freiTEXT | Martin Dost

Das letzte Tier

Alte Männer erzählen, dass alte Männer erzählen - von der Vergangenheit. Sie sind weiß und verhornt. Sie denken, sie sind die letzten ihrer Art und mit ihrem Tode sterben sie aus. Jedoch werden sie nur vergessen.

Ich erinnere mich an den kalten Novembermorgen. Es gab Frost, der Boden war hart und schwere weiße Wolken bedeckten den Himmel, eine bewegungslose Masse, doch blieb es trocken und kein Regen fiel herab. Mitten im Hof stand der Traktor zum Hissen des toten Tieres. Ich stellte mich neben das massige Gerät und wartete auf den Fleischhauer. „Schlachten ist schwere Arbeit“, sagte mein Großvater. In seinen Händen hielt er zwei Flaschen. Korn und Kümmel. „Hol die Schubkarre!“, sagte er. Als ich zurückkam, sah ich, wie er aus einer der Flaschen trank. „Das beruhigt!“

Die Schlachtstraße befand sich zwischen Stall, Scheune und Garage. Mein Großvater führte den Ochsen, er hatte keinen Namen, heraus, vom Stall zum Scheunentor, vorbei an dem weißen Kastenwagen des Metzgers und hielt ihn fest. Er fuhr noch einmal mit der flachen Hand über den Hals des Tieres. Ein dunkelbraunes Fell, das zum Kopf hin heller wurde und an der Stirn ganz weiß war.

Der Schlachter kam mit einem Bolzenschussgerät, setzte es auf den Ochsenkopf und drückte ab. Es gab einen Knall, einen Rückstoß und der Ochse sackte, so schnell wie der Schuss, in sich zusammen. Die Beine in der Luft fiel der schwere massige Körper dumpf zu Boden. Mein Großvater, der unentwegt auf den Traktor sah, ganz so, als ob er an dessen Leistung zweifelte, ließ die Leine los und wand sich an mich. „Er ist nicht tot. Das Herz schlägt noch“, sagte er. Seine Stimme war rau und brüchig: „Jetzt muss es schnell gehen!“

Der Schlachter zog eine Kette um die Beine des Ochsen und befestigte das andere Ende an der Gabel des Traktors, während mein Großvater den Motor startete. Er zog das Tier in die Höhe, bis es schwebte und schwankte. Ich sah seine Hände zittern. Schnell griffen sie in die Innentasche seiner Jacke und holten eine Zigarettenpackung hervor. Mit glimmendem Stängel stellte er sich neben den Fleischhauer, sah noch wie jener das Messer zog und kurz bevor er zustach, wendete er den Blick ab. Ich sah dem Ochsen beim Ausbluten zu. Das tote Tier taumelte an der Kette leicht hin und her und das dickflüssige und tiefrote, fast schwarze Blut wurde in einem Bottich aufgefangen.

Auf den ersten Akt wurde angestoßen. Der Schlachter und mein Großvater kippten den Korn und atmeten schmackhaft aus. Ich kauerte auf der Treppe zum Scheunendachboden und sah ihnen dabei zu. In der Luft stand der Geruch von Heu, Ochse und Zigaretten. Von irgendwo, weit hinten, erklang eine Säge, ein Rattern, Schnurren und Brummen.

Meinen Vater, der mit einer Kamera auf der Schulter in die Scheune trat, zeichnete das Geschehen auf. Ein kleiner roter Punkt leuchtete und signalisierte den Aufnahmemodus. Er hielt auf die Männer, er hielt auf die Stelle am Hals des blutenden Tieres.

„Schenk uns mal nach“, sagte mein Großvater. Ich nahm die Flasche aus seiner Armbeuge, schüttete den Korn in kleine polierte Gläser. Mein Vater filmte den Traktor, die Gabel und Kette. Er umrundete die Männer und neben seinem zugekniffenen Auge blinkte die kleine rote Signalleuchte. Alles wurde festgehalten.

Der Ochse war ausgeblutet und tot. Der Schlachter ging um das Tier herum und drückte auf den Augapfel. „Keine Reaktion“, sagte mein Großvater. Er ließ den leblosen Körper herunter, langsam senkte sich die Gabel und der Metzger trennte die Hinterhufe ab, legte die Hinterbeine von der Haut frei und justierte die Kette an der Stelle oberhalb des Knies neu. „Komm her!“, sagte mein Großvater und stieg vom Traktor. Ich kletterte auf den Sitz und er zeigte mir, wie man den Diesel vorglühte, anließ und die Gabel nach oben manövrierte. „Hoch!“, rief er. Das Tier begann von Neuem zu schweben und der Schlachter hielt es fest, bis es nicht mehr schwankte. Dann zog er weiter die Haut ab und es folgten routinierte Bewegungen. Er schnitt, zog, schnitt und zog und die Haut hing wie in Lappen am nackten Tier zu Grunde.

Mein Großvater schaltete den Motor ab, zog den Zündschlüssel und ging in Richtung Stall davon. Unterdessen filmte mein Vater jeden Schnitt des Fleischhauers, jeden Moment des zweiten Aktes. „Früher hatten wir mehr Rinder“, sagte mein Großvater. Er saß vor dem Stall auf einem Holzstuhl und rauchte. „Da haben wir an einem Tag bis zu drei Viecher geschlachtet. Die Arbeit möchte ich heute nicht mehr machen.“ Es folgte eine Pause. „Mein Vater hatte auch noch selbst geschlachtet. Klar gab es Metzger und jede Menge Lehrlinge, aber er wollte es selbst machen. Mein Alter war verbissen“, sagte er und zog den Korn mit dem kleinen Glas hervor. Er reichte mir die Flasche und ich schenkte ihm ein. „Halt mal noch!“, sagte er, trank das Glas mit einem Schluck leer und verlangte ein zweites. „Die Karnickel, die wir gezüchtet haben, musste ich schon als Kind beim Schlachten festhalten. Ich habe mir die Viecher zwischen die Beine geklemmt und mein Alter hat mit einem Knüppel draufgeschlagen. Einmal hat er mir fast die Kniescheibe zertrümmert. Aber schlimmer waren die schrillen Schreie. Wenn das Tier erkennt, dass es stirbt.“ Er stand auf, spuckte auf die Zigarette in der Hand und steckte die Flasche in die Innentasche seiner Jacke. „Schau mal nach, ob der Kopf schon runter ist“, sagte er. Der Metzger rang noch immer mit der Haut. Weißer Dampf umschwebte den warmen nackten Körper des toten Ochsen und ich sah, wie auch der Dampf den Metzger umgab. Ich wartete, bis er den Kopf abschnitt, ihn auf die Schubkarre bugsierte. Dann winkte ich meinem Großvater. „Ab damit“, sagte er. Er nahm die Schubkarre und fuhr den Kopf zur Garage. Ich sah, wie er schwitzte, unter seiner Schiebermütze glänzte und sich mit dem Handrücken über die Stirn fuhr.

Der dritte Akt begann mit einem weiteren Korn. Die Flasche war bereits weit über die Hälfte geleert und die Männer leckten sich die Lippen. „Ein guter Korn“, sagte mein Großvater. Mein Vater trank nicht. Er filmte still.

Als der Metzger das Messer am Bauch des Tieres ansetzte, begann der hängende Körper plötzlich zu zucken. Eine Hautpartie nahe dem Vorderlauf vibrierte und ich erschrak. „Das sind nur die Nerven“, sagte mein Großvater. Ich sah auf das Messer des Schlachters. Er machte einen länglichen Schnitt und riss die Bauchdecke auf. Mein Großvater wies mich an, die Schubkarre direkt unter das Gehänge zu schieben und mittig zu positionieren. Jetzt griff der Fleischhauer beidhändig in das aufgeschlachtete Tier, grub mit Bedacht seine Finger hinein zwischen Muskelfleisch und Innereien bis die Arme schon nicht mehr zu sehen waren. Ein Torso von einem Schlachter und ganz nah waren sich nun Mensch und Tier.

Der Fleischhauer trug lange gelbe Handschuhe, eine Schlächterschürze, am Gürtel die Messer in einem Köcher mit Wetzstahl. Vorsichtig zog er die Eingeweide heraus, trennte sie ab.  „Die Milz oder der Darm dürfen jetzt nicht verletzt werden“, sagte mein Großvater. Er blickte auf das Rad der Schubkarre: „Da kommt jetzt einiges an Gewicht zusammen. Das Ventil muss halten.“ Die Innereien dampften stärker noch, als das nackte Muskelfleisch. Überall war nun der Geruch von Tod und Gedärm, kein Heu mehr, keine Zigaretten. Die Schlachtabfälle luden wir vorerst auf dem Mist nahe dem Hof und bedeckten sie mit Stroh. „Das vergraben wir später“, sagte mein Großvater. „Fahr die Schubkarre zurück!“ Er lief neben mir und deutete auf die Felder, die sich in geraden parallelen Formen hinter dem Hof erstreckten: „Bis dahin hat mich der Alte getrieben. Die Felder rauf und runter“, sagte er und deutete auf den Horizont. „Misten, Gülle fahren, im Sommer Heu machen, im Herbst die Erntezeit und kurz vor Weihnachten über vierzig Gänse schlachten. Mit der Mutter. Das ganze Federzeug haben wir verkauft. Gab nicht viel, aber weggeschmissen wurde eben auch nichts. Mein Alter konnte mich jagen, aber unter den Tisch gesoffen, habe ich ihn. Der hat nichts vertragen. Der konnte malochen den ganzen Tag, doch am Kümmel war er ein halber Mann.“

Er lachte und rauchte. „Jetzt trinken wir noch einen und dann geht es ans Zerteilen.“ Mein Großvater und der Metzger leerten die Flasche zum vierten Akt. Sie lachten. Der Ochse war nichts mehr als weißrotes Muskelfleisch, schwere Knochen und eine Abstraktion von einem Tier.

„Wir bugsieren die Teile. - Pack mit an!“, sagte mein Großvater. Der Schlachter schnitt große Stücke ab, die wir mit der Schubkarre zur Garage fuhren. „Dein Vater hatte Glück. Erst Polytechnische Oberschule, danach eine abgeschlossene Lehre und weg war er“, sagte er. „Ein Händchen für Technik, dafür aber zwei linke Pfoten, wenn es um richtige Arbeit geht. - Ich wäre auch gegangen, wenn ich gekonnt hätte. Aber wie?“ Ich sah, wie mein Vater den Akku seiner Kamera wechselte und sie auf einem Stativ positionierte. Aus einem Karton zog er zwei Baustrahler hervor und hängte sie an die eigens dafür installierten Haken an der Decke auf. Alles wurde hell und die gekalkten Wände reflektierten das weißblaue Licht. „Lass den mal filmen, da stört er nicht. Und wenn hier mal alles platt ist, gibt es immer noch die Aufnahmen“, sagte mein Großvater. „Los – alles auf die Schlachtplatten!“

Der Tierarzt war pünktlich. Er kontrollierte die Schlachtung, beschaute das Fleisch und nahm Proben. „Trichinenschau“, sagte mein Großvater. „Jetzt geht der Ochse unter das Mikroskop.“ Die Untersuchung war abgeschlossen und der Arzt nickte. Die großen Stücke konnten nun portioniert werden. Der Metzger kam in die Garage und zusammen mit der Großmutter, die der Großvater gerufen hatte, wurde das Fleisch zerteilt, klein gehackt und verpackt. „Hier beginnt die Küchenarbeit“, sagte er. Er zündete sich eine Zigarette an, fuhr mit der Schubkarre ein letztes Mal zur Scheune und beseitigte alle übriggebliebenen Tierreste. „Hol heißes Wasser und wisch den Boden!“ sagte er.

Das rote Wasser rann über den grauen Betongrund der Scheune, über den Hof zum Feld hinaus. Es war bereits Mittag und die weißen Wolken begannen sich allmählich zu bewegen, leicht zu werden und auszudünnen. Da stand der alte Mann, der mein Großvater war, der das Töten nie gelernt hatte. „Feierabend“, sagte er. „Geschafft!“ Ich sah sein Profil und wie er eine neue Flasche, den Kümmelschnaps, aus der Jacke zog und in der Hand hielt. „Das war das letzte Tier.“ Er schaute auf das rote Rinnsal, wie es ganz dünn im Felde verlief, setzte an und trank. „Was ein Mann ist, trinkt. Immer schön die Rübe hinunter. Dein Großvater ist ein Trinker, kein Bauer. Bauern gibt es nicht mehr.“ Er begoss den fünften und letzten Akt. Es war vorbei.

Die alten Männer, sie fürchten sich. Sie sind grau und schwach. In ihrer Angst steckt das Erkennen der Gegenwart und während sie an ihren Tod denken, vergessen sie, dass sie längst vergessen wurden.

 

Martin Dost

 

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freiVERS | Alexandra Regiert

Die Loreley vom Vorderhaus

Meine Lunge pumpt Luft.
Pumpt sie weit über die Kondensstreifen hinaus.
Pumpt sie in Schweinelungen.
Rosa und fast neugeboren
festigt sich das Rosenkelchorgan
wie eine fleischfressende Pflanze.
Betörend recke ich mich am Fensterbrett
für die Fliegen,
strecke die Glieder, spiele mit den Haaren
und singe:
Es ist ein lauter, Glut gebärender Gesang,
den eine Schallmauer nicht abwehren könnte.
Wie der der Loreley vom Vorderhaus,
vor deren Fenster blaue Hortensien wachsen
und die Feuerwehr regelmäßig
ein weißes Tuch spannen muss.

 

Alexandra Regiert

 

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freiTEXT | Kerstin Nethövel

Die Kreiselegge

Ein Spaziergänger kam an einem Feld entlang und sah einen Mann am Rand des Ackers quer zur Pflugrichtung rücklings am Boden liegen. Seine Kleider waren zerrissen, und die Haut war aufgeschürft und zerkratzt. „Was ist passiert?“, fragte der Spaziergänger. „Nichts“, sagte der Mann, der am Boden lag. „Nicht viel jedenfalls. Ich habe das Feld bestellt und bin dabei nicht weit gekommen.“ „Und warum liegst du da?“ „Ich sagte dir doch, ich wollte den Boden für die Aussaat vorbereiten. Und bei der Arbeit bin ich unter die Egge geraten.“ „Aber du kannst doch da nicht liegen bleiben“, sagte der Spaziergänger. „Warum denn nicht?“ „Wenn es regnet, wirst du nass, in der Nacht ist es zu kalt, und wenn die Sonne brennt, wirst du geblendet. Außerdem staubt es dann zu sehr. Ich werde dich unter deinem Arbeitsgerät hervorholen.“ „Tu das nicht“, sagte der Mann, der am Boden lag, „Ich habe mich schon vor langer Zeit zwischen den Zinken eingerichtet und eine Position gefunden, in der sie mir nicht weh tun können. So lässt es sich aushalten, wenn ich mich nicht bewege. Ich spüre nicht mehr, dass ich nass werde. Ich spüre nicht mehr die Kälte, und ich werde auch nicht geblendet. Ich liege schon zu lange hier. Der Regen wäscht mich, die Sonne wärmt mich, die Nacht deckt mich zu. Geh einfach weiter. Ich habe mich mit meiner Situation abgefunden, also finde du dich auch damit ab.“

Der Spaziergänger aber blieb weiter stehen und sah auf den Mann hinunter und überlegte, wie er ihn am besten aus den Krallen dieses Gerätes herauslösen könne. „Denk gar nicht erst darüber nach“, sagte der Mann am Boden. „Wir wollen alles dabei belassen, wie es ist.“ Der Spaziergänger ließ nicht locker, machte einige Schritte nach vorn und sank in die weiche Erde des Ackers ein. „Komm nicht näher. Vergiss es.“ „Doch. Ich will dir helfen, und ich werde dir helfen. Ich kann dich doch so nicht zurücklassen“, sagte der Spaziergänger und ruckelte an dem Bodenbearbeitungsgerät herum. Der Mann am Boden unterdrückte einen Schrei. „Jetzt hast du mich geschnitten.“ Er deutete auf den Blutfaden, der seitlich an seiner Hüfte herunterrann und in die Erde tropfte. „Ich sagte dir doch, du sollst weitergehen. Lass mich in Ruhe. Die Zacken sind eingerastet. Sie lassen sich nicht von der Stelle bewegen. Du kannst nichts dagegen tun. Und ich, ich kann es aushalten in dieser Position, wenn ich mich nicht rühre. Du kannst mir nicht helfen.“ Der Spaziergänger aber gab keine Ruhe und beharrte darauf, den, der am Boden lag, aus den krakenähnlichen Griffen des Gerätes zu befreien. Er dachte, wenn ich all meine Kraft aufbiete, kann ich es beiseite bewegen. Und er griff mit den Händen fest zu und biss die Zähne aufeinander und zog und zerrte, und je mehr er zog und zerrte, desto mehr bohrten und gruben sich die Zinken der Kreiselegge in den Körper dessen, der am Boden lag, und rissen das Fleisch von seinen Knochen. Als der Spaziergänger das Gerät endlich ein Stück beiseite geschoben hatte und sah, dass von dem Mann fast nichts übrig geblieben war, setzte sich die Egge langsam in Bewegung und kam auf ihn zu.

Kerstin Nethövel

 

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freiVERS | Frau Sara

STROM II

Strömen
ohne
mein Zutun.

Einfach raus aus mir.

Meine Begrenzung wird still, an der Peripherie des Körpers kommt alles zur Ruh.
Die Ruhe dehnt sich aus.
Ich spüre mich, beim Warten.

Ich nehme mich wahr, als grosses Stück Menschenfleisch, ganz unaufgeregt & ergeben,
warte ich, nehme die Stösse & Wellen in mir zur Kenntnis, staune, wie ich Frau, es geschehen lassen muss. Wie meine Weiblichkeit zu sich nimmt, sich vorbereitet & wieder gehen lässt.

Im Rhythmus,
unsichtbar aber nicht heimlich.

Ich sitze da & das Leben strömt aus mir heraus.

Meine Gebärmutter arbeitet,
zuverlässig, ohne mein Zutun.

Ich sitze da, die Welt aussen rückt ab von mir. Ich bin da mit meiner innersten Höhle.
Ich spüre mir beim Arbeiten zu.

Ich habe ein Wunder in mir drin.

 

Frau Sara

 

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freiTEXT | Angela Regius

als es anfing mit dem zu hause bleiben hatte ich angst dass es wieder so sein würde wie damals mit dem essen und dem essen und dem   . die mangelnde struktur teil des problems und arbeit eine antwort mit ihren prozessen und räumen die standardisiert sind wegen gesundheitlichen erkenntnissen und den kernarbeitszeiten. never change a running system aber was läuft denn überhaupt und was ist bloße kompensation ein anderes ventil für etwas das tiefer sitzt das nicht zu lösen ist sondern abgearbeitet werden muss mit am besten antrainierter methodik. ich esse und esse nicht sondern liege auf dem sofa aktualisiere kaue an den nägeln fahre mit den fingern durch haare und fühle mich oft als wäre aufstehen eine unstemmbare angelegenheit. ich esse und esse nicht aber ob das so wäre wenn du nicht hier wärst mit mir in einer wohnung ob ich tatsächlich stärker geworden bin oder einfach nur das bild aufrecht erhalte weil da jemand ist der es sieht.

 

Angela Regius

 

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freiVERS | Anke Werner

Ausflug ins Grüne

Der Zündschlüssel löst sich,
als nächstes der Gurt,
schon stehe ich abseits des Autos.
Den letzten Gegenverkehr abgewartet
und zügig die Straße überquert.
Die Schritte werden schneller,
fliegen übers Feld
bis zum Waldrand,
an erste Büsche reihen sich Bäume
und nehmen mir Tempo.
Ich höre sie hupen,
aber hier findet mich niemand.
Irgendwer wird sich um den Stau schon kümmern.
Ich knicke Zweige,
trete nach Laub,
keine Euphorie,
nur nach Hause kommen,
zielsicher suche ich mein Nest.
Ein Bär hauste im Winter darin.
Ich kann ihn noch riechen
und fühle das Moos,
voll fremder Haare,
aber das macht mir nichts.
Die Geräusche und das Gefühl sind unverändert.
Meine Kleidung behalte ich am Körper,
noch darf sie bleiben,
mit der ersten Wäsche im Bach wird sie lästig werden.
Letztes Mal sah ich ihr nach,
wie sie dem Gewässer folgend entschwand.

 

Anke Werner

 

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freiTEXT | Viviane Kern

Die Entsorgung

I

Von meiner Wohnung zur Straße sind es 137 Schritte und 52 Stufen, ich zähle jedes Mal genau, um die Länge meiner Schritte einschätzen zu können und brauche meist exakt diese Anzahl. Habe ich mehr Schritte, ist dies ein handfestes Indiz dafür, dass ich gedankenversunken durch die Welt laufe und dies meine Beine hemmt, habe ich weniger, besteht die Gefahr, dass ich mich zu sehr durch den Tag hetze.

Kaum betrete ich die Straße, versuche ich leblose Dinge in hierarchische Kategorien einzuordnen und überlege, was diese in mir auslösen. Ein Mistkübel steht auf der gedanklichen Leiter weiter unten als vergleichsweise ein Auto, bedingt durch die Assoziation mit Schmutz, Ekel und Abfall. Dass in Mülleimer all jene Dinge gestopft werden, die man nicht braucht, deprimiert mich. Zugleich entfacht der Anblick die Neugier in mir, was wohl alles darin stecken könnte. Eine Ode an die Freude singe ich innerlich, wenn ein Mistkübel ungewollt aufgegangen ist und der ganze Müll wüst und entblößt auf der Straße liegt. Der halb ausgetrunkene Kaffee vermischt sich mit dem Papier, das die Flüssigkeit absorbiert, gepaart mit nicht identifizierbaren Essensresten und einem bunten Berg aus Plastik, das den rinnenden Kaffee nicht aufsaugen kann. Plastik ist beständig, nimmt nichts auf, manchmal sehne ich mich danach. Mülleimer müssen geleert werden, irgendwann platzen sie aus allen Nähten und bereits ein kleines Teilchen würde sie zum Überlaufen bringen. Leert man die eigenen Mülleimer nie, geht man von alleine daran kaputt. Kaum verlasse ich meine Wohnung, sehe ich Menschen, deren Mülleimer so groß sind, dass man es ihnen von außen bereits ansieht.

Zu den Mülleimern gehört auch das Wort entsorgen, das ich schön finde. Ich werde entsorgt, von meinen Sorgen befreit, ich kann diese abschütteln und loswerden, sie werden entleert – einfach so - für mich. Es ist befreiend, etwas in den Mistkübel zu werfen und nie wiederzusehen. So setze ich Fuß für Fuß vor mich, spüre wie meine Sohle den festen Grund berührt, wieder emporgehoben wird und gegen die Luft ankämpft, die kein Gewicht hat.

An der Ecke eines Wohnhauses verdorren Blumen vor lauter Hitze und fehlendem Wasser, die Stängel werden bereits leicht braun und beginnen sich zu verbiegen. Die Blumen werfen ihre Blüten ab und versuchen verzweifelt, sich das Leben zu retten.  Blumenstiele sind für mich saftig, die Blüten sollen duften, Farbe tragen, um der Welt einen Hauch von Schönheit zu verleihen. Ein Mann lehnt an einer Hauswand und zieht an einer Zigarette. Das Papier verwandelt sich mit dem Tabak in Asche und kleine Teilchen davon fliegen durch die Luft. Der Mann hält den Rauch kurz in seinen Lungen, bis er diesen genüsslich ausstößt, den Rhythmus der Stechuhr für einige Zeit durchbrechend. Der Rauch treibt aufwärts, als wäre er nie hier gewesen, in den Kondensstreifen-freien Himmel, die Luft ist sehr trocken.

Ich gehe die Straße entlang weiter, zähle meine Schritte, alle Geräusche, die zu mir hervordringen, nehme ich intensiv wahr: Stimmen, Motoren und ich sehne mich nach Wasser und Kälte. Der Schweiß tropft mir von der Stirn auf meine Schulter und rinnt den Oberarm langsam herab, ich kann spüren wie er kurz innehält, bevor er auf den Asphalt tropft und in diesem Moment ein kleiner Fleck auf dem Gehsteig hinterlässt. Er wird aufsteigen und verdunsten. Was wohl alles diesen kleinen Teil des Gehsteigs schon berührt hat? Ein Mann, der hinter mir geht, steigt genau auf meinen akkurat hinterlassenen Fleck und verwischt meine Spuren.

II

Ich setzte mich in das Kaffeehaus, in dem ich immer sitze. Zweiter Tisch von links genau der rechte Stuhl, hier kann man das tägliche Geschehen gut beobachten. Ich betrachte die einzelnen Gesichter, die vorbeieilen und obwohl es die Geschwindigkeit der passierenden Leute nicht wirklich möglich macht, mehr als einen flüchtigen Blick auf deren Ausdruck zu werfen, habe ich das Gefühl, man könne Jahre darin lesen.

Verharrend in meinem Beobachten passiert etwas Suspektes, fast Bedrohliches, mit dem niemand gerechnet hat: Ein Mann schaut in alle Richtungen und versucht sich vor einem Mistkübel zu positionieren, dass sichergestellt ist, dass niemand seinen verdächtigen Vorgang sieht. Unter seiner Jacke holt er, sein Plan wirkt ab diesem Zeitpunkt nicht mehr penibel durchdacht, den wer trägt bei dreißig Grad im Schatten eine Jacke, ohne die Intention, etwas verbergen zu wollen, einen Sack hervor, der zu groß ist um in die kleine Öffnung des Mistkübels zu passen. Während er sich halb auf die Mülltonne legt und sich gegen den Sack stemmt, kommt sein Blut in Wallung und sein Gesicht errötet. Der Sack will nicht hineinpassen, als wäre ihm bewusst, hier geschieht eine tätliche Entgleisung.

Der Mann beginnt sein Gesicht zu verziehen, ich meine sogar zu erkennen, dass er vor sich hinmurmelt. Er blickt wieder nach links und rechts, um ja unentdeckt zu bleiben. Jetzt beginnt das ganze Geschehnis zu eskalieren und trägt sich wie folgt zu: Dem Mann ist bewusst, dass sein Sack nicht in die Öffnung passt, legt diesen bedächtig am Boden, fast zärtlich, um dann viermal fest mit dem Fuß auf eine genaue Stelle zu steigen. Er hebt den Sack wieder auf, greift hinein und versucht den Inhalt zu zerreißen, doch die Kohäsionskraft des Gegenstandes trotz ihm. Er presst den Inhalt kraftvoll zusammen, dieser scheint jedoch gummiartig wieder in seine alte Position zu springen. Noch einmal fordert er den Mistkübel heraus und probiert den Sack durch die Öffnung zu befördern, erfolglos. Jetzt beginnt er richtig wütend zu werden und stößt einen Schrei aus, es hört sich an wie:

„Scheiß Mistkübel“, und tritt dagegen.

Einmal mit dem Fuß und da dies nicht zu reichen scheint, schlägt er mit beiden Fäusten oben auf den Deckel.

Was jetzt passiert, war vorherzusehen: Der Mistkübel öffnet sich und entleert die Schwere, die an ihm haftet. Freude, schöner Götterfunken! Wie angewurzelt steht der Mann da, als er merkt, was sein Wutausbruch für Konsequenzen hat. Er eilt so schnell er kann mit seinem Sack davon.

III

Erst jetzt merke ich, wie die Wespen einen Festschmaus vor meinen Augen genießen: Meine bestellte Limonade, ich habe noch keinen Schluck getrunken. Ich bezahle und mache mich auf den Heimweg, von der Straße zu meiner Wohnung sind es 137 Schritte und 52 Stufen, ich zähle sie pedantisch genau. Lange denke ich an diesen Mann und hoffe, dass er irgendwann diese Last des Sackes loswird, die er sich von der Seele reißen wollte. Manchmal sehe ich Menschen, deren Mülleimer so groß sind, dass man es ihnen von außen bereits ansieht.

 

Viviane Kern

 

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freiVERS | Sarah Claire Wray

die schwarze putzfrau sitzt nicht mit am tisch feat. faschisten blei

manchmal weiß ich nicht warum
die Leute mich so angucken
wie sie mich angucken.

ich weiß nicht
findet ihr mich
wegen meiner hautfarbe unglaubwürdig?

glaubt ihr
ich sei die putzfrau
wenn ich mit am tisch sitze und nicht
nach meinem namen gefragt werde
wo alle anderen sogar
einen feuchten händedruck bekommen

ich weiß nicht
hab’ ich keinen namen
weil ich bin nur eine von vielen
mit der hautfarbe
und den namen könnt ihr euch eh nicht merken?

und im gespräch da wendet ihr nie
das Wort direkt an mich
seht hastig weg wenn doch
ein höflicher augenkontakt
das mindestmaß an nähe
zwichen fremden ist.

ich kann euch nicht mehr zuhören
weil eure worte mir wie das kalte blei der faschisten
abartig distanziert vorkommen
weil euer sprechen
nicht ein sprechen mit mir ist
nur über mich hinweg

 

Sarah Claire Wray

 

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freiTEXT | Olav Amende

Olav Amende - Mittag. Fügnis.

Der 12-Uhr-Glockenschlag weitet sich in der Stadt. Vom Friedhof bis zur Seniorenresidenz, die der stilvoll gekleidete Gruftie-Altpunker mit Sisters of Mercy im Ohr zum Beginn seiner Schicht betritt; von der Kleingartenanlage, in der der ehemalige Vorstand die beiden fremden Spaziergänger auf sicherer Distanz hält, bis zum Wasserturm, auf dessen Gesims sich ein weißes Täubchen niederlässt und dabei von niemandem erblickt wird. Der 12-Uhr-Glockenschlag schwebt über den versteinerten Wellen des Marktplatzes und auf diesem steht heute eine Gulaschkanone in Grün. Betrieben wird die grüne Gulaschkanone von einer Rentnerin – einstige Köchin in einer Oberschule oder einem Kindergarten oder in einem VEB-Großbetrieb, der Papiersackfabrik vielleicht. Unterstützt wird sie von ihrer Enkeltochter. Gerade ist Pause. Das Mädchen übt sich im Radschlagen. Sie schlägt die Räder quer über den gesamten Marktplatz, so lange, bis ihr schwindelt und sie in Folge dessen aufs Hinterteil fällt. Da hupt ein von rechts kommendes Auto einem Kontrahenten von links hinterher und bremst nicht ab. Morgen wird das in den „Groitzsch-Pegauer Nachrichten“ nachzulesen sein, wenn es diese noch gäbe. Im Blumenladen haben sich die alten Frauen zum Schwatzen versammelt, während der Florist das Kleingeld zählt, das sie ihm in die Tasche seiner Schürze stecken und eine ihrer Freundinnen nebenan beim Metzger an der Theke zur Aufbesserung ihrer Rente Metthalbbrötchen zubereitet, sehr zur Freude zweier junger Männer. Am Rathaus klopft ein Lehrling Steine – ein Quadratmeter ergibt eine Stunde, schätzt er und blickt auf das Trassierband in zwanzig Meter Entfernung. In der Zwischenzeit ruft sein Großvater zwei durch die Anlage des Kleingartenvereins „Naturfreunde 1907“ e. V. streifenden jungen Männern entgegen: „Was gibt es hier Interessantes?“ Die Stille, die zwischen dieser Frage und der Gegenfrage: „Was gibt es für Sie Interessantes?“ klafft, ist das Echo des 12-Uhr-Glockenschlags, der Moment, in dem sich das Täubchen auf das Gesims des Wasserturms niederlässt oder sich von diesem erhebt, der Gruftie-Altpunker aus seinem Ledersakko in den weißen Kittel schlüpft, die ehemalige Großköchin den Kanoneninnenraum umrührt, ein Besucher der Groitzscher Buchhandlung hinter einer Reihe Schulpflichtlektüre ein verstecktes Buch entdeckt und das Mädchen ein Rad zu viel schlägt.

Zwei Arbeiter der Stadtreinigung sitzen in ihrem Wagen und schlürfen Erbsensuppe. Das Mädchen stellt sich an den Rand der Dreierstufen und lunzt zu den Schreibenden auf der Parkbank. Einer der beiden schaut mal hin, mal weg, mal hin, bis er endlich begreift, dass das Mädchen darauf wartet, dass er ihr zuguckt, wenn sie über die Stufen jumpt. Gut, schaut er eben wieder hin. Das Mädchen grinst, beugt sich zurück, der Lehrling erhebt den Fäustel, die Arbeiter pusten auf ihre Löffel, das Mädchen springt. Der ehemalige Vorstand des Kleingartenvereins „Naturfreunde 1907“ verschließt seinen Schuppen und murmelt, während sich das Täubchen in die Luft erhebt, der Pfleger über die Hand eines alten Mannes streicht, sich einer der beiden jungen Männer auf der Bank eine Faser Mett aus den Zähnen zieht, und das Mädchen auf dem Bauch landet. Es feixt. Die Großmutter rührt noch einmal die Kanone um.

Im Buchladen holt einer der beiden Schreibenden Prousts „Auf der Suche nach der usw.“ hervor. Die Verkäuferin tritt heran und sagt: „Ach, der. Der ist hier hängengeblieben.“ Der 12-Uhr-Glockenschlag verhallt, das Weiß der Taube löst sich ins Weiß der Wolken und die ehemalige Großköchin reicht ihrer Enkeltochter eine Schüssel mit Erbsensuppe.

 

Olav Amende

 

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freiVERS | Martin Peichl

Blackout Musil

Martin Peichl

 

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