4 | Martin Troger
Der Stiegenhaus-Kranz
In diesem Stiegenhaus werden
oft mehrere Stufen mit einem
Satz genommen, während,
mit einem lauten Knall,
die Haustür von alleine wieder zugeht
Aufgegangen ist sie erst
nach einem kurzen lauten
brummenden Geräusch
Das Loch in der Mitte des Kranzes,
er ist ungefähr so breit
wie der weiße Teller
auf dem er steht,
ist ungefähr so breit wie die dicke Kerze
in der Mitte, die erst ein-zweimal
gebrannt hat,
ein-zweimal
öfter als ein Kaufhaus-Kranz
Beim Schlüpfen aus den Schuhen
berühren manchmal kleine Finger,
noch seltener ein Ringfinger,
die Außenseite des Kranzes
Auch beim Schlüpfen in die Schuhe
am nächsten Morgen
steht der Kranz oben vor der
Wohnungstür auf der Kommode
Es wäre zu gefährlich die dicke
Kerze anzuzünden, weil sich
niemand länger in dem kalten
Stiegenhaus aufhält, als es dauert
sich seine Schuhe an- oder auszuziehen
Hast du unten den Schieber raufgegeben
ist manchmal oben aus der Wohnung
zu hören, wenn die Wohnungstür schon
offen ist
Ist er unten, könnte jeder, der es
versucht, die Tür einfach aufdrücken
und
den Kranz einfach mitnehmen
Auffallen
würde es erst am nächsten Morgen
beim Schlüpfen in die Schuhe,
die nach der Nacht
immer ganz kalt sind
Ein Kaufhaus-Kranz würde wahrscheinlich
viel eher vermisst werden
Martin Troger
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03 | Hannah Bründl
Der Platz der Birke
- Proklamation.
- Die Birke wurzelt welttief. Strukturelle Ursachen verformen sie, ein rhizomartig
- verwobener Untergrund aus knorrigem Wurzelnetz. Die Birke bricht sich an den
- Felsbrocken im Boden. An dem Ort, zu dem sie verdammt ist. Die Birke ist radikal,
- sie weigert sich. Ein Kompendium an Verweisspielen.
- Sie ist es leid.
- Emphase.
- Die Birke wächst vor dem Fenster. Sie ist größer als das Leben. Ihre hellgrünen Blätter
- eingerollt; Dass es um das Bahnbrechen gehen wird. Um das Entzünden und hoch
- Schwirren. Um das Verklammern mit wanderlustigen Idealen. Um die Leere zwischen
- zwei Stämmen. Als eine Projektionsfläche pflanzlicher Ängste.
- Die Bäume kommunizieren miteinander. Ihre Formulierungen von Zucker und
- Botenstoffen pumpen sich durch verschlungene Äste. Pulsierend. Ein zuverlässiges
- Signum einer verzweifelten Einsamkeit. Wer ganz unten in der Nahrungskette
- festgehalten wird, muss kreativ werden, um seine Lücken füllen zu können.
- Die Birke hat Sitzfleisch. Zerrissene Knospen ziehen sich zurück. Der Stamm reißt auf.
- Es erscheint nur konsequent, dass sich alles geändert hat.
- Rückhall.
- Die Birke ruft einen Raum an Warnsignalen auf.
- Ihre Einsamkeit erstickt sie in Wolken und Wind, ihr Narbengewebe bernsteinfarbenen Eiter produzierend.
- Sie schweigt dazu.
- Entschweben.
- Der Schlüssel der Birke ist die Reise in ihrem Inneren. Die Reise in ihrem Inneren und
- die Schuppen der Fruchtstände. An den Fruchtständen kleben die kindlichen
- Birkensamen. Von September bis Oktober schweben die Samen der gefangen
- gehaltenen Bäume in abgesprochener Ästhetik davon. Die gläserne Herbstluft
- zerkratzend. Sonne einfangend. Die Natur macht einmal im Jahr eine Ausnahme.
- Aufatmen können. Die Birke bewahrt ihre kindheitliche Samenkapsel-Reise in ihrem
- Birkenherz auf. Eine Zeitebenen verbindende Reflexion.
- Ein Aufbruch mit geschlossenen Augen.
Hannah Bründl
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2 | Peter Paul Wiplinger
Advent-Advent
„Advent-Advent, ein Lichtlein brennt; erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier; dann steht das Christkind vor der Tür!“ Diesen Spruch sagten wir Kinder, auch im Chor, wenn wieder einmal die Adventszeit angebrochen war. Dann waren die Tage kürzer und am Abend wurde es immer früher dunkel. Draußen konnte es schon sehr kalt sein. Und der erste Schnee blieb liegen und verzauberte die Natur und alle Gegenstände, auf die er fiel und die er wie in ein weißes Federbett einhüllte. Drinnen in den Häusern brannte schon früh das Licht. Man hatte den Ofen im Wohnzimmer oder in der Wohnküche eingeheizt; es knisterte und duftete das Holz. Und vom Kachelofen kam die wohlige Wärme und erfüllte den Raum. Man war nun am Abend in der Familie mehr beisammen als sonst, keiner ging so wie im Sommer irgendwo auswärts hin. Sogar die Männer gingen seltener ins Wirtshaus; und wenn, dann blieben sie nicht bis in die späte Nacht. Sie spielten auch nicht Karten und es war nicht so laut in den Gaststuben wie sonst. „Die Stille Zeit“ ist nun, sagte man. Und so war jetzt lautes Lärmen unangebracht. Vielmehr sollte man „Einkehr halten in sich selber“ und sich vorbereiten auf das große Fest der Geburt unseres Herrn Jesus Christus, auf Weihnachten.
Bis dahin aber war es noch weit, einige Wochen waren noch davor. Und da galt es, mehr als sonst zu beten und viel zu tun. Als erstes wurde am Samstag vor dem ersten Adventsonntag von der Mutter der Adventkranz gebunden, aus den duftenden Tannen- oder Fichtenzweigen, die man sich selber aus dem Wald geholt hatte. Der Vater half ihr dabei. Bei uns wurden die Zweige der Einfachheit halber gleich auf den wie ein Wagenrad über dem Tisch hängenden hölzernen Lampenschirm mit Blumendraht aufgebunden. Das ging ganz gut so und war sehr praktisch. Denn die Lampe innerhalb des Lampenschirmes, der nach oben offen war, befand sich dann innerhalb des Adventkranzes und wurde von diesem umschlossen. Die vier Kerzen, drei lilafarbene und eine weiße, wurden in ganz flache Kerzenhalter gesteckt und dann mit dem Draht, der an den Kerzenhaltern war, am Adventkranz angebunden. Am Schluss wurde noch ein breites dunkel-lilafarbenes Seidenband mit silberner Borte an beiden Rändern querlaufend über den Kranz gewunden. Wenn alles fertig war, sagte der Vater zufrieden „Schön ist er wieder, unser Adventkranz, nicht wahr, Mutter!“ Und diese antwortete darauf „Ja, schön ist er wieder, unser Adventkranz.“ Damit war alles getan. Und man wartete jetzt nur noch auf den Abend des ersten Adventsonntags.
Nach dem Abendessen versammelten sich die ganze Familie und auch die Hausangestellten im Wohnzimmer. Die Kinder saßen in einer Reihe um den Tisch herum, die noch kleinen auf dem Schoß einer älteren Schwester. Die Hausangestellten saßen auf dem Sofa an der Wand. Wenn der Vater zur Streichholzschachtel griff und ein Streichholz anzündete, dann mit dem brennenden Streichholz auf dem Tisch kniend den noch weißen Docht der ersten Kerze entzündete, dann verstummte sogleich jedes Gerede und Geflüster, und alle schauten gespannt und zugleich ergriffen auf die nun brennende erste Kerze am Adventkranz. Nachdem das elektrische Licht ausgemacht worden war, erleuchtete das Licht der Kerze die Finsternis, und der Raum war in eine schwache Dämmrigkeit getaucht. Die Flamme der Kerze flackerte, es knisterte und roch nach Wachs. Schatten zuckten oder lagen auf den Gesichtern. Und dann hörte man die Stimme des Vater nach einem kurzen Sichräuspern sagen „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen!“; wobei er und wir andächtig das Kreuzzeichen machten.
Dann beteten wir das „Vater unser“ und ein „Gegrüßet-seist-Du-Maria“; anschließend das „Glaubensbekenntnis“ und ein oder zwei Gesetzchen des „Freudenreichen Rosenkranzes“, darunter das mit dem Text „Den Du, o Jungfrau, vom Heiligen Geist empfangen hast...“. Darauf nahm der Vater ein Buch, immer dasselbe, in jedem Advent, und schlug es auf. Um besser lesen zu können, entzündete er eine kleine Kerze, die in einem grünen, mit Blumen bemalten, hölzernen Kerzenleuchter steckte. Aus dem Buch las er dann den Abschnitt, der für den ersten Adventsonntag bestimmt war. Er las mit fester Stimme und fast so wie der Herr Pfarrer in der Kirche. Alle hörten aufmerksam zu. Niemand von den Kindern hätte sich getraut, irgendeinen Unfug zu machen oder wie in der Schule zu „schwätzen“. Nur manchmal hörte man ein Husten oder Räuspern. Es konnte sein, dass die schon alte und von der langen, schweren Tagesarbeit ermüdete Köchin beim Rosenkranzbeten kurz einschlief, und man ihr tiefes, etwas geräuschvolles Atmen hörte. Dann stieß sie sogleich eine andere Hausangestellte, oder wer eben neben ihr saß, kurz an, und sie wachte gleich wieder auf, schaute etwas verwundert um sich und betete weiter. Alle waren bei dieser Adventandacht ganz dem Gebet und der Erbauung hingegeben. Nur die hinten auf dem Sofa eingerollt liegende Katze schnurrte ganz leise; doch das wurde von den Stimmen der Betenden übertönt.
Als kleiner Knirps konnte ich natürlich noch nicht so lange und komplizierte Gebete wie das „Vater unser“, das „Gegrüßet-seist-Du-Maria“ und schon gar nicht das „Glaubensbekenntnis“, den „Rosenkranz“ oder den „Engel-des-Herrn“ mitbeten. Und so saß ich da, manchmal neben unserer lieben Köchin Fanni und plapperte jene einfachen Worte mit, die ich schon reden konnte, deren Bedeutung ich aber oft noch gar nicht verstand. Wenn ich schon müde war oder müde wurde von der einschläfernden Monotonie dieses Gebetsstimmenchores, dann schlief ich ein, wobei ich mich bei der Fanni anlehnte, und sie den Arm um mich legte. Man ließ mich schlafen, weckte mich aber kurz vor dem Ende unserer Adventandacht auf und sagte leise zu mir: „Jetzt bist du dran, Peterle!“ Und dann musste ich zum Vater gehen, mich zwischen ihm und der Mutter hinstellen - gerade dass der Kopf über die Tischfläche ragte - die Hände zusammenfalten, zu einem bereits vor mir aufgestellten, eingerahmten Jesusbildchen, das einen kleinen, blondgelockten Buben zeigte, aufblicken und „mein Gebet“ sprechen, das man mich gelehrt hatte und das ich - mit Hilfe von Vater und Mutter, die es mit mir ganz langsam und deutlich sprechend mitbeteten - nun aufsagen musste. Meist begann der Vater mit dem ersten Wort und ich betete dann - ein jedes Wort in kindlicher Manier betonend - mein Gebet: „Weil jetzt, o liebes Jesukind, die Engelein so fleißig sind, drum will auch ich für Dich mich plagen...“ Weiter weiß ich es nicht mehr, hier bin ich immer stecken geblieben und habe nicht weiter gewusst. Heute, nach fast sechs Jahrzehnten, habe ich den Rest meines Kindergebetes vergessen. Aber das „Mich-plagen“ ist mir noch als etwas mir Unangenehmes bis heute im Gedächtnis geblieben.
Kaum dass ich etwas älter und größer war als ein Knirps von drei oder vier Jahren, habe ich das Mich-plagen für das Jesuskind in der Adventszeit schon als besondere Religionsübung aufgefasst und dem entsprechend kistenweise das gehackte Holz aus der Holzlaube unten für die Köchin Fanni über die Stiege hinauf getragen und in die Holzkiste geschlichtet. Wiederum etwas später, als ich mich dann geweigert habe, dieses Kindergebet noch weiter aufzusagen, hatte ich mich gefragt, warum auch ich mich, bloß deshalb, „weil die Engelein so fleißig sind“, nun so für das Jesuskind abplagen soll. Ich konnte und wollte nicht einsehen, was das eine mit dem anderen zu tun habe. Und überhaupt, warum schon wieder so ein opferverdächtiges Wort wie „Mich-plagen“ anstatt „Mich-freuen“?! Immer musste man „Opfer bringen“; in der Fastenzeit, in der Adventszeit; bei einem Gelübde oder bei einer Novene. Sünde, Reue, Buße, Sühne, Strafe, Verdammnis, Fegefeuer und Hölle - das alles waren Begriffe und Bestandteile einer düsteren Welt, die mit der Religion und dem Katholizismus schon früh in mein kindliches Empfinden hineingelegt wurden, ob ich das nun wollte oder nicht. Von Freude und Fröhlichsein war kaum jemals die Rede.
So wie am ersten Adventsonntag wurde nun an jedem Tag bis hin zu Weihnachten die gleiche Adventfeier in unserer Familie abgehalten. Jede Adventandacht lief nach diesem beschriebenem Muster ab, manchmal war sie etwas kürzer, ein anderes Mal ein wenig länger; immer aber war es das gleiche Zeremoniell. Das hatte etwas Beruhigendes, manchmal etwas Einschläferndes an sich, aber man konnte sich auf etwas verlassen, daß es so sein würde, wie man es kannte. Und da dies mit wenigen und kleinen Abänderungen über viele Jahre der Kindheit und dann der Jugend so verlief, bildete dies einen Bestandteil dessen, was man „Familientradition“ nannte und als solche bezeichnen kann. Meine Geschwister und ich wurden von Jahr zu Jahr größer. An meine Stelle und die meiner Kindergebete mit dem „O du liebes Jesukind, weil jetzt die Engelein so fleißig sind...“ und dem „Jesukindlein komm zu mir, mach ein frommes Kind aus mir! Mein Herz ist klein, darf niemand hinein, als Du, mein liebes Jesulein“ traten die Kinder und ihre Gebete meiner nun verheirateten älteren Geschwister, die fallweise zu unserer Adventandacht kamen. Sie saßen dann genauso andächtig wie wir damals, vielleicht ein wenig verschreckt, weil eben doch nur Besucher, um den Tisch im Wohnzimmer herum. Die Fanni gab es nicht mehr; die liebe alte Frau, meine wichtigste Bezugsperson in meiner Kindheit, war schon gestorben. Ebenso einige meiner Geschwister, die ein unerwarteter, viel zu früher, tragischer Tod aus der Familie herausgerissen und in den Herzen meiner Eltern tiefe, unheilbare Wunden hinterlassen hatte. Hausangestellte gab es längst nicht mehr. Das Geschäft war abgegeben, verpachtet. Ich war weggezogen und kam zwar regelmäßig, aber doch nur selten nach Hause. Vater und Mutter waren alt geworden, müde, krank, schweigsam. Nur an den Enkelkindern schienen sie sich noch zu erfreuen. Das laute Beten über längere Zeit fiel ihnen schwer. Die Stimme des Vaters war schwach und brüchig geworden. Die Mutter lebte in sich zurückgezogen, in ihrem eigenen unausgesprochenen Innern. Die Adventandachten hatten aber Generationen und Jahrzehnte überdauert und überbrückt; als etwas Gemeinsames, Verbindendes, Zuverlässiges.
Auch jetzt wurde noch an jedem Adventsonntag eine neue Kerze am Adventkranz angezündet und am vierten Adventsonntag die einzige weiße Kerze, als sichtbares Zeichen, dass das Fest der Geburt Jesu Christi nahe sei. Aber nicht mehr der alte Vater zündete sie an. Er konnte nicht mehr auf den Tisch klettern und sich beim Kerzenanzünden hinaufknien. Jetzt bat er eines seiner Enkelkinder. Und eine herzergreifende Traurigkeit lag in seiner Stimme und erfüllte auch mich, wenn er mit einem matten, etwas verlegenen Lächeln einem seiner schon größeren Enkelkinder das brennende Streichholz, das seine zitternde Hand an der Reibfläche nach mehrmaligen Versuchen endlich doch entzündet hatte, hinhielt und bat: „Geh’, sei so lieb und zünd’ mir die Kerze oben an!“ Dann stieg dieses Enkelkind auf den Sessel, kniete sich auf den Tisch, so wie einst der Vater das getan hatte, und zündete die Kerze oben am Adventkranz an. Dann flackerte die Kerze auf und erleuchtete die Finsternis. Und mit jedem Adventsonntag wurde es heller im Raum. Und wieder freuten sich Kinder auf Weihnachten; und mit ihnen die alten Eltern, die noch immer das Gleiche für die Enkelkinder taten, was sie Jahrzehnte hindurch für ihre eigenen vielen Kinder getan hatten.
Natürlich ging man auch jetzt noch während der Adventszeit in die „Rorate“, eine Frühmesse an Werktagen mit besonderen Gebeten und Liedern für diese Zeit der Vorbereitung in Erwartung des Herrn. Noch immer sang man die alten, bekannten Lieder, das „Tauet Himmel, den Gerechten...“ und „O Heiland, reiß die Himmel auf...!“ Noch immer saßen im Dunkel der Kirche, bevor die Kerzen am Altar angezündet wurden, die Frauen und die wenigen Männer hingeduckt in den Kirchenstühlen, eingemummt in schwere Mäntel und dicke, wollene Tücher. Denn der Winter ist bitter kalt in diesem Land an der Grenze, und die Kälte kriecht einem durch alle Kleider hindurch unter die Haut bis auf die Knochen. Noch immer wurde in der letzten Adventwoche ein Christbaum aus einem der Wälder der Bürgergemeinschaft geholt. Später brachte uns dann jemand den großen Baum. Noch immer wurde bei uns jedes Mal ein paar Tage vor Weihnachten die große Kiste mit der Krippe, mit den in Papier eingewickelten und in Holzwolle eingehüllten Figuren sowie dem hölzernen Stall, den der Vater schon vor Jahrzehnten gebastelt hatte, vom Dachboden ins Wohnzimmer herabgetragen. Und dann wurden dieser Stall und diese Gipsfiguren, die Hirten und Schafe, der Ochs und der Esel, Maria und Josef sowie die kleine Holzkrippe mit Stroh für das Jesuskind auf einem über die hohen Sofalehnen gelegten dicken Brett, das mit Moos ausgelegt und mit Tannenreisig und einem Zaun aus dünnen Haselnusszweigen umgrenzt wurde, aufgestellt; die Krippe noch leer und ohne das Jesuskind, das erst am Heiligen Abend hineingelegt wurde. Dann wurde noch ein kleiner Kiesweg, der gerade hin zum Stall führte, angelegt. Und auf dem standen dann kleine rote Kerzen in sternförmigen niedrigen Kerzenleuchtern, die zum Gebet oder zur Betrachtung für die Kinder angezündet wurden. Auch eine Beleuchtung gab es im Stall, so dass es die Heilige Familie hell hatte. Und dann saßen der alte Vater und die alte Mutter mit den vielen kleinen Enkelkindern vor der Krippe mit den angezündeten Kerzen und der kleinen Beleuchtung im Stallinneren und beteten die gleichen Gebete, die wir als Kinder gebetet hatten. Und der Vater sagte manchmal „Kinder, jetzt ist die Krippe noch leer, aber bald kommt das Jesuskind hinein; dann zu Weihnachten.“
Das alles wurde aus unserer Kindheit über Jahrzehnte hinweg hinübergerettet in die nächste und übernächste Generation. Ob es dort weiterlebt, weiß ich nicht. Mit dem Tod meiner Eltern und dem darauffolgenden Auseinanderbrechen der Großfamilie endete sowohl diese Gestaltung der Adventszeit, als auch die anderer Tage, Zeiten und Feste im Kirchenjahr. Es endete ein gelebtes Lebensbeispiel, eine Familientradition. Heute, nach all den Jahrzehnten, erinnere ich mich an meine frühe Kindheit. Ich sehe in meiner Erinnerung Lichter brennen, die es längst nicht mehr gibt. Und ich glaube die Stimmen von Vater und Mutter und von meinen längst verstorbenen Geschwistern zu hören, wie sie singen: „Tauet Himmel, den Gerechten, Wolken regnet ihn herab! Also rief in langen Nächten einst die Welt, ein weites Grab ...“ Und ich vermeine, dann auch den hellen Klang jenes Glöckchens zu vernehmen, das jedes Mal bei der letzten Adventandacht, nämlich der am Heiligen Abend, nachdem wir mit dem Beten und Singen geendet hatten und still dasaßen, zuerst kaum hörbar, wie aus weiter Ferne, dann aber näher kommend, geläutet hat, worauf der Vater zu uns Kindern sagte: „Horcht’s Kinder, es läutet; das Christkind ist da!“ Dann sind wir langsam aber innerlich ganz aufgeregt durch die dunklen Räume hinaufgegangen zu jenem Zimmer, durch dessen offenen Türspalt ein helles Licht geleuchtet hat, von dem man uns gesagt hatte, dass es von jenem Licht herrühre, das „das Licht der Welt“ sei. Und da stand dann ein wunderschöner, großer, geschmückter und nach Wald duftender Weihnachtsbaum. Davor und darunter lagen viele Päckchen. Und dann sangen wir alle gemeinsam und tief ergriffen das schöne alte Lied „Stille Nacht, Heilige Nacht ...“
Peter Paul Wiplinger
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1 | Katherina Braschel
puttenstuckgebet
es ist:
vierundzwanzig
mal brust angehalten
den aufgestoßenen röchelatem hinunter
fingerkuppen geschluckt
rillenzerschnitten
morgendlich
jeder mittagsruf
ein blutbad
es ist:
vielmehr zeitschriftenapokalypse
heimwegsgut an streusteinen
aufgeschürft
bis dialysefreier
knochenmarksvergleich
eine eintagsbeschau
glutwein in
stangenware
absolutionsheischerei
es kann:
noch nicht sprechen.
es ist:
eine dellenwand
ein hautschuppenfest
eisglasur
gegenüber
ein jubelchor
eine ikealandmine
der kerzenlose
zimmerbrand
die schattenarme
fleckenwütig
um die tafel geschlungen
es kann:
noch nicht singen.
es ist:
goldgezierter maskenverdruss
in auswurfslacke
merinowollen
kyrienbeton
im heilsbringerwund
Katherina Braschel
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freiVERS | Silke Gruber
Wir, nachts
Nur
eine halbe Sekunde
bevor du schlafend
kaltblütig
ihren Körper zertrümmern wirst
nimmt eine Mücke
ihre Henkersmahlzeit an
deiner Schulter:
fremd
diese Stelle
denke ich
an der mein Kopf ruhen
sollte und weine
um das arme Tier
mich in den
Schlaf
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freiVERS | Dagmar Falarzik
Grasland. Ein Wasserturm dahinten
und Häuser drumherum, wie ein Kranz.
Der ewige Wind, Staub in der Luft,
kein Mensch weit und breit.
Abends wenn das Grasland leuchtet,
der Wind sich legt und die Hitze sinkt,
hört man manchmal Gesang
und nachts heulen die Coyoten.
Es weltet, sagt Herr Heidegger.
Das sind sie Wirks, sagt Herr Dürr.
Vergiss alles drumherum, sagt Herr Husserl.
Die Weissen quatschen zu viel,
denkt der Indianer und schweigt.
Er fährt den Philosophen in die Prairie raus
und lässt ihn da ohne Nahrung und Wasser
vier Tage lang stehen.
Völlig hineingerutscht, von der Vorstellung absorbiert,
ist die Realität auf ein Minimum reduziert,
während eine Parallelwelt den Raum überlagert.
Nachdem sich auch die Parallelwelt aufgelöst hat,
bleibt nur noch Bewegung, die sich durch abstrakte,
optische Ungewissheiten auszeichnet.
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freiTEXT | Katja Johanna Eichler
Schlamm und Schimmel
Sie trank inzwischen täglich Schlamm. Sie rührte sich jeden Morgen einen Teelöffel der Vulkanmineralien in ein Glas mit etwas Wasser, bis dies zu einer grauen Masse wurde und trank es. Jeden Morgen schaute er zu, wie die Masse in einem schmalen Rinnsal schwerfällig vom Glasboden in Richtung Rand rutschte und dann zwischen ihren beiden kirschroten Lippen verschwand. Jeden Morgen fand er, dass sie über Nacht wieder an Farbe verloren hatte, dass ihre Haut unterschiedliche Grautöne ausprobierte. Nach zwei Wochen fand er, dass ihre Haut auch die Grautöne verloren hatte und weiß, fast durchsichtig wurde. Im Folgenden fand er sogar, dass die Haut feine Risse bekam, so wie alter, weißer Marmor. Er dachte an antike Statuen in griechischen Tempeln, er dachte dann an Rom und an Pompej, an den Vesuv, der noch immer halb wach vor sich hin dämmerte und er dachte vor allem an Asche, die alle Häuser bedeckte und heiß in menschliche Lungen gesogen wurde. Inzwischen regnete es in jedem seiner Nachtträume Asche. Meist fiel sie in leisem Sinkflug auf eine zarte, fast durchsichtige Statue mit feinen Bruchstellen an Knien und Ellbogen. Bei näherem Hinsehen erkannte er Lola, obwohl ihr Statuen-Gesicht verzerrt aussah, die Stirn faltig, die Augen zusammen gepresst, der Mund eine schmale Linie. Es waren keine göttlichen Gesichtszüge, es waren schmerzverzerrte Linien. Eine Kore mit weltlich belastetem Antlitz.
Wenn er morgens aufwachte, lag sie nie mehr neben ihm. Vergeblich ließ er seine Hand Morgen für Morgen auf die andere Seite des großen Bettes wandern, das sie sich kurz vor Weihnachten zusammen gekauft hatten, nachdem sie diese Dachgeschosswohnung in der Innenstadt gemeinsam bezogen hatten. „Liebesnest”, hatte er sie damals liebevoll genannt. Jetzt war es „die Wohnung”. Eine Wohnung, in der zwei Menschen ein und ausgingen, um ihr Tagesgeschäft zu verrichten. Für Lola bedeutete das, früh aufzustehen, zur Uni zu gehen, danach die Unterlagen zu lesen, die wichtigen Stellen mit einem neongelben Marker anzustreichen und sie dann an der einzig richtigen Stelle in ihrem Universum von gereihten Ringordnern unterzubringen. „Die Wohnung” war zu einem Ort der Reihen geworden: Der Schuhreihen im Flur, der Bücherreihen im Wohnzimmer, der Reihen von Gewürz- und Müsligläsern in der Küche, von aufgereihten Kissen auf dem Sofa und Reihen von Duschgel- und Shampootuben im Bad.
In „Liebesnestern”, wie er sie meinte, gab es keine Reihen. Dort waren die Betten unordentlich, die Bettbezüge rochen nach Liebe und wiesen mehrdeutige Flecken auf. In „Liebesnestern” standen unbeachtet benutzte Weingläser herum, auf dem Küchentisch und neben dem Sofa, auf dem in wohliger Vertrautheit Kissen herum lümmelten. Espressokannen standen bereit, in denen jederzeit schwarzes italienisches Espressopulver aufgekocht werden konnte. Es gab Trauben im Kühlschrank und aufgebrochene Knoblauchzwiebeln, die achtlos neben großen Flaschen von frisch abgefülltem Olivenöl lagen. Es kam vor, dass Reste von Avocado, Schinken und roter Beete auf bunt befleckten Holzbrettern zu Zeugen eines gemeinsamen Kochens in leichter Bekleidung wurden, die einzig mögliche Schlussfolgerung nach einem Tag im Bett, der die Hautporen erfüllt hatte, aber nicht die Mägen. In „der Wohnung” fand sich von all dem nichts.
Als er Lola das erste Mal begegnet war, war sie weit davon entfernt gewesen, dem Abbild einer Göttin zu ähneln. Damals war sie eine Göttin. Sie unterschied sich von den anderen Erstsemesterinnen, die die Tischreihen des Hörsaals mit ihrer raschelnden und raunenden Profanität füllten, indem sie mit ihren Popos in viel zu engen Hosen die Klappstühle herunter drückten und nervös an ihren Haaren, dem billigen Modeschmuck und ihren Telefonen herum fingerten. Sie war ihm so anders als die anderen erschienen, dass ihr Anblick ihn geschmerzt hatte. An jenem Tag hatte er die Vorlesung dazu genutzt, sie genau zu studieren, ihr kantiges Profil mit dem starken Mund und der langen geraden Nase und ihre simplen glatten rötlichen Haare, die vorgaukelten, niemals irgendeiner Behandlung ausgesetzt gewesen zu sein. Als sie den Saal betreten hatte, schmucklos und schlicht gekleidet, hatten ihre Augen blitzschnell die Sitzreihen überflogen und zielbewusst seine selektiert. Er wusste, er hatte diese Wirkung, er war es gewohnt, dass ihm viele Blicke zukamen, doch damals war es anders gewesen. Nach der Vorlesung hatte sie hinter der weit geöffneten Flügeltür des Hörsaals auf ihn gewartet und er war auf sie zugegangen, als wäre dieser Augenblick alleine dafür bestimmt gewesen. Sie hatte ihm die Hand gereicht, sich ihm vorgestellt und er hatte ihre Hand mehrer Augenblicke in seiner gehalten. Nur drei Monate später waren sie zusammen gezogen. Er hatte sich glücklich gefühlt, bis das mit dem Schlamm begann.
Das mit dem Schlamm veränderte nicht nur seine Träume, sondern auch sein Geschmacksempfinden. Es fing damit an, dass er eines Morgens dachte, die Marmelade sei schimmelig. Oder das Toastbrot. Er nahm die Toastscheiben aus der Tüte, klappte sie auseinander und studierte sie sorgfältig. Aber er konnte keine Schimmelspuren entdecken. Er roch am verschmierten Deckel der Marmelade, stob mit der Messerspitze durch die rote Masse und quirlte die dunkelroten Punkte auf. Er konnte auch hier keine Schimmelschlieren entdecken. Irgendwann stellt er fest, dass sich der Schimmelgeschmack nicht nur auf das Frühstück beschränkte. Er zog sich durch alle seine Mahlzeiten. Er stellte auch fest, dass der Geschmack nicht pilzig, sondern steinig war. Er fragte sich, wie lange das mit dem Schlamm und dem Schimmel noch so weiter gehen konnte.
Es regnete, als er die Wohnung betrat, genau acht Wochen nachdem sie angefangen hatte, Schlamm zu trinken. Genau zwölf Wochen nachdem sie gemeinsam in ihr Liebesnest gezogen waren, das niemals eines werden sollte. Er zog seine Stiefel aus und stellte sie zu den anderen Schuhen, die sich im Flur an der Wand zwischen Eingangstür und WC-Tür aufreihten. Er zog seine durchnässte Jacke aus und hing sie an einen Haken aus der Reihe von Haken, die über die Schuhe wachte. Er ging in die Küche und sank erschöpft auf einen Stuhl. Es ließ das Licht aus, obwohl es draußen dämmerte und schaute abwechselnd zum Fenster hinaus und zu den Konturen der Trinkglas-Reihe auf dem Wandboard und der Müsligläser auf der Anrichte. Neben den großen Vorratsgläsern konnte er den weißen Kunststoffbehälter erkennen, der das puderige Pulver enthielt, das jeden Morgen als schmale Schlammlawine durch den Kirschmund rann. Er wusste, was auf dem Etikett stand, er wusste es auswendig, so oft hatte er es gelesen: Zeolith, Detox-Pulver, der Schadstoffbinder. Es würde alles absorbieren und hinaus transportieren, neue Energie geben, ja es half sogar gegen explodierte Atomreaktoren. Er hatte es selbst einmal probiert und er wusste, es machte Bauchschmerzen und einen grünlichen Stuhlgang, aber hey, alles nur leichte und völlig erträgliche Nebenwirkungen für einen maximal sauberen Darmtrakt. Plötzlich stand sie im Türrahmen, er erschrak und fragte sich, ob er die letzten Worte still gedacht oder laut gesagt hatte. Er hatte sie nicht kommen hören oder war sie die ganze Zeit da gewesen? Lief sie überhaupt noch oder schwebte sie bereits? Was hatte das Zeug schon alles absorbiert? Die letzten weltlichen Mikrospuren von Alkohol, Koffein und Schokolade? Oder bereits Nähr- und Mineralstoffe, gar erste Zellen? Höhlte es ihren Körper von innen aus? War sie nur noch die Hülle von Lola? Eine schwebende Kore in einem geordneten Imperium aus Reihen? Er sah ihr ins Gesicht. Es war nicht das verzerrte Antlitz aus seinen Träumen. Ihr Gesicht war klar und eben. Sie kam auf ihn zu, setzte sich auf seinen Schoß und legte ihre Arme um seinen Hals. Er konnte sie kaum spüren, aber er roch sie. Sie roch nicht nach Ascheregen. Sie roch nach Regenregen. Sie roch so anders als all die anderen. Sie roch so göttlich, dass es ihn schmerzte.
Katja Johanna Eichler
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freiVERS | Miriam V. Lesch
Spontandichtung
#59
Ausgehöhlt
ich existiere noch
an den
Rändern
jeder will mich
unbedingt
füllen nur
womit
so viel Gleichzeitigkeit
kann nichts
Sein.
#58
Du lässt warten
das ist nicht neu und
fancy
diese Jacke so
was konnt ich schon mit
fünfzehn
nicht
cool sein hab
Schnaps gekippt ja
richtig
es fehlt mir
wie beim ersten Mal
an Geduld
für deinen Lifestyle
das du
mich magst
Glaub’s doch selber.
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freiTEXT | Daniel Klaus
Kaugummis
An die Langsamkeit muss ich mich erst gewöhnen. Das ist nicht einfach. Die Minuten verrinnen mir nicht mehr zwischen den Fingern, sondern sie knoten sich aneinander, ineinander, und manchmal bleibt die Zeit für einige Momente einfach stehen, ohne sich von der Stelle zu rühren.
Aber die Krücken sind ein Fortschritt. Die ersten Tage durfte ich nur im Bett oder auf der Couch liegen, mit drei Kissen unter dem Fuß und einer Packung Eis darauf. Ich bin beim Basketballspielen umgeknickt. „Schwere Bänderdehnung“, sagte der Arzt, als er sich das Röntgenbild ansah. „Das braucht seine Zeit.“ Und mit dieser Diagnose hat er leider Recht gehabt. Ich bin froh, dass ich jetzt diese Krücken habe und mit ihnen die Wohnung verlassen kann. Endlich. Auf diesen Augenblick habe ich lange gewartet.
Es ist gar nicht so einfach, und es dauert eine ganze Weile, bis ich vom fünften Stock unten bin. Ich achte auf jeden Schritt, den ich mit meinem rechten Fuß und den beiden Krücken mache, und nach einer Weile merke ich, dass das Laufen für die Arme anstrengender ist als für das eine Bein. Eine seltsame Erfahrung. Schließlich öffne ich die Haustür und trete nach draußen.
Es ist halb ein Uhr mittags. In Berlin leben ungefähr dreieinhalb Millionen Menschen. Vielleicht 800.000 davon halten gerade Mittagsschlaf. Es ist sehr ruhig auf der Straße. Vielleicht hängt die Stille aber auch mit der Hitze zusammen.
Ich gehe ein paar Schritte durch diese mittagsmüde Großstadtstille. Vor dem Esmarcheck bleibe ich stehen. Ich lege den Kopf in den Nacken und betrachte die gegenüberliegende Hausfassade wie ein Tourist. Ich lasse meinen Blick wie einen Aufzug vom obersten Stockwerk bis zum Erdgeschoss hinuntergleiten und steige dort mit meinen Augen aus. In der Zeitgalerie ist es dunkel. In der Zeitgalerie ist immer Winter, denke ich, selbst im Sommer. Merkwürdigerweise scheint gerade an diesem Ort die Zeit spurlos vorbeizugehen, während sich der Rest der Straße in ständiger Veränderung befindet.
Mitten in diesen Überlegungen läuft der schüchterne Nachbar aus dem Hinterhaus an mir vorbei. Mit gesenktem Kopf. Er ist der erste Mensch, den ich heute sehe. Er trägt Segeltuchschuhe und bewegt sich lautlos über den Bürgersteig. Ich blicke ihm hinterher. Kurz vor der Apotheke bleibt er stehen. Er betrachtet irgendetwas an der Wand. Ich gehe ein paar Schritte weiter, weil ich neugierig bin, und jetzt kann ich es erkennen: Es ist ein Kaugummiautomat. Ich habe ihn vorher noch nie gesehen. Wie lange er wohl schon an dieser Wand hängt? Mein Nachbar kramt in seinen Taschen, holt eine Münze heraus und steckt sie in den Kaugummiautomaten. Mit einer andächtigen, fast feierlichen Bewegung, dreht er den Griff herum und hört auf das Klacken im Ausgabefach. Er wartet einen Moment, bevor er das Ausgabefach öffnet und die Kaugummis in seine Hand und von dort in ein Leinensäckchen rollen lässt, das er aus der Tasche gezogen hat. Ein Teil von ihm, sein Gesichtsausdruck und seine Körperhaltung, erinnern an den kleinen Jungen, der er einmal war, und den ich nie kennen gelernt habe. Dann wiederholt er das Ganze.
Und wieder.
Und wieder.
Seine Bewegungen werden schneller und sicherer.
Es ist noch immer sehr ruhig in der Esmarchstraße. Wir sind die einzigen Menschen. Nur ein Radfahrer mit losem Schutzblech fährt in der Liselotte-Herrmann-Straße über das Kopfsteinpflaster. Mein Nachbar scheint tatsächlich den kompletten Kaugummiautomaten leeren zu wollen. Er steht nun vor ihm wie ein erfahrener Panzerknacker oder Juwelendieb und wirft ein Geldstück nach dem anderen hinein. Ruhig und systematisch räumt er den Kaugummiautomaten wie einen Geldsafe aus.
Mein Herz pocht. Es ist Blödsinn, aber ich komme mir vor wie sein Komplize, der Schmiere steht. Es ist niemand zu sehen. Er hat freie Bahn.
Und dann scheint er fertig zu sein.
Ich humpele mit meinen beiden Krücken zu ihm und werfe einen Blick auf den Kaugummiautomaten. Er ist leer. Ein perfekter, völlig legaler Raubzug.
„Hallo“, sage ich.
„Hallo“, sagt er und sieht mich an. Es ist das erste Mal, dass ich ihn reden höre. Er lächelt und hält mir seinen gefüllten Leinenbeutel hin: „Bitte“, sagt er. „Greifen Sie zu.“
Ich suche mir einen grünen, einen blauen und einen gelben aus. Auf einem Balkon im Haus gegenüber steht ein Windrad, das sich schläfrig im Wind bewegt. Ich stecke sie mir alle drei auf einmal in den Mund und beginne, die Farben abzulutschen.
„Die sind wirklich gut“, sage ich, die Ellbogen lässig auf die Krücken gelehnt.
„Davon träume ich seit ich elf bin“, sagt er. „Und heute, zwei Tage nach meinem 38. Geburtstag, habe ich es endlich gemacht.“
Wir stehen beide vor dem leergeräumten Automaten in der stillen Esmarchstraße. Ich gratuliere ihm nachträglich. Wir lächeln. Und zerkauen mit unseren Kaugummis die Zeit.
Daniel Klaus
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freiVERS | Thomas Ballhausen
Versuch über das Rauschen
„Veränderung durch Wörter ist Dichtung.“
Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1&2
Das Rauschen kann in seinem Naturzustand nicht beobachtet oder beschrieben werden, die Sprache geht ihm voraus.
Für das Rauschen gibt es keine Erklärungen oder Gebrauchsanweisungen, bloß warnende Empfehlungen hinsichtlich Verhaltensweisen, Ausbreitungsgrad und Formen der Übertragung.
Im Rauschen findet sich etwa ein Hundertstel eines länger zurückliegenden sehr lauten Beginns.
Rauschen und Raum stehen in einer schwierigen Beziehung. Das Rauschen findet deshalb vor allem zwischen Zeilen und in Pausen statt.
Rauschen kennt keine Handlungen oder Absichten, es löst sie aber wie beiläufig aus.
Es ist nicht ratsam, das Rauschen zu verdünnen.
Das Rauschen hat keine Farbe. Gerüchten nach ist es vielleicht weiß.
Es gibt bislang keine vollständige Auflistung der im Rauschen enthaltenen Allergene. Das Rauschen kann Spuren von Nüssen, Spänen und Dornen enthalten.
Das Rauschen ist nicht geeignet, um Katzen zu trocknen.
Je nach Dosierung können alle Sinne vom Rauschen kurzfristig beeinträchtigt oder auch dauerhaft verändert werden.
Man kann natürlich versuchen das Rauschen zu imitieren, aber bestenfalls wird man es ein wenig nachahmen. Alle bislang unternommenen Versuche waren lächerlich.
Vom Rauschen muss man sich erfassen und eine Zeit lang tragen lassen.
Das Rauschen ist keine Entschuldigung für irgendetwas. Vielleicht gibt es hin und wieder eine schlechte Erklärung ab.
Das Rauschen kennt keine Wehmut für das Ende des vergangenen Jahrhunderts. Das Rauschen kennt nur Immer und Überall.
Das Rauschen ist Gegenwart und Wirklichkeit.
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