Last ihrer zerborstenen Existenz in den Schlaf und träumten den deutschen Traum von Italien.

Inzwischen hatte es angefangen zu regnen. In der Ferne blitzte es und der Donner hallte einige Sekunden später über den Fischerhafen von Marina Corricella. Vivianna hatte Recht behalten. Das Wasser platschte vom Rand des Sonnenschirms in zapfengroßen Tropfen auf die weiße Tischdecke, schwemmte sie auf und der nasse Baumwollstoff glich einem adipösen Damenbauch, so wie er kleine, geschwulstartige Falten warf. Die Gäste rannten unter das Vordach, die Kellner sammelten eilig das Geschirr ein und zurrten die im Wind wankenden Schirme fest. Es blitzte taghell. Ich blieb sitzen und starrte in den Regen, der auf die Fischerboote prasselte. Die Lampe unter dem Sonnenschirm wog sich quietschend im Gewitterwind und ich trank einen Schluck Aperol Spritz, der inzwischen wässrig schmeckte. Ein Junge stellte sich in einem Verschlag rechts des Restaurants unter. Er hatte blaue Augen, daran erinnere ich mich genau.  Schließlich ging ich in das Restaurant und ließ mir ein Tiramisu bringen. Es war kreisrund, mit Kakaopulver bestreut und leicht rechts der Mitte auf einem viereckigen Teller platziert. Es schmeckte unaufdringlich. An der Wand gegenüber hingen gedruckte Filmausschnitte von Il Postino in sargbraunen Rahmen. Il Postino, der berühmte Film.

In der Nacht stand ich draußen auf dem Balkon und rauchte. Die Kirchglocke läutete zwei Mal. Neben meinem Aschenbecher kopulierten zwei Nacktschnecken, die der Regen angelockt hatte. Die Wolken zogen in kleinen Häppchen am Mond vorbei und es sah aus als würden sie mir eine Fratze schneiden.

Nils Langhans

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